Das Bücher-Dekameron Eine Zehn-Nächte-Tour durch die europäische Gesellschaft und Literatur - Edschmid, Kasimir - kostenlos E-Book

Das Bücher-Dekameron Eine Zehn-Nächte-Tour durch die europäische Gesellschaft und Literatur E-Book

Edschmid, Kasimir

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The Project Gutenberg EBook of Das Bücher-Dekameron, by Kasimir EdschmidThis eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and mostother parts of the world at no cost and with almost no restrictionswhatsoever.  You may copy it, give it away or re-use it under the terms ofthe Project Gutenberg License included with this eBook or online atwww.gutenberg.org.  If you are not located in the United States, you'll haveto check the laws of the country where you are located before using this ebook.Title: Das Bücher-Dekameron       Eine Zehn-Nächte-Tour durch die europäische Gesellschaft und LiteraturAuthor: Kasimir EdschmidRelease Date: January 21, 2015 [EBook #48040]Language: German*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DAS BÜCHER-DEKAMERON ***Produced by Jens Sadowski

KASIMIR EDSCHMID:

DAS BÜCHER- DEKAMERON

Eine Zehn-Nächte-Tour durch die europäische Gesellschaft und Literatur

Zweite Auflage

ERICH REISS VERLAG / BERLIN 1923

Geschrieben im Juli und halben August Neunzehnhundertzweiundzwanzig

Copyright by Erich Reiß Verlag 1922

INHALT

Erster VormittagDEUTSCHLANDSEITE 9

Die erste NachtDEUTSCHESEITE 41

Die zweite NachtFILM • THEATER • SCHAUSPIELER • REGISSEURE • ESSAYISTEN • LEBENDIGESEITE 69

Die dritte NachtBIBLIOTHEK (ABER DAS LEBEN IST HERRLICHER)SEITE 95

Die vierte NachtSATIRESEITE 121

Die fünfte NachtKUNST UND GESELLSCHAFTSEITE 145

Die sechste NachtPOLITISCHE DICHTUNG??SEITE 185

Die siebente NachtNEUE SCHULENSEITE 227

Die achte NachtDIE ANDERNSEITE 251

Die neunte NachtUND EUROPA??SEITE 267

Die zehnte NachtMIJNHEER!SEITE 297

Letzter VormittagGELASSENHEITSEITE 301

Erster Vormittag

Mijnheer, wir sind eingeschneit.

Von den Spießhörnern bis zur Todtnauer Hütte jagt der Schneesturm schon den dritten Tag. Das Zastler Loch ist verhüllt und um Herzogenhorn ballt sich die Schneeflut zu neuem Angriff. Zum Bärental häuft sich der Schnee schon wie Meer. Als ich zuletzt Sie traf in ähnlicher Lage, war es am Brenner, Sie kamen mit Wolken Schnee auf breiten Eschenbrettern herauf, ich schnallte die Hickorys, um in die Schweiz zu fahren, und die schon fast italienische Sonne glühte über Tirol das Gebirge zu Metall.

An diesem Tag zog D’Annunzio mit seinen Freischaren nach Fiume, heut empfängt er den russischen Volksbeauftragten Tschitscherin. Was ich an dem blitzkurzen Tag Ihnen damals sagte, steht in der „Doppelköpfigen Nymphe“. Was macht es, solange meine Landsleute sich mit seinem Ja und Nein nicht lernend auseinandersetzen? Habe ich recht behalten oder nicht? Wie hat in der Zwischenzeit das Karussell der Zeit sich umgedreht!

Finden Sie Boden in diesem Mosaik, das mit Pferden und Menschen und Schreien um die eigne Achse sich ohne Pause dreht? Damals schoß man in Haufen auf den Straßen um Weltanschauungen. Heute doziert in Offenburg, während die Witwe geladen ist, der Staatsanwalt an Erzbergers präpariertem Schädel den Bauern-Geschworenen mit dem Bleistift die Einschußrichtungen seiner Mörder. In den Festungen sitzen nach dem Proletarischen hin ausgeschwärmte Dichter. Feldherren des Kaisers nehmen Paraden ab über die Truppen der Republik. Auf dem Rhein flitzen belgische Kanonenboote, auf keinem der Dampfer zwischen Mainz und Bingen sehen Sie die Farbe Schwarz-Rot-Gold. Die Bäder der deutschen Ostsee-Küste sind zwischen den Strandkorbburgen millionenhaft mit den Fahnen des Kaiserreichs beflaggt. Der erste deutsche Botschafter in Amerika übergibt seine Beglaubigung im Namen von „The German Empire“, und man antwortet ihm in Washington, er meine wohl seine Republik. In Bayern ist in Sturmtrupps die Bauernschaft blockiert: vivat Rupertus Rex. Der Reichspräsident, der München besucht, erhält feierlich am Bahnhof unter Gepfiff eine rote Badehose gereicht.

Sie interessieren sich nicht für Politik?

Ich auch nicht.

Es ist unsere Zeit aber Mijnheer. Das ist der Boden, den wir treten, das sind die Wolken, unter denen wir atmen. Wo schieben sich ähnlich knisternd Begriffe und Revolten und erlauchte Traditionen durcheinander!

Zwei Stunden nördlich übers Gebirge, in Baden-Baden, endigte früher die bevorzugte Schnellzugslinie von Paris. Hier fuhr als Dauphin Eduard der Siebente in Hemdsärmeln vierspännig den Blumenkorso über die Lichtenthaler Allee, führte Prinz Hamilton am blauen Band ein Schwein als Wette durch den Kurgarten, sauste der britische Hoftroß mit Bettlaken nachts in Droschken zum alten Schloß, Gespenster für harmlose Passanten zu spielen. Die Fürstin Gagarin telegraphierte aus Syrakus an ihr Palais Stourdza, um ihre Ankunft zu melden: „Préparez trois cotelettes pour les chiens“, hier wurde den Gazellen des siamesischen Sultans jeden Morgen in einem Springbrunnen ein Bad fin champagne gerüstet, wurde dem jungen Portugiesenprätendenten eine Straße gebaut, um zwei Gärten zu vereinen. Hier, wo Liane von Pouchi tanzend ihre Triumphe feierte, beginnt einige Jahre nach Krieg und Revolte unbedrückt vor Angst, daß niedere Klassen mit Schüssen und Raub darauf antworten, unter jahrhundertalten Bäumen das Leben wieder feierlich und reich zu spielen.

Die bengalischen Feuer schmeicheln dem sanften Anfang der dunklen Höhen, und unter den Schatten der Bosketts gleiten die Lampions mit den wohligen Seufzern der Menschen zusammen zum immer festlich bereiten Nachthimmel. Die Blüte aller Bäume von Flieder bis Magnolien und von den feierlichen Kastanien bis zu den wilden Rosen und Geisblatthecken wird dieses Jahr zusammenfallen, und die von den Fontänen besprühten siebenfarbenen Rhododendronbüsche werden vor der Spiegelfassade des Hotel Stefanie mit unbekannter unterdrückter Leidenschaft blühen.

Ein Geschlecht von wenigen bevorzugten und finanzierten Deutschen, aber Hollands und Amerikas Kleinbürgerschaft wird die wundervolle Burg des großen Lebens in Besitz nehmen, indem es sich das Vorrecht der früheren Jahrhunderte mit einem Geld, das mit Hundertzwanzig bis Zweitausend usw. die Mark kauft, sichert. Guizots Rat: „Enrichissez-vous!“ hat nach jeder Revolte und jedem endlosen Krieg sein Publikum verstanden, eine neue Schicht, die nach Leben und Wirkung mit allen Zähnen bleckt, ist aus der Tiefe aufgehoben worden und hat von der Oberfläche die seitherigen Gebieter ablaufen lassen. Aber Gambettas Beispiel, der die Subskriptionsbälle für die neue Gesellschaft seines Landes schuf und Salons aus der Erde zauberte, indem er flüsterte: „La république manque de femmes“, Gambettas Beispiel hat keine Nachfolge gefunden. Die Elite des deutschen Volkes und seine Gesellschaft grollt unversöhnlich, ja vernichtend der Republik, deren Vorsteher nicht die Weltmännischkeit besaßen, diese Masse an sich heranzuziehen. Ich habe an kaum einem sichtbaren bürgerlichen Ort einen Republikaner gefunden, ich kenne keinen Republikaner außerhalb des Klüngels der Politiker und Schreiber. Ja sogar der befreundete Leiter einer Sternwarte, der behauptet, mit einem Überguß Schwefelsäure auf seiner äußersten Linse das politische Bewußtsein seiner Opfer gespiegelt zu sehen, versicherte betrübt und gelangweilt, seit Monaten sehe er in Flugzeugen und Autos und Äckern nur die Farben der Vorkriegszeit.

Man mußte den manischen Alten, der vor Sucht nach einem Republikaner verging, wegen Farbenblindheit einer Heilanstalt zuführen, die Sehnsucht nach der Republik hatte ihm seinen Beruf und seine wissenschaftliche Carriere gekostet. Kein Bankier kaum ansonst, kein Industrieller, der auf die neue Flagge schwört und höchstens einige Juden, die verschämt über die Thora mit ihr kokettieren. Selbst die Direktoren demokratischer Industrieregenten wagen in Ruhrort und Recklinghausen und Duisburg nicht, durch das gleiche Bekenntnis wie ihr Zar dem gesellschaftlichen Terror zu widerstehen. Denn Gesellschaft heißt in Deutschland nicht wie in anderen Ländern: durch die Jahrhunderte in einem Rassebewußtsein zu gewissen Neigungen und Bewegungen filtriert sein, sondern heißt jene Clique, die vor dem Krieg zufällig verdiente, adlig war und die Ämter beherrschte. Die schwört heute auf die Reaktion. Die arbeitende Klasse kämpft, schon in der Verteidigung wieder, um den Achtstundentag. Die großen Auseinandersetzungen werden noch kommen.

Auf dieser Atempause der Geschichte, auf einem gläsernen Regenbogen steht die Republik.

Eine Generation junger frecher und halb hilfloser Leute mit sehr roten Handschuhen und hellen Koffern aus Leder hat zwischen Franc und Dollar die Plätze der Eisenbahnen belegt. In Innsbruck sahen wir, von den Ötztaler Alpen vor drei Wochen heruntersteigend, den Adel Tirols aus den Schlössern zusammenströmen und ihre Komtessen tanzen in den Kostümen der Mode von vor fünfzehn Jahren, da ihr Geld die neue nicht mehr kauft, aber mit phantastischem Familienschmuck, den sie nicht veräußern, noch exklusiver wie früher, und einen gewissen tötlichen Stolz in den zwanzigjährigen Gesichtern. Das ist Deutschland.

Bald haben alle Fürsten und Feldherrn ihre Memoiren herausgegeben und alle schieben die Schuld auf den andern genau wie, als die Franzosen den vorletzten Krieg verloren, Ollivier, Benedetti, Leboeuf, Wimpfen sich die Niederlage an die Köpfe warfen, bis man in dem Spitzbart Bazaine den Prügeljungen entdeckte. Für unser Schrifttum ist der Haufen Papier ein verwegenes Nichts, für die Erinnerungsliteratur keine Bereicherung des Stolzes, der letzte große Memoirenschreiber der Deutschen aber, der pfaueneitle jedoch illustre Fürst von Muskau hätte mit einer Handbewegung diesen Hahnenkampf seiner Kaste abgelehnt: „Quelle blague.“ Ich traf im Sommer auf einem Bodenseedampfer einen früheren russischen Attaché, der Schweine für die deutsche Regierung in Belgrad gekauft hatte, der riet, zur Südsee auszuwandern mit einem Harem von Frauen und schönen Tieren, und fünfzigjährig in das dann befriedete Europa zurückzukehren wie Apoll, der bei Winterbeginn zu den Hyperboräern jagt, um erst wieder, von Päanen gerufen, im Frühling zum silbernen Kephissos und seiner geliebten Quelle Kastalia im Schwanenwagen zurückzukehren.

Den Russen langweilten die Zuckungen, mit denen die Erde Europas sich langsam wieder in ein festes Bett zurückstemmt und er wußte, daß nicht die Spur nachzuhelfen sei mit Kongressen, Parlamenten und Paraden des Geschwätzes, und daß elementare Gewitter nicht durch Beschwörungen der Regenmacher sondern nur durch elementare Ausströmungen langsam sich sänfteten.

Ich bin, obwohl ich abenteuerlustig las, in Mozambique bei Beira hätten Kaffern endlich die Seeschlange angeschwemmt gefunden, und obgleich Sir William Loyd Davkins in „Manchester Guardian“ hinzufügt, ihre Köpfe seien groß wie die Leuchtfeuer von Makuti gewesen und die Kaffern hätten zwölf Tage lang an der gelben Gallerte fressend gelegen . . . . . . ich bin, obwohl alle Himmel der Fremde und alle noch nicht genossene Seligkeit der Erde mit beispiellosen Kontinenten, Mondgebirgen und barbarisch dunklen Meeren dahinter locken . . . . ich bin für Bleiben.

Die Luft unserer Jugend ist elektrisch wie die Cinnas und Hannibals und des dritten Otto und jenes vierten Heinrich, der einer der schlausten Anwälte der Deutschen war, aber sie ist auch noch schicksalgesättigter in ihrer zuckenden Röte als die des großen Korsen. Die Ausschweifungen der noblen Jugend, die Reisen ins Tropische unserer Leidenschaft sind uns verdorben. Die Sommernachtsfahnen der Freude haben unter anderen Sternen anderen Generationen geflaggt. Es gibt nur eine Haltung des Anstandes, in den Krisenfeuern, in denen Europa sich anschickt einen neuen Stern zu gebären oder zu krepieren, mitten im Land und unter seinen Leuten zu stehen, ihnen zu helfen zur Lösung oder zu neuem Kurs sie zu überreden, oder wie auf einem Schiff mit ihnen zu ersaufen . . . . und sei es auch nur, den hoffnungslosen Kampf mit der Politik zu sehen, den diese Menschen, die Andersdenkende ruhig (wie zur Zeit, wo Mord bei den Germanen noch reine Privatsache der betreffenden Familien war) erschießen aber die Pferde innig lieben, die oft roh sind wie Tataren aber gütig und sentimental wie die Engel, die manchmal wie jener Thomas Münzer, der sich mit dem Schwert Gideonis unterzeichnete, unflätig in den Gesten aber in den Herzen voll dunkel flackernder Begeisterung sind . . . . . . sei es auch nur dem hoffnungslosen Kampf dafür unbegabter aber herrlicher Menschen mit der Politik in einer mitleidlosen Zeit beizuwohnen.

Diese Deutschen!

Man muß hinter Düsseldorf am Rhein gelegen sein, um die Größe dieses Landes mit dem stillen Verströmen des Flusses zu spüren. Man muß zwischen Bingen und Sankt Goar seine Romantik fliegen gesehen haben voll jahrhundertblauer Gewalt. Wie haben die Spessartwälder gedröhnt von der Musik ihrer donnernden Wölbung. Wie haben die bayrischen Seen unter der Pranke des Herbstmonds mit aufschießenden Nebeln gebuhlt und die Morgenberge mit wilder Idylle gespiegelt. Wie hat der sommerliche Schwarzwald vor Behagen aus allen samtenen Fichtenhängen geraucht und die Nacht noch sanfter an den glatten Muskeln des Vogesenbruders in den Rheingau fallen sehen. Wie hat der Odenwald von Sagen an allen Quellen aufgezittert und wie reif sind über der Mosel die Sonnensegnungen gelegen.

Wie haben die Sturmfluten die Nordseehäfen überdeckt, während der Mond bleirote Lähmung gespenstisch darüber flutete, daß die Molen verzaubert von soviel Glanz reglos von den Raubwellen zerrissen wurden — und mit welchem Jubel haben wir als Jünglinge die tänzerische Grazie Bayreuths und die Stierwucht von Bamberg und die Rothenburger Silhouette vor den Abendhimmeln des Sommers empfunden. Die Parke unserer Kindheit waren voll von Tritonen und Bächen und flötentragenden Göttern der Büsche und Wälder und den stampfenden Pferden besinnungslosen Glücks auch im dunklen Erschauern der Zukunft.

Wie hat Friesland uns später mit schwarzen Bauerngütern in fetter Erde unter seinen Herden gebebt, wie haben die Ostseeleuchttürme den Dreimastern und Hochseebooten herzbange Grüße durch die Jasminnacht geworfen, wie haben die Züge gejauchzt, als die süddeutschen Erntefelder sie mit beispielloser Goldfülle verschlangen. Wie hat der Wein des Elsaß sich zur Melancholie der Eifel in unseren Knabenfahrten herrlich gesellt, und mit welchen Farben haben die mecklenburgischen Teiche sich noch an den grauen Himmel pommerscher Riesengüter gemalt, wenn die Wildgänse darüber flogen.

Wie hat das ganze Land sich gereckt wie ein Weib, bis es die Schönheit erreichte und bis aus jeder Falte ihrer Erde der Duft der Anmut und der Vollendung in solcher Musik stieg, daß wir vor Liebe und Demut die Sünden und Fehler der Bewohner fast vergaßen. Die Luft unserer Jugend ist stürmisch wie die des Cinna und Hannibal, aber, unverrückbar, die Seen und Wälder und Berge unserer Leidenschaft und unserer Heimat sind von erhabenem Gleichmut der Schönheit.

Welche Zeiten!

Gleichsam auf einer zweiten unsichtbaren Ebene darüber aber steht wie ein zitternder Kessel zwischen den Manometern und Fieberkursen der Valuten „The German Empire“, so, als sei zwischen den Zustand seiner Fluren und den eines möglichen Glückes die heutige Misere wie ein verlegener Alpdruck hineingeschmettert und als seien die Geister, die um diesen Zustand irrten, vor Verzweiflung fast schon bereit sich selbst zu verhöhnen und auch der letzten Entschlußkraft beraubt. Ich fürchte, gäbe es in der Politik einen Eros und Stufungen der Geschlechter wie bei den Lebewesen, man würde „The German Empire“, das weder wagt mit dem Glanz der Senatoren von Catos Strenge bis zu Clemenceaus Unerbittlichkeit eine Republik zu sein, noch sich für ein wahrlich neues Kaiserreich zu entscheiden, zu den Zwischenstufen zählen, denen zwar viel Nüancen aber keine eindeutigen Himmelfahrten erlaubt sind.

Aber der Haß auf ihre Gegenwart hat nie vermocht, die Liebe zu ihr zu unterdrücken, und die besten Augen des Landes sind unbeirrbar auf jede ihrer Bewegungen gerichtet. Denn man liebt nur, wo man helfen will und man ist voll Zärtlichkeit nur da, wo man zu verzweifeln begonnen hat.

Im Kreis darum aber laufen die Ringe unerbittlich weiter, die die Mörder mit den Heiligen und die Tüchtigen mit den Träumenden durcheinander werfen. Ein Tropf, der nicht sein Schicksal zu korrigieren sucht, wo Kunst und Wahrheit nie so isoliert (aber kaum je von den Wenigen geliebter) in der Welt standen. Wer vermag festen Grund zu sehen, wo alle Maßstäbe aufhören, wo das Natürlichste: gut zu speisen und innerhalb Deutschland zu reisen, schon ungewöhnlicher Luxus dünkt und das Leben der mittleren Schichten (ohne daß sie es merken, weil sie ihr früheres Glück in soviel Fatalität vergaßen) eine Versuchung ist mit Gott zu hadern. Die apartesten Gegensätze durchdringen sich mit einer gewissen Heiterkeit, und jede Handlung wird mit auffälligem Ernst von einer Gegenhandlung begleitet, deren Gesicht die Grimasse des Widerspruchs trägt.

Vermuten Sie, daß am Tag, als Max Hölz mit Kommunisten und Räubern das Vogtland unterjochte, ein eigens gebautes Segelboot mit dreiundzwanzig deutschen Künstlern aufbrechen sollte, die Welt zu umreisen zum größeren Ruhm des Geistes? Ach Sie vermuten nicht, daß am gleichen Vormittag, als diejenigen Deutschen, die gerne mit endlichem und praktischem Erfolg die Welt befrieden möchten, zu einer großen Konferenz zusammentraten, in der anderen Ecke dieses Landes die männlichen Mitglieder einer Junkerfamilie zum Spaß mit Schrotgewehren auf alle vorbeifahrenden Automobilisten schossen. Täglich beobachtet man, daß führende Generäle der Kriegszeiten plötzlich ausgerechnet die Agenturen der Lebensversicherungen übernehmen, daß Juden mit einem Male führende Sportleute werden, daß korrekte Assessoren Autofabriken gründen, daß die Bohèmes der Literaturkaffees plötzlich infolge der Beschäftigung mit Wohnungsschiebung liebenswürdige Cavaliere werden mit einem Anflug sicherer Beleibtheit, die den Frieden mit Gott, Welt und Satan immer voraussetzt.

Sehen Sie die Wirtschaft gigantisch wachsen, die von der Kohle über die Erze, die Hochöfen, die Walzwerke, die Maschinenfabriken, über den Vertrieb der Erzeugnisse, über die Schiffahrtslinien eine ungeahnte neue Konzentration herstellt und, fast schon mächtiger als der Staat, beinahe alles erzwingen aber alles verhindern kann, während vor sechs Jahren man glaubte, sie sei in der Hochkurve? Vermutlich wird sich das technische Zeitalter noch zu einer mythischen Größe recken, Dampfer von ungeheuren Maßstäben und tausendfacher Kraft werden durch Motore gelenkt werden, daß sie wie die Delphine im kleinen Kreise tanzen, und die Luft wird derart bezwungen scheinen, daß die Menschen, knapp an die Grenze der großen Weltgeheimnisse wirklich kommend, erst im letzten Augenblick, und nicht ohne Größe, gestürzt werden.

Aber heute gastieren im Schatten dieses Wachstums noch die vielen Schauspieler der Verwirrung und ich vergesse nicht, wie es entrüstete und amüsierte, als auf dem Concours hippique in Kissingen im Frühjahr nur der Stallmeister der luxemburgischen Großherzogin im grauen Seidenzylinder erschien und dann ein Kinobesitzer und nicht Graf Görtz die Sache machte. Man glaubte, das Apokalyptische käme hernieder und die germanische Midgardschlange lasse die Erde aus ihrer Umklammerung fallen. Die Oberfläche der Zersetzung schwankte ein wenig und man sah die gesamten Akteure der Zeit mit einem Male, wie sie über die Hürden und Koppelricks herauf und herunterjagten, als welle sich die Erde unter ihnen.

Europa ist heute ein großer Faschingsball mit schönen Debardeurs und anderen maskierten Gestalten und dem fallen die Triumphe zu, der die kühnsten Griffe und die besten Lenden aufweist. Man demaskiert erst in einer späteren Zeit. Ich habe daran denken müssen heute Nacht, als ich hörte, man habe den großen Ahnen aller Abenteurer des Geistes und Lebens zurückgerufen, indem man das Grab des Marquis von Seintgalt in Dux in Böhmen gefunden. Es war nur ein Zufall, der es beim Legen von Wasserrohren wieder in die Welt spielte, auf dem Grabstein stand mit einer gewissen schlichten Haltung: „Casanova Siebzehnhundertneunundneunzig.“ Im gleichen Jahre wurden der Baron Balzac und der Jude Heinrich Heine geboren, die die gleichen Umschichtungen des Lebens in Frankreich in ihren Büchern damals schon schilderten und mit Kunst einen gewissen Schlußstrich setzten unter die letzte große Kurve einer Zeit, die der kluge und genießende Casanova im Leben noch einmal unerhört gespiegelt hat: den Glanz und die spielerische Abenteuerlichkeit der Welt . . . ., eh sich die Wagschalen des Daseins in die tragischen Entscheidungen von heute stellten.

Man hat nunmehr gelernt nüchtern zu werden, selbst in der erregtesten Zeit, teilt Arbeit und Leben und berechnet selbst seine Zufälle. Wir sind eingeschneit, Mijnheer. Ihr großes Gepäck ist nicht transportabel, der Schneepflug braucht drei Stunden für hundert Meter Weg. Die Dame, die Sie erwarten, kann nicht herauf, es sei denn, sie flöge. Von Stübenwasen bis Gisiböden steht der Schneesturm und wirft Sie über den Kamm, sobald Sie ihn betreten. Versuchten Sie ohne Gepäck ins Tal zu kommen auf Skiern, ist Ihnen nur der Weg der Waldflächen offen, wo der Schnee sich nicht so hoch gesetzt hat, aber schon an den ersten Matten ersaufen Sie im Schnee trotz Ihrer Bretter wie eine Maus.

Wir sitzen fest. Am Tage ists manchmal möglich, vielleicht sich in die Latschen zu schlagen oder Sprunghügel zu bauen, vielleicht geht die Sonne auf und drückt die Schneeflut zusammen, man hat Möglichkeiten und man rechnet mit ihnen. Völlig abmarschieren kann man aber erst, wenn der Sturm gefallen ist, jedoch der Meteorologe versichert, er stehe zehn Tage über dem Gebirg. Das war noch nie, und solche Kaskade von Weiß warf der deutsche Himmel seit meiner Geburt noch nie über Baden. Man muß resignieren und eine Beschäftigung suchen, die wir leicht von selbst gehabt hätten, wäre es uns nicht eingefallen, die braun brennende Sonne des Arlberg mit der schwarzen des Schwarzwalds noch zu vertauschen. In St. Anton wäre der Sirocco uns zu Hilfe geeilt und hätte die Wolken nach Norden geschmissen, die hier von allen Schwarzwaldbergen sich heben und wie Rabenchöre um den Feldberg kreisen. Schon Lukian hat die Reiselust verspottet, nun sind wir die Opfer. Es gibt nichts, was einem unabhängigen Gentleman unerträglich werden könne? Beweisen wir es.

Als im Jahre Dreizehnhundertachtundvierzig sich unter Pampineas Führung die sieben Frauen Boccacces mit den drei Liebhabern vor der Pest aus Florenz flüchteten, lag es nahe, daß sie dem Gespenst nur die Anmut von Vergnügungen entgegenhielten, die ihre Zeit ihnen bot. Es war ihre einzige Waffe. Um sie blühte die Zeit, große Männer und erfüllte Epochen umstanden ihre Welt und es gab nur die Möglichkeit, mit Grazie und gepflegtester Sinnlichkeit dem barbarischen Tod gegenüber sich verächtlich zu zeigen.

Wir haben hier kein Schloß, Mijnheer, mit Dienerinnen, wir haben keine Frauen, was ich sah seit der Ankunft ist nicht erregend und unsere Freundinnen, mit denen wir vertraut sind, sind von uns getrennt. Wir verstehen die Einfalt jener Menschen des Dekameron nicht mehr, die bei Dambrettspiel in den Gärten mit Anrufung Gottes pikante Geschichten erzählten, daß vor der Anmut ihrer lorbeergeschmückten Königin selbst das Schicksal zurückrauschte. Wir sind nicht Kinder einer erlesenen Epoche, sondern Freibeuter eines Zusammenbruchs. Wir haben die Pest nicht draußen und die runde und vollendete Welt im Herzen, sondern um uns kracht die nüchterne Phantastik unseres Säkulums und wir haben nichts in der Brust als die Kühnheit es doch zu lieben.

Boccacces Jahrhundert hatte die Pflicht zu genießen, was bleibt einem Gentleman anderes heute, als die Freiheit, sich mit seiner Zeit in Ordnung zu bringen. Man kann das auch bei Cocktails aus Milch, Ei, Gin, Whisky und Worchestersauce, und wenn der Tag dem Leben reserviert bleibt, haben die Nächte Raum für eine europäische Diskussion. Was kann einen Holländer, dessen Land neutral blieb, dessen Literatur ihn nicht interessiert, der die Musen liebt und Horaz in einer seltenen Ausgabe im Koffer mitführt (wie Casanova selbst in die intimsten Situationen), was kann einen holländischen Edelmann mehr reizen, als zu sehen, wie die Zeit sich in den wichtigsten Literaturen spiegelt, denn in nichts erkennt man, wie Flaubert in seiner Einsamkeit schon verspürte, den Menschen und die Nation so sehr wie im Buch.

Auch den Boccacce hat seine Zeit, weil er ein Ausschweifender und gleichzeitig ein frommer Mann war, mitten in die Kirche seiner Vaterstadt beigesetzt, weil die Zeit in ihm ihre Vorzüge und Eigenschaften am besten erkannte. Und doch hat seine Stimme die Wollust wie kein anderer zierlich bis in das Herz der Frömmigkeit getragen, aber es war die Sprache eines Dichters, und seine Sprache kam aus der des Apulejus und des Lukian und sang sich weiter bis zu dem roten Hymnus des d’Annunzio. Welche Vergangenheit einer Sprache! Ja, Mijnheer, man muß, um ein europäisches Gespräch zu führen, zuerst den Sinn der Sprache begreifen und ihren Weg betasten. Das ist wichtiger wie Whisky und Frauen und der fatale Ernst unserer Einsamkeit.

Ich habe heute Nacht daran denken müssen, als ich am Fenster nichts vernahm als die Dünung des Sturms, den Aufschlag des weichen Schnees und das Zustreun des Geländes, und ich unter dem Bord der hölzernen Veranda eine Schar Vögel entdeckte, die vor der Katastrophe der Natur zu den Menschen flüchteten und nichts hatten sich verständlich zu machen, als ihren aufgeregten, im Hals zitternden Herzschlag und die schreckliche Angst ihrer Augen. Ich hörte, während ich Stare und Amseln auf die Heizung hereinhob, die Wetterhähne dröhnen und die Blitzableiter wie die Elstern schreien. Hinter ihnen aber stand auf den Untertönen des Winds die Musik der Schwarzwaldwälder mit einem dunklen Brausen. Durch die gleiche Musik haben Germanen hier manchen ihrer Kaiser auf kreuzgelegten Speeren aus dem Ruhm des Südens, den sein Haupt gesucht, tot zurückgetragen.

Ach es stand im Donnerton der Tannen in der Dünung mit verzweifelter Melancholie die Irrnis unserer Geschichte, die das Unmögliche stets wie knabenhaft begehrte und ohne Ziel dann ihren schönsten Kopf sich einschlug. Erst als ich vom Balkon zurücktrat, gelang mirs ohne Bitterkeit zu atmen, und als ich mit den Vögeln sprach, war ich lauter als das Sturmwehen. Der Schneezyklon schoß von oben auf den Dachfirst, warf sich zu Boden und hob sich in einem flimmernden selbst in der Nacht sichtbaren Kreis über dem Steinsee. Da blieb er wie ein Krater, der sich rasend drehte.

Es klang verführerisch jetzt hinter dem geschlossenen Fenster, wenn ich die Vögel ansprach, gleichwie als sammelte die Sprache sich in seinen Rhythmen und hebe aus den Jahrhunderten den Ton der Heimatlaute herauf voll unerfüllter Leidenschaft und der heiteren Wehmut seiner unbewußten Schönheit.

Geliebte Sprache:

Als die antiken Zeiten sich von unseren schieden, entführten sie als Dialekt der Mythen und Götter das Griechisch und es blieb nur noch eine moderne Sprache, das Latein. Nie gab es vorher und später ein menschliches Ausdrucksmittel, das so präzis und zugleich flimmernd die Begriffe aufstach und die Umwelt dazu glänzend umschrieb, das ebenso vollendet das Vorgestellte in kristallene Nähe zwang und zugleich das Phantastische in eine Bannmeile atemloser Erregung darum sammelte. Es war die Sprache der Weltleute und der Kommis, der Dichter und der Feldherrn. Herrlich band schon Tacitus ihre Kühnheit im Bilde, als er beschrieb, Germanien sei von anderen Nationen getrennt durch Furcht und Berge. Für die Deutschen war es zu scharf, wie diese Prosa blitzte, zuhieb und trennte. Eine Zeitlang versuchten sie miteinander die Verschmelzung, aber die Mönche jagten das Latein in ihre Klöster. Wie zuckte es manchmal noch aus Klerikerhand brünstig ins Weltliche hinaus, wie mischte es sich anfangs voll und farbig mit den steifen kirchlichen Liedstollen, wie gab es noch der Mariensequenz von Muri die demütige Schlankheit: „Ave vil liehtu maris stella.“ Umsonst, es mußte nach Westen fliehen und ließ seinen Schatten nur zurück, der als Theologie vermummt und enthauptet durch das Mittelalter irrte.

Der deutsche Dialekt der Germanen kam jetzt in seinen raschen tropischen Glanz. Allein gelassen nun ward er die Stimme der großen Epen und der germanischen Troubadoure. Wie glühte der kurze Sommer seiner Pracht in des Vogelweiders Strophen, wie verschlang sich Gedanke und Reim und kehrte voll Musik zurück in die heiß und kindlich gefaltete Kadenz. Nie hat, selbst in Rilkes Versgeäder, Deutsch wieder die Größe der Einfalt und die Vollendung des Tons und die Linie der Grazie erreicht wie in der flötenhaften Lage der Walther-Strophe:

Daz er bî mir laege, —

wessez iemen

(nu enwelle got!), sô schamt ich mich.

Wes er mit mir pflaege,

niemer niemen

bevinde daz, wan er und ich.

Wunderbar füllte die deutsche liedhafte Zartheit die gläserne Wölbung des frühen Mittelalters mit Auben, Weckrufen, Taggesängen, Hörnern, Kreuzzügen und heroisch-sanften Mythen, aus deren Bau die Sprache jubeln konnte noch stolzer wie Horaz, daß wahrlich nie gehörte Sänge ihr entströmten . . . ., bis mit der schönsten Zeit der Welt, der Epoche der Dome und Kaiser und lichter Maienhaftigkeit Europas sie in den tragischen Schlußvers fiel. Deutsch ward nun die Knochensprache kleinbürgerlicher Meistersinger, die barbarische und oft wildsaftige der Volksbücher oder die robuste Dämonie Grimmelshausens und die Pedanterie der gelehrten Habenichtse.

Doch wie hatte das Latein, das über den Rhein gezogen und mit den Galliern sich vereinigt hatte, im Französisch sich zu geschliffener Klarheit mittlerweile vollendet! Wie hatte auch sein Mittelalter gehallt von den unter Ölbäumen von den Sarazenen heraufreitenden Trouveres, wie hatten die Regenbogen der großen deutschen Epen mit einem Fuße tief in der Provence gestanden, die breit und groß am feierlichsten Meer wiederum sich der Levante und den Dichtern afrikanischer Erde hingab. Wie lärmte über Spanien und Frankreich graziös und gottselig der vogelvolle Himmel der Frühzeit der Menschheit dann aber weiter bis hoch in den vollen Zenith. Und wie erfüllte er sich neu immer durch die lateinische Vergangenheit, die stets die zarte umschwebende Luft blieb, bis zu schönster Vollendung aus den Allegorien der Götter noch tief in der Renaissance der herrlichen Plejade und den späten Prunk des Rokoko. Immer gings aufwärts aus dem Blutsaft der Antike bis in ihre kühnste Moderne.

Aber wir:

Als der ältere Balzac seine„Lettres“ wie Schlittschuhkurven der französischen Prosa vorbog, sielte das Deutsch noch im Jargon der Sauhatz; glaubte Herr Opitz aus Bunzlau am Bober durch Beschreibung des Vesuvs deutsche Dichtung einem neuen Frühling entgegenzuführen. Als der taube Gentleman Ronsard und die Sechs seiner Plejade den Horizont Frankreichs mit dem Duft der farbigsten Lieder bewölkten, knabberte Hans Sachs die Klebsilben aus dem Skelett seiner sechsunddreißig Bücher deutscher Sprache. Während der flotte Offizier Descartes kristallinische Treppen mit seinem Französisch in den Nebel der Philosophie hineinbaute, sang Herr Simon Dach, Professor der Poesie in Königsberg: „Der Mensch hat nichts so eigen / so wohl steht ihm nichts an / als daß er Treu erzeigen / und Freundschaft halten kann“, und glaubte damit, während Shakespeare schon lebte, eine Revolution der deutschen Dichtung geschmissen zu haben. Rabelais, ein entlaufeper Benediktiner, der wundervollste Vagabund neben Villon, und vierzigjährige Medizinstudent führte das Französisch in das ungeheuerlichste Barock, während der Bürger Ayrer seine üblen Fastnachtsscherze schrieb. Im Französischen bildete sich Niveau. Bei den Deutschen war es nur, wenn Wundervolles aufsprang, eine begabte Revolution. Denn auch Ekkhart war den Deutschen nur das mystische Gewissen, Fischart blieb nur die skurrile Blähung voll gewaltiger Einfälle und Luther war keine Sprache sondern nur ein Temperament.

Die Kriege der anderen und die Reformationen, denen Deutschland den Rücken hinzuhalten das Schicksal hatte, haben die Einheit der Empfindung und die Sprache zerstört. Als man sie wieder hätte sammeln können, gelang es nicht den schlanken Bau der Gotik und die Süße mittelalterlicher Gefühlskraft wieder zu entzaubern. Es gab keine Gemeinschaft, keinen so zentralen Hof, der sie glanzvoll gepflegt hätte. Die Führer und Verantwortlichen haben von jeher den Geist und das Volk im Stich gelassen. Man hetzte Hirsche und drillte Soldaten. Das war genug.

Wie anders hat Frankreichs Volk die Muse gehegt! Als Marquisen mit Vaugelas Grammatik unter dem Arm dozierend durch die Schloßparke schritten, korksten deutsche Fürsten wie Stotterer den Dialekt oder retteten sich ins Französisch. Wie hat die Literatur seit Margarethe von Navarra, dieser erlesenen Frau, seit Karl dem Neunten, seit dem ersten Franz, dem vierzehnten, fünfzehnten Louis um die Höfe sich gereckt, die Sprache sich veredelt, wie war der Ausdruck des Menschen Maßstab fast mehr wie die Geburt geworden, daß schon über die Übertreibungen die Spötter des Molière in Lachkrämpfe verfielen. Ja die Macht war so groß, daß selbst revolutionäre Dinge gelitten wurden, wenn ihr Anspruch ihrer Würde und Vollendung entsprach, und die Gesellschaft vernahm mit der Grazie der Gegeißelten die Anmut der Geißler.

Den blauen Salon des Hotel Rambouillet besuchten die Prinzen neben Bossuet und Scudéry, und die Geistigkeit der Marquise, die empfing, war stark genug aus ihren Jours und Empfängen eine literarische Bewegung zu machen, die Richelieu zur Gründung der Akademie trieb. Und während über Deutschland der Dreißigjährige Krieg flutete, war der politische Einfluß der Literatur so ungemein, daß der größte Staatsmann Frankreichs im Streit um Corneilles „Cid“ mit allen Pressionen die gebildeten Kreise mobil machte, Corneille zu zerreißen, weil ihm dessen Geschwärm für Duelle und Spanien seine Taktik kontrekarrierte, die den Adel auf den Bauch warf und Spanien an die Wand drückte. Am Arm von Herzoginnen aber besuchte der große Dramatiker den sich über die Ehre tief verbeugenden und den Besuch des höchsten Adels wahrlich gewohnten Bernini, Italiens damals größten Künstler, unter der Aufmerksamkeit der ganzen gebildeten Nation, während in Wasserstiefeln deutsche Pastoren, submissest verhungernd, als schlesische Dichterschule schüchtern verkleidet, weltfremd einen dünnen, wenn auch nicht uncharmanten Barock auf deutsche Flaschen ziehen wollten. Wie hat noch hundert Jahre später der große Friedrich seine armseligen Dichter verachtet und mit welcher frivolen Überlegenheit dem Schweizer Henri de Catt die Aperçus über einen gewissen Hofmann erzählt, der mit demselben Hemd ein ganzes Wörterbuch verfertigte und der, als man ihm drohte, am jüngsten Tage werde er allein unter den lichten Gottseligen unrein bekleidet vor Gott erscheinen, den saftigen Wunsch aussprach, daß er lieber, als das Hemd zu wechseln, auf die Auferstehung verzichte.

Wie verachtet, wie schmählich verkuppelt ist in dieser Gesellschaft die Sprache der Heimat geworden, wie erlösend und rührend aber ist sie manchmal dennoch in die Hände von Einzelnen zurückgekehrt, die sie für ihre Launen und für ihre Begeisterung züchteten und sie auf dem langen Weg der Erniederung schön über die beflaggten Barrieren ritten! In Frankreich steht ein gezüchteter Schlag.

Bei uns kommen manchmal die interessanteren Hengste und wiehern die Erinnerung der großen Zeit und blitzen Hoffnung auf die Zukunft aus dem schönen Schlag der Hufe.

Heil Lessing, der mit Strenge säuberte, Sturz, der sie schlank wie ein Florett im Kreis auf seine Hände zurückband. Grabbe, der sie dunkel durchwühlte, Kleist, der ihr die Stahlsehnen des jungen Genius durch den Torso zog, Jean Paul, der erste, der ihr den Nebel und die göttliche Atmosphäre der Worte wie einem gigantischen Stern zur Wielandschen Grazie gab, Büchner, der sie zu heroischer Schlankheit des Mutes begeisterte, Heine, ihr geliebtester Sänger der vogelleichten Kraft, die Romantik, die sie träumerisch wieder mit dem Gesicht ins Übersinnliche wandte, Nietzsche am Schluß mit dem jubilierenden Hurra der obersten Verzweiflung. Geliebte Dichter! Sie waren gute Jokeys und vorzügliche Trainer, aber sie ritten ohne Tribüne und ihre Ställe und Concours hatten keinen Zulauf ihres Publikums, auch hatten sie keine Kenner, obwohl ihre Klasse von internationaler Güte war. Sie waren Desperados der Kunst gegen die Gesellschaft, die sich nie recht formierte, während sonst in Europa diese Gesellschaft die Kunst wie eine sanfte und schöne Krönung über sich trägt.

Selbst Pindar war nur in diesem Sinne ein Dichter für feinere Sportfeste seiner dorischen homosexual gerichteten Geldaristokratie, Shakespeare und Molière die Fabrikanten der von ihren Höfen bestellten Theaterstücke, Calderon war seines spanischen Hofs Arrangeur für pompöse Vergnügung, die Maler der Renaissance die Hauseinrichter ihres sie bezahlenden geschmacklich kultivierten Publikums, Bernini der Baumeister für luxuriöse Ausschweifungen des Barock und der Vogelweider im Lyrischen der Pressechef seines staufischen Adels.

Die Menschen guter Zeiten gaben sich durch die Leute, deren sie sich zur Herstellung angenehmer Verzierung ihrer Epoche bedienten, ein veredeltes Gesicht. Das war alles. Manchmal achteten sie diese Leute nicht einmal, erst Michelangelo machte sich mit seinem Anspruch zum Fürsten. Damit blieb er, genau wie wenn man ihn als Sklaven gehalten, das gleiche Ornament seiner Zeit. Daß man aber ohne Zusammenhang mit seiner Epoche, rund um eine Zeit rasend, die keine Gesellschaft barg, Dramen zusammenschrieb, Bilder zusammenmalte, Türme in die Wolken hineinschickte, Bücher wohl über Probleme der Ideen aber nicht über die Erziehung zur Nation zusammenstapelte, das ist in seiner generationenlangen Dauer so rührend wie unglaublich, aber deutsch. Hat uns nun, seit man in Autos und Flugzeugen und Bahnen fährt, telephoniert und drahtlose Depeschen sendet, die Muse heftiger und vereinigender geküßt? Man hat uns, Mijnheer, noch mehr wie die Schafe auseinandergetrieben. Die Techniken haben uns ein jagendes Tempo in die Adern gesetzt, aber sie haben uns weiter von den Wurzeln deutschen Seins gescheucht wie der Dreißigjährige Krieg.

Was hinter den Romantikern herkam, hatte Plattes und Sauberes, hatte Persönliches und Albernes aber es hatte kein Niveau. Die bärtigen Leute um Paul Heyse hatten die Vehemenz des Dichterischen schon ganz vergessen, als sie nazarenisch in ihren lombardischen Wein den Zucker ihrer Gefühle füllten. Die Holz und Schlaf, die diese in schwacher Nachahmung des großen Zola entthronten, hatten nur schlechte Manieren aber keine Kraft. Es blieb wohl Einsicht, aber keine Stärke, sondern Geschrei. Daß gegen diese dann wiederum die geölten und geschmackvollen Jünglinge des Dichters George marschierten, der ihnen langsam an Baudelaires und Mallarmés erhabenem Beispiel das Geheimnis der strengen Form beigebracht hatte, bewies wohl Einsicht und Sinn für das Dichterische, aber es stellte gegen den Schlamm der Epoche nur einen Salon von Süßlingen. In der Tat, Georges Beispiel ist sinnbildhaft von Bedeutung, es schuf in Wahrheit nur einen Zenakel und dieser war denkbar nur in Frankreich, aus dem er kam.

Erst als die Schicksalsuhren tragischer ins Volk bellten, suchten einige Dichter und fanden einige einer neuen Generation eine Sprache, die, wie die keiner Epoche vorher, wenn auch nicht aus den Klarheiten so doch aus den Krämpfen ihrer Dezennien sich der Zeit anschloß. Die Unerbittlichkeit Wedekinds, der Zauber Schickeles, der breite Döblin, die tapfere Kolb, der hell urteilende Kerr, Sternheim, Benn, Kaiser versuchten ihre Generation zu einem mörderischen Glanz zu verdichten. Das Material Balzacs war ihnen nicht gegeben zwar, sondern nur ein zersplitterter Spiegel. Sie pappten ihn nicht, sondern sie schossen ihn zusammen. Eine Weile deckte sich Kunst und Zeit. Wir sind in der Gegenwart.

Wir sind in der Gegenwart, Mijnheer. Sie liegt vor uns wie Land und Meer, und wo sie zusammentreffen ist Hafen und Schiff. Und wo sie sich schneiden, hat Kunst und Nation sich berührt. Zehn Nächte bei Flips und Cocktails und Gin und Kerzen sind eine knappe Zeit das Terrain zu beschauen. Was interessiert einen holländischen Gentleman an der Gegenwart? Er hat ein Haus in ’s Gravenhage, eine Herde in Utrecht, eine Bibliothek in Delft. Er reist durch die Welt, von Krieg verschont, von Kriegssteuern ledig, den Passeport von der Königin visiert, unabhängig und gebildet, gelangweilt von seinem Lande, und neugierig, was aus Europa geworden ist. Dazu, weil er bereits aus den Gärten der Jugend in die Üppigkeit gepflegter Gelehrsamkeit geführt ward, voll Eifer zu sehen, wie in den Literaturen das europäische Gewürm sich vereinigt. Was kann Sie besonders reizen, nehmen Sie das Glas und beschauen Sie die Linie zwischen Meer und Land.

Die paar Pioniere, von nicht sehr großer Lunge, die die Vereinigung betrieben, haben nicht natürlich Gesellschaft gebildet und Volk und Kultur sich wie im Paradies unter Tränen gerührt ans Herz sinken lassen. Sie haben das Wichtige, wohl unter großen Fehlern, dem Wachstumfähigen genähert. Mehr nicht, aber es ist wohl viel. Will einer nun wissen was kommt, was sonst an Schiff, Barke, Floß, an Haus und Matrose diese Phantasie-Gegend bevölkert, ist die Untersuchung der Gegenwart immer von Reiz, das Prophezeihen aber Kinderei. Der Ehrliche sagt immer nur, was ist. Das Kommende folgert er zum Teil, ahnt er zum andern, zum größten weiß er es nicht. O navis referent in mare te novi fluctus? Ich zweifle nicht, aber ich begebe mich der Antwort. Wir sind zu verwirrt ineinander, man reißt die Kunst nicht der Zeit aus dem Bauch und gibt ihr eine gewünschte Direktion. Auf Zukünftiges die Antwort kann nur Deutschland geben.

In diesem Augenblick, wo es sich anschickt, in die Arena der Entscheidungen Europas zu treten, nimmt es uns alle mit in seine Fahrt. Wie auch immer es sich anschickt, mit seinen dunklen Meeren, den blauen Gewässern und den flammenden Ernten seine Fahrt zu nehmen, sind auch unsere Schicksale mit dem seinen in sein Gesicht gebrannt. Wir können uns nicht trennen. Ob es der rechte Weg ist oder der verfluchte, wir müssen ihn gehen, vielleicht müssen wir ihn auch lieben. Wir können nur hoffen, es möge der rechte Weg sein.

Zehn Nächte Mijnheer sind lange Zeit, man muß alles bereden. In Boccacces „Dekameron“ beginnt unter Pampineas Szepter das Spiel, sich die Ergötzlichkeiten des Daseins zu erzählen, und reihum geht der Königsstab von Frau zu Mann jeden Tag, ein König führt sie am Ende lebend nach Florenz. Wir sind nur zwei, zu wenig für einen König. Und mit zuviel Gestrüpp und Sturm um unser Gespräch, als daß das Spielerische eines Fürsten hinein passe. Mijnheer, Sie sind Monarchist. Ihren Ahnen hat Greco gemalt, ein anderer fuhr zu Cortez und zog in Mexiko ein. Ihr Wappen zeigt mit einem verschnörkelten M, daß einer mit Karl dem Fünften zum Kloster ging. Mit einem anderen kam Ihr Geschlecht nach Holland, nahm javanisches Blut auf, hatte vielleicht schon jüdisches in sich. Mijnheer, Sie sind konservativ und urban. Sie sind nicht reaktionär und dumm. Ihre Tradition macht Sie gepflegt und weit und nicht verkümmert und eng. Was seither je vor unseren Blick kam, hatte die gleiche Geltung für Sie und für mich. Sie sind nicht weniger Europäer als ich, ich aber bin nicht weniger stolz ein Deutscher als Sie ein Mann der Niederlande. Aber vermögen wir die Gegenwart, deren erlesene Dinge nicht deutlich von der Zeit distanziert sind, mit gleichem Auge zu beurteilen in einer Epoche, die nicht nach Vorzügen und Glanz, sondern nach Zwecken, nach Angst, nach Wünschen und Richtungen urteilt? Haben wir den gleichen Blick, wenn wir, wie vor Kanonen, vor die Gegenwart geprellt stehn?

Wie soll ich es Ihnen am deutlichsten sagen?

Hören Sie die Geschichte meines Geburtstags.

Am Tag, als im Grunewald die Mörder den Reichsminister Walther Rathenau erschossen, fuhr ich aus dem Süden im Auto in meine Heimat. Als wir gegen Mittag den Main überkreuzten, kamen wir, von nickenden Birkenalleen flankiert, nach Wilhelmsbad, wo die Prinzen von Hanau ihr Versailles in einen schönen Park gebaut hatten. Über einem Atlas mit einer Löwenpranke vor dem Geschlecht, der eine sechzehnflächige Sonnenuhr trug, sahen wir einen kleinen innen gehöhlten Berg, in dessen Innerem zwei Pferde seinerzeit im Dunkeln nebst den Lakaien einen Hebel im Kreise drehten. Oben jedoch, vor dem seidigen blauen Himmel flogen auf dem derart gedrehten Karussell die Prinzen der Zeit durch die Luft ihrer spielerischen Entzückung. Wir lachten und kamen in die Wetterau.

Aus den weichen Schatten, mit denen die Wolken über die Ähren wanderten, am bläulichen Grün des Saftes in den meilengroßen Ebenen, im Wind der Weiler, die aus Baumspalieren mittaglich träumten, aus der fetten Kraft und sprudelnden Wucht des Bodens spürte ich die Heimat. Hier haben meine Ahnen, die Lanzen im Arm, gewohnt. Durch diese Täler sind sie von ihren Burgen gezogen. Meine Mutter hatte etwas von dem besinnlichen braunen Glanz alter Wildheit im Auge. In Friedberg, das am Horizont blieb wie ein Starnest, habe ich sechsjährig auf den Burgzinnen Dohlen gejagt und unter den Sommerbüschen der Schwarzdorne und gelben Ginster habe ich die Platten der Rittergräber mit dem Finger abgefahren. In Büdingen hängt in der Schloßkapelle die Isenburger Kriegsfahne, gegen die sie gezogen. Am Schloßportal erfuhr ich die Ermordung des Ministers, die Lakaien standen am Schloßgraben und schwatzten, der Pförtner in einer sagenhaften Uniform öffnete das Tor.

Ich bin den Mittag weiter durch meine Heimat gefahren, die Störche saßen auf allen Giebeln, die Schwalben sangen sich über den Eichen, die wie Pappeln gewachsen sind, in klarem Sang herauf und herunter, und an den Enden des Horizonts zogen sich violette Schatten, die langsam den Himmel wie große Zeichen der Festlichkeit heraufkamen.

Um uns rauschte das reifende Korn geheimnisvoll in den mittaglichen Glanz, und die Felder mit farbigem Mohn bogen verführerisch in die Stille der Hänge. Wie ein roter Regen flogen die Alleen mit den satten Kirschen über uns, als wir nach Gelnhausen kamen und sofort die Pfalz des besten Hohenstaufen suchten. Während seine Vorgänger und seine Nachfolger den Dom bauten, setzte er in den Sumpf für eine Geliebte die Pfalz von wunderbarer Wucht, den Pallas von einer Brust der leichtesten Säulen gegliedert. Der Jasmin flutete mit dem Geruch des weißen Hollunders durch die Ruinen und umdampfte das steinerne Gesicht des Barbarossa.

Sein Kopf springt aus der Wand über dem Eingang hervor und läßt keinen, der eintritt, ohne Blick. Der Bart ist gespalten und nach außen in die Höhe gezogen, bis er die Höhe seiner Augen erreicht. Auf den Spitzen des Bartes tanzen da zwei kleinere Köpfe, der des Hundes, der ihn in die weiten Jagdfelder führte, der jenes Weibes Gela, die er liebte wie ein Toller, die ihn zwanzigmal von italienischen Fahrten und deutschen Revolten an ihre Wärme zurückriß. Aus der Tiefe dieser Schatten kam mir manches ins Blut geschossen, als sich die Hollunderbüsche teilten.

Ich bin wie trunken, gesättigt vom Atem aller großen Zeiten durch meine Heimat gefahren und die Bäume hatten etwas Erkennendes in ihrem Dunklerwerden und die Vögel in ihrem Schweigen und die Felder in ihrem helleren Rauschen und die Wolken selbst, die den satten Ton der Dämmerung auf ihre lila Segel genommen, erstiegen die Höhe des Himmels mit grüßendem Triumph. Ich sah die Rehe flüchten und den Mond über den Barockschlössern aufgehen, deren Spiegel die Nacht silbern erhellten, ich sah die Nymphen der Dächer fester in ihre Hörner blasen, wenn die Nachtwinde aus den Feldern sie trafen und ich sah den Main mit seinen Schiffen heraufkommen in der weißen Nacht mit einer Größe und Verwandtheit, die ich aus den Jahrhunderten, die wir hier verbrachten, sofort verstand.

Ich bin durch die Empfänglichkeit meines romantischen Blutes wie ein zu dem Stern der großen Kaiser und adliger Erinnerungen Verführter durch die Nacht meiner Heimat gefahren, in deren Landschaft deutsches Schicksal und deutsche Welt sich durch Generationen entschied und Ausdruck und Figur erhielt bis an ihre besten Maße. An diesem Tage wurde Rathenau als der vierhundertste wehrlos, von hinten, erschossen. Ich bin für die Republik.

Ich bin für die Republik, Mijnheer, wir sind angelangt bei politischen Dingen und haben sie schon überwunden, indem wir es erkannten. Denn Sie wie ich werden bemüht sein, ich von dem Ihren und Sie von meinem Herzen aus die Gegenwart zu sehen. Und wir sind beide genug voll innerer Distanz zu den Dingen, um nicht zu verstehen, das Saubere von dem Gemeinen und das Echte vom Gefälschten zu unterscheiden. Sonst ist nichts von Belang. Welches Volk aber von Barbaren, Mijnheer! Man kann mit diesen Leuten nicht sein, die den Mord heiligen, um zu Monarchien zu kommen, deren Absurdheit Sie wie ich in jener Form verachten, wie vernarrte Jünglinge und verbissene Greise sie wollen. Das hat kein Band mit den Erinnerungen meines Blutes.

In meinem Wappen stehen unter dem springenden Löwen die sechs Punkte des Gleichgewichtes. Der Wahlspruch schrieb: „fidèle sans blâme“. In Ihrem ist das Segel der Fregatte, mit dem ein Ahn die Mauren jagte, ein späterer seinen König nach den Niederlanden führte und darunter steht: „Illum oportet crescere me autem minui“ wie bei dem furchtbaren Johannes des Grünewald, der vergehen wollte wie ein Blatt, damit der Nazarener aufschieße wie ein Baum. Ach, wenn die Könige Europas doch auch wie junge Heilige wüchsen! Auch Ihr Monarchismus hat eine Idee und es wäre Ihnen darum unmöglich, den Meuchelmörder zu rufen, wo ein Gedanke Sie erfüllt. Napoleon Bonaparte hat als Letzter die Monarchie einer europäischen Idee verfochten und ich gestehe, daß ich das Verführerische dieses Glaubens spüre. Ich sehe aber in diesem Europa meiner Jugend keinen Weg und keinen Führer dazu. Ich bin für die Republik.

Mijnheer, wir sind eingeschneit. Die Läufer, die zurückkehren, haben die Figuren von Tieren. Wir sind mit ihnen in dieser angenehmen Höhle eingesperrt. Sie wollen nunmehr mich in der Zwischenzeit veranlassen, mit der gleichen animalischen Unvoreingenommenheit der Kunst nicht nur die Knospen des Busens zu bewundern und den zitternden Elan der Schenkel zu bestaunen, sondern der schönen Gejagten den Bauch zu beklopfen und alle Sehenswürdigkeiten aber auch alle Fehler ihres Baues in unser Entzücken und in unser Urteil aufzunehmen. Die Wertungen ihrer Schönheit fällt allerdings erst die spätere Geschichte.

Aber die Göttlichkeit des Augenblicks, die versteckte Herrlichkeit einer ihrer sekündlichen Bewegungen und den Schatten der Sonne auf ihrer schlanken Hüfte bringt keine Ewigkeit zurück. Es lebe der Augenblick!

Ich habe daran denken müssen, als nicht nur die Wände des Barbarossa-Pallas mit den schmalen Scharnieren der Säulen sondern auch die Färbungen der Ecken und die Dunkelheiten der Verließe und die schmerzlichen Lücken des Fehlenden mir den Ruhm ihrer Zeit erst völlig entgegenbrachten. Fesseln wir den Augenblick! Durchbohren wir ihn, weil er erst dann unsterblich ist. Alles andere geht, wie Deutschland geht. Es lebe die Republik!

Wir gehen in die erste Nacht, Mijnheer, als ob wir in die Verbannung gingen und Deutschland so fern hinter den Schneewehen sei, als habe das Exil sich wahrlich zwischen uns und die Heimat gelegt. Der Sturm, der an den Schwarzwaldbergen hängt, hat die Gegenwart wie die eines Sternes entfernt, man sieht durch den Kerzenschein nur Kämpfe und Gesinnungen wie bei Homers großer Schlacht. Man sieht nur die Dichte der Leistung und den Adel des Wettspiels und erschrickt nicht, wenn man beim Reden das Herzblut der Zeit auf den Lippen spürt und stirbt nicht daran wie jene Geliebte und Liebende von Coucy, die wie am Blitz starb, als sie das Kreuzzugherz ihres Freundes durch Irrtum verspeiste. Hinter dieser Betrachtung formieren sich dann schon die Massen. Man kommt nirgens ohne innere Haltung aus: „Après vous, messieurs,“ schrien englische Cavaliere französischen Rittern zu, als diese höflich den Briten den Vorrang der ersten Salve bei einer Schlacht lassen wollten. Diese Devise ist nicht flacher in einer Zeit, wo die Schwengel sich duellieren und die Edelleute sich öffentlich verleumden. Man darf nicht erstaunt sein, beim Untersuchen der Zeit statt einer Armee von Helden ein Lager von Schelmen anzufinden, aber man braucht deshalb seine Unparteilichkeit und seine Manieren nicht zu verlieren. Man kann unbefangen sein und kalt wie ein Fisch im Urteil und doch seine private Sehnsucht vor alles Richtige nachher wie einen Traber vorspannen.

O Deutschland!

In seinen Tälern beginnen die zaghaften Anfänge des Frühlings schon in den ersten Sommer einzukreisen und aus den Gärten bricht schon der Geruch der vielen Blumen. Unsere Träume haben keine Muse, teilzunehmen an so sanften Entzückungen seines Wesens. Im Gewirr seiner Pfade einen Weg suchen und die Beete zu unterscheiden ist eine Aufgabe, die verflucht ist, auch wenn die Donner eines stürmischen Frühjahrs nicht mit dunklen Gewittern über uns hingen. Unser dreißigstes Jahr ist nicht heiter wie das der Jünglinge des Boccacce und unsere Jugend ist stürmischer wie die des Cinna und Hannibal. Was ist noch zu tun?

Ich habe gehört, daß über mein Ordnen und Schichten und Höhe- und Tiefe-Weisen einige schrien, es sei Diktatur, die versucht werde, aber da es, wie ich näher hinsah, erbärmliche Schatten waren, die schrien, habe ich nicht geantwortet und mein Ehrgeiz war nicht klein genug zum Kampf mit den Gerippen. Die Erfolglosen, die das Nein gegen die Gesunden stets im Munde führen, haben mich nie gereizt und Verneiner sind nichts anderes als frühzeitige Tote.

Man hat in Deutschland wie das züchtigende Ja so auch das Ringen um die klar erkannten Ziele und das Bewußtsein der handwerklichen Leistung ganz verlernt. Man hat sich so zerspalten, daß man nichts mehr weiß von jener weltumspannenden Kameraderie der Handwerke, von der gemeinsamen Wollust europäischer Arbeit, von jener Staffelung in Gut und Schlecht und Volk und Arbeit . . . . und wie in seinem Mittelalter man sich verehrte, nicht weil man berühmt war, sondern weil man etwas konnte, wie man sich gegenseitig unterwarf und lernte und schließlich allesamt bewußt dann kreiste, der Vollendung nahe nachher, um die Achse eines sicheren Weltgefühls. Es gibt heute keine Schüler mehr und keine Belehrer, nur seltsame Meister ohne Boden und ohne Himmel.

Man muß ihnen zeigen, was ist, diesen armen unbelehrbaren Menschen. „Ich werde Euch lehren den Arm, ein Bein, mit Grazie zu biegen,“ sagte Boucher zu seinen ungelenken begabten Schülern. Hokusai, der seit dem fünften Jahre unendlich viel zeichnete, verwarf, was er vor dem siebenzigsten Jahr geschaffen und glaubte, mit Dreiundsiebzig etwas von der Farbe der Dinge zu begreifen. Ronsard empfiehlt in seiner Poetik den Dichtern, zu Schlossern und Goldschmieden zu gehen, um zu lernen die Sprache zu ziselieren. Ingres empfahl, wenn man für hunderttausend Francs Handwerk habe, keine Sekunde zu zögern noch für einen Sou dazuzukaufen. Und Flaubert, der es wissen mußte, wie keiner, schrieb nachts an Madame X. von Croisset nach Paris, er habe auf hunderttausend Arten einen Ausdruck gesucht, behauen, gegraben, gewendet, durchstöbert, gebrüllt, bis er ihn unter Garantie endlich habe und nun, nachts um ein Uhr stehe er mit fieberndem Kopf und brennender Kehle seiner Geliebten zur Verfügung.

Sie wußten alle, daß Talent nichts sei als lächerliche Voraussetzung und daß bei genauer Prüfung schließlich wohl jedermann ein Talent habe, und daß ohne die grauenvollste Arbeit nach einem Ziel, das man sehe, im Sinne aller Meister jedes Geschreib und Gemale nur ein dilettantischer Schmus und ein zweckloser Unfug sei. Sie wußten, man müsse den Menschen zeigen, wie sie arbeiten sollten, wo die Quellen lägen und wohin sie ihre vom Übermaß der Bemühung geröteten Gesichter freudig wenden sollten.

Ein Glockengeläute gibt zuerst, weil der Klöppel eine Seite lediglich berührt, einen hellen dünnen Ton. Erst wenn er die andere Seite unter geschickter Führung dazu noch erreicht, überbaut den ersten Anschlag die dunkle Kraft des zweiten . . . . und so, voneinander nehmend und sich überbietend, baut sich die Stufe der Melodie immer breiter dröhnend in den Himmel.

Man darf nicht zögern, das Seil zu führen, wenn man Musik liebt. Man will das nicht wissen? Man kann es nicht sehen? Um so besser. Ist niemand da, der die Kontrolle führen will . . . . hier ist er. Vergessen Sie die Kerzen nicht, Mijnheer. Der Sturm hat ein Rad über die Gletscher geschlagen. Er vergißt uns nicht.

Die erste Nacht

Die Mäuse huschen unter den Heizungsrohren durch die Zimmer. Erschrecken Sie nicht, wenn die Fallen klappen. Elf Uhr. Die elektrischen Bogenlampen draußen auf den Fahnenmasten für die Verirrten dringen keine zwanzig Meter in diese Nacht.

Das dumpfe Dröhnen sagt, daß der Neufundländer Bary vom Hebelhof diese Nacht nicht im Schnee schlafen kann und morgen nicht seine Geliebte, die Wolfshündin auf Herzogenhorn besuchen wird. Als wir vom Blösling das erstemal in der Lawinenzeit unter den Wächten herkamen und uns die schöne Frau mit dem Monocle und die beiden Badener von der Terrasse des Blockhauses, das unten mitten in der Ebene stand und jede Minute weggewischt ward von Schneewehen, mit Posaunen und Reiterdrommeln begrüßten, wie lachten wir vor Wonne über die Musik, die man wie ein Geschoß uns entgegenknallte . . . . . . aber wie entsetzten wir uns, als über der Grafenmatte mitten im Schußfeld wir Bary zum erstenmal erblickten, der unfehlbar einem schwarzen Bären glich, und wie umfuhren wir ihn mit entsetzten Schwüngen.

Denn der Wechsel von Licht und Schnee war so gespenstisch, daß uns kein Tier der Urzeit erstaunt hätte, wäre es aus diesem von Sonnenkanonaden und Luftspiegelungen durchwehten Tag aus der Landschaft herausgetreten, über die wir wie Götter herabkamen, achtzig Kilometer Stundengeschwindigkeit, auf Hickorys, immer neue schier unabsehbare Terrassen von Hängen hinunter. Nun sitzen wir auf den Fenstern und starren bei Kerzenschein in die Nacht. Kommt uns ein Echo zurück aus dem Brausen?

„Was nun ist deutsch?“, fragt Ihr Auge, Mijnheer, frug es schon oft an meinem. Frug es, als man den jungen Springer vom Hügel gestern brachte, der, als die Chirurgen die scharfen Knochenenden in den Oberschenkel zurückspießten, Ziehharmonika spielte. Es war schneidig, doch ich sah dasselbe bei Blériot. Sie frugen, ohne zu reden, das Gleiche, als hinter Konstanz ein Rotbart ins Coupé schaute und ehe er Platz nahm, schrie: „Sind Juden drin?“ Das war nur untermenschlich. Sie sagten einmal, daß in Ihrer Jugend in Grénoble, als französische Studenten den wahren Mut der Deutschen bezweifelten, ein alemannischer Skulptore vor Ihren Augen am Tisch des Cafés sich die Brust aufschnitt. Das war barbarisch aber nett. Nicht deutsch. Nun fragen Sie ernstlich und wollen eine Antwort, rund und klar und voll Verantwortung. Das ist nicht leicht. Das ist unmöglich.