Das Ermittlungsverfahren - Walter Baumert - E-Book

Das Ermittlungsverfahren E-Book

Walter Baumert

4,3

Beschreibung

Die schwere Klappe in der Zellentür rasselt herunter. Thälmann hört die sich entfernenden Schritte des Wachhabenden, dann herrscht wieder Stille, die ihn seit seiner Isolationshaft wie eine Glocke umschließt. Manchmal, wenn ihm seine schwierige Situation bewusst wird, glaubt er sie unterbrochen von einem klirrenden Ton, der bedrohlich anschwillt, das sind gefährliche Augenblicke, in denen er seine ganze Willenskraft mobilisieren muss. Hitler an der Macht, Millionen Genossen verhaftet oder ermordet, die Partei verboten, wie konnte es dazu kommen - diese Frage stellt er sich immer wieder. Und indem er nach den Ursachen forscht, über sein Leben, den Kampf, die Erfolge, über die Niederlagen seiner Partei im Wirrwarr der Weltwirtschaftskrise nachdenkt, findet er Ruhe und Zuversicht. Göring, die Gestapo und die Reichsjustiz setzen die besten Spezialisten ein, um Thälmann zu einem Geständnis zu zwingen, das Hitler, der einen Hochverratsprozess anstrebt, dringend braucht, um sein Vorgehen gegen die Kommunisten vor der Weltöffentlichkeit zu rechtfertigen. Thälmann, allein in seiner Zelle, doch mit der Gewissheit, die Genossen hinter sich zu haben, beginnt, sich auf den Prozess vorzubereiten. Das Buch nach dem DDR-Fernsehfilm von 1981 erschien 1985 zeitgleich in Ost-Berlin und Dortmund. INHALT: Nicht nur ausrotten werden wir die rote Pest Votum für die Nationalsozialisten Eine Nachricht beunruhigt Thyssen Rachegedanken eines Mächtigen Unter vier Augen Der große Schlag misslingt Endlich ein Sieg! Der Prozess muss zur moralischen Vernichtung des Kommunismus führen Ein schwarzer Tag für die KPD Der Justizexperte übernimmt den Fall Thälmann Rapport in der Parteikanzlei Ich werde diesen Mann in die Knie zwingen. Unter vier Augen Amtsantritt des Untersuchungsrichters Vorbereitung des ersten Verhörs Es geht nicht allein um Ihren Kopf, Thälmann Der Mann in der Zelle Gespenstisches Vorgeplänkel Das erste Verhör Sie werden noch das Fürchten lernen! Was steckt hinter dieser Drohung? Sagen Sie der Welt: Hitler ist nicht Deutschland Morgenspaziergang eines Illegalen Kaffeebummel des Untersuchungsrichters Rückschau eines Revolutionärs Begegnung mit Lenin Die Last der Verantwortung Eine teuflische Erpressung Gedanken im Widerstreit Eine Rechtsberatung Bericht bei Walther Die Besichtigung Auch der stärkste Charakter hat eine verwundbare Stelle Meine liebe Rosa! Die unsichtbare Kette Die Isolation muss durchbrochen werden! Ein Angebot Walther verschärft die Isolation ...

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Impressum

Walter Baumert

Das Ermittlungsverfahren

Ein Thälmann-Roman

ISBN: 978-3-86394-541-1

Die Druckausgabe erschien erstmals 1985 im Verlag Neues Leben Berlin.

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

Der Autor dankt dem Institut für Marxismus-Leninismus Berlin für die Bereitstellung des dokumentarischen Materials und Professor Dr. Günter Hortzschansky für die wissenschaftliche Beratung.

© 2014 EDITION digital® Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected]

Vorspann

„Das Geschick kann hart sein, kann einen Menschen, der keinen geistigen Widerstand dagegen aufbringt, seelisch vernichten, kann andere Folgen haben, ihn zum Schwanken bringen und zur Verzweiflung treiben. Ich aber glaube an den Triumph der Wahrheit, und dieser Glaube hält mich aufrecht in den Prüfungen, die ich jetzt zu bestehen habe ... So schwer es ist,- diese Einsamkeit und diese Last zu ertragen, ich will und werde tapfer und mutig aushalten, denn ich weiß, dass unbeugsamer Wille und fester Glaube Berge versetzen.“

Ernst Thälmann, Brief an Rosa aus der Untersuchungshaftanstalt Berlin-Moabit, am 20. Mai 1935

Erstes Kapitel: Nicht nur ausrotten werden wir die rote Pest

Votum für die Nationalsozialisten

Der große Saal im Deutschen Industriellenklub zu Düsseldorf war bis auf den letzten Platz besetzt. Eine Stunde schon ließen die Exponenten der rheinisch-westfälischen Schwerindustrie höflich, aber mit unbewegten Gesichtern die weitschweifigen Beschwörungen Hitlers über sich ergehen.

„Die Wiedergeburt Deutschlands“, „Zusammenschluss aller Deutschen“, „Erhebung der gedemütigten Nation gegen die internationale Verschwörung des Judentums“, „nationale Befreiung“, „Schicksalskampf um den Lebensraum“, „Neuordnung der Welt“, „Herrenrasse“ - das alles hatte man bis zum Überdruss gehört, das meiste lange vor Hitler, vor dem Weltkrieg, von den Alldeutschen, in den Studentenkorporationen, aus kaiserlichem Mund. Zudem verhaspelte sich der Redner. Gewohnt, sich durch den enthusiastischen Beifall seiner Anhänger in eine Art Trancezustand hineinzusteigern, war er angesichts der kühlen Distanz der Industriellen und Großaktionäre offensichtlich aus dem Konzept gekommen, hatte vieles, was ihm vorher von Fritz Thyssen und Hjalmar Schacht eingeschärft worden war, ausgelassen.

Erst die Forderung nach einer Achtmillionenarmee zum Schutz des Deutschen Reiches und das Versprechen, den Marxismus bis zur Wurzel auszurotten, brachten Hitler den ersten Beifall, seine Befangenheit schwand. Schwungvoll begann er nun seine Vorstellungen vom künftigen Staatsaufbau zu entwickeln. Er verhöhnte die Demokratie als „Herrschaft der Dummheit“, der das „Prinzip der Zerstörung“ jeder nationalen Größe zugrunde liege. „Welch ein Widersinn“, rief er zynisch, „wirtschaftlich das Leben auf der Autorität der Persönlichkeit aufzubauen, politisch aber diese Autorität der Persönlichkeit zu leugnen und das Gesetz der größeren Zahl, die Demokratie, an deren Stelle zu setzen. Machtstaat“, schlussfolgerte er am Ende seiner Rede, „ist die Voraussetzung für die Hebung der wirtschaftlichen Situation.“ Das Eis war gebrochen. Die Elite der deutschen Schwerindustrie spendete ihm lang anhaltenden Beifall.

Und doch war eine Reihe von Vorbehalten, die viele der Industriellen der Hitlerbewegung gegenüber noch hatten, nicht weggeräumt. Auf die konkreten Fragen der Skeptiker wusste Hitler keine befriedigenden Antworten zu geben. Die Versammlung drohte zu versanden.

Da sprang der beleibte Mann neben ihm in die Bresche, entwickelte in militärischer Kürze das Sozial- und Wirtschaftsprogramm der Nazipartei: Schluss mit den Klassenkampfparolen der Linken! Schluss mit dem Gerangel der Gewerkschaften um Mitbestimmung und Mindestlöhne! Schluss mit der Wühlarbeit der Roten in den Fabriken, die den Produktionsfluss lähmt und die Wirtschaft zugrunde richtet. Straffe Arbeitsdisziplin durch staatliche Zwangsgesetze. Förderung der Schwerindustrie durch den Staat. Ein starkes, wehrhaftes Deutsches Reich, das die ökonomischen Fesseln von Versailles sprengt und dem Bolschewismus die Stirn bietet.

Rüstung und nochmals Rüstung.

Das zündete. Endlich wurde konkret ausgesprochen, was not tat.

„Wir werden mit eiserner Faust für Ruhe, Ordnung und Disziplin in den Zechen, Hüttenwerken und Fabrikhallen sorgen und den Sumpf der Sozialdemokratie trockenlegen. Wie im Staat, so muss auch in der Industrie das Führerprinzip durchgesetzt werden. Im Besitz der Macht werden wir keinen Augenblick zögern, die deutsche Arbeiterschaft aus dem Würgegriff Moskaus zu befreien. Punkt eins unseres Regierungsprogramms wird die Zerschlagung der Kommunistischen Partei sein.“

Der Mann, der dieses Programm verkündete, stemmte die Arme in die Hüften und genoss die Welle der Zustimmung, ja Sympathie, die ihm von den Reihen der Großindustriellen entgegenschlug.

Es war Hauptmann a. D. Hermann Göring, Hitlers wichtigster Mann, Gründer der SA und Mitglied des Reichstags seit 1928. Er trug einen uniformähnlichen schwarzen Rock, am Hals glitzerte der Pour-le-mérite-Orden, die höchste Kriegsauszeichnung der Hohenzollern. Als einer der todesmutigen Flugzeugpiloten des Weltkriegs und Kommandeur des legendären Jagdgeschwaders „Richthofen“ war er im letzten Kriegsjahr zum Idol der völkisch erzogenen Jugend geworden.

Niemand im Saal zweifelte daran, dass dieser Mann sein Versprechen, die Arbeiterbewegung zu erledigen, ernst nehmen würde. Zum Abschluss seiner Rede bekräftigte Göring noch einmal mit Nachdruck seinen Generalplan: „Nicht nur ausrotten werden wir die rote Pest. Wir werden das Wort Marxismus aus jedem Buch herausreißen. In fünfzig Jahren darf in Deutschland überhaupt kein Mensch mehr wissen, was dieses Wort bedeutet.“

Da verloren die Herren des Industriellenklubs jede Zurückhaltung. Sie sprangen auf und klatschten wie besessen Beifall.

Fritz Thyssen, einer der Mächtigsten in der Schwerindustrie, Herrscher über die Vereinigten Stahlwerke, der die Versammlung einberufen hatte, schüttelte Hitler und Göring die Hände.

„Gewonnen!“

Aber da stand der alte Gustav Krupp von Bohlen und Halbach auf. Der Kanonenkönig und Präsident der Gesellschaft der Industriellen blickte nach wie vor skeptisch auf die Nazigäste. „Und was ist mit den Linkstendenzen in Ihren eigenen Reihen?“, fragte er Göring, „den radikal-sozialistischen Parolen Ihrer SA? Dem Antikapitalismusgeschrei der Herren Strasser, Schleicher und Goebbels? Was haben wir von solchen Punkten im Programm Ihrer Partei wie ‚Gewinnbeteiligung an Großbetrieben’, ‚Abschaffung des arbeits- und mühelosen Einkommens’, ‚Verstaatlichung aller vergesellschafteten Betriebe’ zu halten?“

Göring winkte ab. „Müssen wir uns in diesem Kreis über den Unterschied zwischen Massenpropaganda und Realpolitik unterhalten? Ich kann Sie beruhigen, Herr Baron. Unter einer nationalsozialistischen Regierung wird es keine sozialistischen Experimente geben. Wir sind nicht so dumm, die Industrie, das Fundament der Wiederaufrüstung Deutschlands, kaputt zu machen. Das Privateigentum, sofern es sich in den Händen national gesinnter Volksgenossen befindet, bleibt unangetastet. Dafür verbürgen wir uns.“

„Teilen Sie diese Meinung, Herr Hitler?“

Der „Führer“, der finster vor sich hin grübelte, hob den Kopf. „Durchaus, durchaus!“, versicherte er rasch.

Krupp zögerte einen Augenblick, dann nickte er. „Gut, wir nehmen Sie beim Wort. Kommen wir also zum Konkreten.“

Damit war die Weiche gestellt.

Man schrieb den 27. Januar 1932. Die Weltwirtschaftskrise hatte ihren Höhepunkt erreicht. Die Zahl der Arbeitslosen in Deutschland war in diesen Wintertagen auf 7,5 Millionen geklettert, jede zweite deutsche Arbeiterfamilie hatte keine gesicherte Existenz, lebte in bitterster Armut und Not. Täglich wuchs die Verzweiflung, täglich schrumpfte der Glaube an die Fähigkeit der Republik und ihrer etablierten Parteien, die Lage zum Besseren zu wenden. Längst hatten die traditionellen Rechtsparteien ihre Massenbasis an Hitler verloren, der die nationalsozialistische Erneuerung und wirtschaftliche Gesundung versprach. Die KPD gewann in den Industriezentren und Großstädten ständig an Einfluss. Immer mehr Menschen geben ihre Stimme an den Wahlurnen dem Kommunistenführer Thälmann und seinen Gesinnungsgenossen.

Gegen Mitternacht fiel im Industriellenklub zu Düsseldorf die verhängnisvollste Entscheidung in der Geschichte der deutschen Bourgeoisie. Die Großindustriellen entschlossen sich, der Hitlerpartei zur Macht zu verhelfen.

Ein Jahr später, am 30. Januar 1933, berief der Reichspräsident von Hindenburg, der greise Generalfeldmarschall, der die heiligsten Eide auf die Unverletzlichkeit der Weimarer Demokratie geschworen hatte, Hitler zum Reichskanzler einer Regierung der „nationalen Konzentration“.

Durch die Ernennung Franz von Papens als Vizekanzler und die Besetzung aller Ministerressorts außer dem Innenministerium mit vertrauenswürdigen Herren der Deutschnationalen Volkspartei und nichtparteigebundenen Vertretern der äußersten Rechten glaubte der Feldmarschall die Interessen des Herrenhauses und der altpreußischen Junker hinreichend gegen Hitlers Diktaturgelüste und den kleinbürgerlichen Naziradikalismus abgesichert zu haben.

Man akzeptierte die Forderung Hitlers, Göring, den Reichsminister ohne Geschäftsbereich, zum kommissarischen Innenminister Preußens zu ernennen. Damit übernahm der Fliegerhauptmann die Kommandogewalt über die stärkste Polizeistreitmacht des Reiches.

Auf Antrag des Kabinetts verfügte der Präsident am 31. Januar die Auflösung des Reichstags, in dem diese Regierungskoalition keine Mehrheit besaß. Alle Notverordnungen der Vorgängerregierungen, die die Tätigkeit der Arbeiterparteien einschränkten, blieben in Kraft. Der Termin für die Neuwahlen wurde bis zum 5. März hinausgeschoben, genug Zeit, um es Hitler und Göring zu ermöglichen, dem Vormarsch der Kommunisten einen endgültigen Riegel vorzuschieben und der Sozialdemokratie den Wind aus den Segeln zu nehmen.

Eine Nachricht beunruhigt Thyssen

Fernab von Berlin, auf dem Familiensitz Schloss Landsberg bei Kettwig im Ruhrtal, verfolgte Fritz Thyssen die ersten Schritte der Hitlerregierung. Nicht umsonst hatte der Stahlkönig Seite an Seite mit dem Kohlenmagnaten Kirdorf zehn Jahre lang für die Hitlerbewegung in den Kreisen der Schwerindustrie und Hochfinanz geworben und selber Unsummen für die Parteikasse geopfert. Schon mehr als zwei Wochen waren seit dem 30. Januar 1933 vergangen. Die Hitlerbewegung hatte einen so großen Aufschwung genommen, dass sich alle etablierten bürgerlichen Parteien der neuen Staatsmacht willenlos unterordneten. Hitler hatte sich mit dem Militär arrangiert und die Forderungen der preußischen Grundbesitzer weitgehend erfüllt. Die maßgeblichen Politiker in den drei westlichen Großmächten reagierten auf den Machtwechsel in Deutschland eher abwartend-wohlwollend als feindselig-kritisch. Ganz offensichtlich waren sie bereit, ein stabiles, eindeutig antimarxistisch orientiertes Deutsches Reich, dessen Stoßrichtung nach Osten, gegen den Sowjetstaat, gerichtet war, zu begünstigen und zu unterstützen.

Thyssen konnte zufrieden sein. Der große Coup, mit Hilfe der Nazimassen die starke deutsche Arbeiterbewegung endgültig aus der politischen Arena hinauszumanövrieren, um sie schließlich zu vernichten, schien gelungen. Und doch gab es genügend Gründe für Fritz Thyssen, die weitere Entwicklung argwöhnisch im Auge zu behalten.

Unberührt vom Siegestaumel der Nazianhängerschaft, beurteilte der Stahlkönig die reale Lage aus der Distanz des kühlen Spekulanten, der Einsatz, Risiko und Gewinn nüchtern abwägt. Als Vertrauensmann der rheinisch-westfälischen Schwerindustriellen und als Aufsichtsratsvorsitzender und Hauptaktionär der Vereinigten Stahlwerke VESTA, des mit Abstand größten Monopolgiganten Europas, verfügte er über alle Mittel und Möglichkeiten der Information und Kontrolle von wirtschaftlichen wie politischen Vorgängen im Innern des Reiches.

Außer den Differenzen zwischen der NSDAP und den traditionellen Rechtsparteien, die Hitler und Göring durch weitgehende Konzessionen geschickt ausgleichen konnten, waren die Widersprüche innerhalb der Nazibewegung für Thyssen unübersehbar. In einer so riesigen Massenbewegung, die sich aus den unterschiedlichsten Bevölkerungsgruppen zusammensetzte, konnten längst nicht alle Interessen in gleicher Weise befriedigt werden. Um die Millionenmassen seiner Wähler unter die Hakenkreuzfahne zusammenzutrommeln, musste Hitler allen alles versprechen, den Arbeitnehmern höhere Löhne und Gehälter, den Arbeitgebern höhere Gewinne, den Mietern billiges Wohnen, den Hausbesitzern höhere Mieteinnahmen, den Städtern herabgesetzte Lebensmittelpreise, den Bauern höhere Einnahmen, den Arbeitslosen Arbeit, den kleinen Unternehmern und Geschäftsleuten Rentabilität. Die Erwartungen waren überdimensional. Die Enttäuschung konnte auf die Dauer nicht ausbleiben, und es bestand die Gefahr, dass die bevorstehenden Wahlen trotz der Notverordnungen zum Abbau der Demokratie, trotz des physischen und psychischen Terrors gegen die Linken, trotz des gewaltigen Propagandarummels nicht zur erforderlichen Mehrheit bei den bevorstehenden Reichstagswahlen führen würden.

Weit größere Sorgen aber bereitete Thyssen das Verhalten der Industriearbeiter, die in den Gewerkschaften und in den beiden Arbeiterparteien SPD und KPD organisiert und in ihrer Mehrheit zum Kampf gegen das verhasste Hitlerregime entschlossen waren. Trotz aller Bemühungen konnten die Nazipropagandisten hier noch keinen entscheidenden Einbruch erzielen. Ebenso wenig war es dem Machtapparat der Hitlerregierung gelungen, der KPD, deren Einfluss in den letzten Jahren unter der Führung ihres populären Vorsitzenden Thälmann gefährlich angewachsen war, den Todesstoß zu versetzen. Thyssen ließ sich durch die Siegesmeldungen der Nazipresse nicht darüber hinwegtäuschen, dass der große Schlag gegen diese Partei, der schon in der Nacht des 30. Januar begann und unter Einsatz aller Machtmittel des Staatsapparats und der Nazibewegung weitergeführt wurde, mehr oder weniger ins Leere ging. Zwei Wochen nach dem Machtwechsel war der Apparat der Kommunistischen Partei immer noch intakt. Die Parteiorganisationen traten nach einem einheitlichen Konzept auf. Die kommunistische Presse erschien illegal weiter. Aus dem Untergrund heraus informierte der Kommunistenführer Thälmann die Arbeiter über die weitgehenden Angebote und dringenden Mahnungen seiner Parteiführung an den SPD-Vorstand, sich im Kampf gegen den Faschismus zu vereinigen. Keine Provokation hatte bisher zu Panikreaktionen in der KPD geführt. Die willkürlichen Übergriffe der Polizei, insbesondere die Terrorattacken der SA, hatten im Gegenteil nur eine wachsende Solidarisierung der ganzen Arbeiterschaft mit den Kommunisten zur Folge.

Glücklicherweise verhielten sich die maßgeblichen Männer in den Führungsgremien der SPD und der Industriegewerkschaften so, wie es Thyssen im Einvernehmen mit Hitler und Göring vorher berechnet hatte. Sie distanzierten sich zwar mit starken Worten von der faschistischen Regierung, lehnten aber den gemeinsamen Kampf mit der KPD gegen die neue Regierung ab.

Dennoch häuften sich die Meldungen aus den Großbetrieben und Industriezentren von der wachsenden Bereitschaft der Arbeiter, den Einheitsfrontangeboten der KPD zu folgen und die gesamte Kraft der Arbeiterbewegung gegen Hitler zu mobilisieren. Vertrauliche Informationen, die in Landsberg aus der Berliner SPD-Zentrale einliefen, signalisierten: Die Zahl der Spitzenfunktionäre, die bereit waren, diesen Stimmungen zu folgen, wuchs von Tag zu Tag. Noch hielt die Mehrheit zu den Parteivorsitzenden Wels und Vogel und dem Gewerkschaftsführer Leipart. Aber die Frage, die Thyssen beunruhigte, lautete: Wie lange kann sich die legalistische Gruppierung dem wachsenden Druck in ihren eigenen Reihen noch widersetzen?

In diesen Tagen konferierte der Stahlkönig fast pausenlos mit den wichtigsten Repräsentanten des Industriellenklubs. Trotz unterschiedlicher Auffassungen in Einzelfragen wurde seine Besorgnis von allen geteilt. Wenn es zur Einheitsfront der mitgliederstarken SPD mit den gut organisierten und zu letztem Einsatz entschlossenen Kommunisten kam, dann war die mit ungeheurem Aufwand etablierte Rechtsregierung aufs Äußerste gefährdet. Zu gut hatten die Industriellen und Bankiers den Schock vom November 1918, die machtvolle Niederschlagung des Kapp-Putsches, das jämmerliche Ende der Cuno-Regierung, noch in Erinnerung. Sie wussten: Die geeinte Arbeiterklasse war eine unkalkulierbare Macht, imstande, eine radikale Wende in Deutschland herbeizuführen. Nur der von Göring lauthals versprochene Vernichtungsschlag gegen den Kommunismus, das eigentliche Rückgrat des Widerstandes gegen die neue Ordnung, konnte die Gefahr bannen, aber eine weitere Eskalation des Terrors in der derzeitigen politischen Situation blieb mit unabwägbaren Risiken verbunden. Nur wenige der Industriellen waren bereit, dieses Risiko mit den Nazis zu teilen. Thyssen selbst befürchtete negative Reaktionen in den westlichen Ländern, die seine Auslandsgeschäfte empfindlich treffen könnten. Er schwankte, welche Ratschläge er Hitler und Göring geben sollte.

Am 18. Februar erreichte ihn eine schockierende Information aus London. Das Büro der Sozialistischen Arbeiterinternationale, in dem die SPD eine führende Rolle spielte, hatte beschlossen, eine unmissverständliche Aufforderung an die Führung der deutschen Sozialdemokraten zu richten, das Bündnisangebot der Kommunisten zu einer gemeinsamen Kampffront gegen den Faschismus anzunehmen. Am selben Tag erhielt Thyssen eine telefonische Mitteilung von dem ihm verpflichteten Leiter des Berliner Büros des IG-Farben-Konzerns, Dr. Max Illgner, der die internen Beziehungen des Konzerns zum SPD-Vorstand wahrnahm, die ihn alarmierte: Eine Mehrheit der SPD-Führung habe durchgesetzt, direkte Verhandlungen mit der KPD-Führung über einen „Nichtangriffspakt“ aufzunehmen!

Jetzt gab es kein Zögern mehr. Das Gespenst der Einheitsfront war zur realen Gefahr geworden. Fritz Thyssen gab sofort die Anweisung, seine Privatmaschine zum Flug nach Berlin klarzumachen. Einige Minuten lang schwankte er, ob er die Angelegenheit Hitler selbst oder vielleicht besser erst einmal Göring vortragen sollte. Da er wusste, dass Hitler in kritischen Situationen zuweilen die nötige Entschlusskraft vermissen ließ, wählte er Göring, den ehrgeizigen, machtbesessenen zweiten Mann der Hitlerbewegung, zu seinem Gesprächspartner. In einem Blitztelegramm bat er seinen Vertrauensmann Dr. Hjalmar Schacht, eine dringliche Zusammenkunft zwischen ihm und Göring im Herrenklub zu arrangieren.

Rachegedanken eines Mächtigen

Hermann Göring war in der miserabelsten Stimmung, als ihm am Abend des 18. Februar sein Stabsleiter Dr. Gritzbach die Einladung Thyssens überbrachte. In der heutigen Kabinettssitzung hatte ihn der Reichswehrminister in peinlichster Weise lächerlich gemacht.

Auf der Tagesordnung stand der Bericht des Innenministers über den Kampf gegen die kommunistische Wühltätigkeit, in dem Parteigenosse Frick die besonderen Erfolge in Preußen hervorhob, nicht ohne die persönlichen Verdienste Reichsminister Görings etwas zu penetrant zu unterstreichen. Nachdem die deutschnationalen Kabinettsmitglieder dem Rapport mit eisigen Mienen zugehört hatten, zog General Blomberg wie beiläufig ein Aktenstück aus der Tasche und übergab es dem Kanzler. Es enthielt den ausführlichen Bericht eines Informanten über eine geheime Zusammenkunft des Zentralkomitees der KPD, die kürzlich auf preußischem Gebiet, in unmittelbarer Nähe der Reichshauptstadt, stattgefunden hatte. Weiß der Teufel, auf welche Weise dieses Material der militärischen Abwehr in die Hände gefallen war! Hitler überflog das Schriftstück und erbleichte. Ein vernichtender Blick traf Göring. Die Akte knallte vor dessen Nase auf den Tisch. Hitler erhob sich und verließ wortlos den Sitzungssaal. „Tut mir leid, Herr Hauptmann!“ Blomberg grinste. „Konnte ja nicht ahnen, dass der Herr Reichskanzler von so kolossal sensibler Konstitution.“

Der Gedanke an diesen Vorfall trieb dem Polizeiminister aufs Neue das Blut in den Kopf.

Was in dem Dossier der militärischen Abwehr stand, das war allerdings für den verantwortlichen Minister blamabel und schockierend! Unter den Augen seiner gewaltigen Polizeistreitmacht, unbemerkt von den Tausenden von Spitzeln der NSDAP, hatte der Kommunistenboss Thälmann seine gesamte Führungsmannschaft am 7. Februar in einem Sportlerheim in Ziegenhals versammeln können, um seine Partei auf den Kampf gegen das neue Regime einzuschwören und genaue Instruktionen für die Untergrundarbeit gegen das neue Deutsche Reich zu erteilen.

Ohnmächtige Wut ergriff den Minister. Thälmann, der Hafenarbeiter mit der Schirmmütze, der in den zwanziger Jahren zur populärsten Figur in der Arbeiterbewegung und zum Führer der Kommunisten aufgestiegen war! Deutlich sah Göring das Bild dieses verhassten Mannes vor sich. Einmal war er unbeabsichtigt selbst Zeuge von der ungeheuren Ausstrahlungskraft geworden, die dieser Mensch auf die Massen der Industriearbeiter ausübte. Auf einer Geheimfahrt durch das Ruhrgebiet war der Mercedes im Menschengewühl einer kommunistischen Wahlkundgebung stecken geblieben. Auf der Ladefläche eines Lkws, inmitten einer riesigen Menschenmenge, stand der Präsidentschaftskandidat der Kommunisten, breitschultrig, mit erhobener Faust, und beherrschte mit seiner Stimme die Massen.

Jahre sind das her, erinnerte sich Göring. Damals ahnte noch niemand in Deutschland, das aus der bedeutungslosen NSDAP einmal die stärkste Rechtspartei Deutschlands werden würde. Schon damals warnte Thälmann seine Zuhörer vor der „Gefahr von rechts“ und rief die Arbeiter zum Zusammenschluss in einer „proletarischen Einheitsfront“ auf. Unfassbar, dass er auch jetzt noch, drei Wochen nach dem Machtantritt, seinen zersetzenden Einfluss auf die deutsche Arbeiterschaft ausüben konnte!

Göring wurde aus seinen Gedanken gerissen. „Was darf ich Herrn Thyssen antworten?“, fragte der Stabsleiter, der noch immer im Zimmer stand.

Absagen, hätte Göring am liebsten geantwortet. Aber er wusste, dass das nicht ratsam war. Dringender denn je wurde gerade jetzt die Unterstützung des Großkapitals benötigt. Die Parteikassen waren leer. Ein riesiger Schuldenberg drohte die Kreditwürdigkeit der Partei zu erschüttern. Die SA-Stürme mussten durch großzügigere Zuwendungen bei Laune gehalten werden. Goebbels verlangte Millionen für die Wahlreklame. Die Gauleiter forderten immer mehr Gelder zur Finanzierung ihres aufgeblähten Funktionsapparats. „Teilen Sie Herrn Thyssen mit, es kann etwas später werden.“

Unter vier Augen

Herrenklub. Soweit hatte man es also gebracht! Göring ließ sich nicht anmerken, dass er dieses exklusive Terrain am Tiergarten zum ersten Mal betrat. Er wusste: Hier war im Januar die Entscheidung gefallen, Hitler und ihn an die Regierung zu bringen. Mit forschen Schritten folgte er dem Entreechef durch den Prunksaal in die erste Etage. Eine Seitentür zu einem Separee wurde geöffnet.

Thyssen erhob sich, dankte förmlich für das Erscheinen des Herrn Reichstagspräsidenten, Reichsministers und Generals der preußischen Polizei und bot ihm den noch freien Platz am Tischende an.

Göring ließ sich in den Sessel fallen. Es war das erste Mal, dass er mit Thyssen unter vier Augen reden sollte. Er beschloss, Distanz zu wahren und sich auf keine zweideutigen Manöver einzulassen.

Thyssen wartete, bis der Ober die Gläser vollgeschenkt und den Salon verlassen hatte, bis die zweiflügelige dick gepolsterte Tür fest geschlossen war. Dann sprach er über seine Informationen und seine Befürchtungen.

Göring begriff sofort die Gefahr, die sich aus der Situation im SPD-Hauptquartier ergab. Er erkannte aber auch die Angst des Industriellen und beschloss, sie auszunutzen. Mit selbstsicherem Lächeln sagte er: „Sollen sie sich nur verbrüdern und zum offenen Kampf stellen! Wir sind darauf vorbereitet und stark genug, mit eiserner Faust zurückzuschlagen. Das Kapp-Debakel wird sich nicht wiederholen. Wir sind gewappnet, wenn nötig auch einen Generalstreik niederzuwerfen.“ Thyssen verzog den Mund. In aller Schärfe erklärte er: „Ich denke, wir sollten es unter keinen Umständen darauf ankommen lassen.“

Göring nickte verständnisvoll. „Ich verstehe. Die Verluste der Industrie, die ein Generalstreik zur Folge hätte ...“

„... Würden die deutsche Wirtschaftskraft um Jahre zurückwerfen. Und das wäre das vorläufige Ende aller unserer Rüstungspläne.“

Göring zeigte sich wenig beeindruckt. „Aber auch das Ende jeglicher Demokratiespielerei und des widerwärtigen Koalitionsgerangels. Klare Machtverhältnisse im Reich. Die nationalsozialistische Herrschaft und nichts neben ihr“, antwortete Göring selbstsicher.

„Oder volksrevolutionäre Linksregierung mit weitgehenden Zugeständnissen an die Arbeiterorganisationen und Gewerkschaften. Keine guten Aussichten für Sie.“

Thyssen winkte ab. „Das Kapital hat schon manchen Sturm überstanden. Sie glauben doch nicht im Ernst, Herr Reichstagspräsident, dass für die Industriellen keine einzige Alternative zur faschistischen Alleinherrschaft im Bereich des Möglichen läge?“

Göring zuckte ärgerlich mit den Schultern. Er fand es taktlos von Thyssen, ihn in so rüder Weise daran, zu erinnern, wem die Bewegung ihren märchenhaften Aufstieg zur regierenden Partei zu verdanken hatte. „Wir vergessen nicht, was wir Ihnen schulden, Herr Thyssen. Aber glücklicherweise sitzen wir nun im Sattel. So ohne Weiteres werden wir darauf nicht mehr verzichten!“

Thyssen schien Görings Verstimmung zu bemerken.

„Mensch, Göring, Sie wissen doch, auf welcher Seite ich stehe. Wir verfügen auch über die Mittel, Hitler und Ihnen die ganze Macht zu verschaffen, die ganze, verstehen Sie? Vorausgesetzt, Sie erweisen sich als fähig, mit dem einen für das Gesunden und Erstarken Deutschlands entscheidenden Problem fertig zu werden. Darüber sollten wir sprechen, statt uns gegenseitig unsere Aktiva und Passiva vorzurechnen!“

Göring wusste, worauf sein Gesprächspartner hinauswollte. Das „entscheidende Problem“ war die Eliminierung der Arbeiterbewegung. Der erste Schritt zur Lösung: Zerschlagung der Thälmann-Partei. Hitler und er hatten sich verpflichtet, diese Aufgabe rasch und lautlos zu erledigen. Wäre das gelungen, dann gäbe es heute die Gefahr einer vereinigten Linksfront nicht mehr. SPD und Gewerkschaft wären, allein auf sich gestellt, zu bedingungsloser Kapitulation gezwungen. So aber ... Er atmete schwer, sah zu dem Industriellen hinüber.

„Sprechen wir offen miteinander, Herr Göring“, sagte Thyssen. „Trotz aller Schläge gegen die Kommunisten arbeitet der aktive Kern der Thälmann-Partei zielstrebig weiter auf die Einheitsfront und den Generalstreik hin und übt mit den Millionen seiner Anhänger nach wie vor einen massiven Einfluss auf weite Teile der Arbeiterschaft aus.“

Thyssen hatte Göring an seiner empfindlichsten Stelle getroffen, wieder erinnerte er sich an die Ministerratssitzung am Nachmittag.

„Ja, Sie haben recht, Herr Thyssen.“ Göring zögerte. „Ich habe diese Partei unterschätzt. Nicht ihren Fanatismus, nicht den persönlichen Mut ihrer aktiven Garde, nicht ihre Disziplin und Geschlossenheit, die ich mir für meine Polizei nur wünschen könnte - das alles kannten wir aus tausend Schlachten. Sie waren von der ersten Stunde an unsere einzigen ernst zu nehmenden Widersacher. Unterschätzt habe ich die Intelligenz, die taktisch-strategischen Fähigkeiten der Führung, die es dieser Partei ermöglichten, sich über Nacht auf die konspirativen Bedingungen umzustellen. Gestern noch auf öffentlichen Versammlungen, Agitatoren vor Tausenden von Menschen, bekannt mit Namen, Adresse und Hausnummer. Heute wie vom Erdboden verschluckt, gedeckt durch die schweigende Mauer ihrer Klassengenossen. Und dabei weiter in Tätigkeit. Niemand hätte das vorher für möglich gehalten. Niemand - das können Sie mir glauben. Ich vermute, es wird noch einige Zeit dauern, bis wir mit ihnen fertig sind. Und ich fürchte, wir dürfen dabei nicht so zimperlich vorgehen, wie es einigen Ihrer Herren vorschwebt.“

Thyssen lächelte. „Wir haben durchaus nicht so schwache Nerven, wie Sie glauben, Göring. Im Gegenteil! Nur können wir uns keine weiteren Fehlschläge mehr leisten. Nicht in der prekären Situation, in der wir uns befinden. Sie dürfen nie die öffentliche Meinung im westlichen Ausland aus den Augen verlieren. Noch sind wir auf internationale Rückendeckung angewiesen. Ohne gewaltige Kredite aus Großbritannien und den USA können wir nicht ein einziges der geplanten Projekte zur Sanierung der Wirtschaft durchführen, geschweige denn unsere grandiosen Rüstungspläne in Angriff nehmen. Nach wie vor liegt unsere Chance in der gegenwärtigen Situation darin, den Herrschaften im Westen klarzumachen, dass der Weltkommunismus auch für sie die größere Bedrohung darstellt!“

Göring pflichtete dem Stahlkönig bei: „Deutschland als Bollwerk gegen die kommunistische Weltbedrohung, das würden sich auch unsere ärgsten Konkurrenten etwas kosten lassen.“

„Vorausgesetzt, wir malen ihnen das Gespenst des Bolschewismus groß genug an die Wand“, fuhr Thyssen fort. „Dazu reichen allerdings allgemeine Behauptungen nicht aus. Wir brauchen überzeugende Beweise, dass der Weltkommunismus zum Angriff übergeht. Einen Aufstandsversuch, blutige Attentate, irgendein Zeichen für die Welt. Ein Fanal, das die Öffentlichkeit aufschreckt.“

„Und gleichzeitig das innenpolitische Problem der Reichstagswahlen erledigt“, fügte Göring hinzu. „Ich habe verstanden. Wir werden uns etwas einfallen lassen, was in der Welt niemand übersehen kann und was uns die Handhabe gibt, in ganz anderer Weise als bisher zuzuschlagen.“

„Schlagen Sie zu, Göring!“, ermunterte ihn Thyssen. „Nur vergessen Sie nicht, Mitleid erzeugt Sympathien. Was wir brauchen, ist aber die Angst vor der kommunistischen Weltverschwörung.“

„Keine Sorge“, erklärte Göring.

Thyssen nickte befriedigt und drückte auf den Klingelknopf. „Dann können wir uns wohl eine Stärkung gönnen.“ Er erhob sich.

Göring blieb sitzen. „Da wäre noch ein Problem zu lösen ...“ Er zögerte.

Aber Thyssen verstand ihn auch so. „Schacht hat mit mir schon über die prekäre Finanzlage Ihrer Partei gesprochen. Wir sind bereit, Ihnen unter die Arme zu greifen. Wir dachten so an drei Millionen vor und sechs Millionen nach dem Gelingen des großen Coups.“

Neun Millionen! Das war mehr, als sich Göring erhofft hatte. Das war die endgültige Rettung vor dem Bankrott! Zufrieden erklärte er: „Das gestattet uns großzügige Dispositionen.“

Der Ober hatte inzwischen die Flügeltür geöffnet und meldete, dass das Diner serviert sei. Die beiden Herren erhoben sich. Thyssen führte Göring zum Speiseraum. Er flüsterte ihm etwas zu von einem Grundstück am Wannsee, wie geschaffen für die Heimstatt eines Mannes mit Familie und Reputation.

Der Abend endete in freundlicher Harmonie.

Der große Schlag misslingt

Göring zögerte keinen Augenblick, die dringenden Empfehlungen Thyssens in die Tat umzusetzen. Noch in der Nacht verständigte er sich mit Hitler, am nächsten Morgen mit Röhm und Goebbels.

Am 24. Februar wurde das Karl-Liebknecht-Haus, der Sitz des Zentralkomitees der KPD, das bereits wochenlang durchstöbert worden war, erneut von einem Polizeiaufgebot besetzt und durchsucht. Am nächsten Morgen berichtete die gesamte Nazi- und Hugenbergpresse von den furchtbaren Entdeckungen, die man nun plötzlich gemacht hätte. Unter diesem so harmlos aussehenden Gebäude sei der Eingang zu einem vermutlich weitverzweigten System geheimer Gänge, unterirdischer Gewölbe und Verliese aufgespürt worden, in denen sich wahrscheinlich ein riesiges Arsenal von Waffen, Sprengstoffen, Bomben befände, mit denen die Kommunisten den bewaffneten Aufstand durchführen wollten. Vorerst hätten Unmassen von Geheimmaterial sichergestellt werden können - detaillierte Pläne für die Entfesselung des Bürgerkriegs, militärische Direktiven für den Tag der großen Verschwörung gegen das Deutsche Reich.

Am 25. Februar brach im Berliner Schloss ein kleiner Brand aus, der mit dem bevorstehenden Putsch der Kommunisten in Zusammenhang gebracht wurde. Die Rechtspresse, der Rundfunk und die Lautsprecherwagen der Nazis überschlugen sich in ihrem wüsten Hetzgeschrei gegen die roten Verbrecher. Viele Bürger glaubten den Enthüllungen und entsetzten sich über die grausigen Pläne der Roten.

Am 26. und 27. Februar steigerte sich die antikommunistische Hysterie in den Massenmedien.

Auf einer großen Wahlkundgebung der KPD in Berlin erklärte der Reichstagsabgeordnete Wilhelm Pieck, die Partei verfüge über zuverlässige Informationen darüber, dass die Naziführung eine groß angelegte Provokation vorbereite, um noch vor den Wahlen die revolutionäre Vorhut der Arbeiterbewegung ausschalten zu können.

Die politische Situation am 27. Februar war aufs Äußerste gespannt, als sich am Abend, kurz nach einundzwanzig Uhr, eine erregende Nachricht in den Straßen der Reichshauptstadt verbreitete.

Der Reichstag brennt!

Wenige Minuten später traf Göring an der Brandstätte ein, wo sich die ersten neugierigen Bummler und Pressekorrespondenten sammelten. Kurz darauf erschienen Hitler und Goebbels auf dem Platz, und gegen einundzwanzig Uhr dreißig war auch Vizekanzler Papen zur Stelle. Ohne die Meldung des untersuchungsführenden Polizeikommandeurs abzuwarten, wandte sich Hitler an Papen und erklärte: „Das ist ein von Gott gegebenes Zeichen. Niemand wird uns jetzt noch daran hindern, die Kommunisten mit eiserner Faust zu vernichten.“

Und an den britischen Korrespondenten Sefton Delmar gewandt, fuhr er fort: „Sie sind Zeuge einer großen neuen Epoche in der deutschen Geschichte. Dieser Brand ist ihr Beginn.“ Erst als der Journalist zurückfragte: „Haben Sie denn jetzt schon Hinweise auf die Brandstifter?“, wurde sich Hitler seines Fehlers bewusst. Ohne eine Antwort zu geben, verschwand er ärgerlich mit seinen Leibgardisten.

Befehlsgemäß rückten noch vor Mitternacht in allen Ländern des Reiches die seit Tagen in Bereitschaft gehaltenen SA- und SS-Stürme, unterstützt von Hunderttausenden Beamten der Sicherheitspolizei aus, um alle namentlich erfassten Funktionäre und Mitglieder der KPD sowie die bekanntesten Antifaschisten aus den Reihen‘der SPD, der Gewerkschaften und der linksdemokratisch gesinnten Intelligenz in die Gefängnisse und in die Folterkeller der SA-Sturmlokale zu schleppen.

Am Morgen erließ Reichspräsident von Hindenburg die „Notverordnung zum Schutze von Volk und Staat“, durch die man nahezu alle verfassungsmäßig garantierten Bürgerrechte außer Kraft setzte und Volk und Reich der absoluten Willkür der Hitlerfaschisten preisgab.

Verboten wurde jedwede Tätigkeit für die Kommunistische Partei Deutschlands.

Verboten oder gleichgeschaltet wurde die gesamte der Regierung nicht genehme Presse. Es begann im ganzen Reichsgebiet eine zügellose Hetzkampagne gegen die Kommunisten. Hitler, Göring und Goebbels wetteiferten in der Erfindung der fantastischsten Lügen- und Gräuelmärchen über die verbrecherischen Pläne der Thälmann-Partei. Das Schreckgespenst der internationalen Verschwörung des Bolschewismus gegen das zivilisierte Deutschland wurde an die Wand gemalt, um die Bürger in Angst und Schrecken zu versetzen und in den Reihen der SA- und SS-Einheiten Hass und Mordlust zu schüren.

Trotz dieses gewaltigen Aufwandes ging die Rechnung Görings, die KPD entscheidend zu treffen, nicht auf. Mit zunehmender Wut addierte er die Meldungen aus dem Reichsgebiet. Das Ergebnis konnte nicht zufriedenstellen. Zwar war es in vielen Regionen des Reiches gelungen, der KPD Schläge zuzufügen. Aber nur ein Bruchteil der vorgesehenen Verhaftungen und Exekutionen konnte erfolgreich durchgeführt werden. Die überwiegende Mehrheit der listenmäßig erfassten Kommunisten traf man weder in ihren Wohnungen noch an ihren Arbeitsstätten an. Trotz schwerster Verhöre unter Folter und Morddrohung gelang es nicht, die illegalen Quartiere der Gesuchten zu ermitteln. Die gefährlichsten Kommunistenführer aus der Parteizentrale blieben auch bei intensiver Fahndung unauffindbar.

Endlich ein Sieg!

Am 3. März wurde Göring zu einer Lagebesprechung im engsten Kreis in die Parteikanzlei beordert. Außer ihm waren nur Goebbels und SA-Stabschef Röhm herbefohlen worden.

Hitler zeigte sich in höchstem Maße unzufrieden. Die erste Kabinettssitzung nach dem Reichstagsbrand war zu einem völligen Fiasko der NSDAP-Fraktion geworden. Görings Bericht über die aufgedeckte Kommunistenverschwörung hatte die höhnischsten Bemerkungen der deutschnationalen Ministerkollegen zur Folge gehabt, Fricks magere Bilanz der Nacht-und-Nebel-Aktion gegen die KP nur mitleidiges Lächeln geerntet. Ein paar Tausend Verhaftete, darunter nicht mehr als zwei bis drei Dutzend namhafter Funktionäre, waren ein äußerst mageres Ergebnis, gemessen an dem großspurigen Versprechen des Nazikanzlers, den Kommunismus mit einem gewaltigen Schlag ein für alle Mal zu vernichten. Die Rundfunkrede, die Göring vor der Kabinettssitzung zur Begründung der Ausnahmegesetze gehalten hatte, war von den Ministerkollegen in höflicher, aber entschiedener Form missbilligt worden. Kein Mensch, der politisch mitdachte, konnte an die „Enthüllungen“ über einen kommunistischen Aufstandsversuch glauben. Hitler hatte nicht umhingekonnt, sich der Meinung der Mehrheit des Kabinetts anzuschließen. Er untersagte weitere Veröffentlichungen der sogenannten dokumentarischen Beweise, die für jedermann auf den ersten Blick als plumpe Fälschungen zu erkennen waren. In namhaften Presseorganen Englands und der USA, selbst in Zeitungen, die bisher der nationalen Erneuerung Deutschlands äußerst freundlich gegenübergestanden hatten, waren erhebliche Zweifel an der Brandstiftung durch die Kommunisten laut geworden. Hitler befürchtete nun, dass aus der ganzen Aktion negative Auswirkungen für die Wahlen entstehen konnten, durch deren Ergebnis er sich eine scheindemokratische Legitimität als Reichskanzler verschaffen wollte. Außenpolitisch begannen sich bereits jetzt schwere Schädigungen für das Prestige seiner Regierung abzuzeichnen.

Voll Wut über den blamablen Verlauf des Unternehmens wandte sich der Führer an Röhm, der für die praktische Durchführung der Aktion Reichstagsbrand die Verantwortung trug: „Soll ich hier wiederholen, wie der Reichspräsident, Generalfeldmarschall von Hindenburg, über die Abwicklung eures Auftrags geurteilt hat, als ich ihn um seine Unterschrift unter die Ausnahmegesetze bat? ‚Dilettantisch, grobschlächtig und durchsichtig. Nur totale Idioten können Ihrer Version Glauben schenken. Jeder Korporal in der militärischen Abwehr hätte es besser arrangiert.’“ „Aber er hat die Ausnahmeverordnung unterschrieben“, sagte der Stabschef grinsend.

„Nur weil ich mich persönlich dafür verbürgt habe, dass die Kommune bis zum Vorabend der Reichstagswahlen erledigt sein wird.“ Hitler sprang auf, schrie: „Und was ist das Ergebnis? Ein Schlag ins Wasser. Viel Wind und wenig Wolle. Weder das strategische noch das taktische Ziel wurden erreicht. Und ununterbrochen geht die Wahlpropaganda der Kommune weiter, die Aufwiegelung der Arbeiterschaft, die Verhetzung breiter Volksschichten.“ Erregt lief er im Sitzungsraum auf und ab. „Welche Blamage! Welche abgrundtiefe Blamage für mich! Wir besitzen die Polizei, die SA und SS, die Geheimdienste, eine Armee von Parteigenossen, Spitzeln und Zuträgern, die geballte Macht des Staates, wir haben Tausende von Kommunisten Tag und Nacht im Verhör, und schaffen es nicht, an den Kern der Kommune heranzukommen. Die Herren von der Reichswehrführung und der Herr Reichspräsident drängen uns nun, die KP mit sofortiger Wirkung zu verbieten und sie von den Wahllisten zu streichen.“ Hitler sah seine Getreuen fragend an.

„Zweifellos wäre das die sauberste Lösung“, sagte Röhm. „Und die größte politische Dummheit!“, widersprach Goebbels. „Man kann die Partei verbieten und die Liste drei eliminieren. Aber man kann ihr Wählerpotenzial nicht daran hindern, an der Wahl dennoch teilzunehmen. Die Stimmen der Roten würden den Rosaroten zugutekommen, und wir hätten damit nichts gewonnen.“

„Also gibt es auch im neuen Reichstag eine kommunistische Fraktion?“, fragte Röhm.

„Nein!“, versicherte Göring. „Kein kommunistischer Abgeordneter wird den provisorischen Sitzungssaal in der Kroll-Oper betreten. Ohnehin stehen alle Kandidaten auf der Fahndungsliste der Polizei. In der ersten Abstimmung werden den ‚Brandstiftern’ ihre Mandate aberkannt.“

Hitler nickte. „Damit hätten wir nicht nur die Partei, sondern auch ihre Wählermassen ausgeschaltet und klare Mehrheitsverhältnisse geschaffen.“

 Röhm bezweifelte, dass der Reichspräsident diesem Verfahren seine Zustimmung gebe würde.

„Wir fragen den senilen Hohlkopf nicht um seine Meinung“, sagte Hitler und fügte hinzu: „Wir werden in Zukunft überhaupt keinen mehr fragen, was wir zu tun und zu lassen haben, und jeden, der sich der Erneuerung des deutschen Volkes entgegenstellt, hinwegfegen!“

In diesem Moment öffnete sich die Tür einen Spalt. Der Kanzleichef erschien und meldete stramm: „Ein Beamter mit einer dringenden Nachricht für Parteigenossen Göring aus dem Polizeipräsidium, mein Führer.“ Unwirsch gestattete Hitler seinem Minister, den Beamten abzufertigen.

 Im Vorzimmer stand einer der wichtigsten Vertrauensmänner Görings, der neu ernannte Chef der Staatspolizei, Ministerialdirektor Diels. „Herr Ministerpräsident, ich gestatte mir zu melden, dass es meinen Leuten gelungen ist, den Schlupfwinkel des Vorsitzenden der KPD ausfindig zu machen. Er wurde fünfzehn Uhr dreißig in Berlin-Charlottenburg verhaftet und dingfest gemacht.“

„Thälmann?“, fragte Göring fassungslos.

„Ernst Thälmann, Vorsitzender der KPD.“

„Und jeder Irrtum ist ausgeschlossen?“

„Ausgeschlossen!“

Göring starrte den Beamten an. Einige Sekunden vergingen, bis er die ganze Tragweite der Nachricht begriff, die ihn im rechten Augenblick aus allen Schwierigkeiten herausbrachte. Jetzt strahlte sein Gesicht. „Mensch, Diels! Thälmann! Wir haben ihn. Endlich ein Sieg!“

Zweites Kapitel: Der Prozess muss zur moralischen Vernichtung des Kommunismus führen

Ein schwarzer Tag für die KPD

Am späten Nachmittag des 3. März stieg ein etwas konservativ gekleideter Herr die Treppen des Mietshauses Hermannplatz 11 in Berlin-Neukölln hinab. Gemessen grüßte er die Frauen, die ihm auf der Treppe begegneten, indem er den Hut lüpfte. Man litt den neuen Untermieter aus dem dritten Stock gern im Haus, ein ruhiger und freundlicher Herr, Buchhalter im Ruhestand, wie zu erfahren war, ein Mann um die Sechzig, der sich mit einer gewiss nicht üppigen, aber doch immerhin gesicherten Rente noch eine Reihe geruhsamer Jahre gönnen wollte.

Der Herr bog wie gewöhnlich in die Wismannstraße ein, um seinen üblichen Nachmittagsspaziergang im angrenzenden Naturpark Hasenheide zu absolvieren.

Niemand unter den Passanten, die den unauffälligen älteren Herrn bedächtig dahinschreiten sahen, konnte auf den Gedanken kommen, dass es sich um einen der gefährlichsten kommunistischen Verschwörer handelte, dessen Personalien seit der Reichstagsbrandnacht in allen Fahndungsblättern der Polizei standen. Nur wenige der Tausende, die ihn als Volksredner, als Parteiarbeiter an der Seite Karl Liebknechts, Rosa Luxemburgs und Ernst Thälmanns kennengelernt hatten, würden ihn in seiner Verkleidung wiedererkennen. Es war Wilhelm Pieck, Mitglied des Politbüros und Reichstagsabgeordneter der KPD.

An diesem Nachmittag befand er sich auf dem Weg zu einem Treff mit einem Beauftragten der militärpolitischen Gruppe, um letzte Hinweise des Politbüros für den Wahltag weiterzuvermitteln und einen Situationsbericht entgegenzunehmen. Als er oben auf der Aussichtsplattform der Rixdorfer Höhe den Leiter des M-Apparats Hans Kippenberger statt des erwarteten Kuriers stehen sah, ahnte er, dass etwas Außergewöhnliches geschehen sein musste. Kippenbergers Gesicht war kreidebleich. Seine Stimme überschlug sich vor Erregung, als er berichtete, was sich vor zwei Stunden in der Lützower Straße im Bezirk Charlottenburg abgespielt hatte.

Thälmann verhaftet.

Pieck starrte in das weiße Gesicht Kippenbergers. Sekunden schien er nichts zu begreifen. Erst dann begann der Sturm in ihm zu toben.

Thälmann in den Händen der Faschisten.

Er fühlte, wie sich seine Hände zu Fäusten ballten. Er spürte, wie die ganze angestaute ohnmächtige Empörung gegen die Nazis von ihm Besitz ergriff. Er wandte sich ab, krampfte beide Hände um die Mauerbrüstung, blickte nach unten, wo sich im Dunst dieses trüben Märztages das Häusermeer der Riesenstadt verlor. Thälmann, der Erste, der Wichtigste von uns, der weitblickende Führer der Partei, Idol der Massen, Symbol für die Unbesiegbarkeit unserer Ideale ... Warum erwischte es nicht einen von uns? Warum nicht mich, John, Franz, Willi, warum gerade ihn?

Er wandte sich wieder Hans Kippenberger zu. „Näheres!“, forderte er. Kippenberger zuckte mit den Schultern. „Ein Hauptmann, sechs Mann. Sie umstellten das Haus in der Lützower Straße, brachten Ernst zehn Minuten später ins Auto. Ihn und Werner Hirsch, der seit ein Uhr bei ihm war. Wahrscheinlich Verrat durch einen Spitzel. Sie fuhren zum Revier 121. Mehr wissen wir nicht.“

Der Parteivorsitzende hatte den sicheren Unterschlupf außerhalb Berlins abgelehnt. Wichtiger als seine persönliche Sicherheit war ihm der ständige Kontakt zu den übrigen Mitgliedern des Politbüros, zumal die am 19. Februar nach vielen vergeblichen Versuchen endlich in Gang gekommenen Verhandlungen mit der SPD-Führung rasche Entscheidungen erforderlich machen konnten. Wilhelm Pieck wusste das. Dennoch fragte er: „Gab es keine Möglichkeit, ihn besser abzusichern?“

Kippenbergers Stimme klang brüchig: „Alle werden diese Frage stellen. Was soll ich antworten? Die Genossen der M-Gruppe glaubten ihn auch im Charlottenburger Quartier sicher. Wenigstens die zwei Tage noch bis zu seiner Ausschleusung. Ich kann kein Versäumnis finden und fühle mich dennoch verantwortlich. Thälmann, das durfte einfach nicht ...“ Er brach seine Rede ab. Als Leiter des M-Apparats war ihm die Sicherheit der führenden Genossen in Berlin anvertraut - Beschaffung der illegalen Quartiere, Verbindung zur Außenwelt, Auswahl der Kuriere. Die Verhaftung des Parteiführers musste ihn besonders hart treffen.

Pieck hatte Mitleid mit dem noch jungen Genossen. „Wir alle tragen einen Teil der Verantwortung für das Geschehene. Wir hätten entschiedener auf seine rechtzeitige Übersiedlung ins Ausland drängen sollen. Spätestens am Tag nach der Reichstagsbrandprovokation.“

„Hätten wir ihn nicht auch hier beschützen müssen? Notfalls mit bewaffneten Posten. Notfalls mit unserem Leben.“

„Wir alle werden diese Frage wohl unser Leben lang mit uns herumschleppen. Und doch hat sie keinen Sinn. Eine absolute Sicherheit gibt es für keinen von uns. Jeder muss in jedem Augenblick auf das Schlimmste gefasst sein.“

Was als Ermutigung gedacht war für den Jüngeren, brachte ihm nun selbst Klarheit und Entschlossenheit. „Aber auch im äußersten Fall, Hans, auch wenn wir alle hochgehen, darf die Partei nicht ohne Führung bleiben. Das muss von jetzt an unsere vordringliche Sorge sein.“ Hundert offene Fragen gingen Wilhelm Pieck durch den Kopf, die zu klären waren, hundert Aufgaben, die es ohne Aufschub zu lösen galt. Das ganze Netzwerk der illegalen Arbeit muss neu durchdacht und unzerreißbar gemacht werden. Zusammenkünfte von mehr als zwei führenden Genossen sind unbedingt zu vermeiden. Ein Teil der Parteiführung muss ins Ausland überführt werden, um von dort aus den Kampf im Land wirkungsvoll zu unterstützen und die Kraft der Partei und die Macht der internationalen Solidarität für den Schutz Thälmanns zu organisieren. Noch heute setze ich mich mit John Schehr in Verbindung, dem nun die Führung der Partei anvertraut ist, um über die nächsten Schritte zu beraten. Noch in dieser Nacht haben wir alle nur erreichbaren Bezirksleitungen über Thälmanns Verhaftung zu informieren. Bevor das Triumphgeheul der Nazipropaganda losbricht, sollen die Genossen wissen, dass die Zentrale weiterarbeitet. Nichts ist jetzt schlimmer als Panik und unkontrollierbare Verzweiflungsaktionen.

Gern hätte er mit Kippenberger über diese Probleme gesprochen. Aber es wäre sträflich leichtsinnig, die Zusammenkunft länger als unbedingt nötig auszudehnen. Schnell gab er seine Anweisungen für den Wahltag: Keineswegs dürften sich die bekannten Mitglieder der Partei in den Wahllokalen sehen lassen, wo es von Nazi- und Polizeispitzeln wimmeln werde. Keineswegs solle sich mit der Möglichkeit, die KPD noch einmal legal wählen zu können, die gefährliche Illusion verbinden, die Rechten würden von ihrer Absicht, die Partei zu vernichten, ablassen. Dann ging er auf die Fragen ein, die sich jetzt neu ergeben hatten. Er riet Kippenberg, sich sofort mit dem Berliner Bezirkssekretär Walter Ulbricht zu beraten. „Ihr müsst herausfinden, wo sie Ernst hingebracht haben, und alles versuchen, um mit ihm in Kontakt zu kommen. Wahrscheinlich wird er in absoluter Isolation gehalten. Schon die kleinste Nachricht von uns, dass die Partei lebt, die Führung weiterarbeitet, dass er sich auf uns verlassen kann, würde von unschätzbarem Wert für ihn sein.“

„Wir werden unser Möglichstes tun.“

„Grüß Walter Ulbricht von mir! Die Genossen der Bezirksleitungen sollen in den Gruppen und Betrieben verbreiten: Es wird alles getan, um den Gefangenen zu schützen und freizukämpfen. Alle sollen wissen: Die Thälmann-Linie wird weitergeführt! Einheitsfront aller Arbeiter und Hitlergegner gegen Faschismus und Krieg! Jetzt erst recht!“ Der Weg gabelte sich. Die beiden Männer vereinbarten den nächsten Kuriertreff. Kippenberger gab Wilhelm Pieck die Hand. „Du bist von uns allen jetzt der am meisten Gefährdetste. Die kleinste Unachtsamkeit kann sie auf deine Spur bringen. Nimm dich in acht!“

Dann ging Kippenberger den Weg nach Süden zum S-Bahnhof Neukölln, Pieck zur Siedlung „Neue Welt“, wo es eine Telefonzelle gab. Über eine Decknummer konnte er mit einem unverfänglichen Codesatz einen Treff mit John Schehr vereinbaren.

Auf dem Weg durch den Park dachte er an die Familie Ernst Thälmanns. Er hatte dessen Frau Rosa und dessen Tochter Irma vor Jahren in Hamburg kennengelernt und war verschiedene Male bei Thälmanns zu Gast gewesen. Wir müssen unbedingt Verbindung zu Rosa aufnehmen, dachte er. Wie wird sie mit dem schweren Schlag fertig werden? Welche Hilfe können wir ihr zukommen lassen? Die nächsten Angehörigen haben das Recht, über die Justizbehörden Auskunft über den Verbleib eines Verhafteten zu fordern. Man muss Rosa raten, sofort mit einem oder zwei Rechtsanwälten Verbindung aufzunehmen. Auch ist es erforderlich, noch an diesem Abend mit Franz Dahlem die notwendigen Schritte zu vereinbaren, um die Genossen im Ausland zu informieren. Nur eine breite internationale Aktion zur Befreiung Thälmanns kann die Naziführung daran hindern, den Vorsitzenden der KPD, den sie unter allen Funktionären am meisten fürchtet und hasst, meuchlings ermorden zu lassen.

Als Wilhelm Pieck seinen chiffrierten Satz für John Schehr durchgegeben hatte, blieb noch eine Stunde Zeit bis zum Treff. Er reihte sich in den Strom der Berufstätigen ein, die den Hermannplatz überquerten, und bog in den Kottbusser Damm ein. Die Geschäftsstraße war mit Werbeplakaten der rechten Parteien, mit Hakenkreuzfahnen und schwarz-weiß-roten Bannern übersät. An den Litfaßsäulen, in den Ladenfenstern, von Bretterzäunen und Hauswänden prangte Hitlers Bild. „Deutsches Volk, gib mir vier Jahre Zeit, dann urteile!“ Und überall der Spruch: „Wählt Brot, Frieden und Freiheit! Rettet das Vaterland! Wählt Liste 1!“ Eine Kolonne offener Lastkraftwagen fuhr die Straße entlang, alle voll besetzt mit SA-Leuten in der hellbraunen Uniform. Sie schwenkten Hitlerfahnen und grölten in Sprechchören: „Ein Volk, ein Reich, ein Führer! „Deutschland, erwache! Liste 1!“

Übermorgen war also Wahltag. „Freie Wahl“ im Zeichen des rechten Terrorregimes. Die Hitlerkoalition erstrebte die demokratische Legitimation ihrer Alleinherrschaft. Der KP hatte man jede Tätigkeit verboten. Ihre Reichtstagsabgeordneten waren ermordet, eingekerkert worden oder standen auf den Fahndungslisten der Polizei. Jedermann wusste, dass keiner der Kandidaten im Falle seiner Wahl den Sitzungssaal des Reichstags je betreten durfte. Wer würde in einer solchen Situation der Partei noch seine Stimme geben? Das gleiche Schicksal drohte der SPD. Die Faschisten machten kein Hehl aus ihrem Ziel, die Arbeiterbewegung aus dem politischen Leben auszuschalten. Und noch immer schwieg die Parteiführung der SPD, schwiegen die Gewerkschaftsführer, die Führer der „Eisernen Front“ und der sozialdemokratischen Jugendorganisationen auf die Angebote der KPD, sich im Kampf gegen die Hitlerdiktatur zu vereinigen. Noch immer verbreiteten sie die Parole „Stillhalten und abwarten!“, bis sich das Regime von selbst abgewirtschaftet habe. Gab es noch eine Rettung? Hatte es noch einen Sinn, den Widerstand der Arbeiter wachzuhalten? Musste nicht die ganze Kraft darauf verwandt werden, die Zahl der Opfer, die schon jetzt in die Tausende ging, so gering wie möglich zu halten? Thälmann hatte die Antwort darauf gegeben: „Hitler, das ist der Krieg.“ Kampflos untertauchen hieße, sich mitschuldig zu machen an einem neuen Völkermorden, hieße Verrat an der Arbeiterklasse, Verrat am eigenen Volk, an den bedrohten Völkern Europas. Gleichzeitig aber musste alles getan werden, um die Genossen im Land von gefährlichen Verzweiflungsaktionen abzuhalten.

Vom U-Bahnhof Kottbusser Tor aus konnte Wilhelm den Wittenbergplatz, ohne umzusteigen, erreichen, wo der Treff mit John Schehr vereinbart worden war. Zwei Büroangestellte unterhielten sich über eine Notiz im „Abend“, die die Verhaftung Thälmanns meldete.

„Sie haben Thälmann, den Kommunistenboss, den Mann mit der Schirmmütze.“ Der andere zuckte gleichgültig die Schultern und schwieg. „Früher oder später erwischen sie sie alle“, wandte sich der Zeitungleser an Pieck. „Mit den Roten geht es zu Ende, wenn sie nicht mal ihren wichtigsten Mann schützen können.“

„Ich interessiere mich nicht für Politik“, sagte Pieck.

„Das sollte aber heute jeder Deutsche tun! Wir erleben eine große Zeit - das Wiedererwachen Deutschlands.“

Wilhelm Pieck wollte dem Mann widersprechen, besann sich jedoch rechtzeitig und schwieg. Ungeduldig wartete er darauf, dass der Zug den Wittenbergplatz erreichte.

Die Abenddämmerung hatte sich herabgesenkt. In der Tauentzienstraße war wie immer um diese Zeit wenig Betrieb. Die Geschäfte hatten geschlossen, die Nachtlokale und Kinos noch nicht geöffnet. Auf dem Kurfürstendamm hatte sich gegenüber den früheren Zeiten wenig geändert. Die Schaufenster der Luxusläden waren hell erleuchtet. Die renommierten Lokale warben mit grell beleuchteten Schildern um Kunden. Am Eingang eines Kabaretts lockte ein riesiges Porträt Pola Negris die Lebemänner mit den dicken Brieftaschen an. Der Ufa-Palast bot einen Abenteuerfilm mit Asta Nielsen und Paul Klinger. Auf dem Boulevard flanierten die ersten Abendbummler in pelzgefütterten Ulstern, und grell geschminkte junge Damen saßen an den Fensterplätzen der halb leeren Restaurants. Man sah kaum jemand in einer SA-Uniform, hin und wieder patrouillierten zwei Polizisten gelangweilt durch die Straße. Nur die Litfaßsäulen mit dem Hitlerbild und vereinzelte Hakenkreuzfahnen aus höher gelegenen Stockwerken erinnerten daran, welche politische Veränderung sich vollzogen hatte. Aber niemand hier schien davon auch nur die geringste Notiz zu nehmen.

Sicherheitshalber bog Pieck in eine lange schnurgerade Nebenstraße ein, die fast menschenleer war. Am Ende trat er in eine Hausnische und beobachtete minutenlang die Straße. Er war nun sicher, dass ihn niemand verfolgte. Erst dann machte er sich auf den Weg in die kleine Konditorei, wo er mit John zusammentreffen würde. Immer wieder bedrängte ihn die Sorge um das Schicksal Ernst Thälmanns, peinigende Gedanken, die das Innerste aufwühlten. Gewaltsam musste er sich davon frei machen. Nichts wäre jetzt schlimmer, als den klaren Kopf zu verlieren. Schon das geringfügigste Versehen konnte tödliche Folgen haben.

Berlin, 3. März 1933, neunzehn Uhr dreißig.

Dunkle Wolken hingen über der Stadt, und ein leiser Nieselregen ging auf die Straßen nieder. In den Arbeitervierteln begann sich die Hiobsbotschaft von der Verhaftung Teddys zu verbreiten. Zu den Niederlagen der letzten Wochen kam diese neue und hinterließ ihre Spuren. Manch einer verlor sich in Depressionen. Manch einen packte die kalte Angst an der Kehle. Manch einer unterlag der Anfechtung, sich in das unabwendbare Schicksal zu ergeben. Die Mehrheit der Kommunisten aber überwand den Schrecken und blieb entschlossen, den Kampf gegen das Hitlerregime weiterzuführen.

Der Justizexperte übernimmt den Fall Thälmann

Hitler hatte aller Welt prophezeit, dass am Wahltag die endgültige Entscheidung für das neue Deutschland unter seiner Herrschaft fallen werde. Absolute Mehrheit für die NSDAP, Zweidrittelmehrheit für die Rechtskoalition, genug, um die Verfassung auf legalem Weg zu beseitigen und den Führerstaat zu etablieren; die Linken so zu dezimieren, dass man sie als bedeutungslose Minderheit nach Gutdünken zertreten konnte, das war sein erklärtes Ziel. Trotz des Einsatzes, aller Mittel der Massenmanipulation, trotz Thälmanns Inhaftierung, trotz der Reichstagsbrandprovokation, trotz der blutigen Terrorkampagne gegen die Arbeiterbewegung, trotz Einschüchterung der Massen mit einem riesigen Polizeiaufgebot erbrachte der Wahlsonntag nicht das gewünschte Resultat. Zwar konnte ein großer Stimmengewinn erzielt werden - ein Drittel der wahlberechtigten Deutschen sprach sich für die Hitlerpartei aus, siebenundvierzig Prozent der abgegebenen Stimmen votierten gegen die Republik, für die braunen Demagogen -, aber er reichte eben nicht aus, um dem Hitlerregime die demokratische Legitimation unbeschränkter Machtausübung zu verschaffen, noch weniger reichte er, um die Weimarer Verfassung auf legalem Weg außer Kraft zu setzen, wozu eine Zweidrittelmehrheit im Reichstag erforderlich gewesen wäre.

Dr. Hans Frank, Leiter des Hauptamtes für Justiz in der Reichsführung der NSDAP, wunderte sich nicht, Hermann Göring in miserabelster Stimmung anzutreffen, als er am Morgen nach der Wahlschlacht dessen pompös ausgestatteten Empfangsraum im Gebäude der preußischen Staatsregierung betrat. An die geplante Ausbootung Hindenburgs, die Erhebung Hitlers zum Reichspräsidenten, die Göring den Kanzlersessel eingebracht hätte, war nun vorerst nicht mehr zu denken. Im Stillen verachtete Frank den ehemaligen Fliegerhauptmann. Er fühlte sich dem Kommissstiefel geistig überlegen, ebenso den übrigen hier Anwesenden. Unbekannt war ihm der neue Geheimdienstchef Diels, Görings Protege, ein völlig unbeschriebenes Blatt in der Bewegung, der nach Meinung vieler seine Karriere nur der Geschicklichkeit verdankte, sich mit fremden Federn im Vernichtungsfeldzug gegen die Kommune zu schmücken.

Frank setzte sich an den Sitzungstisch und war neugierig, welche Rolle man ihm zudachte, um Hitlers und Görings Alleinherrschaft durchzusetzen.

Innenminister Frick referierte über die Wahlergebnisse. Das schwache Abschneiden der NSDAP in den Großstädten und Industriezentren zeige, in welchem Maß sich die entwurzelte und degenerierte Großstadtbevölkerung noch im Würgegriff der jüdisch-marxistischen volkszersetzenden Hetzpropaganda befinde.