Das ferne Licht der Sterne - Laura Lam - E-Book

Das ferne Licht der Sterne E-Book

Laura Lam

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Beschreibung

Die Zukunft der Menschheit entscheidet sich im Weltall – – und zwischen zwei Frauen, von denen eine ein tödliches Geheimnis bewahrt In einer nahen Zukunft steht die Erde kurz vor dem endgültigen Kollaps. Einen anderen bewohnbaren Planeten zu finden, ist die letzte Chance fürs Überleben der Menschheit. An diesem Projekt arbeiten die Biologin Naomi Black und ihre Adoptivmutter, die visionäre Tech-Pionierin Valerie, praktisch Tag und Nacht. Doch als Valerie durch eine politische Intrige von der Mission ausgeschlossen werden soll, überschlagen sich die Ereignisse: Naomis Mutter kapert das Raumschiff und startet gemeinsam mit ihrer Tochter und drei weiteren Wissenschaftlerinnen zu einer ungewissen Reise ins Weltall. Bald kommt es an Bord zu ersten Zwischenfällen, und Naomi muss erkennen, dass jemand ein tödliches Geheimnis verbirgt. Und dass sie und Valerie möglicherweise nicht dasselbe Ziel verfolgen. »Laura Lam nutzt in dieser weiblichen Science Fiction geschickt die klaustrophobischen Verhältnisse an Bord eines Raumschiffs, um den sich entwickelnden Kampf zwischen Naomi und Valerie um die Seele der Mission und die Rettung der Menschheit zu schildern.« Publisher's Weekly

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Seitenzahl: 465

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Laura Lam

Das ferne Licht der Sterne

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch von Kristina Koblischke

Knaur e-books

Über dieses Buch

Provokant. Mutig. Visionär.Der Science-Fiction-Thriller des Jahres der britischen Bestsellerautorin Laura Lam

In einer nahen Zukunft steht unser Planet kurz vor dem Kollaps. Umweltkatastrophen, Kriege und Überbevölkerung haben weite Teile der Erde unbewohnbar gemacht. Einen neuen Planeten zu finden ist die letzte Chance für das Überleben der Menschheit. An diesem Projekt arbeiten die Biologin Naomi Lovelace und ihre Adoptivmutter, die visionäre Tech-Pionierin Valerie Black, praktisch Tag und Nacht.Doch als Valerie durch eine politische Intrige von der Mission ausgeschlossen werden soll, überschlagen sich die Ereignisse: Sie kapert das Raumschiff und startet gemeinsam mit Naomi und drei weiteren Wissenschaftlerinnen zu einer ungewissen Reise ins Weltall.Bald kommt es an Bord zu ersten Zwischenfällen, und Naomi muss erkennen, dass eine von ihnen ein tödliches Geheimnis verbirgt. Und dass sie und Valerie möglicherweise nicht dasselbe Ziel verfolgen.

»Düster, hoch spannend, voller unerwarteter Wendungen – und doch bis zum Ende voller Hoffnung.« Booklist

Inhaltsübersicht

Motto30 Jahre danachEinsZweiDreiVierFünfSechsSiebenAchtNeunZehnElfZwölfDreizehnVierzehnFünfzehnSechzehnSiebzehnAchtzehnNeunzehnZwanzigEinundzwanzigZweiundzwanzigDreiundzwanzigVierundzwanzigFünfundzwanzigSechsundzwanzigSiebenundzwanzigAchtundzwanzigNeunundzwanzigDreißigEinunddreißigZweiunddreißigDreiunddreißigVierunddreißigFünfunddreißigSechsunddreißigSiebenunddreißigAchtunddreißigNeununddreißig30 Jahre später
[home]

»Aussterben ist die Regel. Überleben die Ausnahme.«

– Carl Sagan

 

 

 

»Wir dürfen allenfalls

stehn, gegen Menschen, Meer und Sturm uns sträubend,

und durch Gebirge hin uns halten lernen;

und stürzten Himmel hier herein betäubend:

wir hielten uns noch fester zwischen Sternen.«

– Elisabeth Barrett Browning (dt. Rainer Maria Rilke)

[home]

30 Jahre danach

Dreißig Jahre lang hat Dr. Naomi Lovelace keine Interviews gegeben.

Auch mir gegenüber schwieg sie. Ganz gleich, wie oft ich sie bat, mir zu erzählen, was dort oben geschehen war, die Antwort war immer dieselbe: Es sei unmöglich, jemandem den Weltraum zu beschreiben, der nicht selbst einmal dort war.

Egal, wie gut man mit Worten umgehen könne. Vielleicht könnte ich der Sache nahekommen, sagte sie mir einst – sie war immer sehr höflich, was meine Schreiberei anging –, aber kein Mensch könnte jemals nachempfinden, wie es wirklich war. Viele haben sie für ihre Entscheidungen verurteilt. Für das Risiko, das sie eingegangen ist, dafür, dass beinahe alles schiefgegangen wäre. »Lass sie doch«, sagte sie stets. »Den Hass bin ich schon lange gewohnt.«

Wie oft habe ich mir über die Jahre vorgestellt, wie sie dort oben schwebte, ganz allein, ein weißes Komma auf schwarzem Papier. Ich habe ihren unförmigen Raumanzug vor mir gesehen, das Kabel, das sie mit dem Schiff verband wie eine Art Nabelschnur. Die Stille gehört, lauter als ihr eigener Atem, und das Knistern der Comm-Verbindung. Gesehen, wie sie sich dreht, um zu den Sternen zu blicken, die sich schimmernd im goldfarbenen Visier ihres Helms spiegeln.

Ich weiß nicht, was die Weite vor ihren Augen in ihr ausgelöst hat. Ob der Anblick ihr Verständnis der Menschheit und der Rolle, die wir darin spielen, beeinflusst hat. Und ob vielleicht das zu den Entscheidungen führte, die sie traf.

Natürlich habe ich mir die Aufnahme ihrer Aussage vor Gericht angesehen. Sogar dort hat sie so wenig preisgegeben wie irgend möglich. Die ganze Welt hat darauf gefiebert zu hören, was sie zu sagen hat, darauf gebrannt, sie vor Gericht zu stellen, genau wie die anderen.

Inmitten der polierten Holzvertäfelung stand sie da, die warmen Brauntöne um sie herum so ganz anders als das sterile Weiß der Atalanta. Es muss ihr so laut vorgekommen sein, so überladen, nach all der Zeit, in der sie nichts als aufbereitete Luft geatmet, aufbereitetes Wasser getrunken und nichts Organisches gesehen hatte, bis auf die Pflanzen, die sie in ihrem eigenen Gewächshaus zog.

Kerzengerade hatte sie sich gehalten in ihrem steifen, gebügelten Hosenanzug, das Kinn in die Höhe gereckt. Ihr kurzes Haar hatte gerade erst wieder zu wachsen begonnen, die Kratzer auf ihren Wangen waren noch frisch. Jetzt, dreißig Jahre später, sind es nicht mehr als verblasste Narben, kaum sichtbar zwischen den ersten Anzeichen des Alters. Ihr Gesicht ist gezeichnet, jedoch nicht von dem, was sie zwischen den Sternen mit angesehen hat, sondern von dem, was sie nach ihrer Rückkehr erwartet hatte.

Man hat Dr. Naomi Lovelace über die Jahre viele Rollen zugeschrieben. Wissenschaftlerin. Landesverräterin. Heldin. Berühmtheit. Ausgestoßene.

Wer wäre sie geworden, wenn sie hiergeblieben wäre? Auch die Videoaufzeichnungen aus der Zeit, bevor sie die Erde in Richtung Cavendish verlassen hatte, hatten Naomi als stillen Menschen gezeigt, aber oft hatte ihre Lippen ein leises Lächeln umspielt, als kenne sie ein Geheimnis, das sie gerne geteilt hätte. Einer der Clips, aufgezeichnet im Jahr vor ihrem Aufbruch, hatte gezeigt, wie sie ihre Geburtstagsgeschenke auspackt. Ihre vorsichtige, bedachte Art, mit der sie alles anging, ganz die Wissenschaftlerin eben. Mit dem Nagel hatte sie die Klebestreifen gelöst, dann das glänzende Papier zusammengefaltet und beiseitegelegt. Erst als sie damit fertig gewesen war, hatte sie den Deckel des Kartons geöffnet und vorsichtig hineingesehen, das Gesicht versteckt hinter einem Vorhang aus dunklem Haar. Im Video war das leise Lachen zu hören, als sie die Schneekugel herausnahm, die Valerie ihr geschenkt hatte, während ihre Mentorin selbst mit ihrem ganz eigenen verhaltenen Lächeln zusah. Viele Jahre zuvor hatte Valerie eine solche Kugel im Kennedy Space Center gekauft, sie war eines von Naomis liebsten Kinderspielzeugen gewesen. Wahrscheinlich wurden sie schon seit einer Ewigkeit nicht mehr hergestellt, aber Valerie hatte genau das gleiche Exemplar noch einmal irgendwo aufgetrieben. Naomi schüttelte die Kugel, und die blauen Glitzerflocken verdunkelten einen Moment lang das Bild, bevor sie herabregneten und das kleine Space Shuttle enthüllten, das auf seiner Startrampe thronte.

Sie hatte die Schneekugel mitgenommen, als sie die Erde verlassen hatte. Sie steht noch immer auf ihrem Nachttisch, auch wenn das Glas zersprungen und der Glitzer schon vor langer Zeit herausgerieselt ist.

Diese frühe, erste Version von Naomi habe ich nie kennengelernt. Manchmal bin ich mir nicht einmal sicher, ob ich ihr wahres Ich hinter der Maske aus Meteoritgestein überhaupt jemals wirklich gesehen habe. Wahrscheinlich nicht.

Jedes Mal, wenn sich die Geschichte jährt, versuchen es die Medien erneut und stehen Schlange für ein einziges Interview. Oder irgendein Verlag nimmt Kontakt zu mir auf und bietet mir einen horrenden Betrag für ihre Memoiren als eine der »Atalanta 5«, die sich auf die Jagd nach dem Exoplaneten gemacht hatten, der uns alle retten sollte. Niemand hat je verstanden, warum sie jedes Mal abgelehnt hat.

Ich schon. Naomi ging es nie um Ruhm oder Geld.

Im Laufe der Jahre haben die Leute immer wieder versucht, die Lücken mit ihren eigenen Vermutungen zu füllen, oder sich einfach irgendwelche Lügen ausgedacht, die ihr Vermächtnis noch weiter geschmälert haben. Sie selbst hat immer gesagt, man solle die Vergangenheit am besten ruhen lassen – was wirklich zählt, sei das, was danach geschehen ist. Was wir aus den Trümmern wieder aufgebaut haben.

Beim Lesen stellt sich wohl die Frage, wer ich für sie bin, aber ich bin in dieser Geschichte nicht von Bedeutung. Das war ich nie.

Alles, was ich sagen will, ist, dass ich eigentlich nur eine Woche bei ihr bleiben wollte. Ich besuche sie nur selten – es ist immer so schwierig, sich von der Arbeit loszueisen, und die Reise bis zu ihr ist so entsetzlich lang. Ich wollte früher kommen, aber die Monate sind wie von selbst verstrichen. Aber irgendwann habe ich mich doch aufgerafft. Der Rest der Familie besucht sie nie. Die meiste Zeit verbringt sie allein. Eigentlich sollte ich morgen wieder aufbrechen, aber vor einer halben Stunde, um halb drei Uhr nachts, hat sie mich wachgerüttelt. Ihr braunes Haar, das mittlerweile von grauen Strähnen durchsetzt ist, streifte mein Gesicht, als sie sich über mich beugte und ihre Finger sich wie Klauen in meine Schultern bohrten.

Sie hat mir alles erzählt, die dunklen Augen weit aufgerissen. Ihr tränennasses Gesicht war gerötet, ihre Stimme kaum mehr als ein Flüstern. So dicht hat sie sich über mich gebeugt, dass ich ihren warmen Atem auf der Wange spüren konnte.

Ein Blick in die Nachrichten genügte, um zu verstehen, was Naomi so aufgewühlt hat. Mittlerweile hat sie wahrscheinlich alle möglichen Comm-Verbindungen abgeschaltet – die Leute von der Presse werden sie belagern wie Schmeißfliegen.

Wahrscheinlich holt man sie sowieso bald für eine weitere Befragung ab, reißt die alte Wunde noch einmal auf. Vielleicht hat sie mir deshalb endlich erzählt, was ich schon so lange wissen wollte. Bevor ich es über die News-Drohnen erfahre. So viel ist sie mir schuldig.

Ich habe mir einen Stift und einen Block besorgt – eine anachronistische Liebhaberei, aber das Schreiben mit der Hand hilft mir beim Nachdenken. Auch wenn ich hinterher immer Mühe habe, mein Gekritzel wieder zu entziffern. Aber ich will versuchen, beim Schreiben Ordnung in meine Gedanken zu bringen, bevor ich aufbrechen muss.

Während all der Jahre hat Naomi mich mit demselben Schweigen bedacht wie alle anderen. Mir Antworten gegeben, die so weit von der Wahrheit entfernt waren, dass der Unterschied zur Lüge nicht mehr groß war. Heute Nacht erfahre ich vielleicht alles. Aber wird es schlimmer sein als das, was ich mir ausgemalt oder über die Jahre zusammengereimt habe?

Der Nachthimmel ist so klar – wie verschüttete, mit Sternen durchwirkte Tinte. Naomi hat immer gesagt, ganz egal, wie dunkel die Nacht auch sein mag, niemals käme der Himmel über einem Planeten der wahren Schwärze des Alls gleich.

Aber ich fange am Anfang an, ganz so, wie sie es will.

[home]

Eins

StartMichigan, USA, Erde

Ein gewöhnlicher Start wäre ein großes Fest gewesen.

Überall auf dem ausgedörrten Boden hätten Picknickdecken gelegen, ausgestreckte Beine, glänzend vom Sonnenöl, Gesichter im Schatten der Hutkrempen, die Augen hinter dunklen Gläsern geschützt. Die Leute hätten Knabberzeug dabeigehabt und ihre Filtermasken zum Essen angehoben. Kinder hätten mit Strohhalmen künstlichen Fruchtsaft aus silberfarbenen Beuteln getrunken und so getan, als sei es Astronautennahrung. Die Erwachsenen hätten sich etwas Stärkeres gegönnt, um sich ein bisschen zu entspannen und die Zeit schneller verstreichen zu lassen.

Zehn. Neun. Acht.

Bei einem gewöhnlichen Start hätte sich die Menge entlang des Flugfelds aufgereiht. Die Luft wäre erfüllt gewesen von aufgeregtem, fröhlichem Geschnatter und scheppernder Musik aus tragbaren Boxen. Die Schaulustigen hätten sich ausgemalt, wie es sich wohl für die Raumfahrer anfühlt, die mit klopfendem Herzen im Cockpit saßen. Freunde und Familienmitglieder hätten sich vier Kilometer vor der Startrampe versammelt – gerade so nah wie erlaubt – und zum Abschied gewunken, auch wenn ihre Lieben sie nicht hätten sehen können. Tränen hätten salzige Spuren auf ihre Wangen gezeichnet. Bloß nicht an die Bilder der Challenger denken. In der einen Sekunde ein perfekter Start, in der nächsten ein leuchtender Feuerball.

Sieben. Sechs.

Aber das hier war kein gewöhnlicher Start.

Naomi ballte die Hände zu Fäusten und öffnete sie wieder, ließ bewusst alle Anspannung aus sich herausfließen. Ihr Körper war auf ihrem Sitz im Inneren der Atalanta festgeschnallt und steckte in einem klobigen Raumanzug mit rundem Fischglashelm. All ihre Sinne waren gedämpft. Nichts berührte ihre Haut außer der Baumwollunterwäsche unter den dicken Schichten des Anzugs. Sie roch nichts, hörte kaum etwas, ihr Sichtfeld war eingeschränkt. Alles schien weit weg, als sähe sie sich selbst von außen zu und alles, was gerade passierte, widerfahre einer anderen Person.

Fünf. Vier.

An der Startrampe, die sich am Rande der Keweenaw-Halbinsel versteckte, stand niemand und sah zu. Dieser Ort hatte seine letzten Raketenstarts zu Zeiten des Kalten Krieges gesehen, und die wenigen, die überhaupt von seiner Existenz wussten, waren der Meinung, er wäre schon lange nicht mehr in Betrieb.

Also keine Picknicks. Die einst beliebte Urlaubsregion bestand mittlerweile aus nacktem, säurehaltigem Felsgestein, gleichermaßen unbeliebt bei Touristen und Vegetation. Am Randstreifen des aufgesprungenen Highways, der den abgestorbenen Wald durchschnitt, bildeten sich keine Autoschlangen. Nicht ein hoffnungsvolles Gesicht blickte in die Wolken, um der Flugbahn der Rakete zu folgen, bis sie verschwand.

Und das war Absicht.

Die fünf Frauen, die in der Raumkapsel saßen, waren vollkommen allein. Die Startrampe war bedeutend größer als das winzige Ding, von dem die NASA Ende der Sechziger ihre Raketen abgeschossen hatte. Niemand wusste, was sie vorhatten. Roboter und KIs hatten die Vorarbeiten erledigt, der Startprozess lief automatisiert. Denn wenn jemand von ihrem Geheimnis erfahren hätte, wäre die Mission noch vor dem Countdown zu Ende gewesen. Was aber auch hieß, dass sie, falls etwas schiefging, auf sich allein gestellt wären.

Durch die Visiere ihrer Helme sahen die fünf sich an. Sie versuchten, die Angst zu verbergen, das Zittern in den Gliedern auf das Beben der Triebwerke zu schieben. Naomis Muskeln waren angespannt und hart wie Stahl. Zwei Wochen war es her, dass sie alle im Schutz der Nacht hier eingetroffen waren. Sich selbst in Quarantäne begeben und die Prozedur der Startvorbereitungen durchlaufen hatten. Jedes Geräusch hatte sie zusammenzucken lassen, während die Roboter über die Rakete krochen und ihrer Arbeit nachgingen. Sie legten ihr Leben in die Hand dieser Maschinen, weil ein Mensch sie allzu leicht hätte verraten können.

Bis zur letzten Sekunde befürchtete Naomi, jemand würde kommen. Die Roboter abschalten, das Startprogramm abbrechen. Die Einstiegsluke aufreißen und sie aus dem Shuttle zerren, kurz bevor sie die Erde endlich hinter sich lassen würden. Naomi hielt den Atem an.

Die fünf Frauen sprachen im Chor mit der Stimme des Computers, die durch die Raumkapsel hallte.

Drei. Zwei. Eins.

Sie hatten sich freiwillig an eine Bombe geschnallt und die Zündschnur angesteckt. Die Triebwerke brüllten auf. Naomis Zähne klapperten, die Haut über ihren Wangen wurde auf den Knochen gepresst. Die Rakete hob ab, schwankte, schien über der Rampe stehen zu bleiben, während Unmengen von Treibstoff verzweifelt gegen die Schwerkraft ankämpften. Die vier Frauen, denen Naomi ihr Leben anvertraut hatte, stießen Siegesschreie aus, als die Raumkapsel sich plötzlich drehte und auf Orbitalgeschwindigkeit beschleunigte. Bald würde jede Sekunde sie acht Kilometer von der Erdoberfläche wegtragen. Naomi wurde in den Sitz gepresst, als säße ein Dämon auf ihrer Brust.

Es hatte so viele Rückschläge gegeben. So oft war sie beinahe gescheitert. Vor fünf Monaten hatte sie noch gedacht, sie würde ihr Ziel niemals erreichen. Ganz gleich, welche Abschlüsse sie gemacht, wie viele akademische Grade und gerahmte Auszeichnungen sie gesammelt hatte und jetzt am Boden eines Kartons in einem gemieteten Lagerraum zurückließ. Ganz gleich, wie viele Monate lang sie sich den endlosen, übergriffigen Tests der Ärzte und Psychologen ausgesetzt hatte. Egal, wie viele Partys, Abendessen und Dates sie verpasst hatte. Wie viele Beziehungen abgebrochen. Sie würde es niemals ins All schaffen. Keine von ihnen würde es, davon war sie überzeugt gewesen.

So viel hatte man ihnen gestohlen. Allen Frauen. Aber jetzt stahlen sich Naomi und ihre Mitverschwörerinnen etwas zurück. Konservative Politiker und ihre Medien-Marionetten würden Dr. Valerie Black, CEO der Firma Hawthorne, und ihrer Crew vorwerfen, ein Raumschiff gestohlen zu haben. Staatseigentum. Aber damit lagen sie falsch. Sie stahlen einen ganzen Planeten. Sie stahlen sich eine Zukunft.

* * *

Weit und mit jeder Sekunde weiter unter ihnen steckten die Menschen jetzt wahrscheinlich die Köpfe aus den Fenstern und blickten nach oben zur Raumkapsel, während sie sich mit der Hand die Filtermasken auf Mund und Nase drückten. Hier, in diesem von Dürre geplagten Landstrich, wären es nicht viele – die meisten waren schon vor langer Zeit näher an die verbliebenen Inseln grüner Vegetation und saubereren Wassers gezogen. Aber ein paar wären es doch. Und während sich die Story in den sozialen Netzwerken bereits wie ein Lauffeuer verbreitete, würden die Journalisten erst hektisch damit beginnen, ihre Clickbait-Überschriften zu produzieren. Man würde verschwommene Bilder hochladen. Verwackelte Videos, in der die Rauchwolke hinter der Raumkapsel aussah wie der Schweif eines Kometen.

Das Shuttle bebte, als die ausgebrannten Booster abgeworfen wurden. Dann war der letzte Rand der Stratosphäre erreicht, und die Raumkapsel ließ die Erdatmosphäre hinter sich. Der immense Druck der Beschleunigung, der Naomi in den Sitz gepresst hatte, verwandelte sich von einem Moment auf den anderen in Schwerelosigkeit. Mit einem Ruck zogen sich die Gurte so straff, dass Naomi kaum noch Luft bekam. Die Trollpuppe, die Hixon als Glücksbringer neben ihrem Platz festgebunden hatte, schwebte Pirouetten drehend durch den Raum, das Plastikgesicht zu einem bizarren Dauergrinsen erstarrt.

Eine Stunde lang umklammerte Naomi die Armlehnen ihres Sitzes, während sie durch das All rasten. Es gab keine Fenster – alles, was es zu sehen gab, waren die Digitalanzeigen der Bildschirme.

Die Steuerung war automatisiert, aber trotzdem lagen Hixons ruhige Hände auf dem Controlpanel, das schwache Licht verlieh ihrer hellen Haut unter den Sommersprossen einen graublauen Farbton. Hart und Lebedev saßen steif in ihren Sitzen, durch die reflektierenden Visiere ihrer Helme konnte Naomi nichts erkennen. Valeries Körperhaltung strahlte Ruhe und Zufriedenheit aus.

Valerie war so vieles für Naomi – ihre Vorgesetzte bei Hawthorne, ihre Kommandantin an Bord der Atalanta. Aber ihre gemeinsame Vergangenheit reichte noch viel weiter zurück. Naomi war neun gewesen, ihr Vater tot und ihre Mutter nicht in der Lage, sich um sie zu kümmern, als Valerie sie bei sich aufgenommen hatte. Wenn die Welt jetzt herausfand, was sie getan hatten, würde Naomi den Vorwürfen des Nepotismus, die sie bereits ihre ganze Karriere lang begleitet hatten, nie mehr entkommen. Zwar hatte sie Hawthorne eine Zeit lang den Rücken gekehrt, um sich zu beweisen, aber das »Projekt Atalanta« hatte sie in den Schoß der Firma zurückgelockt wie der Gesang einer Sirene.

Valerie hatte die Besatzung, die jetzt in den interstellaren Raum vordringen würde, um die Menschheit zu retten, handverlesen. Es war die erste rein weibliche Crew der Geschichte.

Nur eben nicht die erste autorisierte weibliche Crew.

Die Regierung hatte Valerie, nachdem sie ihr Geld und ihre Expertise eingebracht hatte, die Verantwortung entzogen und die Crew in letzter Minute durch fünf Astronauten der NASA ersetzt. Auch wenn es für die fünf Männer bis zum Start schlichtweg unmöglich gewesen wäre, den Trainingsrückstand aufzuholen und die Simulationen so oft zu durchlaufen, dass sie das Schiff so gut kannten wie ihr eigenes Kinderzimmer. Aber Präsident Cochran war so fest entschlossen, die fünf Frauen von der Atalanta und ihrem Ziel fernzuhalten, dass er bereit war, alles zu riskieren.

Aber sie waren doch an Bord gegangen. Oksana Lebedev, leitende Ingenieurin, hatte unter verdächtigen Umständen die Roskosmos verlassen, um für Valerie zu arbeiten. Jerrie Hixon, Pilotin und Mathematikerin, hatte ihre Stellung bei der NASA nach Präsident Cochrans Ernennung gekündigt. Ihre Frau Irene Hart hatte es ihr gleichgetan, als die NASA einige Monate nach Cochrans Amtsantritt begann, die meisten ihrer weiblichen Angestellten durch Männer zu ersetzen.

Cochrans politische Maßnahmen griffen nicht über Nacht, aber sie waren genauso unaufhaltbar wie das Schmelzen der Polkappen. Die Frauen wurden so subtil aus der Arbeitswelt verdrängt, dass es kaum jemand bemerkte, bevor es zu spät war. Es gab keinen großen Donnerschlag, keine ungültig gemachten Pässe oder gesperrten Bankkonten. Nur ein paar Männer in teuren Anzügen, die redegewandt die Bibel zitierten, nur oberflächlich zwar, aber gerade versiert genug, um sich einen wichtigen Teil der christlichen Wählerschaft zu sichern. Dabei hatten sie eigentlich nur Angst vor Frauen. Vielleicht hassten sie sie sogar. War das nicht im Grunde irgendwie dasselbe? Jedenfalls betrachtete das ganze Land diese Gruppierung hasserfüllter Männer als Randbewegung – bis einer von ihnen zum Präsidenten gewählt wurde.

»ETAAtalanta zehn Minuten«, unterbrach Hixon mit abgehackter Stimme das Schweigen. Naomi konnte beinahe fühlen, wie ihre Gehirne arbeiteten und ihre Gedanken die enge Kabine füllten.

Endlich erfassten die Kameras das Bild ihres eigentlichen Schiffes: die Atalanta.

Valerie lächelte. Hixon schlug triumphierend die Hände zusammen, auch wenn die Handschuhe das Geräusch dämpften. Naomi, Hart und Lebedev schwiegen und staunten.

Das Schiff war wunderschön. Weiß glänzendes Metall formte die Zentralachse, dem Körper eines Vogels nachempfunden. Der Bug war gekrönt von der scheibenförmigen Brücke, die vierfach verstärkten Fenster dunkel. Die Ionen- und Plasmatriebwerke waren seitlich angebracht.

Aus dem Schiff selbst ragten drei Speichen hervor, die zu einem großen Ring führten – die Labore, Quartiere und Gemeinschaftsräume –, der das Schiff einfasste wie ein Heiligenschein. Wenn sie es schafften, die Sache hier durchzuziehen und die Umlaufbahn der Erde zu verlassen, würde der Ring anfangen, sich zu drehen und Schwerkraft zu erzeugen. Im All wartete ein zweiter Ring auf sie, der den ihres Schiffes genau in sich aufnehmen konnte. Man hatte ihn direkt vor der Umlaufbahn des Mars errichtet und so eine durch Atomuhren bestimmte Fixposition geschaffen. Wenn sie es schafften, exotische Materie in negative Energie umzuwandeln, wäre die Alcubierre-Theorie des Warp-Antriebs nicht mehr länger Science-Fiction. Dann wäre ihr Raumschiff in der Lage, den vor ihm liegenden Raum zusammenzuziehen und hinter sich wieder auszudehnen – und somit schneller zu reisen als das Licht, ohne dabei die Gesetze der Physik zu brechen.

Obwohl sie bereits mehrere Sonden durch den Ring und wieder zurück geschickt hatten, waren die verschiedenen Länder der Erde viel zu besorgt, als dass sie den Warp-Ring in direkterer Nähe zur Erdumlaufbahn oder wenigstens zum Mond aufgebaut hätten. Er war zwar nicht essenziell für den Warp-Antrieb, half aber, die korrekte Position des Schiffes zu garantieren, damit die Berechnungen stimmten. Zuerst musste die Atalanta also die langsamere Reise zum Mars mit den Ionen-Triebwerken hinter sich bringen. Aber wenn sie erst einmal am Ring angedockt hätten, stand ihnen der gesamte Weltraum offen.

Cavendish.

Ihr Ziel lag zehneinhalb Lichtjahre entfernt.

Die Atalanta hing noch immer an ihrer Konstruktionsvorrichtung. Ein unansehnlicher Wirtskörper, voller Schrott und Drohnenrobotern der jüngsten Generation, die noch Naomis Mutter entworfen hatte, nicht unähnlich denen, die gerade das Shuttle startbereit gemacht hatten. Vor nur einer Woche waren sie noch über die glänzende Verschalung gekrochen, hatten jede Schraube festgezogen und das Schiff zum Leben erweckt. Die Atalanta war so weit vom Lunar Orbital Platform Gateway und der International Space Station zusammengesetzt worden, dass es den Astronauten der beiden Raumstationen unmöglich wäre, die fünf Frauen einfach aufzuhalten.

Erst in zwei Wochen sollte die neue Crew an Bord der Atalanta gehen und nach Cavendish aufbrechen, um zu entscheiden, ob der Planet tatsächlich zur neuen Heimat der Menschheit werden könnte. Naomi hatte während ihrer Zeit bei der NASA schon unter Shane Legge, dem neuen offiziellen Commander, gearbeitet. Er war brillant, aber eine furchtbare Führungspersönlichkeit. Es machte ihm Freude, andere kleinzumachen, Missgunst zu schüren und unnötige Rivalitäten anzufachen. Selbst wenn die neue Crew die fachliche Kompetenz gehabt hätte, um die Atalanta zu fliegen, wäre sie sich spätestens am Mars gegenseitig an die Gurgel gegangen.

Langsam bewegte sich die Raumkapsel in Richtung Docking-Station. Valerie kannte dieses Schiff – sie hatte es gebaut. Die neuen Sicherheitssysteme Marke Lockwood waren für sie kein Hindernis. Weder die NASA noch Lockwood hatten daran gedacht, das Schiff gegen einen Zugriff aus dem All zu sichern. Von der Erde aus konnte man sie nicht aufhalten, nicht ohne immense Kosten. Und wenn sie versuchen sollten, die Atalanta über den Warp-Ring zu stoppen, könnte Valerie die Hawthorne-Roboter, die den Ring warteten, einfach per Fernsteuerung abschalten. Im Worst-Case-Szenario könnten sie den Alcubierre-Antrieb immer noch ohne den zweiten Ring einsetzen, auch wenn das für Hixon eine Menge zusätzliche Rechenarbeit bedeuten würde. Und für sie alle ein deutlich höheres Risiko.

Die Crew hielt den Atem an, als das Shuttle in Position ging. Die Kopplungsmodule griffen ineinander und zogen die beiden Maschinen zusammen. Zischend schloss sich die Verriegelung. Naomi stieß den Atem aus.

Auf Valeries wortloses Signal hin lösten die Astronautinnen ihre Sicherheitsgurte und gaben sich der Schwerelosigkeit hin. Staunend bewegte Naomi ihre gewichtslosen Arme.

Lebedev öffnete die Verriegelung und zog die Stahltür auf. Die vier Frauen schwebten in das Schiff. Ihr Schiff. Trotzdem fühlte sich Naomi noch immer beengt – die Schleuse war nicht viel größer als die Raumkapsel. Im ersten Moment war es stockfinster, dann schalteten die Bewegungsmelder das Licht an, viel zu hell nach der langen Zeit im Halbdunkel.

Die Schleuse führte in den Hauptteil des Schiffes, hinten lag die Laderampe, vorne die Brücke. Mittig und an der rechten Seite des Verbindungsflurs waren Lagerräume untergebracht.

Während sie sich durch den Flur bewegten, saugte Naomi jedes Detail mit den Augen auf. So oft hatte sie dieses Raumschiff schon im Simulator gesehen, entweder zweidimensional auf dem Bildschirm oder in der virtuellen Realität, was dem echten Erleben fast in nichts nachstand. Fast.

»Alle bereit?«, fragte Valerie. Durch die Lautsprecher in Naomis Helm klang ihre Stimme künstlich.

Hixon streckte beide Daumen nach oben.

Valerie hob die Hände und nahm den Helm ab. Ihr lockiger brauner Bob schwebte um ihren Kopf wie ein Heiligenschein, und auf ihrem sonst so ernsten Gesicht lag ein breites Grinsen.

Naomi tat es ihr nach, zischend öffnete sich ihr Helm. Sie sog die sterile, geruchlose Luft ein. Sie war hier. Ihr Körper war nicht länger der Schwerkraft unterworfen. Einen Vorgeschmack hatte sie nur unter Wasser im Neutral Buoyancy Lab während ihres Trainings bei der NASA oder in den kurzen dreißig Sekunden am Scheitelpunkt der Parabelflüge im Zero-G-Flugzeug bekommen. Vorsichtig zog sie einen Handschuh aus. Berührte die kühle weiße Wand des Flurs. Sie war fest. Das hier war keine Simulation. Das hier war die Realität.

Auch die anderen setzten ihre Helme ab. Naomi blickte auf die vier Frauen, die sie in der absehbaren Zukunft jeden Tag sehen würde. Schon bald wären ihr diese Gesichter so vertraut wie ihr eigenes.

Valerie stieß sich von der Wand ab und schwebte in Richtung Brücke. Die anderen folgten ihr, schweigend wie Gespenster. Alles in allem war es ein kleines Schiff, auch wenn es bis zu sieben Crewmitgliedern und allen Vorräten, die sie brauchten, um bis zum Mars, dem Ring und letztendlich bis nach Cavendish zu kommen, ausreichend Platz bot. Naomi wollte nichts mehr, als durch die Gänge zu schweben und jede Ecke des Schiffs zu erkunden. Noch war alles neu, aber schon bald würde es hier keine Geheimnisse mehr geben.

Auf der Brücke hielten sie an, ließen den Blick über die Sitze und Konsolen gleiten.

»Heilige Scheiße«, hauchte Valerie.

Unter ihnen lag die Erde.

Sie sah nicht aus wie eine Murmel, dafür gab es zu viel Leben. Die Wolken bewegten sich träge, die Grenze zwischen Tag und Nacht teilte den Planeten in zwei Hälften. Auf der dunklen Seite leuchteten die Städte. Da war Europa – Paris, Berlin, Kiev strahlten, verbunden durch den Schein kleinerer Städte wie ein Netz leuchtender Synapsen. Südeuropa war jetzt im Sommer größtenteils dunkel, alle, die konnten, waren in den Norden geflohen, Richtung Finnland oder Estland. Über Marokko zuckten Blitze. Weit im Norden strahlte das grüne Licht der Aurora Borealis. Geladene Teilchen des Sonnenwindes, die in der Erdatmosphäre verglühten. Naomi sah die Nordlichter zum ersten Mal. Das Südlicht hatte sie in ihrer Jugend stark beeindruckt, als sie während einer Antarktis-Expedition aus der Kapuze ihres dicken Parkas zum Horizont geblickt hatte. Von hier oben sah es aus wie Magie.

Die helle Seite der Erde offenbarte, was die Dunkelheit verbarg – es gab kein Eis mehr in der Arktis. Die Antarktis war von ihrem Standpunkt aus nicht sichtbar – der Südpol lag zu dieser Jahreszeit in anhaltender Dunkelheit –, aber im Sommer könnte man weite schwarze Landmassen erblicken, hier und da getupft von großen türkisfarbenen Seen, manche so groß wie einige Länder Europas. Die schmelzenden Gletscher. Naomi fragte sich, ob man wohl die Lichter der Bohrinseln aus dem All sehen konnte, die man vor Kurzem im Rossmeer errichtet hatte. Der Antarktis-Vertrag war lange vor seinem geplanten Ablauf im Jahr 2048 gebrochen worden.

Die Landflächen der anderen Kontinente zeigten zu viel Braun, zu viel Gold, das Grün war selten geworden. Es gab ganze Regionen, in denen kein Mensch mehr überleben konnte, und die bewohnbaren Gebiete waren überfüllt. Sogar in den Ozeanen prangten gold-grüne Flecken, weil Stürme den Boden der Kontinente abtrugen und damit die Phytoplanktonblüte vorantrieben. Wenigstens hatte man es geschafft, einen Großteil des Müllbergs im Pazifik einzusammeln, auch wenn man den wahrscheinlich ohnehin nicht aus dem All hätte erkennen können.

So klein war die Erde, so verletzlich. Jedenfalls schien es aus den endlosen Weiten des Universums so.

Dort unten auf der Erdoberfläche waren die Berge größer als alles, was man sich vorstellen konnte, aber hier auf dem Schiff waren sie nichts weiter als kleine Wellen in der Landschaft. Die Erde, die Naomi gekannt hatte, war nichts als ein nutzloser, öder Felsen. Irgendwie würde sie am Leben bleiben, aber das galt nicht für ihre größeren Bewohner. Die Menschheit musste sich ihrer eigenen Vergänglichkeit stellen. Schon innerhalb der nächsten Generation könnten sie alle Geschichte sein. Sie waren dieser Welt entwachsen, hatten sie ausgezehrt. Jetzt brauchten sie eine neue.

Mit den Helmen in der Hand versammelten sich die Frauen am Fenster. Der Adrenalinrausch des Starts war verflogen, und allen fünf wurde langsam bewusst, was sie getan hatten. Natürlich wussten sie, welches Risiko sie eingingen, aber plötzlich so unvermittelt vor sich zu sehen, was sie für immer aufgeben würden und was sie so verzweifelt bewahren wollten, dass sie ein Raumschiff dafür stahlen, war etwas anderes.

»Wir haben so lange darüber nachgedacht, wie wir von dort unten wegkommen, dass ich fast vergessen hätte, dass das hier erst der Anfang ist«, flüsterte Hart. Das blaue Licht brachte ihre dunkle Haut zum Leuchten.

Wie gut kannte Naomi diese Frauen? Ja, sie hatte mit ihnen trainiert, mit ihnen zusammengearbeitet, aber nun waren es die einzigen Menschen, die sie noch hatte – zumindest für die nächsten Jahre. Valeries selbst erklärte Ägide.

Hixon liefen Tränen über das Gesicht, blieben an ihrer Nase hängen. Hart streckte die Hand aus und trocknete sie. Naomi bewegte sich nach vorne, presste beide Hände ans Fenster. Zu ihrer Rechten stand Lebedev, ihre Miene so unergründlich wie immer, die ausgeprägten Wangenknochen traten im fahlen Licht noch deutlicher hervor. Sie beide hatten sich zu Beginn der Quarantäne den Kopf rasiert. Hart hatte sich schon vor Monaten von ihren geflochtenen Zöpfen getrennt und sich das Haar kurz geschnitten, und Hixon trug ihren Pixie-Cut schon, seit sie zwölf war. Zuerst hatte die Russin ihr eigenes blondes Haar bis auf wenige Millimeter gestutzt, dann die Schere an Naomis dunkle Locken gesetzt. Während Naomi zugesehen hatte, wie sie zu Boden fielen, war ihr klar geworden, dass die Schwerkraft für sie nicht mehr lange selbstverständlich sein würde.

Valerie stieß ein kaum hörbares Seufzen aus, dann fasste sie sich wieder. »Hixon.«

Die Pilotin nickte und nahm Haltung an, der jahrelange Militärdienst hatte sie geprägt. Sie zog sich nach unten vor die Konsole und gab den Code ein, der die Abkopplung der Atalanta einleiten sollte.

Ein greller Alarmton durchschnitt die Stille. Auf dem blau-weißen Bildschirm leuchtete es rot auf.

Hixon versuchte es erneut. Wieder das rote Leuchten.

»Sie haben die Abkopplung von unten aus gesperrt. Offenbar eine der neuen Modifikationen.« Mit dem Kinn deutete Valerie zur Erde. »Mann, sind die sauer. Ich liebe es.«

Als hätte ihre Stimme es heraufbeschworen, ertönte ein neuer Piepton – eine Nachricht aus Houston.

»Antworten wir?«, fragte Hart, die nervös an einem Fingernagel kaute.

»Natürlich nicht«, erwiderte Valerie. »Lebedev. Lovelace. Packt die EMUs aus.«

Es dauerte einen Moment, bis die Bedeutung ihrer Worte bei Naomi ankam. »Willst du im Ernst …«

»Manual override. Habe ich ins ursprüngliche Design eingebaut. Schließlich bin ich davon ausgegangen, dass so etwas passieren könnte. Die schicken jetzt, so schnell es menschenmöglich ist, eine Dragon hier hoch. Oder eine Crew vom Gateway, die uns festnehmen soll. Wollt ihr noch hier sein, wenn sie kommen? Dann könnt ihr das jetzt anmelden.«

Der Raum blieb still, bis auf das beharrliche Piepen der Männer, die weit unter ihnen auf der Erdoberfläche festsaßen.

»Also, los geht’s«, sagte Valerie und entblößte ihre weißen Zähne zu einem breiten Grinsen. »Zeit für einen Weltraumspaziergang.«

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Zwei

3 Jahre vor dem StartSutherland, Schottland

Valerie trat aus dem Nebel wie ein Geist.

Naomi hatte ihren ehemaligen Vormund schon erkannt, als sie aus der Tür des Sutherland Spaceports getreten war und dabei ihren Firmenausweis in der Handtasche verstaut hatte. Valeries Körperhaltung, das Selbstvertrauen, das von ihrer Silhouette ausging, war unverkennbar.

Abwartend blieb Naomi vor dem Wagen stehen, die Hände in den Taschen vergraben. Valerie trug einen bodenlangen, dunkelgrünen Mantel; ein großer Schirm schützte sie vor dem schottischen Regen, den der Wind vor sich hertrieb. Schirme waren etwas für Touristen. Jeder, der eine Weile in Schottland lebte, fand sich irgendwann damit ab, dass jeder Schirm unweigerlich dem Wind zum Opfer fallen würde. Besser, man stellte sich einfach darauf ein, nass zu werden.

»Valerie.« Naomi ließ die Hände in den Taschen. Valerie Black war kein Mensch für Umarmungen.

»Hallo, Naomi«, gab Valerie zurück, als sei sie Naomi gerade zufällig vor ihrem Anwesen in den Santa Ana Mountains begegnet und nicht sechstausend Flugmeilen und eine stundenlange Fahrt in den entlegenen Norden Schottlands entfernt. Als hätte ihr letztes Gespräch nicht in einem Streit geendet, der so heftig gewesen war, dass sie monatelang nicht miteinander gesprochen hatten. »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag. Ich dachte mir, ich lade dich zum Essen ein.«

Naomi sah Valerie an, aber durch ihren Geist huschten tausend verschiedene Erinnerungen wie überbelichtete Fotos. Ihr erster Geburtstag, nachdem Valerie sie zu sich genommen hatte, eine schweigsame Neunjährige mit dem Geruch von Rauch in der Nase, die Ascheflocken vom Himmel schweben sah wie den Schnee im Winter. Auf ihrem Geburtstagskuchen hatten keine Kerzen gebrannt. Ihr zwölfter Geburtstag im Vergnügungspark. Valerie hatte das teuerste Ticket gekauft, sodass sie nirgendwo anstehen mussten. Am Ausgang jeder Achterbahn hatte Valerie mit den Worten auf Naomi gewartet, sie würde sich ihre Nerven lieber für Dinge aufsparen, die wirklich gefährlich waren. Valerie hatte Geburtstage schon immer geliebt. Es waren Gelegenheiten, anderen dabei zuzusehen, wie sie vor Glück strahlten und sich dann vor Verlegenheit wanden, weil ihr in puncto Großzügigkeit niemand das Wasser reichen konnte.

Naomi blickte kurz zurück zur Glaskuppel des Raumfahrtzentrums, um die noch immer ein Gerüst stand. Naomi arbeitete für Lockwood, ein internationales Unternehmen, und war bei der UK Space Agency unter Vertrag. Hawthorne, Valeries Firma, war ihr größter Konkurrent. Die Leute tuschelten ohnehin schon ständig über die Tatsache, dass sie von der CEO der Gegenseite großgezogen worden war. Wenn sie jetzt hier jemand zusammen sah …

Als hätte sie ihre Gedanken erraten, öffnete Valerie die Tür zu Naomis Wagen. »Komm schon«, sagte sie. »Im Auto ist es wenigstens trocken.«

Naomi stieg ein und schloss die Tür hinter sich.

Die ESA und die UKSA folgten langsam dem Beispiel der NASA und schraubten die Zahl ihrer weiblichen Angestellten immer weiter herunter. Aber bis sie die Amerikaner eingeholt hätten, gab es für Naomi hier wenigstens noch die theoretische Chance, in den Weltraum zu fliegen.

Sie schwiegen, während das selbstfahrende Auto durch den Nebel glitt und die einsetzende Dämmerung das Grau um sie herum langsam violett färbte. Naomi erinnerte sich an Valeries Reaktion, als sie ihrer Mentorin mitgeteilt hatte, sie würde die NASA, Houston und den ganzen Kram hinter sich lassen und nach Schottland ziehen. Von der Eiseskälte, die sich damals zwischen ihnen ausgebreitet hatte, lag noch immer eine Spur auf Valeries Zügen. Das düstere Zwielicht verstärkte den Eindruck. Doch als Valerie Naomis Blick auffing, umspielte plötzlich ein schwaches Lächeln ihre Lippen.

»Du denkst so laut, dass ich es beinahe hören kann«, sagte Valerie.

»Wie können gerne ein bisschen Small Talk machen. Oder soll ich einfach warten, bis du mir erzählst, warum du wirklich hier bist?«

Valerie legte den Kopf in den Nacken und lachte. »In Ordnung, Liebes. In Ordnung.«

Sie glitten über die gewundenen Straßen der Highlands. Als der Wagen in Tongue einfuhr, lag bereits dichte Dunkelheit über den steinernen Häusern des Dorfes.

Trotz ihres schottischen Vaters war Naomi in Amerika aufgewachsen, und die Aura der Vergangenheit und Geschichte dieser alten Dörfer schlug sie jedes Mal neu in Bann. Durch Tongue waren bereits die Pikten, Gälen und Wikinger gezogen, die alten Gebäude hatten zahllose Generationen von Bauernfamilien beherbergt. Bislang war diese Region Schottlands nur wenig durch den Temperaturanstieg beeinträchtigt, obwohl auch hier die ersten Spuren sichtbar wurden.

Valerie wählte einen der beiden Pubs aus, Naomi folgte ihr. Als sie eintraten, verstummten die Gespräche. Ihre teuren Mäntel und Schuhe verrieten allen Anwesenden, dass sie vom SSP kamen. Valerie hatte sie beide tief ins Herz der Lokalbevölkerung geführt, viele hier hatten gegen den Bau des Raumfahrtzentrums protestiert. Manche, weil die Raketenstarts ihre Schafe erschrecken würden, andere, weil das Torfmoor der A’Mhoine-Halbinsel Vogelschutzgebiet war. Die Proteste hatten den Bau ein paar Jahre aufgehalten, aber dann fiel die Wildvogelpopulation so drastisch ab, dass ihr Schutz keine Rolle mehr spielte.

Naomi hatte sich nach ihrer Ankunft hier Bücher über die Vögel besorgt, ihre Namen hatten sich fremd auf der Zunge angefühlt. Im Winter hätte es Kormorane geben sollen, kleine Lappentaucher, Rotschenkel. Im Sommer Schnepfen, Lachmöwen, Feldlerchen und Wiesenpieper. Auch Raubvögel hätte man hier beobachten können, Wander- und Zwergfalken, Steinadler. An ihren ersten Wochenenden war sie in Gummistiefeln und mit einem überdimensionierten Fernglas um den Hals durch das Moor gestapft und hatte versucht, sie zu finden. Nach einem langen Tag im Freien war sie abends nass und durchgefroren wieder nach Hause zurückgekehrt und hatte mit Glück ein, zwei magere Vögel entdeckt. Das gelegentliche Dröhnen der Triebwerke konnte nicht über das Fehlen der Vogelrufe hinwegtäuschen.

Im warmen Gastraum des Pubs blinzelte Naomi. Valerie lief völlig ungerührt zwischen den Tischen entlang, die Ablehnung der Dorfbewohner perlte an ihr ab wie Wasser vom Rücken eines Otters. Schließlich wählte sie einen Platz in der Nähe des Kachelofens. Alles roch nach dem Rauch des Holzfeuers, schalem Bier, Eintopf und dem Staub vergangener Erinnerungen. Hirschköpfe säumten die Wände, Spinnenweben zwischen den Geweihen, die gläsernen Augen leer. Gerahmte Schwarz-Weiß-Bilder hingen darunter und zeigten das Dorf, wie es heute mehr oder weniger immer noch aussah. Der Kontrast zur konturlosen Sterilität des Raumfahrtzentrums oder den fünf Kilometer entfernten Firmenwohnungen, die noch immer nach frischer Farbe und Gipskarton rochen, hätte nicht größer sein können.

»Okay, raus damit«, forderte Naomi, nachdem sie sich gesetzt und der Kellner ihnen zwei Gläser mit Whisky gebracht hatte – den besten, Valerie zahlte. »Es ist ja schön, dich zu sehen, aber schließlich ist es nicht gerade ein Katzensprung. Ich hätte eher eine Postkarte erwartet.«

»Ach, ja!« Valerie zog einen weißen Briefumschlag aus der Handtasche und reichte ihn über den Tisch. Naomi ertastete die Karte, die darin steckte, öffnete den Umschlag aber nicht.

Valerie nahm einen Schluck aus ihrem glockenförmigen Glas, dann stellte sie es wieder ab. Sie beugte sich vor, die Ellbogen auf den gespreizten Knien, eine raumgreifende Haltung.

»Wenn du dir heute aussuchen könntest, was du machst, ganz egal, was – was wäre es?« Valeries Blick war so intensiv, dass Naomi sich ihm nicht entziehen konnte. So war es schon immer gewesen.

»Das weißt du doch. Ich will da hoch.« Ein schneller Blick zum Fenster. Zum Mond, zu den Sternen.

Valerie legte den Kopf schief, ein Lächeln umspielte ihre Mundwinkel. »Dann habe ich vielleicht einen Job für dich.«

Naomi nahm einen Schluck ihres eigenen Whiskys. Aufregung regte sich tief in ihrer Brust, brachte ihre Fingerspitzen zum Kribbeln.

»Ich habe schon einen Job«, erwiderte Naomi mit betonter Leichtigkeit. Wenn Valerie spürte, dass jemand zu begierig war, konnte sie es nicht lassen, ihn zu reizen, mit ihm zu spielen wie eine Katze mit der Maus.

»Aber keinen, den du wirklich willst. Los, mach die Karte auf.«

Der Rauch, der aus dem Kamin drang, lenkte Naomi ab, reizte ihre Kehle. Sie durfte sich jetzt keine Unachtsamkeit erlauben. Ihr Mund wurde trocken. Sie nahm noch einen Schluck Whisky, aber auch der schmeckte nach Feuer. Sie wünschte, sie hätte ein Glas Wasser.

Mit unbewegter Miene riss sie den Umschlag auf. Dann entnahm sie ihm eine Karte mit einer Comiczeichnung der Erde, weiße Wolken über einem Meer in gleichmäßigem Blau. Sie sah noch einmal genauer hin. Nein. Statt der großen Kontinente waren es zahllose kleinere Inseln, die im Wasser lagen.

Das war nicht die Erde.

Sie öffnete die Karte.

Happy Birthday.

Bist du dabei?

V

Naomi sah Valerie scharf an. »Soll das ein Witz sein?«

Valerie hatte ihr während der letzten Monate nicht mehr erzählt, woran sie gerade arbeitete, und irgendwann hatte Naomi aufgehört zu fragen. Aber sie hatte die Nachrichten verfolgt, all die herablassenden, spöttischen Artikel über Valerie gelesen und nach Hinweisen gesucht, was sie tatsächlich trieb.

»Darüber würde ich niemals Witze machen.« Valerie beugte sich näher an sie heran, das Licht des Feuers flackerte über ihre durch exklusive Gentherapie, teure Cremes und Injektionen glatte Haut. Kein Mensch würde sie auf siebenundvierzig schätzen. Ein Lächeln legte sich auf ihr Gesicht. »Ich will dir eine neue Welt schenken, Naomi.«

»Cavendish.« Naomi fühlte sich, als hätte man ihr einen Stromschlag versetzt. Ihr ganzer Körper kribbelte.

Der Exoplanet war in dem Jahr entdeckt worden, als Naomi ihren sechzehnten Geburtstag gefeiert hatte. Schon als sie ihn zum ersten Mal auf dem Bildschirm in Valeries Wohnzimmer erblickt hatte, war es aus ihr herausgeplatzt, wie sehr sie sich wünschte, dorthin zu fliegen. Valerie hatte gelacht und erwidert, sie würde gerne mitkommen. Wie sich herausstellte, hatte sie das ernst gemeint. Nur kurze Zeit später hatte Hawthorne eine Krise durchgemacht – Valerie musste einige ihrer medizinischen Tochterunternehmen schließen. Zum Beispiel Haven, eine Firma, die sich auf geklonte Organe spezialisiert hatte. Valerie war schneller gewesen als die Regierung, die Ähnliches versuchte, und man fühlte sich bedroht. Aber eine Reihe Celebrities, die sich das Premium-Paket leisten konnten, waren bereits Kunden bei ihr – Naomi erinnerte sich an all die Selfies strahlend schöner Berühmtheiten, die lächelnd vor den Tanks standen, in denen ihre Kinder in einer Nährflüssigkeit heranwuchsen, die Hände auf den flachen, durchtrainierten Bäuchen. Die nächste Form der Leihmutterschaft. Valeries Plan war es gewesen, die Babys im Orbit unter Mikrogravität heranwachsen zu lassen, was die Halterungen, die beim Ablösen das Gewebe verletzen konnten, obsolet gemacht hätte.

Aber kurz bevor das Ganze auch für eine breitere Masse erschwinglich wurde, hatte man sie zur Schließung gezwungen. Schließlich konnte man es den Frauen nicht einfach so ermöglichen, trotz Kinderwunschs ihre Karriere zu verfolgen! Valerie musste den verantwortlichen Vorsitzenden feuern und ihn den Wölfen zum Fraß vorwerfen. Daraufhin hatte sie ihre Investitionen in die Roboter und AIs, die Hawthorne ursprünglich nach vorne gebracht hatten, verdoppelt und ihr Unternehmen vollkommen auf den interstellaren Raum ausgerichtet.

Aber mittlerweile hatte Naomi die Teenagerzeit lange hinter sich gelassen und war fast dreißig. Und trotzdem waren sie dem Planeten, der nur etwas über zehn Lichtjahre entfernt war, kein Stück näher gekommen. Man hatte Sonden geschickt, Proben gesammelt, aber selbst, wenn man eine Crew auf den Weg schicken würde, hätte Naomi keine Chance. Nicht bei der derzeitigen politischen Lage.

Naomi hoffte noch immer auf den Mond oder den Mars. Vielleicht sogar den Titan. Aber nicht weiter. Schon vor Langem hatte sie sich damit abgefunden, dass sie Cavendish nie näher kommen würde als mit dem kleinen Biom, das sie aus den Samen der gesammelten Bodenproben aufgebaut hatte.

»Hör auf, V. Die würden uns doch niemals fliegen lassen. Nicht mal, wenn du herausfinden würdest, wie es möglich wäre.« Die Nachrichten waren voll gewesen vom letzten Fehlschlag der NASA – eine Sonde voller Ratten. Sie waren tatsächlich in einem Stück wieder auf die Erde zurückgekehrt. Allerdings tiefgefroren.

Valerie winkte ab. »Wir haben Jerrie Hixon mit im Boot.«

Naomi hob beeindruckt die Augenbrauen. Sie erinnerte sich an Jerrie. Eine exzellente Pilotin. Eine exzellente Denkerin.

»Sie kümmert sich um die Berechnungen. Mit dem Warp-Antrieb könnten wir bis auf eine AE an Cavendish herankommen, da bin ich mir sicher. Die Regierung lass mal meine Sache sein. Aber ich brauche dich, damit wir unterwegs nicht verhungern. Ich brauche dich, Naomi. Ohne dich geht es nicht.«

In Naomis Brust loderte ein helles weißes Feuer auf, strahlend wie eine junge Sonne. Die Intensität ihrer Sehnsucht nahm ihr den Atem. Cavendish. Sie hätte die Chance, nach Cavendish zu fliegen.

Valerie signalisierte dem Mann hinter dem Tresen – ein mürrischer Alter mit dem Gesicht einer Walnuss –, ihnen zwei Gläser Wasser zu bringen. Naomi versteckte sich hinter ihrem Glas und versuchte, ihre Gedanken zu sammeln. Sie war immer stolz darauf gewesen, die Ruhige, die Besonnene zu sein. Diejenige, an die andere sich wandten, wenn sie die Fassung verloren.

Um sie herum unterhielten sich die Leute, suchten Entspannung nach einem langen Arbeitstag.

»Ich habe einen Arbeitsvertrag unterschrieben«, sagte Naomi und hoffte, immer noch ungerührt zu klingen.

Valerie stieß ein tiefes Schnauben aus. Sie wusste, dass Naomi angebissen hatte. »Wenn Lockwood dich verklagt, habe ich einiges in der Hand, das ich ihnen entgegensetzen könnte. Im Ernst, Nomi« – Naomi bemerkte, dass Valerie sie mit ihrem Spitznamen aus Kindertagen ansprach. Clever –, »weißt du überhaupt, für wen du gerade arbeitest? Die haben mehr als nur Dreck am Stecken.«

Als hättest du das nicht, wollte Naomi entgegnen. Diesbezüglich waren alle Konzerne gleich. Solange sie ihre Rechnungen bezahlten, sodass sie mit ihren Forschungen vorankam, versuchte Naomi nicht zu sehr über die dunklen Seiten nachzudenken. Ein Privileg, das war ihr klar, und zwar eines, das sie nicht würde straffrei ausgehen lassen, selbst wenn sie sich auf Unwissenheit berief.

»Lass mich dir die Daten zeigen, damit du siehst, wo wir stehen«, sagte Valerie. »Nimm Urlaub, komm mit mir nach Kalifornien. Du musst dir wenigstens die Atalanta ansehen. Während der nächsten drei Monate transportieren wir die fertiggestellten Bauteile ins All. Der Assembly-Hub ist bereits in Konstruktion.« Ihr Blick schweifte kurz nach oben, als könnte sie durch die rauchgeschwärzten Balken in den Himmel sehen.

Ein echtes Raumschiff. Kein Shuttle, kein Satellit, keine Rakete. Etwas, das gebaut wurde, um Raum und Zeit zu krümmen, damit die Menschheit in ein neues Sonnensystem vordringen kann. Bis zu einem Planeten, der sich tief in den von Hubble gesammelten Daten vor den Menschen versteckt hatte, bis das James-Webb-Weltraumteleskop in der Lage war, noch genauer hinzusehen.

Naomi dachte an ihr Labor in Sutherland. Es war hervorragend ausgestattet, wenn auch nicht ganz so gut wie ihr altes bei der NASA oder Hawthorne. Derzeit arbeitete sie an zwei Projekten mit: der Perfektionierung des Hydroponik-Systems für die ISS und das Gateway sowie einer Experimentalreihe zu verschiedenen Nutzpflanzen, die sich für einen Anbau auf dem Mars eigneten. Nicht viel anders also als während ihrer NASA-Zeit.

Auf den Raumstationen bauten die europäischen Astronauten bislang vierzig Prozent ihrer Nahrung selbst an, und sie hoffte, das im nächsten Jahr auf fünfzig zu steigern. Die Mikrogravität erschwerte den Anbau, denn trotz der vielen Gespräche über eine neue Ringstation stritten sich die Partnerländer noch immer um die gemeinsame Finanzierung. Es war ein guter Job. Ein wichtiger Job.

Ein Job, der sie für immer an einen Schreibtisch ketten würde, wenn sie ehrlich war. Die NASA hatte sich mittlerweile, wenn auch widerstrebend, dem Druck der Regierung gebeugt und Frauen vom aktiven Weltraumflug ausgeschlossen. Auch im Management, auf Ingenieursebene und in den wissenschaftlichen Laboren arbeiteten immer weniger weibliche Angestellte. Die UKSA hatte noch nicht gleichgezogen, aber tief in ihrem Inneren wusste Naomi schon lange, dass man sie niemals in eine dieser Raketen steigen lassen würde, die sie jeden Tag beobachtete. Zu ihrer eigenen Sicherheit, behaupteten die Männer an der Macht, während sie den Frauen Stück für Stück alle Möglichkeiten, sich jemals wieder sicher zu fühlen, nahmen.

Es gab eine ganze Reihe Leute, die Valerie hätte fragen können. Manche von ihnen vielleicht sogar besser qualifiziert. Ich brauche dich, Naomi.

Trotz ihres Streits, trotz der Funkstille des letzten Jahres wollte Valerie immer noch sie. Naomi trat ans Fenster, ihr Whiskyglas in der Hand. Valerie ließ sie gehen, schlug die Beine übereinander und tat so, als studiere sie die klebrige, laminierte Speisekarte.

Die dichte Wolkendecke versperrte den Blick auf den Sternenhimmel, aber Naomi dachte daran, wie es wäre, die Welt von dort oben zu betrachten. Schon seit sie ein Kind war, trieb diese Fantasie sie an, nicht einmal die gelegentlichen Explosionen der Spaceshuttles, die sie während der Liveübertragungen zu sehen bekam, hatten sie davon abbringen können. Sie hatte Botanik und Astrobotanik studiert, einen Abschluss in Maschinentechnik und Astrophysik gemacht. Hatte Russisch gelernt und sogar ein bisschen Chinesisch. Alles für eine Chance, die Tag für Tag unwahrscheinlicher wurde.

Naomi kam zurück an den Tisch und stellte ihr leeres Glas ab.

»Ich will zweite Kommandantin sein.«

Valeries Mund verzog sich zu einem breiten Grinsen, und sie stieß einen Jubelschrei aus, der die anderen Gäste überrascht zusammenzucken ließ. »Ich würde dir den Titel sofort geben, aber der Rang ist mit Hixon bereits besetzt. Sie hat durch ihre Zeit beim Militär und bei der Ares Mission mehr Erfahrung.«

Naomi sackte in sich zusammen.

»Aber«, fuhr Valerie fort, die Naomis Enttäuschung spürte, »du weißt, dass du bei mir immer ein offenes Ohr finden wirst. Kompromiss?«

Naomi biss sich auf die Unterlippe. Streckte die Hand aus.

Valerie lachte, ergriff sie aber mit der gewohnten CEO-Manier. Dann legte sie die professionelle Maske wieder ab und stieß einen erneuten Jubelruf aus. »Das schreit nach mehr Whisky.«

»Du wusstest, was ich sagen würde, bevor du überhaupt hergekommen bist«, sagte Naomi.

»Ich hielt es für angebracht, dich trotzdem zu fragen. Schließlich habe ich dir beigebracht, was gutes Benehmen bedeutet, oder?«

Kein Wort über ihren Streit. Keine Entschuldigung. Valerie schien fest entschlossen, so zu tun, als wäre das Ganze nie geschehen, und Naomi nahm das Angebot dankend an.

Es gab eine Million Dinge, an denen das Projekt scheitern konnte. Unzählige Hindernisse lagen vor ihnen. Aber in dieser Nacht, während der Mond die Wolken silbern färbte und der Whisky sie von innen heraus wärmte, schwor Naomi, dass sie ein Scheitern nicht zulassen würde.

Als der Wagen sie am schmucklosen Wohnblock des Raumfahrtzentrums absetzte, brachte Valerie Naomi zur Haustür. Sie selbst würde zurück nach London fahren, um dort an einigen Meetings teilzunehmen, bevor sie nach Los Angeles zurückkehrte.

Sanft legte sie ihre Stirn an Naomis. »Herzlichen Glückwunsch, Nomi«, sagte sie leise und wandte sich zum Gehen. Eine bessere Entschuldigung würde Naomi nicht bekommen.

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Drei

3 Stunden nach dem Start126 Tage bis zum Mars249 Tage bis Cavendish

Sie hätten Wochen haben sollen, um einen Spacewalk zu planen, nicht nur Stunden. Natürlich hatten sie sich vorbereitet, sowohl in den Simulationen als auch in den EMUS unter Wasser, aber das war nicht dasselbe. Mit jeder Sekunde des Zögerns wurde ihr Zeitfenster kleiner. Die USA setzten alles daran, sie zu einzufangen wie ein paar Schmetterlinge und wieder zurück auf die Erde zu zerren.

Valerie hatte den atmosphärischen Druck in der Atalanta um dreißig Prozent gesenkt, um das Dekompressionskrankheitsrisiko zu senken, das ein Verlassen der Schleuse mit sich brachte. Trotzdem war es gefährlich, und alle an Bord wussten das.

Naomi justierte die Maske vor ihrem Gesicht und nahm einen tiefen Atemzug reinen Sauerstoffs statt des üblichen Sauerstoff-Stickstoff-Gemischs. Lebedev stand ihr gegenüber, das Gesicht ebenfalls hinter der Maske verborgen, Schläuche führten zu den Ersatzkanistern. Haare und Hals steckten unter einem Überzug aus saugfähigem Stoff, das Mikrofon lag eng an ihrem Wangenknochen. Ihre blauen Augen blickten ernst, die hellen Brauen zusammengezogen, während sie, ohne zu blinzeln, auf die Luke starrte, hinter der das All lag. Neun Minuten. Sie steckten beide in Raumanzügen, die noch klobiger waren als jene, die sie in der Kapsel getragen hatten. Die Dinger waren so dick, dass Naomis Arme abstanden wie bei einer Ballerina in der Pirouette.

Sie hielt den Namen Extravehicular Mobility Unit schon immer für uninspiriert technisch. Aber die Wissenschaft schwankte in ihrer Namensgebung von poetischen Begriffen in Anlehnung an Mythen und Legenden bis zu Buchstabenfolgen oder Nummern, die rein gar nichts verkündeten außer dem Offensichtlichen. Als Kind war Naomi in schallendes Gelächter ausgebrochen, als sie gelesen hatte, dass man das neue Teleskop in der chilenischen Atacama-Wüste Very Large Telescope getauft hatte. Aber immerhin war es genau das.

In Wahrheit steckte Naomi in einem Miniaturraumschiff in Form eines menschlichen Körpers. Zahllose Schichten Hightechstoff umgaben sie, der feste Torso aus Fiberglas, das Lebenserhaltungssystem im Rücken, wie bei einem Bergsteiger am Mount Everest. Aber vor der Weite des Alls erschien ihr der Anzug lachhaft.

Statt EMU hatte sie ihr eigenes kleines Weltraumfahrzeug insgeheim Argo getauft, schließlich hieß ihr Schiff Atalanta.

Zwischen ihnen schwebte Hixon und kontrollierte zum dritten Mal ihre Anzüge, trotz der eingebauten Sensoren, die jeden Fehler gemeldet hätten. Mit wortloser Besorgnis strich ihre Hand über jede Naht, jeden Saum. Hixon war es auch gewesen, die ihnen beim Anziehen geholfen und bis auf die Helme alles korrekt eingestellt hatte.

Während sie darauf wartete, dass die Luke sich öffnete, fand Naomi ihre innere Ruhe wieder. Sie dachte nicht daran, was alles schiefgehen könnte. Sie ließ sich nicht von der kribbelnden Aufregung mitreißen, die sie unvorsichtig werden lassen könnte.

»Bereit?«, fragte Hixon, den Helm in der Hand.

»Ja.« Der Helm ließ alle Umgebungsgeräusche verstummen. Hixon schloss geübt die Verbindung, überprüfte den Sitz und ging dann zu Lebedev hinüber, um die Prozedur dort zu wiederholen. Im Inneren des Helms verlief ein Schlauch, um Wasser abzusaugen, und ein weiterer zum Atmen – für den unwahrscheinlichen Fall, dass der Helm sich mit Flüssigkeit füllen sollte. Aber anderen Astronauten war genau das passiert, auch wenn sie alle überlebt hatten.

Der Raumanzug war schwer, aber die fehlende Schwerkraft erleichterte die Bewegung. Naomi streckte die Hände vor sich aus. Dicke Finger, wie weiße Bananen. Bald würden sie Werkzeug halten und trotz ihrer eingeschränkten Motorik so schnell wie möglich arbeiten, ohne die eigene Sicherheit zu riskieren. Zehn Bolzen trennten die Atalanta von der Freiheit.

»Könnt ihr mich hören?«, klang Valeries tiefe Stimme aus dem in den Helm integrierten Comm-System.

»Laut und deutlich«, erwiderte Naomi.

»Positiv«, bestätigte Lebedev.

Hixon klopfte ihnen zum letzten Mal auf die Schultern. »Viel Glück.«

Dann ging sie. Hinter ihr schloss sich geräuschvoll die Metalltür. Lebedev und Naomi wandten sich zueinander, ihre Beine bewegten sich wie beim Wassertreten. Naomi gestattete sich einen langsamen Purzelbaum. Lebedev lachte, ein Geräusch, das man selten hörte, und machte es ihr nach. Dann blickten sie sich in die Augen, nickten einander zu und umfassten entschlossen die Griffstangen.

»Öffnet die Luke«, befahl Valerie.

Lebedev grunzte, als sie das schwere Rad der Luke in Bewegung setzte und sie nach außen in die Dunkelheit stieß.

Mit dem Kopf voran verließ sie das Raumschiff. Kulturell betrachtet begann der Spacewalk für sie beide zu unterschiedlichen Zeitpunkten. In Russland war es mit dem Öffnen der Luke so weit, in den Vereinigten Staaten musste zumindest der Kopf die Schleuse verlassen haben. Lebedev befestigte ihre Sicherheitsleine am nächstgelegenen Handlauf. Einen Augenblick lang war sie noch zu sehen, ihre weiße Silhouette hob sich deutlich vor der Schwärze des Alls ab, dann war sie verschwunden. Naomi straffte die Schultern und folgte ihr.

Es war genauso, wie sie es erwartet hatte, und doch ganz anders als alles, auf das sie sich je hätte vorbereiten können. Ein Abgrund aus Schwärze, vollkommen leer, vollkommen lautlos. Schwärze unter ihr, Schwärze über ihr. Die Atalanta hing zwischen ihr und der Sonne, und sie fror trotz der Hightechausrüstung der EMU. Es waren 250 Grad Celsius unter null. Aber sie würde nicht lange frieren. Wenn Lebedev und sie gleich über das Schiff hinweg zur Montagestation kletterten, würde die direkte Sonneneinstrahlung die Temperatur auf 250 Grad plus ansteigen lassen.

Naomi umklammerte die Sicherheitsleine, auch wenn sie fest an ihrer Hüfte und am Handlauf verankert war. Wenn es eines gab, dass man ihr im Training immer wieder eingebläut hatte, dann war es, ständig auf seine Sicherung zu achten. Wenn man den Halt verlor und ins All abtrieb, war es vorbei. Es gab keinen Weg zurück. Vor Jahren hatte einmal einer der Astronauten auf der ISS seine Sicherheitsleine verloren. Bis man eine Rettungsmission auf die Beine gestellt hatte, war es zu spät gewesen. Er war verschwunden. Irgendwann war seine Leiche beim Eintritt in die Atmosphäre verglüht. Eine winzige Sternschnuppe.

Dort draußen im Nichts zu schweben war ein bisschen, wie an der Küste zu stehen und aufs Meer hinauszublicken, wunderschön, aber grausam. Die Strömung würde dich nach unten ziehen, ohne sich auch nur im Geringsten darum zu kümmern. In diesem Moment begriff Naomi die wahre Bedeutung des Wortes »Ehrfurcht«. Des Wortes »erhaben«.

»Naomi«, erklang Valeries Stimme. Bestimmt und tröstlich.

Sofort richtete Naomis Aufmerksamkeit sich wieder auf ihre Aufgabe. »Ich folge Lebedev.«

Sie zog sich an der Sicherheitsleine voran und umfasste den Handlauf mit den unförmigen Handschuhen. Ihre Beine bewegten sich rhythmisch. Es war wie Ballett. Wie Schwimmen. Wie keines von beidem. Sie zog sich voran, das Geräusch ihres Atems vermischte sich über die Comm-Verbindung mit dem von Lebedev.

Die Kosmonautin erreichte gerade die Vorderseite des Schiffes und verschwand aus Naomis Sichtfeld. Da der Helm auf dem Anzug festsaß, war ihre Wahrnehmung auf das winzige Sichtfenster beschränkt.