Das Geheimnis von Wishtide Manor - Kate Saunders - E-Book
SONDERANGEBOT

Das Geheimnis von Wishtide Manor E-Book

Kate Saunders

0,0
9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Großer Auftritt für eine unwiderstehliche Ermittlerin, die alles sieht und keinem auffällt: Laetitia Rodd ist die Frau für diskrete Ermittlungen. Sie sieht, was anderen verborgen bleibt. Man vertraut ihr, denn sie gehört dazu. Sie erfährt Geheimnisse, weil sie als Witwe in der Gesellschaft so unauffällig ist. Ihr Auftrag führt sie 1851 von London auf den Landsitz des reichen Sir James Calderstone. Sein Sohn Charles will eine junge Frau heiraten, der Sir James misstraut. Was verheimlicht sie? Laetitia soll dunkle Flecken in Helens Vergangenheit aufspüren. Doch da wird Helen ermordet, und ihr Verlobter Charles gilt als der Täter. Die Suche nach dem wahren Mörder bringt Laetitia selbst in größte Gefahr…

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 441

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Kate Saunders

Das Geheimnis von Wishtide Manor

Laetitia Rodd's erster Fall

Aus dem Englischen von Annette Hahn

FISCHER E-Books

Inhalt

WidmungMottoEinsZweiDreiVierFünfSechsSiebenAchtNeunZehnElfZwölfDreizehnVierzehnFünfzehnSechzehnSiebzehnAchtzehnNeunzehnZwanzigEinundzwanzigZweiundzwanzigDreiundzwanzigVierundzwanzigFünfundzwanzigSechsundzwanzigSiebenundzwanzigAchtundzwanzigNeunundzwanzigDreißigNachwort

In Erinnerung an meine geliebte Mutter Betty Saunders, die eine hervorragende Detektivin abgegeben hätte.

Ich war so jung, liebt’ ihn so sehr, und hatte

keine Mutter, Gott vergaß mich, und ich fiel.

Robert Browning, A Blot in the ’Scutcheon

 

Es gab Zeiten … zu denen ich mich fragte, ob es für klein Em’ly nicht besser gewesen wäre, hätten die Wasser sich an jenem Morgen über ihrem Haupt geschlossen – und dann antwortete ich mir stets mit Ja.

Charles Dickens, David Copperfield

 

 

 

Eins

1850

Es war ein heller, windiger Oktobermorgen, und Mrs Bentley und ich standen unten in der Küche und buken Kaninchenpastete. Die Kaninchen hatte uns Mrs Bentleys jüngerer Sohn geschenkt, dessen Tochter ich zu einer respektablen Anstellung bei den Mayburys in Finchley verholfen hatte, und als der Türklopfer pochte, steckte ich bis zu den Ellbogen in Mehl.

»Verflixt!« Mrs Bentley ließ die Kartoffel fallen, an der sie gerade herumschnitzte (sie war unendlich geduldig darin, die schwarzen Stellen zu entfernen). »Erwarten Sie heute noch jemanden, Ma’am?« Sie stand auf und spähte aus dem Fenster. »Es ist Watson – aus Mr Tysons Büro!« Ihre hellen Augen funkelten plötzlich so wach und aufmerksam wie die eines Eichhörnchens. »Soll ich ihn gleich herunterbitten?«

»Ja, gern.« Ich rollte den Teig aus und war froh, meine Arbeit nicht wegen eines offiziellen Besuchs unterbrechen zu müssen, was Händewaschen, Haarebürsten und das Abnehmen meiner groben Schürze bedeutet hätte. Trotz meiner »reduzierten« Verhältnisse (bei diesem Ausdruck muss ich immer an Soßen denken), fühlte sich die Frau des Pfarrers zu gelegentlichen Besuchen verpflichtet; auch war ich Mitglied einiger wohltätiger Verbände. Zwar wussten alle, wie reduziert ich lebte, wären aber sicher schockiert gewesen, mich mit aufgerollten Ärmeln beim Kochen anzutreffen.

»Nun, ich hoffe, das bedeutet, dass Mr Tyson wieder einen Auftrag für Sie hat.« Eifrig winkte Mrs Bentley unseren Gast herein, und als ich die eisenbeschlagenen Stiefel auf der Treppe hörte, spürte ich eine ahnungsvolle Vorfreude. Watson war ein behördlich zugelassener Kurier der Kanzlei meines Bruders, und dass er auf den weiten Weg von Lincoln’s Inn nach Hampstead geschickt worden war, konnte nur bedeuten, dass es einen neuen Fall gab.

»Guten Morgen, Mrs Rodd.« Watson zog den verfilzten Hut vom Kopf; er war ein gedrungener, grauhaariger, leicht knurriger Mann mit einem langen Kapuzenmantel, der aussah und roch wie eine Pferdedecke. »Ich bringe Nachricht von Mr Tyson, Ma’am, und soll auf Antwort warten.«

»Danke, Watson.« Ich klopfte meine mehlbestäubten Hände an der Schürze ab und nahm das Papier entgegen. »Bitte setzen Sie sich doch und ruhen ein paar Minuten aus – Mary, schenken Sie dem Mann ein Glas Bier ein.«

»Das ist überaus freundlich, Ma’am.« Obschon nicht besonders groß, schien Watson durch den Geruch kalten Tabaks, der von ihm ausströmte, den ganzen Raum und gar das ganze Haus auszufüllen; ich würde später gut durchlüften müssen.

Die Nachricht war wie üblich knapp: »Liebe Letty! Eine Angelegenheit bedarf der Erörterung. Meine Kutsche kommt um fünf. M. herzl. Gruße, F.«

Ich schrieb eine gleichermaßen knappe Antwort: »Lieber F! Stets zu treuen Diensten, L.«

Diskretion war ein Grundstein meiner Arbeit; Fred und ich überlegten mit Bedacht, was wir zu Papier brachten.

Watson leerte sein Bier und war kaum aus der Tür, als Mrs Bentley schon eifrig nachfragte: »Und, Ma’am? Ein weiterer Fall?«

»So sieht es aus.«

»Ich drücke die Daumen und hole gleich Ihr gutes schwarzes Seidenkleid aus dem Schrank.«

»Ja bitte, Mary, das ist lieb von Ihnen.«

»Werden Sie dort auch zu Abend essen? Dann können wir die Kaninchenpastete für morgen aufheben.«

»Seien Sie nicht albern – was wollen dann Sie essen?«

»Ich röste mir den letzten Kanten Brot mit Käse; das ist für einen mehr als genug.« Sie streute Salz und weißen Pfeffer in ihre Schüssel mit Fleisch und Gemüse. »Ich frage mich, was es diesmal sein wird.«

»Das würde ich auch gern wissen, aber Mr Tyson hat keine Details verraten, also ist es zwecklos, darüber zu spekulieren.«

»Das Geld kommt gerade recht, so viel ist sicher – mit den restlichen Rücklagen hätten wir es bis zum nächsten Quartalstag nicht geschafft. Die Bradshaw-Geschichte ist Monate her, und Sie haben nicht genug dafür genommen.«

»Das war leichte Arbeit; ich musste lediglich ein paar Briefe abfangen.« Im Frühjahr hatte ich aufgedeckt, dass die jüngste Tochter der Bradshaws mit ihrem Tanzlehrer hatte durchbrennen wollen; man könnte sagen, meine Arbeit bestand darin, Skandale zu verhindern und zu vertuschen (mein Bruder machte sich gern einen Spaß daraus, Reklameverse für meine Dienste zu ersinnen – etwa: »Ruf gerettet, vor Sünde bewahrt – Verfehlung behoben, Blamage erspart!«).

»Auf jeden Fall war es furchtbar langweilig«, kommentierte Mrs Bentley. »Ich hoffe, die Schandtaten haben dieses Mal mehr Format.«

»Mary!«

»Ich wünsche der Welt durchaus nicht noch mehr Sünde, Ma’am, aber da das Schlechte mit Sicherheit nicht ausstirbt – warum sollten nicht wir uns seiner annehmen dürfen? Sie sind zu nett, vermaledeit noch eins! Und zu bescheiden, um mehr Geld zu verlangen, wo andere sich nicht zu fein sind, Sie zu betrügen.«

Übermäßige Vertraulichkeit ist bei einer Bediensteten ein schlimmes Übel; das war eine der ersten Regeln, die ich all meinen Hausmädchen hatte eintrichtern müssen. »Wenn ihr einen derartigen Ton anschlagt, werdet ihr nie aus der Spülküche herauskommen«, hatte ich stets gemahnt, »und bis zum Jüngsten Tag die Mangel drehen.« Aber Mary Bentley war für mich mehr als eine Bedienstete. Mary Bentley war eine Freundin, der ich mein Leben anvertrauen würde, und sie besaß außerdem eine gute Portion gesunden Menschenverstand. Ihr scharfer Blick für menschliche Falschheit war in all meinen Fällen von unschätzbarem Wert gewesen.

Seit über zwei Jahren wohnte ich mit ihr in diesem rußigen kleinen Häuschen in Hampstead. Als ich es das erste Mal besichtigte, war gerade mein Ehemann verstorben und unser Haus in Bloomsbury ausgeräumt und verkauft worden. Ich hatte nach einem bescheidenen Quartier in der Nähe meines Bruders gesucht, im beschaulichen Highgate jedoch nichts Passendes gefunden, das ich mir hätte leisten können (Fred konnte mich nicht unterstützen, da die verschwenderische Haushaltsführung seiner Frau sein Einkommen bis auf den letzten Penny vertilgte). Also hatte ich mein Glück im etwas belebteren Hampstead mit seinen günstigeren Unterkünften versucht.

Well Walk war eine an Alltagen geschäftige Straße, und Mrs Bentleys Haus lag quasi neben einer Schänke. Im ersten Moment hielt ich es für unvorstellbar, in dieser schäbigen kleinen Behausung zu wohnen, an der den ganzen Tag über Karren und Kutschen vorbeirumpelten. Ich bemühte mich sehr, mein Schicksal mit Fassung zu tragen, und schmeichle mir, dass Stolz nicht zu meinen vorherrschenden Sünden zählt, aber damals, an jenem trüben düsteren Morgen im Februar, spürte ich deutlich, wie tief ich gefallen war. Es hätte Matt viel Kummer bereitet, mich so zu sehen. Ich hatte die Zähne zusammengebissen, so wie jeder es von mir erwartete, doch es gab Zeiten, da mich Sehnsucht und Einsamkeit so sehr quälten, als führe mir ein Messer ins Herz.

Ich stand also vor dem unseligen Haus, und eine kleine, einfache Frau öffnete die Tür. Auf den ersten Blick erschien sie mir uralt. Die feinen Krisselhaare unter der Haube waren schlohweiß, ebenso ihre Brauen und Wimpern, und in den blassen Augen schimmerte nur noch ein Anflug von Blau. Allerdings wirkte sie putzmunter und energisch, und einfach nur blass in der Art, wie hellhäutige Menschen und weiße Mäuse eben blass sind. Früher einmal (wie sie mir später erzählte) war ihr Haar flammend rot gewesen. Auch ihre fünf Söhne und der gesamte Stamm an Enkelkindern waren rothaarig: von Golders Green bis Kentish Town hatte sie in allen Dörfern nördlich von London für leuchtende Akzente gesorgt.

Mrs Bentley war sehr gesprächig, und während ich den Kamin im kleinen Salon begutachtete, erzählte sie mir, sie habe vor vielen Jahren einige Zimmer an den Dichter John Keats vermietet.

Darauf war ich nicht gefasst. Vom Verlust des Mannes, den ich als die Hälfte meiner Seele empfand, war ich dermaßen angeschlagen, dass mich eine Welle der Sehnsucht überkam. Matt hatte eine Schwäche für Poesie gehabt, von der ich oft behauptet hatte, sie sei für einen Archidiakon nicht angemessen. Allerdings sagte ich das immer nur im Scherz, denn gerade unsere gemeinsame Schwäche für Poesie war es gewesen, die uns zusammengebracht hatte. Ich spürte wieder die Zweiundzwanzigjährige in mir, die sich durch die langen Sommertage unserer Verlobungszeit hindurchträumte und Matts Briefe las, übervoll mit romantischen Zitaten von Wordsworth, Crabbe und Young, vor allem aber Keats, dem größten Romantiker unter ihnen, dessen Verse er besonders liebte.

Nun war Matt, mein »glänzender Stern«, nicht mehr zugegen, ganz so, als hätte er nie existiert, und ich war eine arme, kinderlose Witwe von zweiundfünfzig Jahren. Zu meiner großen Beschämung musste ich feststellen, dass ich weinte.

»Na, na, Ma’am«, sagte Mrs Bentley.

Sie ignorierte meinen schwachen Protest, führte mich in die Küche, in der ein kleines Feuer brannte, und sagte, sie habe etwas, »um die Kälte zu vertreiben«.

Ja, eine Tasse Tee sei höchst willkommen, schniefte ich.

»An Tee hatte ich nicht gedacht.«

Mary Bentley goss heißes Wasser in einen Krug mit Brandy, gab einen Teelöffel Zucker dazu, und die so erzeugte innere Wärme versetzte uns in einen Zustand der Vertrautheit. Prompt erzählte ich vom plötzlichen Tod meines Mannes und dass der Gute nie dazu gekommen war, einen Fonds für meine Lebensrente anzulegen. Mrs Bentley erzählte von ihrem Rheumatismus, der es ihr verbot, ihre Zimmer an jemand Anspruchsvolleren als eine einzelne Dame zu vermieten. In jenem Moment war die offizielle gesellschaftliche Kluft zwischen uns bedeutungslos; wir waren zwei einsame Frauen, die um einen Platz in dieser kalten Welt rangen. Bis der Krug geleert war, hatte ich ihr sogar von Fanny erzählt.

»Im Moment lebe ich bei meinem Bruder und seiner Frau, die ich nicht mehr lang ertragen kann.«

»Sie will Sie loswerden, stimmt’s?«

»Schlimmer noch – sie will, dass ich im kleinsten Zimmer mit Stallblick wohne und ihre Kinder umsonst unterrichte. Sie denkt, genau dazu sei eine verarmte Verwandte nun mal da.«

»Oh, das kenne ich. Als Bentley starb, waren die Ehefrauen meiner Söhne höchst erpicht, dass ich das Haus verkaufe und als unbezahltes Kindermädchen bei ihnen einziehe. Sie sollten mehr für sich einstehen, Ma’am. Ich könnte es Ihnen hier wunderbar einrichten, dann wären Sie auf niemanden mehr angewiesen.«

So wurden wir uns einig, und Fanny musste ihre teure Gouvernante leider behalten. Ich ließ das Haus am Well Walk gründlich reinigen und neu streichen und verteilte darin allen Krimskrams, den ich aus meinem alten Zuhause hatte retten können – das Kostbarste darunter war ein Porträt meines geliebten Matt von Edwin Landseer, das ihm die Londoner Diözese im Jahr vor seinem Tod geschenkt hatte (und das ihm so ähnlich sieht, dass ich auch nach all der Zeit noch immer weinen muss, wenn ich es lange betrachte).

Mrs Bentleys jüngster Sohn hängte Bilder, Vorhangschienen und Regale auf. Bald erfuhr ich, dass meine Nachbarn eine interessante Mischung aus umtriebigen Geschäftsleuten, brotlosen Jungschriftstellern, pensionierten Seekapitänen, Bankangestellten, Schauspielern und Vagabunden jedweder Couleur waren. Matt hätte es gefallen.

Dazu hätten ihm Mrs Bentleys Geschichten über Keats und seine zwei Brüder gefallen, auch wenn diese Erinnerungen nicht gerade poetisch waren. Der verstorbene Mr Bentley hatte vor über dreißig Jahren als Postbote gearbeitet. Um die Familie mit den fünf kleinen Schreihälsen durchzubringen, vermietete die junge Mary Bentley schon bald ein paar Zimmer mit Vollverpflegung, und so geriet auch irgendwann der Dichter mit den zwei jüngeren Brüdern in das schon vollbesetzte Haus – wie sie alle hineingepasst hatten, ist mir noch heute ein Rätsel. Laut Mrs Bentley waren die Brüder freundliche junge Herren, wobei Mr John die Frechheit besaß, sich über den Lärm der Familie zu beschweren, und einmal verlor er die Beherrschung, als es in Strömen regnete und sie die durchgeweichten Jungensocken zum Trocknen auf die Treppenstufen legte. Laut Mrs Bentley war dies die letzte Unterkunft, in der die Keats-Brüder gemeinsam wohnten und glücklich waren. Matt hätte mich ausgelacht, weil ich das als gutes Omen nahm. »Mein Gott, Letty«, hätte er gesagt, »was bist du nur für ein gefühlsduseliges altes Dampfkesselchen!«

 

Exakt zum Fünf-Uhr-Schlag der Kirchglocke kam die Kutsche in den Well Walk gerappelt: ein großes Gefährt mit zwei Achsen, um der immer größer werdenden Familie meines Bruders ausreichend Platz zu bieten. Ich zupfte den vertrockneten Rest eines Ingwerbrotstücks aus einer Falte im Sitzpolster und warf ihn aus dem Fenster. Bei der letzten Zählung war ich auf zehn Kinder gekommen, und im vergeblichen Versuch, diese ruhigzustellen, stopfte Fanny ihnen unentwegt Süßigkeiten in den Mund. Meine Lösung wären weniger Kekse und ein weiteres Kindermädchen gewesen – aber mich fragte ja keiner. Der Lärm in ihrem Haus war unfassbar; verbrachten die älteren Söhne dort ihre Ferien, stöhnte Fred ständig, er lebe in der Hölle.

Mein Bruder Frederick Tyson war einer der berühmtesten Prozessanwälte Londons, der mit besonderem Erfolg Mörder verteidigte. In den Gasthäusern um das Gericht herum munkelte man, er hätte eine Jury sogar zum Freispruch des Kaisers Caligula »umdrehen« können. In allen bekannten Zeitungen erschienen Zeichnungen seiner großen und auffälligen Statur; in meinen Augen jedoch war er noch immer mein kleiner Spielkamerad von früher: ein tollpatschiger kleiner Kerl mit schelmisch glitzernden Augen und den Grübchen und Löckchen eines Putto. Selbst mit fünfzig hatte er noch etwas pausbäckig Engelhaftes, auch wenn die Grübchen verschwunden und die Löckchen grau geworden waren.

Fred und seine Familie lebten oberhalb des städtischen Trubels in Highgate, in einem alten roten Ziegelhaus mit Ausblick auf den Park. Dort erwartete er mich nun und tigerte in der holzvertäfelten Eingangshalle ungeduldig auf und ab.

»Fanny und die Bande sind nach oben verbannt – man wird uns also nicht stören.«

»Ja, ich dachte gleich, dass es hier seltsam ruhig ist.« Ich nahm die schwarze Seidenhaube ab. »Mein lieber Fred, was gibt es denn?«

»Etwas, das wie geschaffen für dich ist, meine Liebe – eine Arbeit, die lediglich etwas geschicktes Ausfragen erfordert und vielleicht ein Minimum an Lauschen.«

»Ach, herrje! Ich weiß nie, wie verwerflich ich das Lauschen letztlich finden soll, selbst für einen guten Zweck.«

In seinen Augen blitzte der alte Schalk auf. »Denk einfach an das Geld.«

»Fred!«

»Nun sei mal nicht so zimperlich – für diesen Auftrag gibt es hübsch viel davon.«

Ich bedaure, sagen zu müssen, dass die im Anschluss genannte Summe all meine Bedenken zerstreute. »Du meine Güte, wer sind diese Leute?«

»Ziemlich hohe Tiere.« Er senkte die Stimme. »Du wirst gleich einen Mr Filey treffen – Vertrauensanwalt der betreffenden Parteien und so etwas wie das Faktotum der Familie. Er wartet in der Bibliothek. Denk dran, nicht schockiert zu gucken.«

»Ich weiß, wie ich mich zu verhalten habe, besten Dank.«

Die Bibliothek befand sich im vorderen Teil des Hauses; ein großer, lichter Raum, dessen Wände mit Freds dicken juristischen Wälzern gesäumt waren. Vor den drei hohen Fenstern hingen vorsorglich schon die grünen Vorhänge (das Haus war zur Zeit von Queen Anne erbaut worden, in der die Leute eine große Vorliebe für Durchzug gehabt haben mussten). Im Kamin loderte ein großes Feuer – für einen Tag wie diesen viel zu groß; ich kam nicht umhin zu kalkulieren, dass ihre Kohlenrechnung kolossal sein musste.

Mr Filey stand steif in der Mitte des Raumes, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Ich taxierte ihn kurz. Er war ein rüstiger alter Mann mit auffallend gerader Haltung und scharfen, wachsamen Augen in einem extrem runzligen Gesicht. Unterschwellig strahlte er eine verhaltene Empörung aus, als erwarte er, ich könnte ihn beleidigen (das war nicht ungewöhnlich; meine Kunden waren naturgemäß sehr empfindlich, was ihre jeweiligen Situationen betraf).

Fred stellte uns einander vor, und wir setzten uns an den großen Mahagonitisch.

»Wie Ihr Bruder mir erzählte«, begann Mr Filey, »sind Sie dafür bekannt, gewissen persönlichen Angelegenheiten auf den Grund zu gehen.«

Ich wusste seine Diskretion zu schätzen. »Ja, Sir – wobei ich mich außerstande sehe, Ihnen Referenzen anzubieten.«

Das verwitterte Gesicht verlor für einen Moment seine Strenge, und ich erkannte einen Anflug von Humor. »In der Tat habe ich selbst ein paar Nachforschungen angestellt. Gewisse Personen, denen Sie behilflich waren, loben Ihre Fähigkeiten geradezu in den Himmel – und damit meine ich vor allem eine Angelegenheit den Buchstaben H betreffend.«

Fred und ich tauschten einen schnellen Blick; er meinte gewiss den Heaton-Fall, unser Glanzstück, bei dem meine Erkundungen eine hinterhältige Verschwörung aufgedeckt und Colonel Heaton vor dem Galgen bewahrt hatten.

»Sie arbeiten äußerst diskret, Mrs Rodd. Darüber sind sich alle einig.«

»Sie ist eine regelrechte Sphinx«, bestätigte Fred. »Ein Fels könnte nicht verschwiegener sein.«

(Matt hatte immer gesagt, er habe sich in mich verliebt, weil ich ein »Pokerface« hätte und er es als Herausforderung ansehe, mich zum Lächeln zu bringen.)

Filey räusperte sich. »Ich habe die Ehre, für die Familie Calderstone auf Wishtide Manor in Lincolnshire zu arbeiten. Sicherlich haben Sie von Sir James Calderstone gehört.«

»In der Tat.« Jetzt wusste ich, warum Fred mich gewarnt hatte, nicht zusammenzuzucken.

Sir James Calderstone besaß ein immenses Vermögen, das in erster Linie aus seinen Kohleminen im Norden stammte. Er bekleidete zwar keinen offiziellen Posten in der Regierung, dennoch war er in der politischen Szene präsent wie unsichtbares Gas; Matt sagte ihm gerne nach, das halbe Kabinett in der Tasche zu haben.

Sir James Calderstone, also. Sieh an, sieh an.

Die Göttin des Skandals besaß keine Ehrfurcht vor den Mächtigen, so viel war sicher.

»Um es kurz zu machen, Mrs Rodd: Sein Sohn plant, eine furchtbar ungünstige Ehe einzugehen, was aus diversen Gründen unbedingt verhindert werden muss.«

»Hochzeiten zu verhindern gehört nicht zu meinem Geschäft.«

»Nein – aber Sie haben den Ruf, die Wahrheit aufzudecken, daher sind Ihre Dienste vonnöten. Der Hintergrund der betreffenden Dame ist, von ein paar besorgniserregenden Gerüchten einmal abgesehen, ein unbeschriebenes Blatt. Wir wollen Fakten, dürfen aber auf keinen Fall mit der Suche danach in Verbindung gebracht werden. Verstehen Sie? Es wird auch so schon genug geredet. Ihre Aufgabe wäre es, unauffällig die Wahrheit zu ergründen.«

»Dafür stehe ich mit Freuden zu Diensten. Ich darf Sie jedoch warnen, dass Ihnen die Wahrheit, die ich finde, möglicherweise nicht gefallen wird. Bei manchen Menschen gibt es nur deshalb keine Hinweise auf einen Hintergrund, weil ihr Leben einfach zu unbedeutend ist, als dass es Spuren hinterlassen hätte. Diese Frau hat sich vielleicht um nichts weiter schuldig gemacht als der Armut.«

»Vielleicht ja, vielleicht nein.« Wiederum dieser Anflug von Humor. »Ich persönlich würde gutes Geld darauf wetten, dass ihre Vergangenheit Ihnen die Haare zu Berge stehen lässt.«

 

»Ich kann nicht behaupten, ich wüsste nicht, wie es sich anfühlt«, sagte Mrs Bentley. »Ich kann mich noch gut erinnern, wie es mir ging, als mein Tom mit einer Frau anbandelte, die nicht besser war als eine, deren Bezeichnung ich vor Ihnen nicht aussprechen werde, Ma’am. Die lief dann mit einem Seemann davon, und ich hätte vor Freude tanzen mögen.«

Freds Kutsche hatte mich kurz vor zehn wieder am Well Walk abgesetzt, und wie ich es bereits geahnt hatte, saß Mrs Bentley aufrecht schlafend auf einem der Küchenstühle und wartete auf mich. Ich tauschte mein gutes schwarzes Seidenkleid gegen einen Hausmantel aus Flanell und beschrieb meiner Freundin mein Abendessen (gebratener Hammel mit Kartoffeln und Apfelkuchen). Jetzt saßen wir gemütlich vor dem Herdfeuer, hatten die Röcke hochgeschlagen und die Füße auf die Schutzverkleidung gestützt. Zwischen uns stand ein Krug mit feinem heißen Brandy – in Vorausahnung des feierlichen Anlasses hatte sich Mrs Bentley schon frühzeitig eine Zitrone von nebenan geborgt.

»So viel Geld!« Mrs Bentley konnte sich kaum beruhigen; zur Deckung meiner unmittelbaren Kosten hatte Mr Filey mir bereits ein hübsches Sümmchen gegeben, das sie nun mit großen Augen bestaunte. »Denen muss ja mächtig viel daran liegen, diese Hochzeit zu verhindern, Ma’am. Warum drohen sie dem jungen Mann nicht einfach, den Geldhahn abzudrehen? Mehr braucht es doch normalerweise nicht, um wahre Liebe zu zerstören.«

»Sie sind zynisch, liebe Mary, aber ob Sie nun recht haben oder nicht – offenbar können die Calderstones den jungen Charles finanziell nicht trockenlegen. Mit einundzwanzig wurde ihm der Nachlass seiner Großmutter zugesprochen, woraus er ein recht ansehnliches Einkommen bezieht. Mit seinen dreiundzwanzig Jahren ist er ein unabhängiger Mann, der behauptet, das üppige Vermögen seines Vaters sei ihm egal.«

»Tja, und warum heiratet er sie dann nicht einfach?«

»Sie will ihn nur unter Zustimmung seiner Familie – und falls Sir James ihn tatsächlich enterbt, würde Charles mehr als das Vermögen verlieren. In der Welt, aus der er stammt, gälte er als Mann ohne Zukunft – und dennoch scheint er bereit, für diese Frau alles aufzugeben.«

»Und sie zeigt bei ihrem Spiel einen langen Atem und setzt alles auf eine Karte«, meinte Mrs Bentley.

»Möglich. Es kann aber auch sein, dass sie nur ehrenwerte Beweggründe antreiben.«

»Sie muss hübsch sein.«

»Sehr sogar, wie ich hörte, mit dem Aussehen und Auftreten einer echten Dame. Der junge Mann lernte sie kennen, weil sie als Hauslehrerin seine Schwestern in Italienisch unterrichtete. Außerdem soll sie Klavier spielen und singen, als hätte sie die teuersten Lehrer gehabt. Trotzdem weiß niemand Genaueres über sie, abgesehen davon, dass sie vor drei Jahren in Italien einen Priester namens Orme heiratete, der ein Jahr später verstarb. Die Heirat ist im Englischen Konsulat in Florenz offiziell registriert. Im Moment lebt sie bei dessen Schwester, Miss Winifred Orme.«

»Aber man ist überzeugt, dass sie etwas verheimlicht«, sagte Mrs Bentley.

»In der Tat. Sie berufen sich auf das Gerücht, sie sei bereits mit einem anderen verheiratet.«

»Bigamie! Das hatten wir noch nie.«

»Es ist nur der Hauch von einem Gerücht und schwer zu greifen. Ich habe Mr Filey gewarnt, dass ich möglicherweise nichts tun kann.«

»Sie haben ihm doch aber nicht abgesagt!«

»Im Gegenteil, ich habe mich bereit erklärt, sofort anzufangen. Nächste Woche reise ich nach Wishtide, um Mrs Orme und ihre Geschichte unter die Lupe zu nehmen. Was den Rest der Welt betrifft, bin ich die neue Gouvernante, die den jungen Damen den ›letzten Schliff‹ verleiht, ehe sie offiziell in die Gesellschaft eingeführt werden.« Ich stieß einen tiefen Seufzer aus. »Es ist schon kurios, wenn man bedenkt, was ich alles auf mich genommen habe, um nicht Gouvernante zu werden; ich hoffe nur, die Mädchen sprechen nicht besser Französisch als ich. Und vielleicht finde ich ja auch gar nichts, denn wenn diese Mrs Orme so schlau ist, wie sie sich anhört, hat sie ihre Spuren sicher gut vertuscht.«

»Es gibt immer Dinge, die sich nicht vertuschen lassen«, konstatierte Mrs Bentley. »Manche Geheimnisse liegen vergraben und stinken trotzdem, wie eine tote Maus unter den Dielenbrettern. Wenn Mrs Orme etwas verheimlicht, wird irgendwer auf dieser Welt davon wissen.«

Zwei

Wishtide Manor

Donnerstagabend, 7 Uhr

VERTRAULICH

Mein lieber Fred!

 

Hier sitze ich nun gesund und munter nach einem langen Tag und einer beschwerlichen Eisenbahnfahrt, die mich durchgeschüttelt und über und über mit Ruß bedeckt hat. Wie Du Dir vorstellen kannst, hatte ich einigermaßen Angst vor meiner Ankunft im Schloss, wo ich die traditionelle Behandlung einer Gouvernante erwartete – karges Essen, wenig Heizung, unfreundliches Dienstpersonal. Meine Befürchtungen waren jedoch grundlos; bitte sag Fanny, wie gut die Calderstones ihre Hauslehrerin behandeln, worauf sie vielleicht noch einmal gründlich nachdenken wird, bevor sie der armen Mrs Birch im kalten Schulzimmer die übrig gebliebenen Essensreste vorsetzen lässt.

In Horncastle erwartete mich eine bequeme Kutsche. Wishtide liegt im südlichsten Teil der Lincolnshire Wolds, und so fuhren wir in der kühlen, schiefergrauen Dämmerung durch eine hügelige Waldlandschaft, in deren Tälern aus den kleinen Dörfern die Kirchtürme aufragten. Kurz bevor die Sonne unterging, bogen wir von der Straße aus durch ein großes Tor, und ich konnte gerade noch sehen, wie gut das Anwesen gepflegt ist, was ja immer viel aussagt. Die Frau, die das Tor öffnete, war tadellos gekleidet und machte einen höflichen Knicks. Danach war es zu dunkel, als dass ich die berühmten Wiesen und Bäume des Parks weiter hätte begutachten können.

Wishtide Manor ist gigantisch. Es ist vor fünfundzwanzig Jahren im Stil eines Renaissance-Schlosses erbaut worden, mit vielen Dachkaminen und stilechten Fenstern. Ich erklomm die Stufen zu einer riesigen Halle mit gewölbter Decke, in der zwei Dänische Doggen dösten und hin und wieder leise fiepten, und das vor einem brennenden Kamin, der so groß ist wie mein kleiner Salon.

Die Haushälterin, Mrs Craik, kam mich begrüßen. Ich war sehr erpicht, einen guten Eindruck zu machen – meiner Erfahrung nach hat eine Haushälterin auch in übertragenem Sinne eine Schlüsselposition inne (Thorpe, der Butler hier, ist viel zu vornehm, um sich mit einer Hauslehrerin zu befassen). Mrs Craik ist eine schlanke, grauhaarige Frau in etwa meinem Alter. Sie trägt eine schwarzseidene Schürze und gibt sich relativ reserviert, was aus meiner Sicht ein Jammer ist.

Aber sie ist freundlich und weiß, »wie der Hase läuft«, wie Mrs B sagen würde: alles, was ich bisher gesehen habe, ist in wunderbarster Ordnung. Ich schreibe diese Zeilen neben einem großzügigen Feuer in meinem sehr hübschen Zimmer, in dem außerdem ein hohes Bett und ein Schreibtisch stehen sowie ein üppiger Vorrat an Kohlen und Kerzen. Die Vorhänge an den Fenstern und am Bett sind sichtbar alt, jedoch in tadellosem Zustand und fleckenlos sauber. Mein Abendessen, das mir ein höfliches stilles Mädchen aus der Küche brachte, bestand aus Wildpastete, Bratapfelkompott und einem Glas Wein. Ich glaube, unter solch angenehmen Umständen könnte es mir als Hauslehrerin sogar gefallen.

Nach dem Essen werde ich Sir James und Lady Calderstone sehen, die mich sicher über …

Es klopfte laut an der Tür. Ich legte den Federhalter beiseite. »Ja, bitte?«

Da ich wiederum ein Dienstmädchen erwartet hatte, schrak ich zusammen, als ein hochgewachsener junger Mann in Abendkleidung eintrat, der mich sichtlich indigniert musterte.

»Mrs Rodd?«

»Ja.«

»Ich bin Charles Calderstone und will Ihnen geradeheraus sagen: Ich weiß, warum Sie hier sind.«

Ich erwiderte, ich sei eingestellt, um seine Schwestern zu unterrichten.

»Papperlapapp«, widersprach Mr Charles. »Sie sind hier, um für meinen Vater zu spionieren.«

Nun, das war ja ein schöner Beginn; bedeutete dies etwa, dass alle Bescheid wussten?

Ich erhob mich mit aller Würde. »Ja, auf die Bitte Ihres Vaters hin führe ich einige Erkundigungen durch und bin also streng genommen eine ›Spionin‹. Wenn das hier allgemein bekannt ist, fürchte ich allerdings, dass ich ihm nicht viel nützen werde.«

»Es ist nicht allgemein bekannt – ich hatte nur gerade einen mächtigen Streit mit meinem Vater, und da hat er es mir gesagt. Alle anderen denken, Sie sind wegen der Mädchen hier.«

»Haben Sie vor, meine Deckung auffliegen zu lassen?«

Dieser Ausdruck aus dem Kriminalwesen (ich hatte alle möglichen Ausdrücke bei Fred aufgeschnappt) überraschte und entwaffnete ihn. Er war gewissermaßen mit gezückten Pistolen in mein Zimmer gestürmt und nun verunsichert. »Ich … ich weiß nicht.«

»Ehe Sie eine Entscheidung treffen, sollten Sie Ihrem Vater vielleicht zuvorkommen und mir Ihre Version der Geschichte erzählen.« Ich deutete auf den Polstersessel neben dem Kamin. »Bitte setzen Sie sich doch.«

Er zögerte. »Er wird Ihnen sagen, ich sei ein Dummkopf, aber das sind alles Lügen.«

»In meiner Korrespondenz mit Ihrem Vater erklärte ich bereits, dass ich mich nur für Fakten interessiere, nicht für Gerüchte oder Verleumdungen. Bitte setzen Sie sich, Mr Charles.«

»Also gut.« Das Feuer brannte hell und offenbarte, was für ein gutaussehender junger Mann er war. Seine Haare waren von einem kräftigen Dunkelbraun, seine braunen Augen groß und warm, die Wimpern fast mädchenhaft lang, und dennoch zeugten das starke Kinn und die zusammengepressten Lippen von Entschlossenheit, ja, fast schon Sturheit.

Und dieser feine junge Prinz hatte sich in eine Lady Niemand aus Nirgends verliebt – wie Prinzen es nun mal gelegentlich tun, wenn auch nicht so oft, wie die Romantik uns glauben lassen möchte; hätten Könige generell die Angewohnheit gehabt, Bettlerinnen zu heiraten, hätten wir nie die Geschichte von König Cophetua gehört.

Ich rückte meinen Stuhl herum, so dass wir einander ansehen konnten. Mr Charles räusperte sich, errötete und sah auf seine Knie.

»Dieses Gespräch ist vertraulich«, erklärte ich. »Erzählen Sie mir, was Sie möchten, und ich verspreche Ihnen, ich werde Ihren Eltern nichts davon verraten.«

Er sah mich hoffnungsvoll an. »Wie soll ich wissen, ob ich Ihnen trauen kann?«

»Sie haben mein Wort als Christin. Wenn das nicht ausreicht, können Sie die Bischöfe der Diözesen Ripon, Peterborough sowie Bath und Wells fragen, die alle schon an meinem Tisch gespeist und mich offenbar für einen aufrichtigen und ehrlichen Menschen gehalten haben.«

Darüber musste Mr Charles schmunzeln, und sein Lächeln war frisch, offen und charmant – ein wenig erinnerte er mich an meinen geliebten Matt, allerdings zu der Zeit, da er noch ein schlanker junger Hilfsprediger mit vollem Haar war (der Schwarm der Gemeinde; oh, welch unfassbare Freude, als er mich erwählte, das stille, ernste Mauerblümchen; ich werde nie vergessen, wie es sich anfühlt, jung und verliebt zu sein).

»Ich hoffe, Sie sind tatsächlich ein guter Mensch«, sagte er. »Hier hört mir niemand mehr zu. Und den niederträchtigen Feldzug meines Vaters muss ich unbedingt beenden.«

»Feldzug?«

»Den Namen der Dame zu beschmutzen und … und mich von einer Heirat abzuhalten.«

Ich konnte nicht widersprechen; genau darin bestand der »Feldzug« seines Vaters, und dass er mich eingestellt hatte, zeugte von seiner Entschlossenheit. »Aber wenn Sie sie heiraten wollen, Mr Charles, so haben Ihre Eltern jedes Recht, ihre Vergangenheit zu ergründen. Eine unpassende Verbindung wäre für einen jungen Mann Ihrer Position ein schädlicher Schritt. Ihre Eltern wollen Sie mit Sicherheit nur schützen.«

»Nein, das wollen sie nicht!« Er klang erregt und rang sichtlich um Fassung. »Mein Vater will, dass ich eine andere heirate, deshalb ist er so bemüht, Helen Ormes Namen in den Schmutz zu ziehen. Aber diese Frau ist so rein und ehrbar wie meine eigenen Schwestern!«

In seinen Augen schimmerten Tränen der Wut und Verletzung; er steigerte sich sehr in seine Gefühle hinein und wurde lauter, doch ich wollte nicht, dass der Rest des Hauses unser Gespräch mitbekäme.

Also sagte ich mit sanfter, ruhiger Stimme: »Erzählen Sie mir von Mrs Orme.«

»Sie ist … Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. Sie kam zu uns, um den Mädchen Italienischunterricht zu geben. Sie spricht es wie ihre Muttersprache, das ist ganz erstaunlich zu hören.«

»Hat sie hier bei Ihnen gewohnt?«

»Nein, sie hat ein kleines Häuschen in der Nähe von Horncastle, das sie mit ihrer Schwägerin teilt, und sie leben in ärmlichen Verhältnissen – vornehm zwar, falls Sie sich das unter den Umständen vorstellen können, aber von nur einhundertfünfzig Pfund im Jahr für beide, also müssen sie beträchtlich sparen.«

(Ich konnte es mir tatsächlich sehr gut vorstellen und empfand beinahe schwesterliches Mitgefühl für Mrs Orme.)

»Ich habe meinem Vater versprochen, nichts zu tun, das im Ort für Gerede sorgen könnte«, fuhr Mr Charles fort. »Das bedeutet, dass ich mich nicht so sehr um Helen – Mrs Orme – kümmern kann, wie ich es gerne möchte. Sie würde lieber sterben, als Geld von mir zu nehmen – und so lasse ich die Mädchen Wildfleisch und Wein als Geschenk zu ihr bringen, so oft ich es wagen kann. Aber natürlich weiß trotzdem jeder in der Gegend, woher es kommt.«

Eine interessante Situation. Die erste Notiz, die ich mir im Geiste machte, war, dass Mrs Orme Geld abgelehnt hatte. Das sprach entweder für ihre Ehrenhaftigkeit oder ihre Intelligenz. Die zweite war, dass Mr Charles bedenkenlos seine Schwestern eingespannt hatte.

»Besuchen Ihre Schwestern Mrs Orme noch immer?«

»Ja, aber nur, wenn der alte Herr unterwegs ist. Unsere Mutter versucht, sie davon abzuhalten, aber die Mädchen haben Mrs Orme liebgewonnen und gehorchen nicht.«

»Dann würden Sie also sagen, dass Miss Blanche und Miss Elizabeth eine Heirat befürworten würden?«

Mr Charles lächelte. »Die zwei sind meine unbedingten Verbündeten. Haben Sie sie schon kennengelernt?«

»Noch nicht.«

»Machen Sie sich nichts draus, wenn Blanche am Anfang böse auf Sie ist – sie ist wütend darüber, eine neue Hauslehrerin zu bekommen, und sagt, sie wolle sowieso keine Dame der Gesellschaft werden. Aber im Grunde ist sie ganz in Ordnung.«

Er hatte sich beruhigt; wenn er von seinen Schwestern sprach, wurde aus dem leidenschaftlichen Liebhaber wieder ein fröhlicher, gutmütiger junger Mann.

»Danke für die Warnung, ich werde daran denken.«

»Und Bessie werden Sie bestimmt sofort mögen, sie ist eine liebe Seele.«

»Dann waren es Ihre Schwestern, die Sie mit Mrs Orme bekannt gemacht haben?«

»Es war kein förmliches Vorgestelltwerden; ich traf sie alle im Garten, wo sie unter den Bäumen auf unserem großen Bärenfell saßen. Es war, als wäre ich plötzlich ins Paradies gestolpert … dieses feengleiche Mädchen in grauem Gewand … ein Engel in Quäkerkleidung …«

»Mädchen?«

Ich fragte es leichthin, doch er wusste, was ich meinte, und wurde rot.

»Sie sieht wie ein Mädchen aus – klein und zierlich wie eine Elfe.«

»Wissen Sie, wie alt sie ist?«

»Natürlich – wir haben keine Geheimnisse voreinander. Sie ist zweiunddreißig und damit neun Jahre älter als ich, aber das interessiert mich nicht im Geringsten.«

»Hat sie über ihren verstorbenen Ehemann gesprochen?«

»Nicht viel – aber nur, weil ich nichts über tote Heilige hören mag.«

»Mr Orme war ein Heiliger?«

»Laut Helen, ja. Aber es war keine Liebesheirat – nicht im romantischen Sinne, meine ich.« Er blickte zur Seite und murmelte: »Es war keine richtige Ehe, wenn Sie verstehen …«

Schamrot bis unter die Haarwurzeln, wollte er mir wohl mitteilen, dass Mrs Orme sich sozusagen noch im Zustand der Jungfräulichkeit befand. Ich war nicht sicher, ob ich das glauben sollte.

Aber ich nickte ernst. »Und sie hat Mr Orme in Italien kennengelernt.«

»Ja, dort ist er auch gestorben.«

»Wissen Sie, was sie vor ihrer Ehe gemacht hat?«

»Natürlich weiß ich das!« Mr Charles hob stolz den Kopf. »Sie war in Ihrem Gewerbe.«

»Wie darf ich das verstehen?«

»Natürlich geben Sie nur vor, eine Hauslehrerin zu sein, aber Helen war es tatsächlich. Sie hat bei mehreren Adelsfamilien gelebt.«

»Ich verstehe.« Ich war nicht sicher, ob ich auch dies glauben sollte.

»Sie hat nichts zu verbergen, Mrs Rodd. Ihr Mädchenname war Lyndhurst; ihr Vater arbeitete als armer Gemeindepfarrer an der Küste von Suffolk. Sie wurde schon früh zur Waise und war gezwungen, sich ihren Lebensunterhalt in anderer Leute Häuser zu verdienen. Da haben Sie es; das ist alles, was dahintersteckt. Es ist eine Schande, dass meine Eltern ihre ärmliche Vergangenheit gegen sie verwenden; es ist ja nicht ihre Schuld, dass sie ein schweres Leben hatte.«

»Nein.« Niemand konnte etwas dafür, wie und wo er geboren wurde; es wäre in der Tat verwerflich, wenn die Calderstones nur deswegen etwas gegen Mrs Orme hätten, weil sie sich ihren Lebensunterhalt selbst verdienen musste.

Dennoch wunderte es mich: Wenn die Geschichte so stimmte, dann wäre die Verbindung kaum eine Tragödie. Die Leute würden möglicherweise tuscheln, dass Mrs Orme Witwe war und älter als ihr Ehemann. Aber Armut bei einer Pfarrerstochter ist verzeihlich, und ihr gutes Wesen schien offenkundig; jede gesellschaftliche Fragwürdigkeit könnte demnach schnell bereinigt werden. Warum waren seine Eltern dann so »verfuchst empört«, wie Mrs B sagen würde?

Und noch etwas: Ich hatte im Laufe der Zeit viele Hauslehrerinnen kennengelernt, angefangen mit meiner eigenen, und sie waren allesamt Töchter oder Witwen armer Geistlicher gewesen. Die große Mehrheit war nicht übermäßig gebildet und besaß keine der Fähigkeiten, die man nur durch teuer bezahlten Unterricht erwerben konnte. Wie hatte sich Mrs Orme, die verwaiste Pfarrerstochter, zu einer so gewandten und kenntnisreichen Dame entwickeln können, die perfekt Französisch und Italienisch sprach? Ihr verstorbener Mann war gebildet gewesen, aber das ergab keine ausreichende Erklärung, waren sie doch nur wenige Monate verheiratet gewesen.

Die Uhr auf dem Kaminsims schlug zur vollen Stunde; es wurde Zeit für mein Treffen mit Sir James und Lady Calderstone, und ich wollte dieses Gespräch professionell zu Ende bringen.

»Mr Charles, eines muss ich noch fragen … Ich habe da von einem gewissen Gerücht gehört.«

»Was? Dass sie vor Edmund Orme mit einem anderen verheiratet war?« Er lachte verächtlich. »Ja, davon habe ich auch gehört, und das sind nichts als Lügen.«

»Wissen Sie, woher dieses Gerücht stammt?«

»Nein, und es ist mir auch egal; das ist dreister Unfug. Das spüre ich tief in meinem Innersten.«

»Bevor ich gleich Ihre Eltern treffe, Mr Charles, muss ich noch wissen, ob Sie meine Nachforschungen boykottieren wollen. Ich werde niemandem nützen, wenn Sie sich gegen mich stellen.«

»Oh, machen Sie sich keine Sorgen. Sie können stochern und stöbern, so viel Sie wollen – ich bin mir sicher, dass Sie nichts finden werden.«

»Und Sie werden auch niemandem verraten, warum ich hier bin?«

»Ich gebe Ihnen mein Wort, dass ich darüber schweigen werde. Genau das habe ich auch meinem Vater gesagt. Ich habe keine Angst vor der Wahrheit und Mrs Orme auch nicht. Noch heute Abend werde ich in die Stadt zurückfahren und Ihnen in keiner Weise im Wege sein.«

»Und Mrs Orme werden Sie es auch nicht sagen?«

»Mein Ehrenwort. Sie werden selbst sehen, dass sie nichts zu verbergen hat.«

Sein Glauben an ihre Lauterkeit war absolut; sie war sein unbeflecktes Idol. Ich wollte mir nicht vorstellen, wie er reagieren würde, sollte ich irgendeinen Makel finden.

Drei

»Diese Undankbarkeit ist es, die einen ganz fassungslos macht.« Lady Calderstone war den Tränen nahe. »Edmund Orme war ein entfernter Cousin von mir; daher kam mir der Gedanke, ich müsste für die arme Witwe etwas tun, als sie plötzlich auf der Schwelle stand. Ich dachte, die Mädchen könnten ruhig etwas Italienisch lernen – was in der Gesellschaft ja immer einen guten Eindruck macht –, während ich meine eigenen Pflichten dabei nicht vernachlässigen müsste.«

»Zwei Fliegen mit einer Klappe«, kam es mir in den Sinn.

»In der Tat. Und um die Wahrheit zu sagen, war es eine gnädige Fügung, dass sie mit der armen Winifred zusammenzog, denn sonst hätte man sich verpflichtet gefühlt, die arme Winifred noch mit aufzunehmen.«

»Um Gottes willen, nein!«, entfuhr es Sir James. »Ein Gesicht wie ein Pferd.«

»Mrs Orme hat mir am Anfang gut gefallen; sie kann sehr überzeugend auftreten. Nie im Leben hätte ich gedacht, dass sie mir vor meinen Augen meinen Sohn abspenstig macht.«

Wir saßen im großen Salon im Erdgeschoss, und ich hatte das Gefühl, geradewegs in einer Schatzkammer aus Tausendundeiner Nacht gelandet zu sein. Vor den Fenstern hing kaskadenförmig dicker blauer Samt, Sofas und Sessel waren üppig aufgepolstert, und überall glänzte und funkelte poliertes Walnussholz, feinstes Porzellan, Silber und Gold.

Lady Calderstone schritt aufgebracht umher, und bei jeder Bewegung raschelten und rauschten ihre langen Röcke aus rubinrotem Taft. Sie war dünn, nervös und reizbar, und ich musste mich zwingen, sie nicht sofort als oberflächlich und verwöhnt zu verurteilen; mit etwas christlicher Nachsicht konnte ich auch Traurigkeit entdecken – und eine gewisse Wachsamkeit ihrem Ehemann gegenüber.

Es war leicht zu erkennen, woher Charles sein gutes Aussehen hatte. Sir James war die ältere Version seines schmucken Sohnes – etwas gedrungener und fülliger vielleicht, das kräftige dunkle Haar bereits zurückweichend, aber dennoch voller Energie. Wie er so vor mir stand, ganz herrschaftlich in schwarzem Frack mit weißer Weste und einem Stapel Papiere unter dem Arm, sah er aus, als wollte er für ein Porträt posieren.

»Dann haben Sie den Jungen also bereits kennengelernt, Mrs Rodd. Ich nehme an, dass er Ihnen nicht viel Vernünftiges berichten konnte.«

»Er ist ein verliebter junger Mann«, erwiderte ich, »und ebenso erpicht auf die Wahrheit wie Sie. Er ist überzeugt, dass Mrs Ormes Ruf sich als untadelig erweisen und sie ihn dann heiraten wird.«

»O ja, das hat sie sehr geschickt eingefädelt!«, meinte Lady Calderstone spitz. »Sie weiß um seine Ritterlichkeit – auf diese Weise bestärkt sie ihn und gibt ihm das Gefühl, ein Sir Galahad zu sein.«

»Es gibt eine Menge Gründe, warum Charles diese Frau nicht heiraten sollte«, sagte Sir James. »Ich muss an den guten Namen unserer Familie denken.«

»Er war kurz davor, eine andere zu erwägen – eine junge Dame, die Sir James und ich sehr ins Herz geschlossen haben –, und dann ist er dieser furchtbaren Frau verfallen …«

»Meine Liebe«, es lag ein warnender Unterton in Sir James’ Stimme, »Mrs Rodd muss das alles nicht hören; kümmern wir uns lieber um unser vordringliches Problem.«

»Ich würde gern etwas zum Gerücht des anderen Ehemannes hören«, sagte ich.

Sir James zog ein Papier aus seinem Stapel und reichte es mir. »Vor drei Wochen erhielt ich diesen Brief in mein Haus in London.«

Ich nahm das Schriftstück an mich und las die wenigen ungehobelten Worte: »Ihr Cousin hat eine HURE geheiratet. Ihr wahrer Name ist MRS SAVILE. Sie werden mir mein Schweigen bezahlen. WARTEN SIE’S NUR AB.«

Nach kurzem Schaudern gab ich den Brief zurück. »Das ist gewiss nicht mehr als böswillige Verleumdung.«

»Ich glaube«, sagte Lady Calderstone, »wo Rauch ist, ist auch Feuer.«

»Verleumdung oder nicht«, fuhr Sir James fort, als hätte sie nichts gesagt, »es muss überprüft werden.«

»Haben Sie eine Idee, wer das geschickt haben könnte?«

»Leider nein – und meine Nachforschungen haben bislang nichts ergeben.«

»Gab es denn schon eine Geldforderung?«

»Nein, noch nicht. Aber hier geht es nicht nur um Geld. Ich habe viele Feinde, Mrs Rodd – das ist bei einer Person, die in der Öffentlichkeit steht, wohl unvermeidlich. Jemand versucht, mich ins Bockshorn zu jagen, wie man so schön sagt. Wenn sich auch nur der Hauch eines Verdachts verbreitet, die Frau meines Sohnes könnte eine Dirne sein, ist meine öffentliche Position unwiederbringlich dahin. Ich habe Sie kommen lassen, weil Sie Fragen stellen können, ohne unnötig Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.« Plötzlich lachte er leise. »Sie wird kaum jemand für einen Polizeispitzel halten.«

Darüber musste auch ich schmunzeln. »Das will ich hoffen.«

»Sie werden alle nötige Unterstützung erhalten. Wissen Sie schon, wie Sie vorgehen werden?«

»Ich würde gern etwas über ihr früheres Leben in Suffolk erfahren. Ich habe in der Gegend ein paar Bekannte.« Zu Lady Calderstone gewandt, fügte ich hinzu: »Natürlich werde ich Sie informieren, bevor ich irgendwohin verreise; ich habe nicht vergessen, dass ich außerdem hier bin, um Ihre Töchter zu unterrichten.«

»Ach, herrje, das ist nun wirklich nicht so wichtig«, polterte Sir James barsch. »Tun Sie, was Sie müssen, und kümmern sich nicht um die Mädchen; wenn Sie sie dazu bringen können, ohne Widerworte einfach zu gehorchen, sind Sie Ihr Geld schon wert.«

»Wie kannst du sagen, es wäre nicht wichtig?«, protestierte Lady Calderstone fast ein wenig quengelnd. »Blanche wird nächstes Jahr debütieren, und ihre Manieren sind die einer Landpomeranze.«

»Bitte sagen Sie frei heraus, was Sie im Hinblick auf die Erziehung von mir erwarten«, sagte ich. »Mein Französisch ist gut – ich habe als Kind ein Jahr in Boulogne verbracht. In Latein bin ich einigermaßen bewandert, und Griechisch beherrsche ich zumindest bruchstückhaft.«

»O nein, kein Latein und so weiter«, ereiferte sich ihre Ladyschaft. »Ich will nicht, dass die Leute sie für Blaustrümpfe halten.«

»Wenn Sie mich bitte entschuldigen wollen«, Sir James zog eine goldene Taschenuhr aus der Weste, »dann überlasse ich alles Weitere meiner Frau und kehre an meinen Schreibtisch zurück.«

Sobald er den Raum verlassen hatte, ließ Lady Calderstone sich aufs nächste Sofa sinken – wie eine Marionette mit durchgeschnittenen Fäden. Nach kurzem Schweigen sagte sie fast unhörbar: »Ich hoffe, Sie können uns retten, Mrs Rodd.«

»Sie retten?« Das Wort verwunderte mich.

»Ich kann es nicht richtig erklären – aber wenn Charlie dieses Weibsstück heiratet, sind wir alle ruiniert, Mrs Rodd. Einfach ruiniert.«

 

Miss Blanche richtete sich gerade so lang vom Sofa auf, dass sie kurz meine Hand berühren konnte, murmelte »Erfreut« und ließ sich wieder in die Kissen fallen.

Miss Elizabeth war die Unhöflichkeit ihrer Schwester sichtlich unangenehm; sie errötete beim Aufstehen. »Guten Tag, ich bin Elizabeth. Wie geht es Ihnen?«

»Es freut mich sehr, Sie beide kennenzulernen«, sagte ich. »Ich dachte, wir könnten uns an diesem Morgen ein wenig unterhalten und herausfinden, wie ich Ihnen helfen kann.«

Die vergoldete Uhr auf dem Kaminsims hatte gerade neun geschlagen. Nach einem exquisiten Frühstück auf meinem Zimmer wurde ich von Mrs Craik in den »Jungmädchensalon« geführt; eine recht hochtrabende Bezeichnung für ein hübsches, sonniges Wohnzimmer, das offensichtlich auch als Unterrichtsraum genutzt wurde. Es gab Sessel, helle Wandbehänge aus Chintz und ein elegantes Klavier aus Rosenholz, aber auch einen tintenbeklecksten Kartentisch, einen Globus, ein Regal voller Wachspuppen, Holztiere und andere Kindersachen, die aussahen, als habe man vor kurzem noch damit gespielt. Aufmerksam musterte ich die zwei Mädchen, den offiziellen Grund für meinen Aufenthalt.

Miss Blanche mit ihren reifen und leicht trägen achtzehn Jahren war sehr hübsch und deutlich erkennbar die Schwester von Mr Charles, mit ebenso tiefbraunen Locken und heller Haut. Ihr himmelblaues Seidenkleid mit der feinen weißen Musselinschürze wirkte für ein Schulzimmer im abgelegenen Lincolnshire unverhältnismäßig vornehm.

Miss Elizabeth, fünfzehn, erschien daneben eher unförmig und ungelenk, mit langem hellbraunem Zopf, Pausbacken und kleinen unruhigen blauen Augen. Ich schenkte ihr mein freundlichstes Lächeln – das arme Ding … Fünfzehn war schon für die hübschesten Mädchen ein schwieriges Alter, und für die nicht so hübschen konnte es zur Qual werden. Ich selbst war in jenem Alter nicht besonders ansehnlich gewesen (auf die kantige Art mager, mit riesigen Händen und Füßen und einer Nase, die über Nacht scheinbar wie ein Pilz gewuchert war), jedoch ohne eine ältere Schwester, mit der ich hätte konkurrieren müssen. Miss Elizabeth wollte bestimmt, dass ich sie mochte, und war daher wohl diejenige, die ich am ehesten für mich gewinnen könnte – genau wie Charles es vorhergesagt hatte.

»Sie können Bessie helfen, wenn Sie wollen«, verkündete Miss Blanche und warf mit herablassender Geste ihre Locken über die Schultern. »Sie lernt noch Sachen wie Mathematik und Geographie – Schulzeug eben. Ich bin achtzehn und muss eigentlich gar nichts mehr lernen.«

»Ich bin nicht hier, um Sie zu unterrichten«, versicherte ich ihr. »Nur, um Ihnen das zu geben, was Ihre Mutter ›den letzten Schliff‹ nennt.«

»Bah«, meinte Miss Blanche, »ich bin doch kein Türknauf, der noch geschliffen und poliert werden müsste! Mama hält mich für noch nicht bereit, aber aus meiner Sicht könnte ich sofort in die Gesellschaft eingeführt werden. Von Hauslehrerinnen habe ich die Nase voll – Sie müssen mir also vergeben, Mrs Rodd, wenn ich Sie einfach ignoriere.«

Sie nahm ihr Buch wieder auf – eines dieser kitschigen Jahresbände voll sentimentaler Gedichte und Bilder von Soldaten mit großen Augen und schlanken Taillen – und begann demonstrativ zu lesen.

Über ihre Dreistigkeit hätte ich mich vermutlich ärgern sollen, doch ich wollte es mir mit der kleinen Dame nicht verscherzen und behielt mein, wie ich hoffte, freundliches Lächeln bei. Gleichzeitig fragte ich mich, warum Miss Blanche in diesem Jahr nicht bereits debütiert hatte, wo doch viele Mädchen ihres Alters schon verlobt waren. Am Geld konnte es nicht liegen – dieses Haus hätte mit Banknoten tapeziert sein können.

»Heute Morgen werde ich Ihnen sowieso noch nichts beibringen«, sagte ich zu Miss Elizabeth gewandt, als wäre ihre eingeschnappte Schwester nicht mehr zugegen. »Wir sollten einander erst ein wenig kennenlernen. Wie wäre es, wenn wir uns eine Weile auf Französisch unterhielten?«

»Jetzt gleich?« Sie wirkte ein wenig panisch.

»Unser Französisch ist tadellos«, warf Miss Blanche mit schnippischem Ton dazwischen. »Letztes Jahr haben wir ganze sechs Monate in Paris verbracht – ziemlich langweilige Monate allerdings, da unsere einzige Gesellschaft aus französischem Personal bestand. Wir können also jederzeit munter drauflos plappern, wenn es erforderlich ist.«

Ich hätte gern entgegnet, dass junge Damen mehr können sollten, als »munter drauflos zu plappern«, doch ich tat, als hätte ich nichts gehört. »Dieses ganze Gerede von ›Schliff‹ finde ich auch recht lächerlich«, sagte ich also fröhlich. »Es erinnert mich an eine liebe, aufmüpfige Schulfreundin aus meiner Zeit in Boulogne: Minnie Gilmore. Als ich sie das erste Mal sah, saß sie in dem kargen Zimmer unseres armseligen Internats auf der Fensterbank und schrie Gott und der Welt entgegen, sie brauche keinen weiteren Schliff und sei nur deshalb in Frankreich, um sich einen Dichter zu angeln.«

Darüber musste Miss Elizabeth kichern und – was noch wichtiger war – Miss Blanche ebenfalls.

»Ja, Minnie benahm sich recht auffällig«, fuhr ich fort. »Ständig hatte sie Hunger und schlich abends oft heimlich zum Markt, um Kekse und Kuchen zu kaufen. Und wenn sie Liebesromane las, schwärmte sie immer für die hinreißenden Schurken …«

Miss Elizabeth kicherte noch mehr – um mich zu mögen, hatte sie nur einen Hinweis gebraucht, dass ich noch wusste, wie sich Jung-Sein anfühlte.

Miss Blanche klappte ihr Buch zu. »Ist sie dann mit einem Dichter durchgebrannt – oder sonst irgendwem?«

»Zum Glück nicht, nein.« Ich sah sie an. »Wie durch ein Wunder schaffte es Minnie, keinen größeren Unfug anzustellen – auch wenn sie sich ständig neue Streiche ausdachte und über mich lachte, wenn ich zur Vorsicht gemahnte.«

»Ich finde sie sehr sympathisch. Was ist aus ihr geworden?« Miss Blanche sah mich erwartungsvoll an.

»Sie fuhr nach Hause«, sagte ich, »und heiratete den Hilfspfarrer.«

»Oh!« Miss Blanche klang so enttäuscht, dass ich lachen musste.

Danach schmollte sie ein paar Minuten, und ich fürchtete schon, jetzt hätte ich alle Chancen, ihr Vertrauen zu gewinnen, vertan. Doch genau wie ihr Bruder besaß sie bei aller Dramatik auch guten und gesunden Menschenverstand, und irgendwann konnte sie wieder entspannt und charmant lächeln. Mit raschelnden Röcken sprang sie vom Sofa und gesellte sich zu uns an den Tisch – dass sie mir böse sein wollte, hatte sie offenbar ganz vergessen.

»Wie, um alles in der Welt, konnte das arme Ding nur bei einem Pastor enden?«

»Ob Sie es glauben oder nicht: Sie hat sich in ihn verliebt. Und bei einem Pastor zu ›enden‹, ist gar kein so schreckliches Schicksal – mir ist genau dasselbe passiert.«

»Herrje! Ich kann es mir einfach nicht vorstellen, das ist alles. Unser Pfarrer hier ist ein hässlicher, alter Kerl mit einem Gesicht wie eine Kürbislaterne. Ich hoffe doch sehr, dass Ihrer ansehnlicher geraten ist.« Sie drehte sich zu ihrer Schwester und sagte auf Französisch: »Bessie, zeigen wir Mrs Rodd doch mah, wie gut unser Französisch is – das Wetter is gräuslich heut Morgen, aber nich nass; am Nachmittag nehm wir die Kutsche. – Sehen Sie? Wir sprechen wie Einheimische.«

»Sehr – sehr schön«, sagte ich schwach und mühte mich, mein Entsetzen zu verbergen. Sie redete tatsächlich »wie eine Einheimische« – und genau da lag das Problem. Zwar sprach sie fließend, jedoch mit den Verschleifungen und Vokabeln einer französischen Gassengöre; jeder nur halbwegs gebildete Mensch würde das auf Anhieb merken und dieses hübsche Mädchen sich der Lächerlichkeit preisgeben. Ich beschloss, dies mit allen mir gegebenen Möglichkeiten zu ändern, als wäre ich eine echte Hauslehrerin.

Die zwei Mädchen wirkten auf mich so verwöhnt wie ein Paar plüschiger Pudel. Ich hatte allerdings den Eindruck, dass sie wenig beachtet und zu lange sich selbst überlassen worden waren. Teure Lehrer sind kein Ersatz für ordentliche elterliche Erziehung. Ehe die Uhr zehn schlug, hatte ich ihre Fähigkeiten recht gut eingeschätzt und entschieden, dass die Situation bei weitem nicht hoffnungslos war. Beide besaßen eine schnelle Auffassungsgabe und waren intelligent, und als ich sie bat, mir etwas aus Paul et Virginie vorzulesen, gingen sie bereitwillig auf Korrekturen ihres Akzents ein. Nach Französisch begaben wir uns ans Klavier, und dort war es sogar noch besser; ein gutes musikalisches Gehör ist für kein Geld der Welt zu kaufen, und beide Mädchen spielten und sangen bezaubernd. Vor allem Miss Elizabeth hatte eine hübsche feine Stimme.

»Ich kenne auch einige italienische Lieder«, sagte Miss Blanche dann.

Dies war nun eine gute Überleitung zu Mrs Orme, die ich vor Ablauf des Tages unbedingt noch kennenlernen wollte. Ohne weiteren Kommentar spielte ich die Noten, die Miss Blanche mir vorlegte: Mozarts »Batti, batti« – für ein junges Mädchen vielleicht nicht ganz passend, aber die Frische und Klarheit ihrer Darbietung beeindruckten mich dennoch.

»Das war sehr hübsch«, lobte ich aufrichtig. »Du bist offenbar gut unterrichtet worden, vermutlich von einem der neuen italienischen Meister in London.«

»Nein, nach London fahren wie nie. Unsere Lehrerin wohnt nur wenige Meilen entfernt. Sie ist eine Art angeheiratete Cousine; aber der Unterricht wurde eingestellt, als unser Bruder sich in sie verliebte.«

»Blanche!«, zischte Miss Elizabeth.

Miss Blanche verdrehte die Augen. »Ja, ich weiß, wir sollen nicht darüber reden. Aber wenn doch sowieso jeder im ganzen Umkreis davon weiß! Da kann Mrs Rodd es genauso gut von uns erfahren.« Sie sah mich an. »Sie dürfen gerne wissen, dass ich nichts Schlechtes über unsere Cousine sagen werde, und außerdem die Absicht hege, sie weiter zu besuchen.«

Da war er – der grundlegende Konflikt dieser überaus rätselhaften Familie. Ich brauchte ein paar Minuten, um zu entscheiden, wie ich darauf reagieren sollte. Warum hatte Blanche eine so andere Meinung als ihre Mutter? Und wie kam sie dazu, sich ihr so offen zu widersetzen – besaß Lady Calderstone in ihrem eigenen Hause keine Autorität?

Bedauerlicherweise musste ich jetzt lügen. »Ihre Ladyschaft hat mir gegenüber nichts dergleichen erwähnt. Ich bin sicher, sie vertraut Ihnen und nimmt an, dass Sie keine unschicklichen Bekanntschaften pflegen.«

»Ihr Name ist Helen Orme«, verriet Miss Blanche nun mit einer gewissen Herausforderung in der Stimme. »Und wir mögen sie sehr gern – nicht wahr, Bess? Bevor sie hierherkam, war Wishtide der langweiligste Ort auf Erden. Unsere Mutter verbietet, dass wir sie weiter besuchen, aber ich weigere mich, sie ohne nachvollziehbaren Grund zu meiden.«

»Nun ja, die Sache mit Ihrem Bruder …«, deutete ich an.

»Das reicht mir nicht. Ich sehe nicht ein, warum sie dafür verantwortlich gemacht wird. Sie hat Charlie nicht gebeten, sich in sie zu verlieben, und will auch nicht, dass er die Verlobung öffentlich macht. Das ist einfach nicht fair!«

Das »nicht fair« klang kindlich quengelig, aber natürlich hatte Miss Blanche recht – sie war auf eine der großen Ungerechtigkeiten der Welt gestoßen, nämlich, dass in solchen Situationen die Schuld immer auf die Frau geschoben wird. Und wenn eine Frau jung und arm und ohne Beziehungen ist, gereicht ihr ein hübsches Gesicht nicht immer zum Vorteil. Das junge Mädchen war mir in seiner aufrichtigen Entrüstung und Treue sofort viel sympathischer.

Nun musste ich schnell überlegen. Die beiden waren meine Eintrittskarte zu Mrs Orme, und Mrs Orme war der Grund, weshalb ich hier war – wie aber konnte ich sie aufsuchen, ohne den Anschein zu erwecken, dass ich den Ungehorsam der Mädchen unterstützte?

»Nun, Miss Blanche«, sagte ich schließlich, »ich habe von Lady Calderstone keine Liste erhalten, wen Sie besuchen dürfen und wen nicht.«