Das Paradies meines Nachbarn - Nava Ebrahimi - E-Book

Das Paradies meines Nachbarn E-Book

Nava Ebrahimi

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Beschreibung

Ingeborg-Bachmann-Preisträgerin 2021

»Salam, hier schreibt Ali-Reza. Ich kannte ihre Mutter gut und verfüge über einen Brief, den ich Ihnen überreichen soll. Es ist wichtig. Für Sie mindestens so sehr wie für mich.« Ali Najjar stammt aus Teheran und glaubt, seine Vergangenheit weit hinter sich gelassen zu haben. Als Kindersoldat hat er das Grauen des Iran-Irak-Kriegs erlebt, aber seine Haut retten können. Später klettert er mit seiner Haltung »Ich war an der Front, ich kenne keine Angst« als Produktdesigner in Deutschland die Karriereleiter hoch. Der Iran, Teheran, seine Familie sind für ihn inzwischen eine fremde Welt. Dann erreicht ihn die Nachricht eines Unbekannten. Ein Freund seiner verstorbenen Mutter aus Teheran bittet ihn um ein Treffen auf neutralem Grund. Ali Najjar schickt seinen Kollegen Sina, Halbiraner und in einer beruflichen Sinn- und privaten Ehekrise, an seiner Statt an den Persischen Golf. Er selbst scheut die Begegnung. Aus gutem Grund.

  • »Du trägst keine Schuld, und du trägst sie doch. Ich schätze, das heißt es, zu leben.«
  • Eine der aufregendsten Stimmen der deutschsprachigen Literatur.
  • Über das Fremde in uns selbst und über die Verantwortung, die wir für andere haben.
  • Vielfach preisgekrönte Autorin: zuletzt Debütpreis/Österreichischer Buchpreis.

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Seitenzahl: 279

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Zum Buch

»Salam, hier schreibt Ali-Reza. Ich kannte ihre Mutter gut und verfüge über einen Brief, den ich Ihnen überreichen soll. Es ist wichtig. Für Sie mindestens so sehr wie für mich.«

Ali Najjar glaubt, seine Vergangenheit weit hinter sich gelassen zu haben. Er ist längst in Deutschland angekommen, als Produktdesigner erfolgreich. Der Iran, Teheran, seine Familie sind für ihn eine fremde Welt. Dann erreicht ihn die Nachricht eines Unbekannten. Und alles, woran er bislang festgehalten hat, gerät ins Wanken.

Zur Autorin

NAVA EBRAHIMI, 1978 in Teheran geboren, zählt zu den aufregendsten Stimmen der deutschsprachigen Literatur. Für ihren ersten Roman »Sechzehn Wörter« wurde sie mit dem Österreichischen Buchpreis, Kategorie Debüt, sowie dem Morgenstern-Preis ausgezeichnet. Nava Ebrahimi studierte Journalismus und Volkswirtschaftslehre in Köln und arbeitete als Redakteurin bei der Financial Times Deutschland sowie der Kölner Stadtrevue. Sie war Finalistin des Open Mike und Teilnehmerin an der Bayerischen Akademie des Schreibens. Nava Ebrahimi lebt mit ihrer Familie in Graz.

Nava Ebrahimi

Das Paradies meines Nachbarn

Roman

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Originalausgabe März 2020 by btb Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Copyright © 2020 Nava Ebrahimi.

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Michael Gaeb.

Covergestaltung: semper smile, München

unter Verwendung eines Motivs von © Nicola Bealing/Bridgeman Images

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-641-25539-8V002

www.btb-verlag.de

www.facebook.com/btbverlag

Für Matthias

»Ich bin derjenige, der keinen Stellvertreter finden kann.«

Emmanuel Levinas

ALI-REZA SCHALTETE DEN FERNSEHER AUS und las die Nachricht noch einmal. Es tut mir sehr leid, Ihnen das mitteilen zu müssen, aber Ihre Mutter ist vor vier Wochen, am 5. November, in einer Klinik in Täbris verstorben. Sie wurde auch in Täbris beigesetzt. Die Organisation, die die Klinik betreibt, übernahm die Kosten für das Begräbnis. Eine neue Nachricht ploppte auf. Mein Beileid. Und noch eine. Gott sei ihr gnädig.

Wieso schrieb sein – wie waren sie eigentlich verwandt? – Großcousin das, weshalb verwendete er ausgerechnet diese Floskel, woher wusste er, dass seine Mutter Gottes Gnade besonders bedurfte?Ali-Reza legte die Hände auf die Räder seines Rollstuhls, saß ganz still da und atmete tief ein. Seine Bauchdecke hob und senkte sich. Er mochte das Gefühl beim Einatmen, eine warme Kugel im Bauch zu haben. Die Anspannung fiel ab und er fragte sich, was er empfand, jetzt da er wusste, dass seine Mutter nicht mehr lebte. Er begann, jeden Winkel seines Seelenlebens abzutasten. Er fand keine auffällige Stelle, keinen Spalt, keinen aufgerauten Fleck. Da waren Narben, ja, aber die stammten von lange verheilten Verletzungen. Neu war diese Traurigkeit, die ganz langsam wie ein dunkles Tuch auf sein Gemüt herabsank und alles bedeckte. Sie galt weniger seinem eigenen Schicksal als vielmehr dem seiner Mutter, dem Lauf der Geschichte, der eine unbedarfte Frau, die weder lesen noch schreiben gelernt hatte und mit vierzehn Jahren verheiratet worden war, in ein gieriges Monster verwandelt hatte.

Er hegte keinen Groll mehr. Er hatte sich von ihr gelöst. Er war einst mit einer fürsorglichen Mutter aufgewachsen – in seiner Erinnerung sah er sie immer etwas glattstreichen, Wachstücher, Teig, Haar –, aber spätestens seit seinem vierzehnten Lebensjahr hatte sie aufgehört zu existieren. So wie er.

Kamran, sein Physiotherapeut, hatte ihm kürzlich erklärt, dass sich der menschliche Körper wegen der Zellerneuerung alle sieben Jahre komplett wandelt, also war niemand mehr derjenige, der er sieben Jahre zuvor gewesen war. Kamran hatte ihm die wissenschaftliche Erklärung dafür geliefert, was Ali-Reza nun empfand: Vier Wochen zuvor war in Täbris eine für ihn fremde Person gestorben. Ihre Hand war schon sehr lange nicht mehr die gewesen, die seine Wange kurz vor dem Einschlafen gestreichelt hatte. Und seine Wange war schon sehr lange nicht mehr die gewesen, die die Zärtlichkeit empfangen hatte.

IN DER SCHNITZELHÜTTE, beim Mittagessen mit einem Kollegen, hörte Sina den Namen das erste Mal. Nein, das stimmte nicht, er hatte ihn schon vorher aufgeschnappt, aber nie Lust verspürt, sich nach dem Menschen zu erkundigen.

»Wie, du kennst Ali Najjar nicht?«, rief Frank aus. Die Mutter am Nachbartisch begann, ihren Kinderwagen mechanisch zu schaukeln, ohne von ihrem Smartphone aufzublicken.

»Interessiert mich nicht«, sagte Sina.

»Sollte es aber.«

Frank tat sich gerne wichtig, und oft mit Erfolg.

Für Sina ging in diesem Moment ein Scheinwerferlicht an, gerichtet auf einen Mann mit noch unscharfen Konturen. Wobei es ihm später, rückblickend, vorkommen sollte, als wäre Ali Najjar mehr als Ereignis denn als Mensch in sein Leben getreten.

Diesem Ereignis war ein anderes Ereignis vorausgegangen, das, so sinnlos wie zufällig, alles in Gang gesetzt hatte: Sinas Chef Thies war beim Marathonlauf in New York an Herzversagen gestorben. Sein Tod kam für alle überraschend, natürlich, in diesem Fall aber besonders überraschend für Sina und seine Kollegen. Die jüngeren Designer waren geschockt, beinah traumatisiert von der Erkenntnis, dass der Tod selbst vor ihrer Berufsgruppe nicht Halt machte. Dass auch ein gutaussehender, erfolgreicher Kreativchef Mitte vierzig, der stets die angesagtesten Sneaker trug und neuerdings auch Milchbreiflecken auf der rechten Schulter hatte, einfach so wegsterben konnte. Zwischen den Sichtbetonwänden und Apple-Bildschirmen hatten sie vergessen oder tatsächlich nie realisiert, dass sie sich in einem Körper aus Knochen, Fleisch und Blut durch Raum und Zeit bewegten. Ihnen schien nicht bewusst zu sein, dass, wenn jemand ihnen die Bauchdecke aufschlitzte, Gedärme samt Inhalt sowie andere Innereien herausquellen würden. Mit ihrer cleanen skandinavischen Mode, so glaubten sie, seien sie unverwundbar.

Sina war achtunddreißig Jahre alt und hatte immerhin eine Leisten-OP hinter sich.

Er verspürte leichte Schadenfreude darüber, dass der Tod wie ein Meteorit in die Mittzwanzigerwelt seiner Kollegen eingeschlagen war. Dass ihnen endlich etwas den Parkettboden ihrer Kindheit unter den Füßen weggezogen hatte. Sie nervten ihn gehörig, wie sie so frisch und jung – immer jünger! – von der Uni kamen, so voller Hoffnung, aber ohne einen Anflug von Demut. Statt demütig wirkten sie verängstigt, wenn sie einem am ersten Tag die Hand schüttelten, und schon das ging Sina gewaltig auf den Keks. Denn erfahrungsgemäß schlug ihre Ängstlichkeit bald in Überheblichkeit um. Es brauchte nicht viel, hie und da ein Lob, dort ein zufriedener Kunde, und schnell glaubten die Trophy Kids, unersetzlich zu sein. Sina machte den Wendepunkt daran fest, dass sie ihre Kaffeetassen nicht mehr in die Spülmaschine stellten, sondern auf der Anrichte stehen ließen.

Als einer der wenigen war er lange genug dabei, um zu wissen, dass auch Designer sterblich waren. Die allermeisten zumindest. Dass sein Chef jetzt tot war, stimmte ihn noch nicht einmal sehr traurig. Er wahrte Vorgesetzten gegenüber grundsätzlich Distanz. Er hielt nicht viel von den Freundschaften, die in seinem Metier üblich waren und die sich darin manifestierten, dass man sich duzte, viel Zeit miteinander verbrachte, während der Mahlzeiten Dinge aus seinem Leben preisgab, die man auch auf Instagram mit dreitausend Leuten teilte, und gelegentlich bei Projekten und regelmäßig beim Tischfußball ein Team bildete.

Zudem, dachte Sina, war Thies objektiv betrachtet eines schönen Todes gestorben. In den Schluchten von Manhattan, bejubelt von den Massen, mit einer Startnummer auf der Brust, als er sich einen langgehegten Traum erfüllte. Dafür musste man in Kauf nehmen, keine hundert zu werden. Lediglich für die Tochter seines Chefs, die noch ein Baby war, tat es ihm leid. Sie würde ohne leiblichen Vater, sogar ohne jegliche Erinnerungen an ihn groß werden. Sina wusste, was das bedeutete. Er besaß immerhin ein paar Erinnerungen an seinen eigenen Vater, nicht viele, dafür aber bleibende, und diese konnte er alle drei bis vier Jahre auffrischen, wenn dieser in Deutschland war und er ihn auf einen Kaffee traf.

Thies war gestorben, und nach einer dreiwöchigen Phase des Betretenseins, in der man bekundete, wie sehr er fehle, seine Kompetenz, aber natürlich auch er, als Mensch, erzählten Sina zwei Kollegen unabhängig voneinander, dass ein neuer Kreativchef angeheuert habe. Er hatte noch darüber nachgedacht, ob er sich als Nachfolger in Stellung bringen sollte. Sein Alter und seine Berufserfahrung legten es nahe, aber er verspürte keine Lust auf mehr Verantwortung. Dass der Job nun bereits vergeben war, versetzte ihm zwar einen leichten Stich – ganz klammheimlich hatte er gehofft, der Vorstand würde ihm die Stelle anbieten. Die Erleichterung darüber, dass er sich nicht weiter mit der Frage auseinandersetzen musste, wo er beruflich eigentlich hinwollte, überwog jedoch. Und Katharina schien nicht einmal realisiert zu haben, dass Sina eine Aufstiegschance verpasst hatte. Sie arbeitete viel, klappte oft nach zwanzig Uhr noch den Laptop auf, und wenn sie vorher beim Abendbrot zusammensaßen, erzählte Anahita Geschichten aus der Schule. Ohne Punkt und Komma, er musste sie oft sogar daran erinnern zu essen. Ihr Mitteilungsbedürfnis war gerade enorm.

»Im Ernst, du kennst Ali Najjar nicht?«, wiederholte Frank, noch immer ungläubig. Er stoppte die Gabel mit dem Stück Rindsschnitzel auf dem halben Weg vom Teller zum Mund. »›Scheiß auf Talent, Designer müssen bereit sein, für ihre Sache zu kämpfen.‹ Nie den Spruch gehört?«

Sina zog die Augenbrauen zusammen, kaute unnötig lange auf seinem Bissen Schnitzel herum, tat, als müsse er überlegen.

»Es gibt niemanden, der das letztes Jahr nicht retweetet hätte.« Frank legte mit einem Seufzer die Gabel ab und klopfte Sina an die Stirn: »Komm mal wieder raus aus deinem Schneckenhaus.«

»Der, ja, jetzt weiß ich, wen du meinst. So Typen tauchen alle naselang auf und mischen« – mit Messer und Gabel setzte er Gänsefüßchen in die Luft – »die Szene auf. Und nach wenigen Jahren liegen sie dann mit Bauchansatz in ihrem Loungechair und kommen vor lauter Selbstgerechtigkeit nicht mehr hoch. Keinen Bock auf so einen Typen.«

»Der ist anders. Und er wird unser Chef. Googel ihn mal.«

Sina googelte »Ali Najjar« direkt nach dem Mittagessen. Er sah die ersten Fotos. Er las »geboren in Teheran« auf Wikipedia und spürte sogleich das Schnitzel in der Magengegend, vielleicht auch etwas anderes, auf jeden Fall hatte es Gewicht. Er hatte ihn für einen Araber gehalten, weil ihr Reiseführer im Libanon genauso geheißen hatte. Und in seiner Branche war er noch nie auf einen Perser gestoßen. Sina rückte näher an den Monitor heran.

Ali Najjar, Typ Yul Brynner, blickte ihm herausfordernd entgegen, einmal mit Zigarette zwischen den Fingern, einmal mit Füßen auf dem Tisch. Selbst im Eames-Chair »relaxend«, wie es in der Bildunterschrift eines Lifestyle-Blogs hieß, stierte er den Betrachter offensiv an. Sina scannte die Liste der Suchergebnisse. »Von der Front in den Design-Olymp« lautete die Überschrift eines Artikels in einer großen Zeitschrift. Er klickte weiter zu einem Interview in einem Architekturmagazin und las:

Sie haben nach drei Monaten die Leitung der wichtigen Arbeitsgruppe Design & Vision im Verband Deutscher Industrie Designer abgegeben. Weshalb?

Ali Najjar: Weil ich keine Angst habe. Das mögen die Deutschen nicht. Aber wenn man im Krieg war, wenn man gesehen hat, wie es den besten Freund in tausend Stücke reißt, wovor soll man dann noch Angst haben?

Reflexhaft schloss Sina die Seite. Er fürchtete sich jetzt schon.

»WIE AUF EINER KUHWIESE fühle ich mich, wenn ich euch so ansehe. Jede Menge große Augen und Gehirne, die nichts als wiederkäuen. Dabei dachte ich, ich hätte ein Date mit dem Inhouse Design eines internationalen Toplabels. Moment, bin ich hier überhaupt richtig, lasst mich mal nachsehen … Ja, doch, stimmt, elf Uhr dreißig in der Big Bubble. Also die Topdesigner, das müsst wohl ihr sein.

Aber meine simple Frage scheint euch ja echt schon herauszufordern.

Im Ernst: Was denkt ihr denn so angestrengt nach? Oder nein, ihr denkt nicht, ihr grübelt. ›Grübeln‹ ist genau das richtige Wort für das, was ihr tut. Klingt wie ›krümeln‹. Ihr krümelt euch jetzt alle so einen Scheiß zusammen. ›Was hat mich das letzte Mal begeistert? Ja, was? Ähm. Hm. Puh. Dass ich mein Tagesticket fürs Freibad zweimal verwenden konnte?‹

Ihr seid so ängstlich angestrengt.EureAngst macht euch so eindimensional.So lesbar. Ihr müsstet euch mal sehen. Bücher für Erstleser sind eure Gesichter! Wovor habt ihr eigentlich Angst?

Okay, braucht ihr mir nicht zu verraten.

Also. Was hat euch das letzte Mal so richtig begeistert?

Dann seid doch wenigstens ehrlich. Dann kommt vielleicht etwas Interessantes dabei heraus. Oder wenigstens ein Lacher. Ich wette, ihr seid mit den Gedanken schon auf der dritten Metaebene. Ihr habt jede Antwort schon mehrmals wiedergekäut.

›Der Film mit Matt Damon in der Hauptrolle war cool, aber Film ist zu naheliegend, ich brauche etwas, das nur mich begeistert haben kann, weil nur ich diesen einzigartig genialen Blick auf die Dinge habe. Die Anordnung der Topfpflanzen auf der Blumenampel im Treppenhaus? Das hätte etwas Nerdiges. Noch besser wäre aber etwas Anti-Intellektuelles. Hm, krümel, krümel.‹

Ihr macht ein Gesicht wie eure Eltern im Italienurlaub, im Restaurant, krümelnd über der Speisekarte hockend.

›Nehme ich die Pizza Hawaii oder das Schnitzel?‹

Ihr werdet euer Leben lang weiter krümeln, wenn ihr nicht mal langsam in die Gänge kommt. Ihr speichelt eure Krümel ein und macht daraus faden Brei. Das ist eure Masche. Immer mehr Brei, alles pappt ihr irgendwie zusammen. Mir wird ganz schlecht bei dem Gedanken an den ganzen Brei, den ihr in eurem breiigen Leben schon produziert habt. Gut, dass jetzt die Tür aufgeht, sonst ersticke ich gleich, und so spontan wie ihr seid, würdet ihr mir dabei zusehen, wie ich erst nach Luft ringe, und darüber nachkrümeln, was jetzt eine coole Reaktion wäre.

Ah, endlich die Liste mit allen Kreativen, danke. ›Kreativen‹, ha! Benjamin B. Benecke, Industrial Design. Johanna Ehrmann, Market Research. Joelle Schummer, CMF-Design. Joelle. Noemi Puder. Hahaha! Du warst auf der Waldorfschule, hundertpro.

Kurzen Moment.

Hallo? Jetzt passt es gerade gar nicht, ich bin in einem Meeting. Oder besser Meat-Ding, ich sitze lauter Fleischklumpen gegenüber.«

»Ganz schlechte Idee, glauben Sie mir.«

»Sie sind Pädagogin, lassen Sie sich was einfallen. Ich traue Ihnen zu, dass Sie es mit einem Fünfjährigen aufnehmen. Tschö.«

»Ne, bringt nichts, meine Ex geht nicht ran, wenn sie Ihre Nummer sieht. Tschö.

Leute, ihr schaut ja immer noch so bekloppt drein. Ihr schaut so abgefuckt aus wie Vorstadtrapper bei ihren ersten Sozialstunden im Behindertenwohnheim. Aber Vorstadtrapper haben Spirit. Die haben eine Message. Davon könnt ihr nur träumen.

Also, was hat euch zuletzt einen Kick gegeben? Wenigstens einen kleinen?

Okay, die Frage ist euch zu langweilig, verstehe. Dann eine andere: Wer von euch hat gerade eine Affäre? Bitte die Hand heben! Wie, niemand? Statistisch gesehen müssten jetzt mindestens zwei Hände oben sein. Wirklich niemand? Leute, wie sollen wir denn zusammenarbeiten, wenn ihr so unehrlich seid?

Wollt ihr ehrlich sein, wollt ihr Designer sein und etwas wagen oder wollt ihr nur Behübscher sein?Bekrümler?«

Das ist reinste Zeitverschwendung hier. Am liebsten würde ich die gleich alle vor die Tür setzen. Fast alle. Die beiden da, die beiden Busenfreundinnen, die können ganz sicher einpacken. Blutarme Blondinnen mit bewegter Vergangenheit auf dem Ponyhof haben mich selten überrascht. Rapunzel hier vorne, die kriegt eine Chance, aber nur, wenn sie nicht Noemi heißt. Ich fürchte nur, sie heißt Noemi, dann geht natürlich nix. Und bei dem Dunkelhaarigen hinten rechts bin ich mir noch nicht ganz sicher, ob er ein Loser ist. Der Dunkelhaarige scheint mehr draufzuhaben als die anderen Pappnasen hier. Möglich, dass das nur an seinen Falten liegt. Wo ist die Liste … Sina Khoshbin, Senior Industriedesigner. Schau an. Wieso guckt der denn so genervt an die Decke? Er sollte sich lieber mal seine Locken stutzen.

»Also, dann versuchen wir es noch einmal mit der ersten Frage: Was hat euch das letzte Mal begeistert? Ihr werdet es mir nicht glauben, aber das ist eine Spitzenfrage, wenn man eine Crew kennenlernen will.

Was führt ihr für traurige Leben? Keine Affären, keine Begeisterung?

Jetzt aber, ich habe nicht ewig Zeit. Schaltet eure Gedanken mal in den Schleudergang. Was hat euch begeistert? Die schwebenden Sideboards von Piffpaff? Veganes Physalis-Softeis auf dem Streetfood Market? Der Bildband über siamesische … Ah, na endlich, ja, du dahinten, du mit den Locken, ich höre?«

...

Was kichern die denn so dumm.

»Na also, wieso nicht gleich.

Danke, auch ich freue mich auf die Zusammenarbeit.

Und jetzt geht mir aus den Augen.«

›Dass du unser neuer Kreativchef wirst‹. Der Arsch mit seiner persischen Hakennase.

ALI NAJJAR ENTLIESS AM NÄCHSTEN TAG ALLE, die er sofort entlassen konnte. Praktikanten und Angestellte in der Probezeit. Dafür kamen zwei Designer aus seinem alten Büro. Zumindest äußerlich und nach einigen Minuten Smalltalk an der Kaffeemaschine wirkten diese nicht progressiver, nicht einmal mutiger oder wenigstens selbstbewusster, wie die Kollegen einhellig in der WhatsApp-Gruppe befanden. Sina ausgenommen, er stand nicht auf diese Art der Selbstvergewisserung. Stattdessen starrte er die folgenden zwei Tage auf den Bildschirm und schraubte gelegentlich an dem Entwurf eines Smoothie-Makers herum, damit nicht allzu sehr auffiel, dass er nichts zustande brachte. Zwischendurch tat er so, als würde er sich intensiv mit dem Briefing auseinandersetzen. Dabei kannte er die Anforderungen auswendig: Smoothie-Maker für ernährungsbewusste Konsumenten, vornehmlich Frauen, die ihn sich zusätzlich zu einem gewöhnlichen Standmixer anschaffen sollten, daher sollte er deutlich von einem solchen zu unterscheiden sein und Assoziationen an eine schlanke Frauenfigur wecken. Doch alles, was Sina modellierte, hatte etwas Phallusartiges.

Einmal blieb Ali Najjar mit einer Butterbrezel hinter ihm stehen und blickte auf seinen Bildschirm. Sinas Puls schoss in die Höhe. Ali Najjar stand so nah, er konnte ihn kauen hören. Um irgendetwas zu tun, drehte Sina sich auf dem Bürostuhl um. Er schaute zu seinem Chef hinauf, bereute sogleich, sich umgedreht zu haben, und bemühte sich, diese Position möglichst souverän auszuhalten. Ali Najjar biss von der Brezel ab, kaute, betrachtete das Modell des Smoothie-Makers. Zog die Augenbrauen zusammen. Biss ab, kaute. Schluckte. Seine Lippen glänzten von der Butter.

»Geil«, sagte er, »einfach nur geil.« Er deutete auf die angebissene Butterbrezel in seiner Hand. »Kenne ich aus Berlin gar nicht.«

Ali Najjar ging weiter. Sinas Puls normalisierte sich. Er arbeitete seit fünfzehn Jahren in diesem Beruf und verfügte über eine gewisse Autorität. Hatte zumindest darüber verfügt. Er kannte seine Stärken, er lieferte zuverlässig durchdachte Entwürfe ab und verlieh den Designs anderer den letzten, entscheidenden Schliff. Und ja, er kannte auch seine Schwächen, er war nicht der Typ für den großen Wurf. Aber so oft war der ja auch nicht gefragt. Wieso ließ er sich bloß dermaßen einschüchtern von diesem Kerl?

Dabei empfand er ihn nicht einmal als Großkotz, wie die eine Hälfte seiner Kollegen in der WhatsApp-Gruppe. Aber noch weniger gehörte er zur anderen Hälfte, die sich darauf freute, dass ihnen endlich jemand etwas abverlangte.

Am dritten Tag setzte Sina sich mittags in der Schnitzelhütte zu Ali Najjar an den Tisch.

Er hatte es nicht abwenden können. Er war in den holzvertäfelten Gastraum mit der dunkelgrünen Auslegeware getreten, in dem sich seit dreißig Jahren nicht viel verändert hatte und der ihn jedes Mal in die Zeit der Alleinerziehenden-Kuren mit seiner Mutter im Allgäu zurückversetzte. Bis er den ersten Kellner erblickte, den mit Vollbart und Ankerherz-Tattoo auf dem Unterarm. Da wusste er wieder, er befand sich in München, im Jahr 2017. Er ging durch den ersten in den zweiten Raum, um sich an seinen Stammplatz an der Ecke zu setzen. Ali Najjar hatte den Tisch bereits belegt. Er telefonierte.

Sina blieb abrupt stehen. In Ali Najjars Aura konnte er offenbar nicht eintreten, ohne kurz innezuhalten. Ali Najjar deutete mit dem Zeigefinger auf den freien Stuhl an seinem Tisch.

»Hören Sie, mir fehlt die Zeit dazu. Und die Geduld sowieso.« Ali Najjar schaute Sina an und verdrehte demonstrativ die Augen.

»Mir fehlt die Zeit, ein Buch zu schreiben. Mir fehlt sogar die Zeit, jemandem ein Buch zu diktieren.«

...

»Hören Sie, fliegen Sie in den Iran, dort laufen ganz viele ehemalige Kindersoldaten herum, und viele haben noch Krasseres erlebt. Schreiben Sie doch über die ein Buch. Die freuen sich.«

»Mit Integration kenne ich mich nicht aus. Oder wirke ich etwa gut integriert?« Er lachte laut auf. Ein Backenzahn im Unterkiefer fehlte ihm. Seine Gesprächspartnerin lachte ebenfalls, Sina konnte es hören.

...

»Machen Sie sich keine Hoffnungen. Sie sind schon die Dritte, der ich absage. Aber danke, fühle mich geehrt. Wiedersehen.«

Ali Najjar fixierte Sina, während er das Handy in der Hosentasche verschwinden ließ. »Sina ist dein Name, richtig, Sina Khoshbin?«

Sina nickte.

»Und Khoshbin – trifft das auf dich zu?«

»Wenn es um uns selbst geht, sind wir doch alle unverbesserliche Optimisten«, sagte Sina.

»Wie meinst du das?«

»Wer bitte schätzt sein Scheidungs- oder Krebsrisiko realistisch ein?« Sina fühlte sich unwohl in der Rolle des weisen Mannes, aber er brauchte sie als Deckung.

Ali Najjar nahm einen Schluck aus seinem Bierglas. »Und wenn es um andere geht, was bist du dann? Khoshbin oder Badbin?«

Badbin. Sina hatte ein neues persisches Wort gelernt. »Pessimist natürlich.« Mit Mühe brachte er ein ironisches Lächeln zustande. »Zumindest, wenn ich so wie letzte Nacht schlecht geschlafen habe.«

Der Kellner stellte einen Teller vor Ali Najjar ab, der unter dem Schnitzel fast verschwand, und ein Metallschälchen mit Salat.

Sina bestellte das Gleiche.

»So, dann siehst du für mich heute eher schwarz?«

Nein, das tat er nicht. Er konnte sich nicht vorstellen, dass irgendetwas auf dieser Welt gegen den Willen dieses Mannes geschah.

Ali Najjar teilte das Schnitzel in vier Stücke, stapelte drei aufeinander, und begann, das vierte in mundgerechte Happen zu zerlegen. Dann nahm er die Gabel in die andere Hand und fing an zu essen.

Sina schwieg und beobachtete ihn. Ali Najjars Hände waren in genau dem richtigen Maß knöchern. Seine Finger langgezogen, die Nägel gepflegt. Die Hände hatten offenbar bis vor kurzem noch Sonne abbekommen und dort, wo der gebräunte, olivfarbene Hautton des Handrückens überging in den rosafarbenen Hautton der Handfläche, dort sah Sina länger hin.

»Mein Vater ist Perser«, sagte er nach einer Weile.

»Und, guter Typ?« Ali Najjar kaute energisch, aber nur wenige Male, bevor er die Bissen hinunterschluckte.

Guter Typ? Was war das für eine Frage? Sina ärgerte sich. Die erste Runde hatte er gerade so überstanden, schon stand er wieder in der Ecke.

»Ja oder nein? Darauf kommt es nämlich an, ob Perser oder nicht, ist total schnuppe.«

»Sagen wir: cooler Typ.«

Ali Najjar hielt inne, senkte den Kopf, kniff die Augen zusammen. »Also ein Arschloch.«

»Nein, das nicht. Er ist …« Sina schaute aus dem Fenster, einem von zwei großen Stichbogenfenstern an der gegenüberliegenden Wand. Eine alte Dame ging draußen vorbei, sie hatte dieselbe Haarfarbe wie der Yorkshireterrier, den sie auf dem Arm hielt. »Meine Mutter und er, das war eine Schnapsidee.«

»Keine Ahnung, wie viele von uns das Ergebnis reiflicher Überlegung sind.« Ali Najjar machte sich daran, das nächste Viertel Schnitzel zu zerkleinern und wechselte anschließend wieder die Hand, die die Gabel hielt.

Wie Vater und Kind in einem, dachte Sina. Der fürsorgliche Daddy schneidet klein, der brave Sohnemann isst auf.

»Und, sprichst du Persisch?«, fragte Ali Najjar kauend.

»Ja, ein wenig«, antwortete Sina. Er hatte mehrmals in seinem Leben angefangen, Persisch zu lernen, weil alle immer enttäuscht waren, wenn er die Frage »Sprichst du Persisch?« verneinte. Er war aber nie weit gekommen. Er hatte gerade so viel gelernt, dass er »Ja, ein wenig« antworten konnte. Meist lenkte er das Gespräch dann schnell auf ein anderes Thema.

»Was ist mit deinem Vater?«, fragte er.

»Lebt nicht mehr.« Ali Najjar hielt die Gabel in die Luft wie einen Zeigefinger. »Dass wir aus niederen Gründen, auf Grund von Missverständnissen und Fehleinschätzungen auf der Welt sind, damit müssen wir wohl leben, Khoshbin.«

Sina lächelte, dieses Mal ehrlich, mit einem Anflug von Dankbarkeit.

Auch er bekam sein Schnitzel. Wie immer, wenn er die ersten Stücke des riesigen Schnitzels auf der einen Seite abschnitt, rutschte es auf der anderen Seite vom Tellerrand. Heute berührte es sogar die Tischdecke und hinterließ einen leichten Fettfleck. Ali Najjar nahm das mit einem Seitenblick zur Kenntnis, was Sina wiederum zur Kenntnis nahm.

»Ärgerlich, oder?«, sagte er und zeigte auf den Teller. »Darauf kann man kein Schnitzel essen.«

Ali Najjar nickte kauend und legte das Besteck ab. Das letzte Viertel Schnitzel ließ er übrig, ebenso die Tomaten in der Salatschüssel.

»Ich muss. Lass es dir schmecken.« Er stand auf, tastete nach seinem Handy in der Hosentasche und klopfte Sina auf die Schulter. »Ach, und komm Freitag mal bei mir vorbei. Kurz bevor du nach Hause gehst.«

Später am Nachmittag begegneten sie sich erneut in einer Telefonkonferenz mit einem Kunden, der High-End-Soundsysteme produzierte und einen wertvollen Markennamen trug. Er zählte zu den wenigen Kunden, die das Büro behalten durfte, nachdem sie sechs Jahre zuvor von einem Konzern gekauft und einverleibt worden war. Sina hatte noch davor in dem Büro angefangen, sogar noch bevor die Gründer zu Shootingstars geworden waren, kurz bevor ihre Porträts ganze Magazinseiten gefüllt hatten. Meistens einer sitzend, einer stehend, beide stets in Grau, Dunkelblau oder Schwarz, und immer leicht aneinander oder an der Kamera vorbeiblickend. Nach knapp einem Jahr der Euphorie und des Größenwahns zerstritten sich die beiden. Sie verkauften das Büro, und somit auf gewisse Weise auch Sina, an den erstbesten Interessenten, den Küchengerätehersteller, und machten sich aus dem Staub. Vom Älteren wusste niemand, wo er abgeblieben war. Der Jüngere, ein Österreicher, war in seine Heimatstadt zurückgekehrt. Er hatte dort auf dem Marktplatz eine Weinbar eröffnet und veranstaltete regelmäßig Ukulele-Abende. Wo genau, hatte Sina vergessen, es war jedenfalls nicht Wien gewesen.

Das Büro blieb ein Fremdkörper in dem Konzern. So etwas wie ein Affengehege in einem Bürohaus, und sie waren die Affen, an denen sich die grauen Männer belustigen konnten. Manche Mitarbeiter aus den anderen Abteilungen nutzten jeden Vorwand, um zu ihnen hinaufzukommen. Sie erledigten Dinge, die sie am Telefon oder per Mail hätten erledigen können, persönlich, blieben länger als nötig und sahen Sina und seinen Kollegen beim Tischfußball zu. Oder zogen das Gespräch in der Lounge unnötig in die Länge, während sie das Treiben im Büro beobachteten. Die Designer waren auch die Einzigen mit eigener Küche. Sie kochten zwar nur selten, und wenn, dann wurden ihnen die Zutaten alle fertig abgewogen und einzeln verpackt, teilweise schon vorgegart, angeliefert. Damit sie nicht zwischen Sekretärinnen und Technikern bei schlecht gelaunten Kantinenköchen anstehen und nicht Salat aus kleinen Schälchen essen mussten. Eine der wesentlichen Leistungen Sinas und seiner Kollegen bestand darin, sich fast jeden Tag aufs Neue ein Mittagessen von woanders her zu organisieren. An manchen Tagen schien Sinas kreatives Potenzial damit bereits erschöpft.

Thies hatte den Soundsysteme-Kunden gerne allein bedient. Er hatte den Kunden richtiggehend abgeschirmt und nur gelegentlich Sina mit in Besprechungen genommen oder nach seiner Meinung gefragt. Sina war es ganz recht gewesen so, dachte er, als er am Konferenztisch Platz nahm.

Ali Najjar führte das Gespräch. Neben Sina saßen noch Benjamin und zwei Researcher am Tisch. Der Manager auf der anderen Seite in der Leitung begrüßte Ali Najjar und erklärte ihm noch einmal das Produkt. Thies’ Tod war abgehakt, jetzt schien er nur noch genervt davon zu sein, wieder von vorn anfangen zu müssen.

Er verwendete dieselben Wörter wie beim letzten Mal. »Spektakulär«, »einzigartige user experience«, »ikonisch«, »mehr architecture als product«. Er wirkte nur halb anwesend. Sina hätte schwören können, dass er währenddessen Mails las oder Weihnachtsgeschenke bestellte. Anscheinend hegte er keine große Hoffnung, dass sie ihm etwas Brauchbares lieferten. Anscheinend hatte er keine Ahnung, mit wem er da telefonierte. Ali Najjar hörte ebenfalls nur halb zu. Er blätterte in den Ergebnissen der Marktforscher, die diese in einer zwanzigseitigen Mappe versammelt hatten. Ziemlich weit hinten stoppte er und strich etwas an.

»Hm, ja, verstehe. Wir müssen mit dem Licht arbeiten«, unterbrach er den Manager. »Das Licht ist der Schlüssel.«

»Durchaus ein Ansatz. Haben wir intern auch schon diskutiert.«

Sina fiel ein, dass er ebenfalls an einem Detail aus den Befragungen der Marktforscher hängengeblieben war. Aber nicht, an welchem.

»Das Licht bewegt sich über den Tag durch den Raum. Mood und Atmosphäre verändern sich gleichermaßen. So wie der Schall aus den Boxen, der sich an der Zielperson – oh, kein schönes Wort –, an der listening position orientiert.« Ali Najjar zeichnete mit Zeige- und Mittelfinger Wellen in den Raum.

Sina war ganz nah dran. Dennoch, er konnte den Gedanken nicht fassen.

»Wir arbeiten gerade an neuen Entwürfen, die das Thema Licht aufgreifen«, fuhr Ali Najjar fort, »an Multi-Facetten-Entwürfen, triangulierten Körpern, bei denen die Facetten fließend ineinander übergehen, wie das Licht, das den Tag über wandert. Oder treffender, bitte fürs Wording schon einmal notieren: Das Licht tanzt. Zwar ist es der Sound, der sich durch den Raum bewegt, aber wir lassen den Eindruck entstehen, dass sich der Lautsprecher selbst bewegt. Meshige Oberflächenstruktur, schlankes, anmutiges Design, kurvige, dynamische Silhouette.«

»Das klingt vielversprechend«, sagte der Manager, jetzt voll da.

»Das wird richtig geil«, sagte Ali Najjar und lehnte sich in Rapperpose mit Peacezeichen zurück.

»Na dann.« Der Manager lachte professionell ausgelassen.

Die anderen, die um den ovalen Konferenztisch herumsaßen, tauschten Blicke. Sina meinte, körperlich zu spüren, wie die Furcht, dieser Aufgabe nicht gewachsen zu sein, allmählich den Respekt ablöste. Sina sträubte sich, doch es riss ihn mit.

Ein Ploppen signalisierte das Ende des Gesprächs. Ali Najjar erhob sich, knallte die aufgeschlagene Präsentation in die Mitte des Tischs und hämmerte mit seinem Zeigefinger auf eine Stelle im Text, die er eingekreist hatte.

»Das sind die einzigen brauchbaren Sätze. Für diese paar Sätze machen wir diesen ganzen Research-Blödsinn«, sagte er und ging.

Sie beugten sich über die Mappe wie die Hirten über das Jesuskind in der Krippe und lasen:

»In der Eingangshalle eines Fünf-Sterne-Hotels in Lissabon, das ein restauriertes Schloss war, stand einmal ein großer Kerzenleuchter. Ich residierte mehrere Wochen dort und erfreute mich mehrmals täglich daran, wie anders dieser Kerzenleuchter jedes Mal anmutete, abhängig von Tageszeit und Tageslicht. Ich konnte mich daran nicht sattsehen. Ida, 84.«

Jetzt fiel es Sina wieder ein. Am Moodboard hing das Foto eines Kerzenständers, er hatte es ausgedruckt und dort hingehängt. Er hatte sogleich eine unscharfe Vision von einem Lautsprecher vor Augen. Und er hatte sogleich vor Augen, wie weit sein Entwurf von dieser Vision entfernt sein würde. Seit Jahren steckte er in sich fest, in immer denselben Gedankengängen. Wenn er einen Entwurf begann, bog er in immer dieselbe Einbahnstraße ab, goss immer nur sein enges, begrenztes Ich in die Gestalt eines Toasters oder Smoothie-Makers. Was am Ende dabei herauskam, verdeutlichte ihm, wie gefangen er war, dass er auf alles immer denselben Blick warf. Er kannte sich und seinen Blick zur Genüge, er war beider überdrüssig. Wie gerne würde er sich mal rebooten, alles Bekannte über Bord werfen, Tabula rasa machen. Sich auf einen Weg begeben, von dem er nicht wusste, wohin er führte. Dass am Anfang jedes Entwurfes im Grunde feststand, was am Ende des Prozesses herauskommen würde, nahm Sina jede Lust.

Er machte an diesem Tag schon um siebzehn Uhr Schluss und ging nach Hause, ohne sich von jemandem zu verabschieden.

NEUNUNDDREISSIG STUNDEN hatten Ali-Reza von einem anderen Leben getrennt. Neununddreißig Stunden hätte er zu Fuß von Täbris nach Esendere gebraucht. Heute selbstverständlich nicht mehr, aber einst, als er jung war, noch gehen und richtig atmen konnte. Als er von zu Hause, vor seiner Mutter weggelaufen war. Ali-Reza vergrößerte die Ansicht. Die Route zog sich über den Bildschirm seines Laptops wie eine blaue Perlenkette, die jemand achtlos hingeworfen hatte. Er hätte einfach nur Richtung Westen gehen, den Urmiasee überqueren müssen, und schon hätte er sie erreicht gehabt, die türkische Grenze. Irgendwie hätte er sich dann bis nach Ankara durchgeschlagen, und dort in der Botschaft eines europäischen Landes hätte er Asyl beantragen können.

Hätte er können. Ali-Reza lachte bitter auf. Nur hatte er damals nichts gewusst von Grenzen, Botschaften und Asyl. Er war gerade dreizehn Jahre alt geworden und hatte die ersten zwölf Lebensjahre als Bauernjunge zwar beschwerlich, aber sorglos in einem Dorf nahe der aserbaidschanischen Grenze gelebt. Seine Welt hatte aus ihrem Haus mit den zwei Zimmern, dem Schafstall, dem Bach und einer Höhle unter einem Felsvorsprung bestanden. Und aus der Schule, seinem Lieblingsort, obwohl sie nicht mehr als ein karger Klassenraum war. Das klang nach Verklärung, aber das war es nicht. Er war jeden Morgen frohen Mutes aufgewacht, aufgesprungen und in den Tag hinausgerannt. Ihm hatte es nichts ausgemacht, dass sie auf dem Weg zur Schule bei Regen mit den Schuhen fast im Schlamm stecken geblieben waren. Dass er in seinem Leben nur ein einziges Mal einen richtigen Arzt zu Gesicht bekommen hatte. Dass er abends im Schein des Kerzenlichts seine ersten Buchstaben geschrieben hatte. Er hatte es nicht anders gekannt. Auch von den riesigen Erdölvorkommen des Iran, von dem großen Reichtum seines Landes, hatte er nichts gewusst.

Er hatte überhaupt nichts gewusst, damals. Er hätte nicht fliehen können. Er hatte bleiben und die Opferrolle annehmen müssen. Das kann doch nicht sein, dachte er, dass so viele Menschen Opfer waren. Wer blieb dann überhaupt noch für die Täterrolle übrig? War es möglich, dass eine Handvoll Menschen das Leben zig Millionen anderer Menschen ruinierte, in eine Hölle auf Erden verwandelte? Machte er es sich zu leicht? Hatte es einen Zeitpunkt in seinem Leben gegeben, an dem er die Opferrolle hätte ablehnen können? Er ging im Geiste die entscheidenden Momente in den Wochen, Monaten, Jahren durch, bevor er seine Uniform erhalten hatte, deren Hosenbeine und Ärmel er zweimal umschlagen musste.

Er klappte den Laptop zu. Nein, einen solchen Zeitpunkt hatte es nicht gegeben. Er hätte vielleicht nicht in Maryams Auto steigen können. Er hätte ihre Kababspieße nicht essen, sondern wegrennen können, als sie ihn hinter der Mülltonne entdeckt hatte. Er hätte trotz Hunger und Kälte weiter durch die Straßen der Stadt irren können.