Das Schwagermonster - Pippa Wright - E-Book

Das Schwagermonster E-Book

Pippa Wright

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Beschreibung

Traummänner fallen nicht vom Himmel …

Arbeitslos, getrennt und verzweifelt. Das ist Kate. Ihre Ehe ist am Ende. Ihren tollen TV-Job ist sie auch los. Genau deswegen flüchtet sie aus London in ihr Heimatstädtchen Lyme Regis. Doch dort kommt es noch schlimmer, denn plötzlich muss Kate ihre vier Wände mit Ben teilen, dem völlig idiotischen und faulen Verlobten ihrer Schwester. Ben ist einer, der simple Anweisungen braucht. Kate ist eine, die Herausforderungen sucht. Auch wenn ihre eigene Ehe nicht mehr zu retten ist, ist es vielleicht die ihrer Schwester. Daher fasst sie einen Entschluss: Sie will Ben heimlich zu einem selbstlosen Ehemann erziehen …

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Seitenzahl: 527

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Buch

Arbeitslos, getrennt und verzweifelt – so sieht Kates neues Leben aus, nachdem sie ihren tollen TV-Job verloren hat und vor ihrem Ehemann aus London in ihr Heimatstädtchen Lyme Regis geflüchtet ist. Bei Spaziergängen mit ihrer kleinen Hündin Minnie und während zahlreicher Nachmittage in dem einzigen Café der Stadt versucht Kate, in Ruhe über alles nachzudenken. Doch mit der Ruhe ist es schneller vorbei als gedacht, als Kates Schwester Prue auf eine glorreiche Idee kommt: nämlich bis zu ihrer Hochzeit ihren zukünftigen Ehemann Ben bei Kate einzuquartieren. Ben ist nicht nur faul, sondern vor allem unordentlich. Schnell stellt Kate fest, dass ihr zukünftiger Schwager einer ist, der simple Anweisungen braucht. Und Kate ist jemand, die Herausforderungen sucht. Auch wenn ihre eigene Ehe nicht mehr zu retten ist, ist es vielleicht die ihrer Schwester. Daher fasst sie einen Entschluss: Sie will Ben heimlich zu einem selbstlosen Ehemann erziehen – als Hochzeitsgeschenk für ihre Schwester …

Autorin

Pippa Wright lebt in London und arbeitet in der Verlagsbranche. Das Schwagermonster ist nach Vergiss das mit dem Prinzen und Willkommen im Wahnsinn ihr dritter Roman, und die Cosmopolitan erklärte sie bereits zur zukünftigen Königin der romantischen Komödie.

Außerdem von Pippa Wright bei Blanvalet lieferbar:

Willkommen im Wahnsinn

Vergiss das mit dem Prinzen

Aus dem Englischen von Carolin Müller

Die Originalausgabe erschien 2013unter dem Titel »The Foster Husband« bei Pan Macmillan, a division of Macmillan Publishers Limited, London.

1. Auflage

Deutsche Erstausgabe März 2015 bei Blanvalet Verlag,

einem Unternehmen der

Verlagsgruppe Random House GmbH, München

Copyright © 2013 by Pippa Wright

Copyright © 2015 für die deutsche Ausgabe by Blanvalet Verlag, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München

Umschlaggestaltung und -motiv: www.buerosued.de

Zitat überächste Seite: Abdruck mit freundlicher Genehmigung © Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin 2011

Redaktion: Judith Weißschnur

ue· Herstellung: sam

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-14431-9Besuchen Sie uns auch auf www.facebook.com/blanvaletund www.twitter.com/BlanvaletVerlag.

www.blanvalet.de

Für Pin und AlaineMit Liebe und U-Booten

»Manchmal wünschte ich, wir könnten all unsere Fehler auslöschen und noch einmal ganz von vorne anfangen«, erklärte ich. »Und dann wieder denke ich, dass unsere Fehler vielleicht das Einzige sind, das uns ausmacht.«

Madame Hemingway von Paula McLaine

Ich weiß, dass sie dir alles erzählt hat. Ich erwarte nicht, dass du mir verzeihst – ich bin mir nicht mal sicher, ob ich es mir selbst verzeihen kann.

Ich will das, was ich getan habe, nicht entschuldigen, aber vielleicht musste etwas passieren, damit wir endlich aufhören, uns gegenseitig so unglücklich zu machen. Ich schätze, das war’s dann wohl.

Es tut mir leid.

1

Nur ein Trottel würde nach Lyme Regis kommen, um vor der Vergangenheit zu fliehen.

Lyme Regis ist die Vergangenheit; es ist davon durchdrungen. Hier, mehr als an irgendeinem anderen mir bekannten Ort, ist es unmöglich, der schweren Last der vergangenen Zeit zu entkommen. Und damit meine ich nicht die Tatsache, dass ich ständig zufällig irgendwelchen Leuten über den Weg laufe, mit denen ich zur Schule gegangen bin, oder Freunden meiner Eltern, obwohl das natürlich so ist. Es betrifft nicht bloß die persönliche Lebensgeschichte. Ich meine damit, dass man hier praktisch hinter jeder Ecke auf eine Jane-Austen-Szene stößt, in der irgendeine Louisa Musgrove von der berühmten Hafenmauer »The Cobb« in die Arme eines Captain Wentworth stürzt, oder auf rucksackbepackte Schulkinder auf dem Weg zum East Beach, die voller Begeisterung, aber noch etwas ungeschickt, Fossilienhämmer in den Händen halten.

Natürlich ist kein Ort frei von seiner Vergangenheit, aber ich frage mich, ob man irgendwo sonst so beharrlich daran erinnert wird.

Lyme präsentiert die vergangenen Jahrhunderte wie ein Teppichhändler, der seine Ware übereinandergestapelt auslegt. Jurazeit, Madam? Nein? Kreidezeit vielleicht? Oder zieht Madam eine spätere Ära vor? Regency? Spätviktorianisches Zeitalter? Postmoderne der Mittsiebziger? Schicht um Schicht versteinerte Geschichte, über Jahrtausende verdichtet, darin gefangen hilflose Kreaturen, für immer erstarrt in einem Moment, den sie nicht selbst gewählt haben.

Ich bin so ein Trottel. Ich bin eine von diesen hilflosen Kreaturen. Aber es war auch nicht so, als hätte ich eine große Wahl gehabt.

Wenigstens hat es mich im Herbst hierher verschlagen, wenn die Stadt sich von den Sommermonaten erholt. Zu dieser Jahreszeit ist es immerhin möglich, die komplette Broad Street entlangzulaufen, ohne in eine der unzähligen Touristenführungen zu geraten (von denen bestimmt die Hälfte von meinen Eltern veranstaltet wird). Und ich habe auch noch keinen einzigen Reisebus gesehen, der versucht, die vertrackt enge Straßenbiegung unten beim Museum zu passieren. Doch die Läden stellen noch immer hoffnungsvoll ihre Schilder hinaus, die für Cream Tea oder andere unverzichtbare Touristenattraktionen werben: Fudge, Cath-Kidston-Topfhandschuhe und fossile Briefbeschwerer. Als bestünde heute noch große Nachfrage nach Briefbeschwerern. Und doch ist es mir heute Morgen gelungen, den gesamten Weg über »The Cobb« zu laufen, während der Wind meine Haare zerzauste und ich mich fragte, ob ich dabei wohl auch ein bisschen tragisch und faszinierend à la Die Geliebte des französischen Leutnants wirke, ohne dass meine trübsinnigen Träumereien von Hunderten von Tagesausflüglern gestört wurden. Obwohl es, um ehrlich zu sein, nicht immer leicht ist, die Pose der geheimnisvollen Frau mit gebrochenem Herzen aufrechtzuerhalten, wenn man von einem nervösen jungen Hund begleitet wird, der am anderen Ende der Leine herumtollt und versucht, sich bei der erfolglosen Jagd von Möwen die Hafenmauer hinunterzustürzen.

Und doch leide ich unter einem gebrochenen Herzen; da brauche ich gar nicht zu schauspielern. Genau aus diesem Grund bin ich überhaupt hier. Auch wenn ich gedacht hatte, ich könne der Vergangenheit entfliehen, hätte ich es eigentlich besser wissen müssen. Nicht in Lyme Regis; nirgendwo. Man kann nicht vor sich selbst weglaufen.

Nachdem sie sich ausreichend verausgabt hat, zerre ich Minnie, meine kleine Hündin, von den Möwen weg und zur Town Mill Bakery, um mir mit ihr ein warmes, buttriges Croissant zu teilen, während die Verkäuferin so tut, als bemerke sie es nicht. Es gibt zwar ein Schild, auf dem steht, dass Hunde keinen Zutritt haben, aber wir tun beide so, als hätten wir es nicht gesehen. Außerdem geht die Touristensaison dem Ende zu, und es ist niemand da, der sich darüber beschweren könnte – abgesehen von zwei älteren Damen, die am Tisch hinter mir sitzen.

Als Minnie gerade die letzten Krümel von meinen Fingern schleckt, höre ich, dass die beiden Frauen in einen verräterisch zischenden Flüsterton wechseln, der auf Klatsch und Tratsch hindeutet. Natürlich lehne ich mich ein wenig zurück, um besser lauschen zu können. Wer würde das nicht? Ich liebe es, Gespräche zu belauschen, und irgendwie ist es noch faszinierender, wenn es dabei um völlig Fremde geht. Wie viele Nachmittage habe ich schon verbracht, den Dramen fremder Leute in den Cafés von Belsize Park zu lauschen; irgendwie fühle ich mich dann selbst besser. Ich schnappe das Wort »Geschiedene« auf und spitze die Ohren noch etwas mehr. Ein Wort, das Bilder heraufbeschwört. Ich muss an Elizabeth Taylor denken, die sich, dunkle Schatten unter den Augen und Turban auf dem Kopf, mit einem diamantenbesetzten Taschentuch die Post-Richard-Burton-Tränen abtupft.

Die beiden älteren Damen sind offenbar schwerhörig genug, dass sie nicht einmal merken, wie laut sie eigentlich sprechen.

»Anscheinend«, zischt die Frau, die weiter von mir entfernt sitzt, durch das gesamte leere Café, »hat sich ihr Mann – du weißt schon – auswärts vergnügt.«

Offensichtlich war ich auf eine Goldader gestoßen.

»Neeeiin?!« Ihre Begleiterin klingt empört. »Aber sie ist doch so reizend, beide Schwestern sind ganz entzückend. Natürlich! Ganz ihre Mutter. Und er schien mir auch immer so ein feiner junger Mann zu sein. Warum sollte er so etwas bloß tun?«

»Na, du weißt doch, wie das in diesemLondon eben so ist«, sagt die Tratschtante. Ihre Stimme nimmt plötzlich einen leicht gepressten Ton an, und obwohl ich sie nicht sehe, kann ich mir nur zu gut vorstellen, dass sie die Lippen geschürzt hat.

Interessant. Ich frage mich, von wem die beiden wohl sprechen. Ich habe den Provinzstaub von Lyme Regis so gründlich von meinen Schuhen abgetreten, seit ich nach London gezogen bin, dass ich keine Ahnung habe, wer mir sonst noch dahin gefolgt sein könnte.

»Und auch noch in dieser Welt«, sagt die andere. »Nichts als Prominente und Partys und«, sie senkt die Stimme, als wage sie kaum, das Wort auszusprechen, »Drogen, da muss man sich nicht wundern.«

»Du sagst es«, bekräftigt die Plaudertasche nachdrücklich. Jetzt bin ich noch hellhöriger. Das klingt doch ganz nach jemandem, den ich kennen könnte. Nicht dass ich drogensüchtig wäre oder prominent – komplett daneben –, aber mein Arbeitsleben bestand oftmals aus nichts anderem als Prominenten, Partys und Drogen. So ist das im Musikbusiness eben.

»Tja, sie hat die Ehe einfach hingeschmissen, heißt es. Hat alles aufgegeben und ist in Barbaras alten Bungalow eingezogen mit nichts als einem Koffer und diesem Hund da.«

Ich schaue auf Minnie unter dem Tisch.

»Ich dachte, sie haben das Haus nach ihrem Tod verkauft?«

»Das wollten sie natürlich, aber es gab keine Interessenten. Es ist eine miserable Zeit, um zu verkaufen. Die Kreditklemme, weißt du. Ich schätze, sie ist jetzt froh darüber, wo hätte sie denn sonst hingehen können?«

»Schrecklich«, raunt ihre Gefährtin, »plötzlich mit nichts dazustehen.«

Das Croissant liegt mir auf einmal bleischwer im Magen. Ich blicke erneut zu Minnie hinunter. Du bist nicht nichts, denke ich. Wir sind nicht nichts. Hör gar nicht hin. Ich versuche zu schlucken, aber meine Kehle ist trocken.

»Schrecklich traurig«, pflichtet ihr ihre Freundin bei. »Sandy und David sagen, sie ist am Boden zerstört. Anscheinend ruft er ständig bei ihnen an, aber sie ruft nie zurück.«

Natürlich kann ich ihn nicht zurückrufen. Ich habe seit der Nachricht nicht mehr mit ihm gesprochen – was hätten wir uns auch noch zu sagen? Was auch immer er mir mitteilen möchte, ich will es nicht hören. Was würde es schon ändern, darüber zu reden. Es ist vorbei. Ich stehe das nur durch, wenn ich die Schotten vollkommen dicht mache. Unzugänglich, abgeriegelt. Wenn ich ihn auch nur einen Millimeter hineinließe, würden wir wieder da landen, wo wir vorher waren. Und das könnte ich nicht ertragen. Nicht noch einmal.

»Wen wundert’s, dass sie nicht mit ihm sprechen will«, sagt die Begleiterin missbilligend. »So ein Benehmen sollte keiner tolerieren müssen. Widerwärtig. Nimmt denn heutzutage die Ehe keiner mehr ernst?«

Ich habe das Gefühl, mir wird schlecht. Ich muss hier raus. Ich drehe mich auf der Holzbank um und will schon die Beine darüber schwingen, da höre ich ein scharfes »Psst«, als sie meine Bewegung bemerken.

Als ich aufstehe, ziehen die beiden Damen die Köpfe ein, wie Schildkröten, die sich in ihren Panzer verkriechen, als würde ich mir plötzlich ein Baguette von der Theke schnappen und sie aus Wut damit verprügeln. Aber das habe ich nicht vor. Ich bin nicht wütend, bloß bestürzt. Ich habe gehofft, hier, versteckt in Dorset, allem entfliehen zu können, mein echtes Leben in London hinter mir zu lassen, aber dem ist offenbar nicht so. Jedenfalls geschieht es mir ganz recht, wenn ich ihre Gespräche belausche. War ich nicht selbst neugierig und fasziniert, bis ich festgestellt habe, dass sie über mich reden?

Außerdem bin ich am Boden zerstört. Es ist schrecklich traurig. Aber die beiden kennen nicht die ganze Geschichte. Sie schätzen alles ganz falsch ein. Ich bin nicht mit leeren Händen gegangen, nein, das, was ich zurückgelassen habe, war nichts als Leere. Das war ja das Problem.

2

Eine Ehe zu beenden entpuppt sich als ziemlich leicht, sobald man an den Punkt gekommen ist, an dem einem klar wird, dass es kein Zurück mehr gibt. Ich habe die Nachricht auf dem Küchentisch immer wieder gelesen, bis ich sie auswendig konnte, fast wie ein Gedicht in der Schule; ich glaube, ich könnte sie selbst in zehn Jahren noch fehlerfrei aufsagen. Ich habe mein Handy ausgeschaltet und es auf meinem Laptop platziert, fest zugeklappt wie eine Muschel, damit Matt wusste, dass er mich nicht erreichen konnte. Ganz obendrauf habe ich noch meinen Ehering gelegt. Und dann bin ich gegangen.

In den Monaten bevor ich ihn verlassen habe, malte ich mir die Trennung ständig aus. Ich steigerte mich in diese Vorstellung mit derselben Leidenschaft hinein, mit der ich mich damals in die Vorbereitungen unserer Hochzeit gestürzt hatte. Genauso wie ich vor nicht einmal zwei Jahren gedacht hatte, dass die Auswahl des Blumenschmucks ein klares Symbol dafür wäre, wer wir sind und wie unsere Ehe sein würde (prächtig, exotisch, teuer, von weit her eingeflogen). Nun hatte ich das Gefühl, dass die Art und Weise, wie ich unsere Ehe hinter mir ließ, all das zusammenfasste, was zwischen uns schiefgelaufen war. Ich stellte mir heftigste Auseinandersetzungen vor, Krach darüber, wem was gehörte, unverschämte Forderungen. Wenigstens im Streiten waren Matt und ich immer gut gewesen. Ich ging davon aus, dass ich es sein würde, die ihn hinauswarf – schließlich war es sein unzumutbares Verhalten, das uns hierhin gebracht hatte –, wohingegen ich mich im Haus verschanzen und seinen Kram hinaus auf den Gehweg schmeißen würde. Ich malte mir aus, seine Anzüge zu zerschneiden, seine bescheuerten Cricket-Erinnerungsstücke zu verbrennen und unsere gemeinsamen Ersparnisse verschwinden zu lassen. Ich hatte genügend Filme gesehen, um zu wissen, wie so etwas lief. Mithilfe eines gewieften Anwalts (ich hatte mir zwar noch nicht wirklich überlegt, wie ich den bezahlen sollte, angesichts der Tatsache, dass ich seit fast einem Jahr nicht mehr gearbeitet hatte, aber das war doch sicher bloß eine reine Formalität?) würde ich Matt bis auf den letzten Penny verklagen. Hatte ich nicht alles für ihn aufgegeben? Das war er mir schuldig. Und wenn er schon nicht emotional darunter litt, dann würde ich ihn wenigstens finanziell ruinieren.

Was ich damit sagen will, ist, dass die Auseinandersetzungen, die in meinen wütenden Vorstellungen zum Ende einer Ehe führten, immer schlimmer und dramatischer wurden, bis sie schließlich in einem Riesenkrach gipfelten, mit dem dann alles aus wäre. Womit ich jedoch nicht gerechnet hatte, ist, dass sie immer nichtiger und kleiner wurden. Als wollte keiner von uns die Energie verschwenden, die wir womöglich noch für unsere Flucht benötigen würden.

Als ich schließlich ging, fühlte ich bloß noch Leere. Ich wusste, dass es später noch wehtun würde, aber in dem Moment, als ich die Nachricht las, verspürte ich eher so etwas wie dankbare Akzeptanz – da war er endlich, mein Ausweg. Es war wie ein Sicherheitsnetz, das unerwartet unter jemandem auftaucht, der in einem brennenden Haus eingeschlossen ist. Und wie jemand, der sich springend vor den Flammen rettet, kam ich überhaupt nicht auf die Idee irgendetwas mitzunehmen; zu dem Zeitpunkt war alles schon zu ramponiert. Die Verbitterung der letzten Monate hatte sich schon überall abgesetzt.

Ein paar Klamotten nahm ich jedoch mit, schließlich wollte ich ja nicht noch wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses verhaftet werden. Die Leute würden sich so schon genug das Maul über mich zerreißen, ohne dass ich auch noch durch exhibitionistische Handlungen auffiel. Allerdings machte ich mir damals keine großen Gedanken darüber, was ich anhatte; meine Arbeitsklamotten hingen seit Monaten unangetastet im Schrank, und dort blieben sie auch.

Natürlich nahm ich Minnie mit. Ich wusste, dass Matt wegen Minnie traurig wäre. Manchmal dachte ich, dass er mir nur deshalb einen Welpen gekauft hatte, damit ihn wenigstens einer im Haus mit unbändiger Begeisterung empfing, wenn er abends von der Arbeit nach Hause kam – denn ich schaffte das weiß Gott nicht immer. Doch ich hätte Minnie niemals zurückgelassen, und er war sowieso nie zu Hause. Wer also hätte sich um sie gekümmert, wenn er mal wieder auf Geschäftsreise war? Und selbst wenn er nicht unterwegs wäre, wäre sie den ganzen Tag allein zu Hause viel zu einsam gewesen. Das kannte ich nur allzu gut.

Wenn ich ein bisschen mehr darüber nachgedacht hätte, wohin ich floh, anstatt nur darüber, wovor ich weglief, hätte ich womöglich ein bisschen mehr mitgenommen. Vielleicht wäre es besser gewesen, doch nicht mit leeren Händen zu gehen; ich hatte nicht mal darum gekämpft.

»Entschuldigen Sie, ist alles in Ordnung mit Ihnen?«, fragt eine Stimme. Ich merke, dass ich die Stirn an die Hauswand der Bäckerei gelehnt habe, als würde ich meinen Kopf durch die Holzmaserung pressen. Ich habe es nur ein paar Schritte vom Ladeneingang weggeschafft. Zu meinen Füßen winselt Minnie, ganz irritiert von meiner Erstarrung. Ich bin nicht sicher, wie lange ich bereits so dort verharre.

»Danke, alles klar«, sage ich, stelle mich gerade hin und streiche mir die Haare aus dem Gesicht. »Mir ist bloß ein bisschen schwindlig, tut mir leid.«

»Geht es Ihnen jetzt besser?«, erkundigt sich die Frau mit besorgtem Gesicht. Ich sehe, dass sie eine Schürze umhat, und plötzlich erkenne ich in ihr die Frau, die mir vorhin in der Bäckerei den Kaffee gebracht hat. Es ist mir unglaublich peinlich, dass sie mich so gesehen hat.

»Ja, alles klar, danke, gut«, wiederhole ich bestimmt. Mitleid kann ich im Moment überhaupt nicht ertragen, schon gar nicht von Fremden. Es macht alles nur noch schlimmer, als wären mir all meine Probleme mitten im Gesicht geschrieben, damit alle sie sehen können, selbst irgendwelche Leute, die mir gerade über den Weg laufen. Ich hole meine Sonnenbrille aus der Manteltasche und setze sie auf. Ich habe das schlimme Gefühl, ich könnte jeden Moment zu heulen anfangen, und kann den Gedanken nicht ertragen, sie könnte gleich Zeugin meines Zusammenbruchs werden.

»Das ist ja ein süßer kleiner Labradoodlewelpe, den Sie da haben«, sagt sie. Ich bin dankbar für ihren Versuch, das Thema zu wechseln, aber ich wünschte, sie würde mich einfach in Ruhe lassen. Die gestrichenen Holzleisten der Bäckereiaußenmauer hatten sich an meiner Stirn angenehm kalt und stabil angefühlt. Irgendwie tröstlich. Ich hätte mich noch eine Weile dort anlehnen können.

»Sie ist ein Irish Water Spaniel«, sage ich automatisch. Ich weiß auch nicht, warum ich immer alle korrigieren muss –als ob es Minnie interessieren würde, für welche Rasse man sie hält. Matt würde jetzt sagen, das liege daran, dass ich immer recht behalten müsse. Vielleicht ist das so.

»Die ist ja echt niedlich«, sagt die Frau und bückt sich, um sie zu streicheln. Minnie räkelt sich vor Freude über die Aufmerksamkeit. Sie rollt sich auf den Rücken und präsentiert ihren dicken, runden Bauch. »Wie alt ist sie denn?«

»Fünf Monate«, antworte ich. Bevor sie noch mal ihren Mund aufmachen kann, weiß ich schon, was ihre nächsten Worte sein werden: Wie heißt sie denn? Ach, was für riesige Pfoten sie hat! Wird sie noch viel größer?

In London hat es Tage gegeben, an denen ich genau dieses Gespräch fünf- oder sechsmal geführt habe. Und ich bin dankbar dafür gewesen, denn das war alles, was ich den ganzen Tag sagte, bis Matt nach Hause kam. Und wenn er nicht nach Hause kam? Tja, dann sprach ich stattdessen nur mit Minnie. Armer Hund. Manchmal habe ich mich auch gefragt, ob sie hinter dem begeisterten Hundegesicht nicht so etwas dachte wie: »Kann die auch irgendwann mal die Klappe halten?«

Aber die Frau wechselt urplötzlich wieder das Thema.

»Sind sie nicht die Schwester von Prue?«, fragt sie und sieht zu mir hoch.

»Ja, ich bin Kate«, räume ich leicht hochmütig ein. Prue ist acht Jahre jünger als ich. Ich ziehe es vor, sie als meine Schwester zu betrachten, statt mich als ihre. Vielleicht ist das bloß ein kleiner Unterschied, aber einer von denen, die unter Geschwistern eine ziemlich große Rolle spielen.

»Hab ich’s mir doch gedacht«, sagt die Frau lächelnd. »Sie sehen genauso aus wie sie. Ich bin übrigens Cathy. Eine Freundin Ihrer Mutter. Ihr sehen Sie auch sehr ähnlich.«

Es ist schon komisch, dass mich die Leute in London an meinem ungewöhnlich weißblonden Haar erkennen, das mir bis zur Mitte des Rückens geht und noch nie mit Haarfärbemittel in Berührung gekommen ist. Meine Haare sind die eine Sache, die mich aus der Menge hervorstechen lassen, was hilfreich ist, wenn man bloß knapp eins sechzig groß ist. Aber hier sind sie bloß einfach das Merkmal dafür, dass alle mich als eines der Bailey-Mädchen erkennen können. Da gibt es kein Entkommen; es ist fast so, als würde ich ein Schild mit meinem Namen, Alter und meiner Familiengeschichte durch die Gegend tragen.

Als Teenager konnte ich keinen Fuß in einen örtlichen Pub setzen, ohne dass man mich nicht sofort als Sandys minderjährige Tochter identifizierte und mich übereifrig nach draußen beförderte. Und obwohl ich mittlerweile alt genug bin, um offiziell trinken zu dürfen, könnte ich es sicher nicht tun, ohne dass sich jemand zu meinen familiären Wurzeln äußern würde.

»Ach ja, richtig«, sage ich. »Natürlich. Wie schön, Sie zu sehen, Cathy.«

Sie hört auf, Minnie zu streicheln, und steht auf. Dann stemmt sie die Hände in die Hüften und betrachtet mich von oben bis unten. »Sandy sagt, Sie kommen so gut wie nie nach Lyme. Sind sie hier auf Urlaub?«

»Sozusagen«, antworte ich steif. Ich hoffe, sie versteht den Wink und lässt mich zufrieden. Muss sich denn jeder in Lyme für mein Privatleben interessieren? »Ich nehm bloß eine kleine Auszeit, Sie wissen ja sicher, wie das ist.«

Plötzlich gerät ihr Lächeln ins Wanken. Offensichtlich ist ihr wieder eingefallen, was mich wirklich nach Hause geführt hat. Wissen etwa alle Bescheid? Hat es vielleicht eine Art öffentliche Bekanntmachung in der Lokalzeitung gegeben? »Kate Martell, geborene Bailey, die sich vor Jahren in ein glamouröses Leben in ›dieses London‹ geflüchtet hat, ist in Unehren wieder nach Lyme zurückgeschlichen gekommen, nachdem ihre Ehe und ihre Karriere gescheitert sind.«

»Tja, ich geh dann besser mal wieder rein«, sagt Cathy und wirft einen raschen Blick auf ihre Uhr. Sie startet noch mal den Versuch eines strahlenden Lächelns, als würde es das besser machen. »Ich wollte bloß sichergehen, dass Sie hier draußen in Ordnung sind.«

Ich lächle höflich; darin bin ich gut. Den Anschein wahren, dass alles super ist.

»Danke«, sage ich.

»Ganz herzliche Grüße an Ihre Mutter und Prue«, ruft sie noch, als sie sich umdreht und in die Bäckerei zurückstürmt. Ich hoffe, dass sie dort heißen Tee über diese tratschenden alten Schachteln verschüttet, die hinter mir gesessen haben.

»Mmm«, murmle ich unverbindlich, auch wenn sie schon zu weit weg ist, um meine Antwort zu hören.

Um Prue die herzlichen Grüße auszurichten, müsste ich erst mal mit ihr reden, und bisher scheine ich nicht dazu in der Lage zu sein, ohne mich mit ihr zu streiten. Ich frage mich, ob ich schon so verbittert geworden bin, dass ich mit keinem mehr sprechen kann, ohne dass es in einem Streit endet. Andererseits waren wir schon immer so; ich sollte also nicht erwarten, dass es jetzt plötzlich anders wäre, auch wenn fünfzehn Jahre vergangen sind, seit wir in derselben Stadt gewohnt haben.

Dies hier ist Lyme. Veränderungen finden hier in geologischem Tempo statt; für das menschliche Auge nicht erkennbar. Alles ist genau so, wie es immer war, und das ist für mich auch genau das Problem.

3

Minnie zerrt mich weiter in Richtung Strand, in die entgegengesetzte Richtung zum Bungalow. Ich kann es ihr nicht verübeln, dass sie nicht wieder nach drinnen will, aber wir können nicht den ganzen Tag ziellos in der Stadt herumlungern. Um ehrlich zu sein, haben wir schon seit wir hier sind absolut kein Ziel. Daher ist es umso wichtiger, den Leuten aus dem Weg zu gehen, die das sofort meiner Familie stecken würden. Also zerre ich Minnie zurück zu dem Weg entlang des Flusses.

Irgendwie schäme ich mich für mein Leben, das so offensichtlich aus reinem Müßiggang besteht. In London war es noch nicht so schlimm gewesen, denn da war niemand, der sich darüber das Maul zerreißen konnte, was ich den ganzen Tag so allein trieb. Zwar fragte mich der türkische Ladenbesitzer manchmal demonstrativ »Na, stressiger Tag?«, wenn ich mir die Zeitungsschlagzeilen durchlas, ohne etwas zu kaufen, aber es fiel mir nicht schwer, ihn zu ignorieren. Außerdem wurde er netter, seit ich Minnie hatte – ab diesem Moment konnte ich die Zeitschriften je nach Lust und Laune durchblättern, solange sie auf seinem Schoß saß und sich mit Pitabrot füttern ließ. Doch gestern bemerkte meine Mutter behutsam, dass ihre Freundin – Cathy, wie mir nun bewusst wird – mich fast jeden Vormittag in der Town Mill Bakery gesehen hätte. Definitiv eine offene Kritik an meinem Verhalten!

Ich weiß, dass frühstücken in einer Bäckerei in den Augen meiner Mutter eine ebenso sinnlose Verschwendung darstellt wie das Verschlingen eines mit Butter und Marmelade bestrichenen Fünfdollarscheins. Außerdem symbolisiert es den Untergang des Familienverbundes. Und das, wo doch alle ihre Mahlzeiten gemeinsam und in glücklicher Harmonie einzunehmen haben. Doch da für mich und Minnie sowieso kein Platz unter ihrem Dach ist, sehe ich keine Beeinträchtigung des Sozialgefüges von Lyme Regis, ob ich nun allein in Grannys Bungalow oder allein in einem Café frühstücke. Auch wenn nicht von der Hand zu weisen ist, dass meine Ersparnisse mit jedem teuren Croissant schwinden.

Trotz meiner miesen Stimmung muss ich zugeben, dass es ein herrlich milder Vormittag ist. Ein weiches Licht liegt auf den sich verfärbenden Blättern, die über dem Wasser hängen. Eine Entenfamilie drängt sich, quakend und mit den Schwänzchen wackelnd, auf einer engen steinigen Sandbank in der Mitte des Flusses zusammen. Ich hätte etwas von dem Croissant aufheben sollen, um es ihnen hinzuwerfen; morgen werde ich daran denken. Lyme ist schön an einem Morgen wie diesem. Es ist etwas kühl, sodass ich mich in meinen Parka kuschle, aber warm genug, dass ich herumtrödeln und in die Gärten spähen kann, die an den Wassergraben Richtung Mühle angrenzen. Im Gras liegen heruntergefallene Äpfel, die nur darauf warten, aufgesammelt zu werden, und schwere Hagebutten ziehen die dornigen Triebe nach unten. Ich fühle mich ein bisschen wie D.H. Lawrence, während ich diese ganze Fruchtbarkeit und die üppige Reife der Früchte bewundere.

Ich sollte all dies genießen. Ich könnte genauso gut im Büro oder einem Meeting festsitzen. Das ist Freiheit. Also sollte ich mich glücklich schätzen, hier zu sein, anstatt mich wie im Exil zu fühlen, als hätte man mich aus dem Leben, das ich zurückgelassen habe, vertrieben. Vielleicht bin ich dazu verurteilt, für immer allein durch die Straßen zu laufen, während tratschende Einheimische düstere Bemerkungen über meine Vergangenheit machen. Ich könnte selbst zu einer Touristenattraktion werden. »Die Geliebte des Marketingleiters« oder so. Klingt doch nach einem griffigen Titel, oder nicht? Aber »Die in Trennung lebende, bald von ihm geschiedene Ehefrau des Marketingleiters« klingt jetzt nicht so, als könne sie der Geliebten des französischen Leutnants von John Fowles groß Konkurrenz machen. Auch wenn es schon immer mein Traum war, in einen raschelnden Umhang gehüllt herumzulaufen.

Wir haben das Ende des Uferwegs am Fluss erreicht. Er mündet in eine Brücke, die uns zwei Möglichkeiten bietet: In der einen Richtung gelangen wir zurück in die Stadt, die andere führt den Hügel hinauf in Richtung Granny Gilberts Bungalow. Minnie schaut mich an, unsicher, welchen Weg sie einschlagen soll. Da haben wir beide etwas gemeinsam, denke ich. Doch dann entscheiden wir uns für den Weg, den wir meistens nehmen; den, der zum Bungalow zurückführt. Den Weg, der keine bösen Überraschungen bereithält.

Es hat seine Gründe, warum sich die Touristen nicht die Mühe machen, den Hügel zu erklimmen. Dort, wo Granny Gilberts Sechzigerjahre-Bungalow auf die ebenso reizlosen Nachbarhäuser mit ihren öde gepflasterten, pflegeleichten, rollstuhlgerechten Vorgärten trifft. Vor den kastenförmigen verglasten Veranden posiert niemand für Familienfotos; keiner hält an, um den dürftigen, langsam verwelkenden Farn in Grannys Wohnzimmerfenster direkt neben dem Aufkleber der Neighbourhood Watch zu bewundern. Niemand schlendert durch diese Straßen von Lyme Regis und träumt davon, seinem Hamsterrad zu entkommen und ein neues Leben in dieser trostlosen Sackgasse zu beginnen. Das wird auch der Grund sein, warum Granny Gilberts Haus bereits seit über einem Jahr zum Verkauf steht, ohne dass auch nur ein Angebot eingegangen ist. Das Schild des Immobilienmaklers verleiht dem Bungalow einen noch trostloseren Anschein – wie das Plakat eines Zirkus, der die Stadt schon längst verlassen hat.

Es ist die Art von Haus, für das man sich nicht aus Optimismus, Begeisterung oder weil man die Wahl hat entscheidet, sondern aus einem Kompromiss heraus. Hierher zieht man, weil die Familie sich Sorgen macht, dass man auf der Treppe stürzen könnte und weil man den vielen Platz ganz allein sowieso nicht mehr braucht. Oder eben weil man sich von seinem Mann getrennt hat und nicht weiß, wohin man sonst gehen soll. Eigentlich sollte ich dankbar für diesen Unterschlupf sein. Bin ich auch. Immerhin ist es ein Ort, an dem ich kostenlos wohnen kann. Aber es fällt mir schwer, diesen Umzug als den von mir geplanten Neustart zu betrachten. Ich fühle mich ziemlich weit entfernt von der glamourösen Geschiedenen à la Liz Taylor. Stattdessen komme ich mir eher wie die alternde Liz Taylor vor, die an den Rollstuhl gefesselt und mit Michael Jackson befreundet ist.

Die Eingangstür öffnet sich mit einem Schmatzen des Isoliergummis; Granny Gilbert legte Wert darauf, dass ihr Haus gegen jeden noch so kleinen Zug hermetisch versiegelt ist. Ich würde sogar behaupten, sie war eine frühe Umweltschützerin, wenn sich da in ihrem Schrank unter der Spüle nicht der weltgrößte Vorrat an Sprühdosen befände, mit denen jede erdenkliche Oberfläche zum Glänzen gebracht werden konnte. Obwohl ich seit meiner Ankunft jeden Tag großzügig gelüftet habe, riecht das Haus noch immer nach Chemikalien. Minnie und ich müssen jedes Mal niesen, wenn wir den Hausflur betreten.

Ich eile gleich zur Hintertür und reiße sie weit auf. Granny Gilberts Garten ist nichts Besonderes. Er besteht bloß aus einer quadratischen Terrasse, umgeben von ein paar kümmerlichen Rosenbüschen, die Mum bis auf den Stumpf zurückgeschnitten hat. Trotzdem erstaunt mich der Ausblick jedes Mal aufs Neue – wie wenn man durch den Kleiderschrank nach Narnia kommt. Getäuscht durch das trostlose Innere des Bungalows, erwartet man einfach nicht, einen Anblick zu bekommen, der direkt aus einem Landschaftsaquarell zu stammen scheint. Der Hügel, der zur Stadt hin sanft abfällt, die Straßen, die sich so klar abzeichnen wie auf einer Landkarte, und dahinter erstreckt sich bis zum Horizont das flache graue Meer, das leuchtet und glitzert, wenn die Sonne durch die Wolken bricht. Rechts versperren einige Häuser weiter oben am Hügel den Blick auf das berühmte, durch Erdrutsche entstandene Undercliff von West Dorset. Doch linker Hand folgt der Blick der Erhebung des Kliffs, vorbei an Black Ven und Stonebarrow bis zum Golden Cap, dem höchsten Punkt an der Südküste Englands, dessen sandige Spitze sich gelblich leuchtend gegen den dunklen Himmel abzeichnet.

Ich spüre, wie mein Herz einen Sprung macht; es ist schon seltsam, was so ein Ausblick alles in einem auslösen kann. Vielleicht ist das eines der Dinge, die passieren, wenn man älter wird. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich auch schon diese Ehrfurcht vor der Landschaft empfunden hätte, als ich Granny Gilbert als Kind hier besuchte – damals interessierte mich hauptsächlich der Schrank mit den Keksen–, aber jedes Mal, wenn ich jetzt in den Garten hinaustrete, verstehe ich, warum jemand freiwillig in einen dieser reizlosen, hässlichen Bungalows ziehen kann. Wenn man erst einmal drin ist, muss man ihn schließlich nicht mehr sehen, und vom Garten aus hat man das Gefühl, als schwebe man über der Stadt.

»Sandy, Liebes? Bist du das?«

Minnie zuckt, als eine Stimme durch die Rosensträucher dringt. Sie kommt angefetzt und versteckt sich hinter meinen Beinen.

»Hallo?«, sage ich zu dem Gebüsch. »Ich bin nicht Sandy, sondern ihre Tochter Kate.« Ich habe noch keinen einzigen Nachbarn getroffen, um ehrlich zu sein, ist mir das ganz recht. Ich wollte Augenkontakt vermeiden, um zu verhindern, in ein Gespräch verwickelt zu werden. Ich möchte lieber nicht allen in Lyme meine persönliche Situation erläutern müssen.

Ich höre das schroffe, schabende Geräusch von etwas Metallischem, das über Pflastersteine gezogen wird, und dann ein dumpfes Ächzen. Zwei knorrige Hände mit feuerroten Fingernägeln ergreifen entschlossen die obere Kante des Zauns. Hinter ihnen taucht, wie die Sonne am Horizont, eine orange Badekappe mit einer üppigen Verzierung aus Gummiblättern auf. Und schließlich ein Gesicht, so faltig und gebräunt, dass es an die Konsistenz von Trockenfleisch erinnert, in dem zwei dunkle Augen funkeln.

»Also, du bist Kate! Wie schön! Und wie ähnlich du deiner Mutter siehst! Ich hätte dich überall erkannt.«

»Hallo«, sage ich und will mich gerade nach ihrem Namen erkundigen, als ein klapperndes Geräusch zu vernehmen ist und die Schwimmkappe wieder aus meinem Blickfeld verschwindet. Einen Moment lang klammern sich die Finger noch oben an den Zaun, sodass die Knöchel vor Anstrengung weiß hervortreten, und dann verschwinden auch sie. Ich höre ein beunruhigendes dumpfes Geräusch, von etwas Weichem, das auf etwas Hartem landet.

»Sind Sie okay?«, rufe ich über den Zaun, aber es kommt keine Antwort. »Scheiße«, zische ich leise. »Du bleibst hier, Minnie«, sage ich und haste zurück durchs Haus und hinaus auf die menschenleere Wohnstraße. Keine Gardine bewegt sich. Niemand, den man um Hilfe bitten könnte.

Ein hohes Holztor versperrt den Zugang zum Garten nebenan, und es ist abgesperrt. Ich versuche, durch die Latten zu spähen, aber sie sind zu eng beieinander, als dass man irgendetwas sehen könnte. Mir schlägt bloß der Geruch von Teeröl ins Gesicht. Aus Granny Gilberts Garten kann ich Minnies spitzes, ängstliches Bellen hören.

Ich rüttle an dem Metallriegel und rufe noch einmal: »Hallo? Hallo, sind Sie in Ordnung?«

Dann höre ich ein leises Ächzen hinter dem Tor – was wenn die alte Dame mit aufgeschlagenem Kopf auf dem Pflaster liegt? Weiß Gott, was Neighbourhood Watch davon halten würde, aber ich kann sie da ja nicht einfach liegen lassen. Ich gehe ein paar Schritte zurück und nehme Anlauf, um über das Tor zu springen, das eindeutig zu dem Zweck entworfen wurde, genau das zu verhindern. Anstatt es zu überwinden, hänge ich mit den Fingerspitzen an seiner oberen Kante, meine Füße treten auf der Suche nach Halt gegen das Holz, jedoch ohne Erfolg. Wenn das so weitergeht, liegen bald zwei von uns bewusstlos vor diesem Bungalow herum.

Aber, warte, ist das da hinten am Ende der Einfahrt eine Recyclingbox? Die sind doch ziemlich stabil, oder? Ich zerre sie zum Tor und versichere mich, dass der Deckel festsitzt, bevor ich mich draufstelle. Sie ist gerade hoch genug, um mich auf das Tor zu stemmen und ein Bein drüberzuschwingen, sodass ich oben auf dem Tor zum Sitzen komme. Von diesem neuen Aussichtspunkt aus kann ich in den Nachbarsgarten sehen. Eine umgekippte Trittleiter liegt auf den Pflastersteinen, aber die alte Dame ist nirgends zu sehen. Sie scheint außerhalb meines Blickfelds hinter dem Haus zu liegen; sie muss ziemlich schwer verletzt sein, wenn die kippende Leiter sie so weit geschleudert hat.

Als ich gerade das andere Bein nachziehen und in den Garten springen will, beginnt das Tor bedenklich zu wackeln, als würde es gleich nachgeben. Noch bevor ich mich auf die andere Seite schwingen kann, packt mich eine Hand am Bein, und eine Männerstimme fragt: »Hätten Sie vielleicht die Güte, mir zu erklären, warum Sie in das Haus meiner Großmutter einbrechen?«

Ich muss mich so drauf konzentrieren, nicht vom Tor zu fallen, dass ich nicht mal richtig nachsehen kann, wer mich da am Bein festhält. »Ich will ja gar nicht … ich wollte nicht … ich glaube, sie ist im Garten gestürzt. Die Leiter – die Leiter«, stammle ich wirr.

»Was geht hier vor?«, fragt eine mürrische Stimme.

Die Schwimmkappe ist weg und hat einen feuchten, dünnen Haarschopf zum Vorschein gebracht, der an den Flaum eines frisch geschlüpften Kükens erinnert. Und jetzt sehe ich auch, dass nicht nur ihr Gesicht gebräunt ist. Die alte Dame hat die Farbe von poliertem, dunklem Mahagoni, eine Siebzigerjahre-Farbe, die man in der heutigen Zeit von Lichtschutzfaktoren und Hautkrebs-Risikowarnungen kaum noch sieht. Ich frage mich, ob die Bräune echt sein kann, aber sie wirkt viel zu robust, um sich mit Selbstbräuner oder Sonnenbänken abzugeben.

»Sind Sie in Ordnung?«, frage ich sie. »Es klang, als seien Sie … ich dachte, sie wären gestürzt, ich wollte bloß nachsehen …«

Die alte Dame klingt verärgert, ihre Augen blitzen mich an. »Im Garten, gerade eben?«, fragt sie. »Ich bin bloß abgerutscht. Kein Grund zur Sorge, das kann ich dir versichern.«

»Oh, es war nur, weil Sie so plötzlich weg waren«, sage ich und klammere mich noch immer mit den Knien am Tor fest. »Als wir uns unterhalten haben. Ich hab mir Sorgen gemacht, als Ihre Badekappe so plötzlich hinter dem Zaun verschwunden ist.«

»Badekappe?«, fragt der Mann stirnrunzelnd.

»Ich hatte keine Badekappe auf!«, widerspricht die alte Dame energisch. Sie wirft mir einen eindringlichen Blick zu.

»Sag bloß, du warst heute Morgen wieder schwimmen?«, hakt der Mann nach. Dabei stemmt er die Hände in die Hüften und blickt sie vorwurfsvoll an. »Ich dachte, wir hätten uns darauf geeinigt, dass du nur gehst, wenn ich dich begleite.«

»Also wirklich, ich bin doch keine hilflose, kleine alte Frau«, protestiert die kleine alte Frau und macht eine wegwerfende Handbewegung in unsere Richtung. »So viel Lärm um nichts.«

Jetzt, wo der Mann mein Bein losgelassen hat, sehe ich meine Chance gekommen herunterzuklettern. Es gibt keine elegante Art, sich rückwärts von einem ein Meter achtzig hohen Tor hinunterzuwuchten, so viel kann ich sagen. Ich kann bloß froh sein, dass ich eine Jeans anhabe und keinen Rock, auch wenn ich mir jetzt wünschte, es wäre keine so enge; mein Hintern muss riesig aussehen, während ich so über dem Tor hänge und meine Füße auf halber Höhe nach der Recyclingbox unter mir tasten.

Plötzlich verstummen die Stimmen hinter mir. Ich spüre Hände an meiner Taille und werde auf den Boden gehoben.

»Danke«, nuschle ich spröde in dem Versuch, meine Würde zurückzugewinnen.

Bei der ganzen Kraftanstrengung sind meine Haare ganz durcheinandergeraten. Ich streiche sie mir aus dem Gesicht, um nicht wie eine Einbrecherin, die Senioren ausraubt, auszusehen.

»Nee, oder?«, sagt da der Mann, während sich langsam ein Lächeln in seinem Gesicht breitmacht. Er steht viel zu nah vor mir.

»Kate Bailey, ich fass es nicht!« Ich wurde seit zwei Jahren nicht mehr Kate Bailey genannt und will ihn schon korrigieren – immerhin heiße ich jetzt Kate Martell –, aber ich verkneife es mir, als mir klar wird, dass ich im Moment keine Ahnung habe, wie ich mich nennen soll. Vielleicht nehme ich ja meinen Mädchennamen wieder an, aber das weiß ich noch nicht so genau.

»Tut mir leid, ich erinnere mich nicht …«, fange ich an.

»Oh, ja klar.« Er lacht und hakt sich bei seiner Großmutter unter. Sie zupft an ihren trocknenden Strähnen herum und versucht, ihre Frisur wieder in Form zu bringen. »Die berühmte Kate Bailey hat alles aus Lyme vergessen, was?«

Ich sehe ihn mir genauer an. Ich bin mir sicher, ich würde mich erinnern, wenn ich diesen Mann kennen würde, er sieht nicht aus wie jemand, den man leicht vergisst. Er überragt seine Großmutter, sein dunkles Haar ist kurz geschnitten, und er hat eine markante Nase, die im Gesicht einer Frau die reinste Katastrophe wäre, aber seinem Gesicht Charakter verleiht. Sein Profil ist derart eindrucksvoll, wie das auf einer antiken Münze. Lachfältchen legen sich unter meinem prüfenden Blick um seine Augen. »Na, hat’s immer noch nicht Klick gemacht?«, fragt er großmäulig, doch ich merke, wie sein scheinbares Selbstvertrauen einen Moment ins Wanken gerät. Für einen Augenblick wirkt er viel jünger, und plötzlich weiß ich genau, wer er ist.

»Eddy Curtis? Dready Eddy?«

Plötzlich sehe ich ihn vor mir, wie er damals vor vielen Jahren aussah, als seine dunklen Haare noch zu dicken, verfilzten, nach Patschuli riechenden Dreadlocks gezwirbelt waren, die Seitenpartien abrasiert.

»Ich wusste, dass du am Ende noch draufkommst.« Er grinst und zieht dabei scheu den Kopf ein.

»Wahnsinn«, sage ich lachend, »du siehst total anders aus. Mann. Du hattest diese ganzen Haare …«

»Pfui, diese Haare«, rief seine Großmutter erschaudernd und verzieht bei der Erinnerung daran das Gesicht. »Absolut abscheulich.«

Er streicht sich reuevoll über den Kopf. »Sind nicht mehr so viele.« Mir fällt auf, dass sein Kurzhaarschnitt seine Geheimratsecken kaschiert. Aber wer hätte gedacht, dass Eddy hinter diesen schrecklichen Dreadlocks ein echter Hingucker ist. In meiner Erinnerung war er nicht mehr als ein schlaksiges, Joints drehendes Haarknäuel, das in einer Sommernacht, kurz bevor ich Lyme für immer verließ, eine Riesenparty schmiss.

»Die kurzen Haare stehen dir«, sage ich. Er fährt sich wieder über den Kopf, sichtlich verlegen. Ich merke, wie ich aus Mitgefühl leicht erröte, als hätte ich ihm hier auf der Einfahrt seiner Großmutter gerade ein eindeutiges Angebot gemacht, anstatt bloß einen laschen Kommentar über seine Frisur abzugeben.

Da meldet sich die alte Dame neben ihm zu Wort: »Kate, Liebes?«

Eddy und ich drehen uns beide zu ihr um und sehen sie an.

»Ich hoffe, du hältst mich nicht für unhöflich, weil ich nicht schon früher rübergekommen bin, um dir Guten Tag zu sagen. Aber ich hatte es ein bisschen mit der Lunge, weißt du.« Demonstrativ hustet sie ein Mal.

»Das kommt bloß von dieser Schwimmerei, Grandma«, sagt Eddy. »Ich hab dir gesagt, es wird Zeit, dass du damit aufhörst.« Sie wendet sich verärgert von ihm ab.

»Mach dich nicht lächerlich. Davon kann nicht die Rede sein. Das ist gut für den Kreislauf.«

»Bis sie dich wieder mit dem Krankenwagen abholen müssen …«

»Das war doch bloß ein Mal«, schnaubt Mrs. Curtis wütend und steckt trotzig die Hände in die Taschen ihrer Strickjacke. »Ich bin noch nicht tot, weißt du.«

Eddys Gesichtsausdruck wird weicher, und er streckt den Arm nach ihr aus.

»Hmm«, macht Mrs. Curtis und lässt ihn sich wieder bei ihr einhaken. Eddy verdreht die Augen zum Himmel, sodass nur ich es sehen kann.

Dieser Wortwechsel erscheint mir wie aus einem Drehbuch, als hätten die beiden genau dieses Gespräch schon oft geführt. Inzwischen ist es aber nur noch eine Art Geplänkel, eine Floskel ohne tiefere Bedeutung und frei von der Erwartung, dass einer von beiden sein Verhalten ändern wird.

Mrs. Curtis richtet ihr wachsames Auge auf mich und neigt ihren flaumigen Kopf vogelartig zur Seite. »Jetzt, wo es mir wieder besser geht, kommst du doch mal zum Tee rüber, oder? Oder wir könnten sogar auf ein Tässchen ins Café gehen?«

»Grandma«, sagt Eddy warnend. Ich frage mich, was er dagegen haben könnte, dass wir zusammen Tee trinken.

»Was?«, fragt sie ungehalten.

O Gott, würde ich jetzt von der ganzen Nachbarschaft vereinnahmt werden? Der Gedanke ließ mich erschaudern. In London kannte ich meine Nachbarn kaum, abgesehen von einem knappen Nicken zur Begrüßung oder zweimal pro Jahr einer Bemerkung über das Wetter oder die Unzuverlässigkeit der Müllabfuhr. Doch Eddys Großmutter scheint so begeistert von ihrer Einladung, dass ich unmöglich ablehnen kann. Ich muss ja nur einmal hin, rede ich mir selbst zu.

»Liebend gern«, lüge ich also, und sie strahlt mich glücklich an.

»Kate Bailey«, sagt Eddy kopfschüttelnd. Ich bin mir nicht sicher, ob er mit mir spricht oder mit ihr. »Kate Bailey ist wieder in der Stadt …«

»Eddy, mein Liebling, hast du meine Pillen dabei?«, unterbricht Mrs. Curtis seine Gedanken.

Eddy bejaht, dass er alles, worum sie ihn gebeten hat, dabeihabe, und bugsiert sie langsam in Richtung Haustür. »Komm, Grandma«, sagt er. »Hast du nicht was von ’ner Tasse Tee gesagt?«

»Oh ja, Schatz, eine Tasse Tee. Was für eine reizende Idee. Wie aufmerksam von dir, Junge.«

»Tschüs, Eddy«, sage ich. Ich fange an zu winken, aber es fühlt sich irgendwie dämlich und kindisch an, also lasse ich meine Hände wieder in den Jeanstaschen verschwinden. »Schön, dich wiedergesehen zu haben.«

Er blickt auf, während er seiner Großmutter die Stufen zur Haustür hinaufhilft.

Sein Lächeln ist fahrig; mit den Gedanken ist er bereits im Haus. »Ja, schön, dass wir uns wiedergesehen haben, Kate. Ich bin froh, dass du mich nicht ganz vergessen hast.«

Er schließt die Tür, aber ich kann noch immer ihre Stimmen hören; ihre hoch und fragend, seine ruhig. Er war schon immer der Typ, auf den man sich verlassen konnte, selbst als wir noch zur Schule gingen. Er war derjenige, der nüchtern blieb, um die anderen von einer Partynacht in Exeter nach Hause zu fahren; der Typ, der Kim Dearborn beruhigt hatte, als sie bei einer Strandparty auf einem schlechten LSD-Trip war. Für uns war Verlässlichkeit damals nichts Besonderes – Teenager stehen nicht auf solche Dinge. Es ist etwas, das man erst zu schätzen lernt, wenn unzuverlässige Männer einem übers Herz getrampelt sind.

Ich habe Eddy Curtis nicht vergessen. Natürlich nicht. Natürlich habe ich es versucht. Ich habe versucht, ganz Lyme zu vergessen.

Aber jetzt bin ich hierher zurückgekehrt, um alles andere zu vergessen.

4

Lagos, Nigeria

Während meiner Zeit bei Hitz Music Television habe ich ein Konzert der Red Hot Chili Peppers unter dem Arc de Triomphe in Paris organisiert. Ein Gewitter tobte, bei dem die Gefahr bestand, dass alle auf der Bühne durch einen Stromschlag getötet werden. Ich habe mich durch die deutsche Bürokratie gekämpft, um das Berliner Stadtzentrum absperren zu lassen, damit U2 am Brandenburger Tor spielen konnte. Inklusive eines über eine Million Euro teuren Feuerwerks, das von einem irren, kryptisch sichuanesischen Dialekt sprechenden Pyromanen abgefackelt wurde, für den wir zwei Übersetzer brauchten, um überhaupt mit ihm kommunizieren zu können. Ich musste Bondi Beach in Sydney von zwanzigtausend mit Pillen zugedröhnten Ravern räumen lassen, nachdem ein australisches Dance Festival außer Kontrolle geraten war. Kurz gesagt, ich war es durchaus gewohnt, mit einem gewissen Maß an dramatischen Ereignissen umzugehen. Aber noch nie zuvor hatte ich eine Veranstaltung organisiert wie den African Music Award.

Nach zwei Wochen in Lagos hatte ich mich langsam an das nigerianische Verständnis von Zeit gewöhnt, gegen das selbst das spanische Konzept von mañana ein Beispiel für schonungslose Pünktlichkeit zu sein schien. Nichts geschah dann, wenn es vorgesehen war. Und das nicht bloß wegen des höllischen Verkehrs, der es praktisch unmöglich machte, eine verbindliche Aussage darüber zu treffen, wie lange es dauern würde, von A nach B zu kommen. Ein Anruf von Leuten, die einem mitteilten, sie seien unterwegs, bedeutete, dass man irgendwann in den nächsten sechs Stunden mit ihnen rechnen konnte. »Sie verlassen noch heute Morgen den Veranstaltungsort« bedeutete »Macht euch darauf gefasst, dass ihr eure Ausrüstung nicht vor Mitternacht ausladen könnt«. »Wir stellen euch backstage einen VIP-Bereich für die Künstler zur Verfügung« bedeutete »Wenn ihr ankommt, werdet ihr merken, dass die Garderoben erst halb fertig sind und offene Kabel über einer großen Wasserpfütze inmitten des Raums von der Decke hängen«.

Mein Team und ich hatten zwanzig Stunden am Tag gearbeitet, um den Veranstaltungsort einigermaßen auf Vordermann zu bringen, verteilten Bestechungsgelder in dicken Bündeln aus kunterbunten Banknoten, sorgten für Frieden zwischen dem mürrischen südafrikanischen Sicherheitspersonal und der örtlichen Crew, um nachts um zwei ins Bett zu fallen, nachdem wir aus medizinischen Gründen an der Hotelbar flaschenweise Star Beer in uns hineingeschüttet hatten.

Und nun war natürlich das Hitz-Management angereist, wie die Kavallerie in letzter Sekunde, um all den Ruhm abzusahnen, ohne sich auch nur im Geringsten an der ganzen Schufterei beteiligt zu haben.

»Ich habe einen Löffel in diesen braunen Fraß gesteckt, und alle haben mich mit ihren verdammten Glupschaugen angestarrt«, jammerte Dean, unser leitender Künstlerbetreuer, als er sich auf einen Stuhl im Konferenzraum niederließ.

»Abgefahren«, sagte seine Assistentin Leila anspornend.

»’n scheiß Fischkopfcurry, haben sie gesagt«, fuhr Dean, froh über das Publikum, fort. »Fischköpfe! Und nicht bloß Augen – Zähne! Ich kam mir vor wie Indiana Jones in Der Tempel des Todes oder so.«

Ich wagte es nicht, jemanden mir gegenüber am Tisch anzusehen, sonst hätte ich einen Lachanfall bekommen. Die Vorstellung, dass sich der korpulente Dean mit seiner Wampe, die fast die Hemdknöpfe sprengte, und den riesigen Schweißflecken unter den Armbeugen mit Harrison Ford verglich, konnte ich später noch in der Bar auskosten.

»Ja, Mann, aber ich glaube, Der Tempel des Todes spielt in Indien«, gab Dumpfbacke Leila zu bedenken, die bei uns allen auch als Fräulein Uferlos bekannt war, vor allem aufgrund ihrer verblüffenden Fähigkeit, sich auf das unwichtigste Detail eines jeden Gesprächs zu stürzen. »Und wir sind doch hier in Afrika, oder?«

Ihre großen Augen flackerten kurz, als wäre sie sich da plötzlich nicht mehr ganz so sicher – am Ende war das hier ja vielleicht gar nicht Afrika. Man munkelte, dass Dean sie bloß deshalb im Team behielt, weil sie überall auf der Welt Drogen auftreiben konnte … um dann die meisten davon selbst einzuwerfen. Ich nickte ihr zur Bestätigung zu – ja, du bist in Afrika –, und sie wirkte erleichtert.

»Das weiß ich, Leila, danke«, schnauzte Dean und zog sich sein Hemd über dem Bauch herunter. Meiner Meinung nach würde es ihm gar nicht schaden, eine oder zwei Mahlzeiten auszulassen.

»Kate«, bellte Richard, unser Boss, der soeben den Raum betreten hatte und sein Klemmbrett auf den Tisch knallte, sodass wir alle hochschreckten und in Habachtstellung auf unseren Stühlen saßen. »Fischköpfe. Regle das.«

Ich nickte und setzte es gedanklich auf meine stetig länger werdende Liste von Dingen, die ich noch zu regeln hatte, bevor die Show morgen losging. Ich hätte mich schon früher darum gekümmert, wenn ich es gewusst hätte. Allerdings hatte ich mich seit meiner Ankunft ausschließlich von Chips und Hotelsandwiches ernährt, daher waren mir die örtlichen Delikatessen bisher entgangen.

ENDE DER LESEPROBE