Der Bote - Ingar Johnsrud - E-Book
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Der Bote E-Book

Ingar Johnsrud

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Beschreibung

Zwei rätselhafte Mordfälle, ein zwanzig Jahre zurückliegendes Verbrechen – und ein Mann, der eine grausame Rache plant ...

In einer Villa in einem reichen Vorort Oslos wird die Leiche eines kürzlich verstorbenen Mannes gefunden. Von der Bewohnerin des Hauses, einer alten Witwe, fehlt jede Spur. Der Tote wird als ihr Sohn identifiziert – der vor zwanzig Jahren bei einem Militäreinsatz ums Leben kam. Kurz darauf entdeckt man am anderen Ende der Stadt eine zweite Leiche. Der Körper des unbekannten Mannes weist schwere Folterspuren auf. Hauptkommissar Fredrik Beier glaubt an eine Verbindung zwischen den beiden Fällen, doch irgendjemand scheint verhindern zu wollen, dass diese ans Licht kommt – Akten werden gesperrt, Beweismittel verschwinden …


Alle Bände der Fredrik-Beier-Reihe
Der Hirte (Bd. 1)
Der Bote (Bd. 2)
Der Verräter (Bd.3)

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Seitenzahl: 647

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Buch

In einer Villa in einem reichen Vorort Oslos wird die Leiche eines kürzlich verstorbenen Mannes gefunden, von der Bewohnerin des Hauses, einer alten Witwe, fehlt jede Spur. Der Tote wird als ihr Sohn identifiziert – der vor zwanzig Jahren bei einem Militäreinsatz ums Leben kam. Kurz darauf entdeckt man in einem Abwasserschacht am anderen Ende der Stadt eine zweite Leiche. Der Körper des unbekannten Mannes weist schwere Folterspuren auf. Hauptkommissar Fredrik Beier glaubt an eine Verbindung zwischen den beiden Fällen, doch irgendjemand scheint verhindern zu wollen, dass diese ans Licht kommt – Akten werden gesperrt, Beweismittel verschwinden …

Autor

Ingar Johnsrud, Jahrgang 1974, wuchs in Holmestrand auf. Er studierte Film- und Medienwissenschaften und arbeitete fünfzehn Jahre als Journalist bei einem der größten norwegischen Medienunternehmen. Sein erster Roman Der Hirte wurde als bestes Krimidebüt für den Maurits Hansen Prisen nominiert und eroberte die internationalen Bestsellerlisten. Der Bote ist der zweite Thriller um den Osloer Ermittler Fredrik Beier.

Von Ingar Johnsrud bereits erschienen

Der Hirte · Der Bote

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Ingar Johnsrud

Der Bote

Thriller

Deutsch von Daniela Stilzebach

Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel »Kalypso« bei Aschehoug & Co., Oslo.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

1. Auflage

Copyright der Originalausgabe © Ingar Johnsrud 2016

Published by agreement with Salomonsson Agency

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2018 by Blanvalet in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Leena Flegler

Umschlaggestaltung: © www.buerosued.de

Umschlagmotive: welcomia/Freepile; www.buerosued.de

WR · Herstellung: sam

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-18683-8V001www.blanvalet.de

Jedes Mal, wenn irgendwo auf der Welt ein neuer Impfstoff oder eine neue Behandlungsmethode entwickelt wurde, mussten wir in unseren Laboratorien eine Möglichkeit finden, die Wirkung zu konterkarieren.

Ken Alibek, früherer stellvertretender Direktor von Biopreparat, der Behörde für biologische Kriegsführung in der Sowjetunion (aus: Bioterror. Tod aus dem Labor. Ullstein, München 2001)

Teil 1

1

Oslo, acht Jahre zuvor

Es passiert jeden Sommer. Tagelang liegt eine derart tropische Hitze über dem Land, dass die Luft regelrecht vibriert. Der Asphalt schwitzt Öl, in der Straßenbahn zerfließen die Menschen, und der Norweger vergisst, wo er lebt, und verflucht die Hitze.

Im Winter wird Bilanz gezogen.

Es war so kalt, dass das Leder seiner Uniformjacke knirschte, als Fredrik Beier die Hand hob und an die Tür klopfte.

Hinter den Fenstern des gelb gestrichenen Holzhauses auf dem Galgeberg – einem Gebäude aus der Zeit, als die Stadt noch Kristiania hieß und Abwasser noch über die Straßen abgeleitet wurde –, versperrten breite Gardinen den Blick ins Innere. Rauch stieg aus dem Schornstein auf. Das Geschrei sei vor einer halben Stunde verstummt, hatten die Nachbarn erzählt.

Fredrik Beier warf einen Blick über die Schulter zu seinem Kollegen Andreas Figueras. Die Brille ruhte auf seinem Nasenrücken, und als er die Zunge in den Mundwinkel schob, schmolzen die kleinen Eisperlen in seinem Bart. Die Wohnung war von der Fürsorge zugeteilt worden. Hier wohnten eine russische Frau und ihr Sohn. Der Mann, vor dem sie geflüchtet waren, war der Vater des Jungen, ein Pharmazeut namens Peder Rasmussen.

Kein Name, dem man besondere Beachtung schenkte.

Der Knirps, der die Tür öffnete, erweckte nicht den Eindruck, als hätte er das Schulalter bereits erreicht, aber Fredrik wusste, dass er acht Jahre alt war. Als er den Blick hob, um den dunklen Korridor in Augenschein zu nehmen, schlug ihm Wasserdampf entgegen.

Andreas musste die Gestalt in der niedrigen Türöffnung zum Kinderzimmer bemerkt haben. Vermutlich hatte er auch vage den Revolver gesehen, den der Mann in Anschlag nahm, und er hatte geahnt, dass die dunklen Flecken auf dessen Hemd Blut waren. Dass der Dunst aus dem Badezimmer kam, in dem Wasser lief. Fredrik hingegen konnte gar nichts sehen. Der Dampf hatte sich auf seine Brillengläser gelegt, und als er die Hände hob, packte ihn eine starke Hand am Kragen und zerrte ihn zurück. Andreas’ Hand auf Fredriks Schulter verschwand, und ein Schlag mit dem Revolverschaft gegen die Schläfe beförderte Fredrik zu Boden.

Eine Tür schlug zu, er vernahm noch das pfeifende, verängstigte Luftholen des Jungen, bevor die Wände um ihn herum in sich zusammenfielen.

Feuchtigkeit. Ein klammer Film von der Stirn bis hinunter zum Hals, wo sein Uniformhemd spannte, und dann weiter den Rücken hinab. Nasse Füße in gefütterten Winterstiefeln. Mit einem schwachen Schluchzen schnappte er nach Luft, sog aber nur den dunklen Stoff des Wäschebeutels ein, der ihm über den Kopf gezogen worden war. Klaustrophobie ergriff von ihm Besitz. Er versuchte, nach etwas zu treten, aber seine Füße waren zusammengebunden. Und die Hände? Gefesselt, hinter seinem Rücken fest mit Klebeband umwickelt. Die steifen Fasern des Teppichs pikten ihm in die Finger. Er streckte sich, bäumte sich auf, drückte den Rücken durch. Beinahe wäre ihm schwarz vor Augen geworden, bevor es ihm endlich gelang, sich wieder zu sammeln. Ignorier die feuerroten Blitze vor deinen Augen, zähl, zähl langsam, halt die Luft an, atme ein, halt die Luft an, atme aus. Ruhig!

Der Revolvergriff musste ihn direkt am Haaransatz getroffen haben, denn von dort strahlte der Schmerz aus. Als er jetzt ruhig dalag, wurde der Schmerz erst heftiger, lockerte dann aber allmählich den Griff um seinen Schädel. Seine Lunge füllte sich, und er hatte wieder die Kontrolle über seine Atmung, die Kontrolle über seinen Körper, die Kontrolle über seinen Geist. Sein Puls verlangsamte sich.

Er spitzte die Ohren. Das Geräusch von Wasser, das aus einem Duschkopf auf Emaille traf. Und ein Summen. Er kannte das Lied. Popeye …

»I’m Popeye the sailor man, I’m Popeye the sailor man. Hmm mmm mmm mmm. I’m Popeye the sailor man. Toot toot!«

Ihm dämmerte, dass er in einem Flur lag, während der Angreifer im Bad rumorte. Seine Handgelenke fühlten sich klebrig an, und er fror. War er mit einem Messer attackiert worden? Dann bemerkte er etwas. Bei seinen hektischen Bewegungen hatte er die Muskeln angespannt, und Stück für Stück hatte sich das Klebeband gelockert. Durch den Dampf hatte der Leim seine Konsistenz verändert, war schmierig und weich geworden. Behutsam begann er, die Hände aneinanderzureiben.

»Vater? Ich glaub, sie kommen jetzt.«

Die helle Stimme kam vom anderen Ende des Flurs. Der Junge schien an der Tür zu stehen.

»Toot toot«, brummte die Männerstimme. »Hier rüber mit dir!«

Fredrik ertastete einen Sprung im Boden. Kurz darauf wurde er in Sitzposition gehievt. Der Mann stellte sich breitbeinig über ihn und riss ihm den Wäschebeutel vom Kopf. Fredrik spähte an den Blutstropfen auf seinen Brillengläsern vorbei.

Großer Gott.

Peder Rasmussen, der Pharmazeut, war älter als er selbst, kräftig, mit deutlich hervortretenden Muskeln von den Schultern bis zum Nacken. Sein Hemd hatte er ausgezogen. Die Brust war blutbefleckt. Er setzte sich rittlings auf Fredriks Oberschenkel. Dunkle, steif gegelte Haare über schielenden Augen. Vom Zahnfleisch zwischen Schneide- und Eckzahn perlte ein Blutstropfen. Er musste die Kiefer so fest zusammengepresst haben, dass die Zahnwurzeln nachgegeben hatten. Er hatte Fredriks Hemdkragen so fest gepackt, dass er kaum Luft bekam. In der anderen Hand schwenkte er seinen Revolver.

Fredrik lehnte mit dem Rücken an der Wohnungstür. Trotzdem spürte er, dass hinter den Gardinen etwas vor sich ging – womöglich weil Rasmussens Blick umherirrte.

»Ich blas dem Schwein den Schädel weg!«, schrie er. »Wenn ihr die Tür auch nur anfasst, dann blas ich ihm den Schädel weg!«

Die Mündung an der Stirn. Schweißgeruch, Mundgeruch, der Geruch von Pfefferminztee. Erstmals begegnete der Koloss Fredriks Blick. Fredrik suchte in seinen Augen nach dem Akademiker, dem Intellektuellen, der Peder Rasmussen angeblich sein sollte. Doch davon war nichts zu erkennen. In seinem Blick lag bloß der schiere Wahnsinn.

Die Zungenspitze wanderte zu dem Blutstropfen am Zahnfleisch, und ein rosaroter Film legte sich über den Eckzahn. Er schmatzte kurz, dann fauchte er: »Ich mein es ernst. Ich verspritze verdammt noch mal dein Hirn über diese verfluchten Hurensöhne, wenn sie sich nicht sofort vom Acker machen.«

»Vater … Seine Hände …«

»Peder Rasmussen!«, schrie jemand von draußen. »Peder Rasmussen?«

Ein kurzes Zögern. Jetzt musste es sein. Gott allein wusste, was diesem Irren einfallen würde, sobald er kapierte, dass Fredrik beide Hände freihatte. Er warf den Oberkörper nach vorn und griff nach der Hand mit dem Revolver. Erwischte das Handgelenk. Die Waffe krachte gegen die Wand. Fredrik packte den Kopf des Mannes und zog ihn zu sich heran.

»Jetzt!«, schrie er. »Er ist unbewaffnet! Macht schon!«

Die Stirn traf Fredrik direkt über der Nase, Blutgefäße platzten, trotzdem hielt Fredrik ihn fest, schnappte mit den Zähnen nach Haut, hämmerte mit den Fäusten auf die Ohren des Mannes ein, tastete nach dem Kehlkopf, biss zu. Schmeckte Blut.

Als die Tür mit einem Rammbock aufgebrochen wurde, kam das Geräusch aus weiter Ferne. Nicht aber die Stimme. Nicht die dünne, ängstliche Kinderstimme.

»Halt! Ich schieße!«

Die Erschütterung kam nicht von außen – sie kam aus seinem Inneren. Fredrik lockerte den Griff um Peder Rasmussens Kehle, und dessen Mund ging auf. Er legte den Kopf in den Nacken. Hustete Blut. Dann glotzte die Bestie ihn von oben herab an.

Zwischen ihnen und der Wohnungstür taumelte der Junge hin und her – die Knie zusammengepresst, die Arme nach oben gerissen. Die kleinen Hände, kreideweiß über dem Revolvergriff. In der Tür waren drei Beamte der Spezialeinheit aufgetaucht: schwarz gekleidet und maskiert, Waffen im Anschlag. Andreas war ebenfalls da. Die schusssichere Weste beulte die Uniformjacke aus.

»Wir gehen«, sagte einer der Männer. Ruhig. Seelenruhig. »Wir ziehen uns zurück, Junge. Nicht schießen. Ganz ruhig, wir werden euch nichts tun.«

In einer donnernden Vorwärtsbewegung hatten sie die Wohnung stürmen wollen. Als sie jetzt den Rückzug antraten, bewegten sie sich völlig still, rücksichtsvoll, vorsichtig.

»Erschieß die Schweine! Erschieß sie!«

Das Monster kreischte sich die Seele aus dem Leib – ein Schrei aus Wahnsinn, Gift und Galle.

»Nicht …«

»Vater …«

»Schieß!«

2

Gegenwart

Mit dem Herbst kam der Regen, mit dem Regen kam der Wind, und mit dem Wind kam das Laub.

Trotzdem hörte er nicht auf. Dieser Trottel schlurfte in einem fort dort unten zwischen den Grabsteinen herum und harkte. Zog die stumpfen Zinken seines Werkzeugs durch das herbstbraune Laub. Zupfte mit der Hand die Blätter von den Zinken und stopfte sie in einen Müllsack, den er mit sich herumschleppte.

»Arme Sau«, murmelte Mikael Morenius. Der goldglänzende Zigarettenfilter zischte, als er auf dem Asphalt landete. Als Mikael die Kippe zertrat, stellte er irritiert fest, dass die Nässe durch seine Lederschuhe hindurchgesickert war.

Die Schritte auf dem Parkplatz hinter ihm waren kurz und schleppend und wurden von einem heftigen Hustenanfall unterbrochen. Mikael drehte sich zu dem Neuankömmling um. Ein stämmig gebauter alter Mann, der sich am Dach eines Autos, eines heruntergekommenen blauen Fiat, abstützte und Schleim in ein Taschentuch hustete. Mikael wartete, bis das Röcheln nachgelassen hatte, bevor er zu ihm ging und ihm die Hand entgegenstreckte.

Der Alte starrte ihn bloß an. Griff dann nach Mikaels Hand. Anschließend setzten sie sich beide in den kreideweißen Mercedes.

»Tschjort«, stöhnte er heiser und presste sich das Taschentuch unter die Nase, während er am Fensterknopf herumhantierte. »Hier drinnen stinkt’s.« Sein russischer Akzent war nicht zu überhören.

»Ich rauche im Auto«, sagte Mikael.

»So was stört mich nicht …«

»Dann sind es die Katzenjungen.«

Mikael drehte den Zündschlüssel halb herum, damit die Fenster reagierten. Sein eigener Geruchssinn war kaum mehr der Rede wert. Er hatte ihn eingebüßt, als man ihm den Arm amputiert hatte. Niemand hatte ihm je erklären können, wie das eine mit dem anderen zusammenhing.

Der Russe öffnete das Fenster nur einen Spalt weit.

»Eine Katze hat den Motorraum zum Kreißsaal umfunktioniert. Die kleinen Teufel sind am Motorblock festgebacken«, erklärte Mikael.

Erst als die Innenraumbeleuchtung erloschen war, zog der Russe den Umschlag aus der Innentasche.

»Hier«, sagte er. »Der Beweis dafür, dass ich die Wahrheit sage.«

»Der Beweis«, wiederholte Mikael und nahm den Umschlag entgegen.

Mit seiner künstlichen Hand tastete er ungelenk an der Kante entlang, bis der Gegenstand herausrutschte. Er lag schwer in der Hand. Mit den Fingerspitzen strich er über die Rubine. Klopfte mit den Nägeln auf die funkelnde Goldfassung. Das Entenherz. Le Cœur de Canard.

Einen Moment lang blieben sie so sitzen und betrachteten die am Horizont vorbeiziehenden Wolken. Den unermüdlichen Kampf des einsamen Mannes gegen den Herbst. Mit einem Nicken reichte Mikael dem Russen das Telefon.

»Sie wartet.«

Der ehemalige Offizier schob die Autotür auf und stieg aus. Während er telefonierte, legte Mikael das Schmuckstück an. Richtete sich im Sitz gerade auf, um das Gewicht zu spüren, das kalte Metall und die Edelsteine auf der Brust. Der Verschluss der Goldkette, der seinen Platz zwischen den Nackenwirbeln fand. Endlich.

Der Russe hustete erneut, als er wieder einstieg. »Dann ziehen wir es mal nicht in die Länge …«

Mikael schüttelte den Kopf. »Wenn das, was Sie sagen, wahr ist … dann haben Sie eine Menge Menschenleben gerettet.« Seine Stimme nahm einen geschäftsmäßigen Ton an. »Wir werden Ihnen unseren Dank angemessen erweisen.«

Der BMW fuhr los, und der Mann zwischen den Gräbern hörte auf zu harken. Hob den Müllsack hoch und leerte ihn über dem Boden aus. Griff nach einem Gegenstand, der neben ihm am Boden gelegen hatte. Eine Eishacke. Regentropfen glitzerten auf dem Stahl. Noch während er am Schloss des Fiat herumhantierte, wiederholte er im Kopf das Kennzeichen des Mercedes.

3

Angstdämpfend. Beruhigend. Beunruhigend.

Atemfunktion. Lebenssituation.

Rikshospitalet.

Die Worte tickerten über die Fensterscheibe. Zeichneten sich darauf ab, bis die Regentropfen darauf ineinanderflossen. Zurück blieben nur nackte Baumkronen, eingraviert in Oslos dunkelgrauen Oktoberhimmel. Das Pflaster, das den Verband am Hinterkopf hielt, ziepte, als sich Polizeihauptkommissar Fredrik Beier widerwillig der Ärztin zudrehte.

»Ihre Blutprobe weist Spuren angstdämpfender Mittel und eine beträchtliche Menge schmerzstillender Medikamente auf. Und Alkohol. Viel Alkohol.«

Sie stand neben seinem Bett und hatte die Brille mit den rechteckigen Gläsern auf die Stirn geschoben. Während sie die Krankenakte überflog, strich die Ärztin mit einem rot lackierten Fingernagel an ihrem breiten Nasenrücken entlang. Sie sah ihn nicht mal an.

»Wichtig für Sie, Ihren behandelnden Arzt und Ihre …« Die Ärztin zögerte und sah die beiden Frauen an, die auf zwei klapprigen Stühlen in dem kleinen Krankenzimmer saßen. »… für Ihre Angehörigen ist jetzt, der Ursache auf den Grund zu gehen. Und Maßnahmen zu ergreifen, damit eine solche Situation nicht noch einmal eintritt.«

Durch das Reiben mit dem Fingernagel war ihre Nase mittlerweile ganz weiß.

»Hier, ein paar Informationen – über Depressionen und Suizidgefährdung.« Sie schob ein paar Broschüren unter seine Brille auf dem Nachttisch. Dann ging sie wieder.

Fredrik Beier hatte mal gehört, dass sich Patienten hier im Rikshospitalet die Kunst an der Wand selbst aussuchen durften. Er fragte sich, wer vor ihm in diesem Zimmer gelegen hatte. Wer bitte schön hatte sich für das Bild zweier breit grinsender Clowns entschieden, die auf einem Hochseil über eine Autobahn balancierten? Offensichtlich jemand, dem es noch schlechter ergangen war als ihm. Er versuchte, einen Scherz zu machen, klang aber nicht überzeugend.

Die Frau, die direkt unter dieser geschmacklosen Schmiererei saß, lächelte nicht einmal ansatzweise. Bettina, seine Lebensgefährtin. Sie starrte ihn lediglich an. Zog die Strickjacke enger um die Schultern, als würde sie frieren, und rollte einen Faden aus dem Ärmel zwischen ihren Fingern hin und her. Ihr dunkles Haar fiel ihr in die Stirn.

Die andere Frau ergriff als Erste das Wort. Alice, Fredriks Exfrau. Vor ihrer Wohnung hatten ihn die Rettungssanitäter aufgelesen. Dort hatte er gelegen, mitten auf der Stolmakergata im Stadtteil Grünerløkka, bis obenhin voll mit Medikamenten und Alkohol. Dort wohnte sie mit ihrem neuen Mann. Mit Erik.

»Tja … Also, was ist denn eigentlich passiert, Fredrik? Andreas meinte, du hättest völlig klar gewirkt, als ihr euch getrennt habt. Ist es …« Alices Stimme wurde weicher. »Fredrik, ist es wieder Frikk?«

Fredrik und Alice hatten zwei gemeinsame Kinder, Jacob und Sofia, beides Teenager. Sie hatten einmal drei gehabt. Frikk war bei einem Brand ums Leben gekommen, und die Trauer war bodenlos gewesen. Selbstverständlich. Aber inzwischen war viel Zeit vergangen. Dreizehn Jahre. Es war nun wirklich nicht mehr so, als würde er jeden Tag mit einem Herzen aufwachen, das erst aufgetaut werden musste.

Das Pflaster um seinen Verband ziepte erneut an den Haaren im Nacken, als er den Kopf schüttelte.

Was genau war da vor zwei Tagen passiert? Er wusste es nicht mehr. Das heißt – an eine Sache erinnerte er sich noch. Andreas und er hatten einen weiteren Fall von Kindesmisshandlung geklärt. Noch einen in der langen Reihe von Fällen häuslicher Gewalt, die in der Abteilung für Gewalt- und Sexualverbrechen im Polizeibezirk Oslo zu ihrem Alltag geworden waren. Wieder einmal hatte er das Revier mit einem klaffenden Loch in der Brust verlassen. Sie hatten sich gemeinsam auf den Weg gemacht, um noch etwas zu essen und ein Bier zu trinken. Sie hatten gegessen, getrunken und danach … Danach floss alles zusammen. Eine Kakofonie aus Stimmen, Sirenen, unfassbarer Müdigkeit und Wut. Lärm. Er schaffte es nicht, vereinzelte Worte auszumachen oder auch nur ein Gefühl, eine Stimmung. Zumindest nicht ehe hier im Krankenhaus die Phrasen angefangen hatten, sich auf der Fensterscheibe abzuzeichnen, und er endlich wieder zu sich gekommen war.

»Was hast du den Kindern gesagt?«

Alice zog ihren Pferdeschwanz straff. Wie unterschiedlich die beiden waren, Alice und Bettina. Während seine neue Lebensgefährtin zierlich und dunkelhaarig war, war die Exfrau füllig, blond, hell – sowohl äußerlich als auch in Gemütsdingen. In Bettina jedoch loderte ein Feuer. Schmale, verlockende Augen, die in ihm Begierden weckten. Alice war eher … liebenswürdig.

»Nichts«, sagte Alice. »Ich ruf Sofia später an, und Jacob … Na ja. Er war am Wochenende unterwegs, hatte ein Konzert, sodass ich nicht glaube, dass Bettina …«

Bettina rieb sich die Hände. Ihre Haut war so trocken, dass er fast glaubte, ein Knistern zu hören. Als Sofia zum Studium nach Bergen gezogen war, hatte sich der sechzehnjährige Jacob entschieden, bei seinem Vater zu wohnen.

»Nein«, erwiderte Bettina knapp. »Du musst schon selbst mit ihm reden.« Dann stand sie auf. »Was ich nicht verstehe … Warum zur Hölle legst du dich vor ihrer Wohnung auf die Straße?« Sie hob erbost die Hand und starrte Fredrik an. »Als wärst du irgendein sterbender Indianer oder so was in der Art.«

»Würdest du dich besser fühlen, wenn ich vor unserer Wohnung gestorben wäre?«, fragte Fredrik.

»Ja.«

4

Obwohl es geregnet hatte, lag immer noch eine dünne Schneeschicht auf den Straßen und Wiesen von Bygdøy, doch durchs Autofenster konnte Kafa Iqbal sehen, dass sich die weiße Pracht allmählich auflöste. Zurück blieb Matsch, der bis zum Abend wahrscheinlich verschwunden wäre.

Sie ließ sich Zeit. Ließ dem fröstelnden Wächter am Tor zum Kongsgården einen mitfühlenden Gedanken zuteilwerden und betrachtete erst einmal ausgiebig die Fassade des Volksmuseums. Diese sonderbare Sammlung von verschiedenartigem Kleinkram, aus Häusern und Gebäuden, Gehöften und Stadtvierteln, die von ihren Fundamenten abgetragen und hierher verfrachtet worden waren … Sie hatte das Museum mal während der Schulzeit besucht, und damals wie heute kam ihr der gleiche Gedanke: Wie weiß dieses Land immer schon gewesen war. Der Schnee, die Menschen, selbst das Essen, das sie zu sich nahmen, die Kartoffeln, die Soßen, das Mehl, der Fisch. Wann würden sie hier wohl die ersten Kebabbuden aufstellen? Die Moscheen? Die schiere Vorstellung vom Türken an der Ecke?

Sie war so schnell aus der Innenstadt hier gewesen, dass es im Auto erst jetzt warm wurde. Draußen vor den Fenstern waren die Straßen schmaler geworden, die Grundstücke weitläufiger. Hier am Stadtrand lebten einige der reichsten Bewohner dieses Landes, und die stellten ihr Glück gern in Form von Immobilien zur Schau. Hier standen Tirolervillen direkt neben funktionalistischen Bungalows. Südnorwegisches Idyll auf Steroid – eine regelrecht pathologische Studie alten Geldes und verschwendeter Ölmillionen, ein Nebeneinander von Zynikern und Glückspilzen. Eine pastellfarbene Bevölkerung mit unterernährten Hunden und überdimensionierten Autos.

Auf einem Höhenzug an der Ostseite der Halbinsel parkte zwischen den Villen ein Streifenwagen am Straßenrand. Sie hielt dahinter an, blieb aber noch kurz sitzen. Lauschte dem Klopfen des Regens auf dem Wagendach.

Sie erinnerte sich noch gut an ihren ersten Mordfall. Sie hatte damals gerade erst im Gewaltdezernat angefangen. Sie hatte für Fredrik Beier gearbeitet, diesen langen Schlaks – ein scharfsinniger Mann, allerdings mit düsterem Gemüt. Anfangs hatte sie ihn wirklich gemocht. Richtig gerngehabt. Doch irgendetwas hatte sich verändert. Inzwischen sahen sie sich nur noch selten.

Kafa ließ die Hand vom Hals zum Schlüsselbein gleiten. Die Schwellung war zurückgegangen, aber es tat noch immer weh. Verdammt, sie wollte gar nicht daran denken. Nicht jetzt. Denn dieser Fall war echt speziell. Dieser Todesfall gehörte ihr. Ihr erster Fall als leitende Ermittlerin.

Kafa zog den langen, dunklen Zopf im Nacken straff und griff nach ihrer Regenjacke. Am Tor warteten zwei Kollegen in Uniform auf sie.

»Der Postbote hat Verdacht geschöpft«, sagte der eine, ein kleiner, breit gebauter Mann. Mit der behaarten Hand zeigte er auf einen Briefkasten, und Kafa kniff die Augen zusammen.

Mit zierlicher Schrift war ein Name auf das Messingschild graviert worden: Gerda Thrane. Witwe, fünfundachtzig, einzige Bewohnerin der Villa, wie sie inzwischen in Erfahrung gebracht hatte.

»Der Postbote fährt diese Tour seit Jahren. Ihm ist aufgefallen, dass Frau Thrane ihre Zeitung nicht mehr reingeholt hat. Die Eingangstür hat so einen altmodischen Briefschlitz – und sowie er dort hineingeschnuppert hat, hat er die Polizei alarmiert.«

»Und ihr seid drinnen gewesen?«

»Ja. Das ist vielleicht ein Anblick!«

Der Polizist machte ihr das Tor auf, aber anstatt hineinzugehen, wich Kafa ein paar Schritte zurück. Ließ ihre Hände über der Taille ruhen. Die rote Holzvilla stand vor neugierigen Blicken abgeschirmt hinter einer vernachlässigten Berberitzenhecke. Eine Birkenallee führte zum Eingang. Die Villa war verhältnismäßig hoch gebaut, auch wenn die Fensterreihen verrieten, dass es bloß zwei Stockwerke waren. Nicht protzig, eher massiv und durchaus gepflegt. Sie vermutete, dass man vom Obergeschoss über den Hafen für Kleinboote in der Langviksbucht blicken konnte.

»Es war nicht abgeschlossen«, erklärte der Polizist, als Kafa vor dem Eingang erneut innehielt. Neben der Tür klammerten sich verwelkte Kletterrosen an ein windschiefes Spalier. Die Rosen hätten noch vor dem Winter gestutzt werden müssen.

Der Eingangsbereich wirkte zwar großzügig, trotzdem sorgten die Holzvertäfelung und die Textiltapete für eine bedrückende, beengte Atmosphäre. Bereits hier stach ihr der Geruch in die Nase. Auch wenn Kafa inzwischen nicht mehr schlecht davon wurde, löste der Gestank noch immer Unbehagen bei ihr aus – und eine innere Zerrissenheit. Feuerwehrmänner mochten schließlich auch keine Brände, trotzdem löschten sie sie. In etwa das gleiche Phänomen konnte sie auch an sich selbst feststellen.

Herbstlaub vom Kiesweg klebte an ihren Stiefelettensohlen. Als sie sich nach vorn beugte, um die Plastiküberzieher überzustreifen, ahnte sie, dass der Kollege ihr auf den Hintern starrte. Er war stehen geblieben, als würde sie ihm noch ein Dankeschön für die bisherige Hilfe schulden. Sie knurrte ihn an und sah dann flüchtig auf das dunkle Sichtschutzfenster in der Tür, die zu den Wohnräumen führte, bevor sie die Tür mit dem Ellbogen aufstieß.

Von außen hatte das Haus ganz gewöhnlich gewirkt. Doch hinter der Durchgangstür erstreckte sich zu ihrer Überraschung eine Art Eingangshalle, die acht, neun Meter hinauf bis zum Dachfirst reichte. Unter der Decke hing ein Kronleuchter. Die Wände waren mit breiten Teakholzbohlen verkleidet, allerdings war das exklusive Holz durch eine Unzahl Nägel verunstaltet worden, die aus der Wand herausragten. Es mussten Hunderte sein. Sogar in die Tür waren sie hineingeschlagen worden. Dunklere Quadrate, Rechtecke und Ovale vor ausgeblichenem Grund verrieten, dass an jedem Einzelnen ein Bilderrahmen oder was auch immer gehangen hatte.

In das Persönliche, Intime einzutauchen war wesentlicher Bestandteil von Polizeiarbeit. Als Kafa jedoch über den weinroten Teppich ging, der Geräusche und Licht regelrecht in sich einzusaugen schien, fühlte es sich an, als wäre sie im Begriff, ein Heiligtum zu entweihen. Der Raum wirkte auf sie wie ein Mausoleum. Direkt vor ihr setzte eine breite Mahagonitreppe mit einem niedrigen, geschwungenen Geländer an, die an einer Empore endete, die zu beiden Seiten der Halle entlangführte. Die Leiche lag ein Stück über Augenhöhe mit den Füßen auf den Treppenstufen.

Es handelte sich um einen Mann. Übergewichtig, vermutlich mittleren Alters. Der Tote musste schon eine ganze Weile dort gelegen haben. Seine Gesichtszüge waren nicht mehr zu erkennen. Er lag auf dem Rücken, war mit einer dunkelblauen, schmutzigen Jogginghose bekleidet. Oberschenkel und Fußknöchel waren angeschwollen. Ein weißes Hemd gab den Blick auf eine unbehaarte Brust und einen aufgedunsenen Nacken frei. Ein dicker, grünlich schwarzer Zeigefinger umfasste noch immer einen Keramikhenkel, während der Rest der Kaffeetasse zerbrochen neben ihm lag.

Sie zuckte zusammen, als sich der Kollege hinter ihr räusperte.

»Sieht aus, als hätte die Leiche dort, wo der Schädel auf die Treppenstufe aufgeschlagen ist, eine tiefe Wunde am Hinterkopf.«

Kafa lehnte sich nach vorn, um es sich anzusehen. Geronnenes Blut hatte die hellen Haare braunschwarz verfärbt. Die Haut war bläulich. Er trug keine Schuhe, lediglich schwarze Sportsocken. Ein dunkel verfärbter großer Zeh lugte durch ein Loch im Stoff.

»Wissen wir, wer das ist?«, fragte Kafa.

Der Polizist reichte ihr eine durchsichtige Plastikhülle, in der ein Führerschein steckte. »Mikael Morenius. Der Mann heißt Mikael Morenius. Den Führerschein haben wir vor dem Sofa im Esszimmer gefunden.«

Kafa nahm die Hülle entgegen und hielt sie ins Licht. Der Führerschein war gerade mal zehn Jahre zuvor ausgestellt worden. Auf dem Foto war ein ernst dreinblickender, schlanker blonder Mann zu sehen.

»Er hat ordentlich zugelegt …«

»Amen.«

»Also … ist er gestürzt? War es ein Unfall? Aber was macht er hier? Im Haus einer alten Witwe? Und wo ist die Frau?«

Der Kollege schüttelte den Kopf. »Genau deswegen hab ich die Kriminalpolizei informiert. Frau Thrane ist verschwunden.«

5

Tagsüber ging Fredrik mit Krøsus spazieren. Abends schlich er in die Küche und holte sich von dort einen Stuhl, um sich dann in den Flur vor Jacobs Zimmer zu setzen. Er lehnte den Kopf an die Wand, streckte das steife linke Bein aus und lauschte. Zwei Wochen waren vergangen, seit er aus dem Krankenhaus entlassen worden war.

Krøsus war Bettinas Hund. Für einen Spaniel war das Tier ziemlich nervös, was sich in häufigen Durchfällen äußerte. Die Hündin hatte einen vorwurfsvollen Blick – einen traurigen Blick, pflegte Bettina ihn zu berichtigen, ehe sie ihm das Metallgestell seiner Brille in die Haare schob, ihm über den Bart strich und sagte: »Genau wie du.«

Er tippte auf Brahms, war sich aber nicht sicher. Bevor sein Sohn wieder bei ihm eingezogen war, hatte Fredrik angenommen, die Bratsche sei bloß ein vorübergehendes Hobby. Ähnlich wie seine eigenen jugendlichen Versuche an der Klarinette. Aber das hier war etwas anderes. Jacob besuchte inzwischen Benjamin Bues Musikakademie. Er sei ein Talent, hatte sein Lehrer einmal gesagt und das Wort ausgesprochen, als würde es brennen. Und tatsächlich verbrannten die Extrastunden Tausender um Tausender aus Fredriks Portemonnaie. Wenn er aber an den Abenden so dasaß, stellte er immer wieder fest, dass es gewiss nicht die schlechteste Investition war.

Für ihn als Vater war es nicht ganz einfach, seinem Sohn zu erklären, dass es sich bei den Pillen im Schrank über dem Waschbecken um seine neuen Antidepressiva handelte. Dass er fürs Erste daheim bleiben würde, weil er im Suff eine Überdosis Tabletten eingeworfen hatte. Während er so dasaß und seinem Sohn zuhörte, kamen ihm ständig neue Erklärungen in den Sinn. Allerdings endeten die Gespräche in seinem Kopf jedes Mal an ein und derselben Stelle. Jacob fragte nach dem Warum. Und Fredrik hatte keine Antwort darauf.

An diesem Abend stand er kurz entschlossen auf und klopfte an die Tür. »Fragst du dich eigentlich, warum ich gerade nicht zur Arbeit gehe?«

»Wir müssen nicht darüber reden, Papa.«

»Das sollten wir vielleicht.«

Jacob schüttelte den Kopf, sodass seine dichten, dunklen Locken wippten.

»Hat Mama irgendwas gesagt?« Fredrik versuchte zu lächeln.

»Können wir ein andermal reden? Darauf hab ich jetzt keine Lust.«

»Okay. Worüber wollen wir denn dann reden?«

»Du kannst gehen, wenn du willst.«

Über dem Schreibtisch des Sohnes hing ein Bild der Eismeerkathedrale in Tromsø. Dort hatten Jacob und Sofia gelebt, bevor ihr Stiefvater einen Direktorenposten im Bildungsministerium angenommen hatte und die Familie wieder nach Oslo gezogen war. Auf dem Bild leuchtete das dreieckige Kirchengebäude mit der Glasfassade und dem schlanken Kreuz in einer Winternacht. In der Ecke steckte zwischen Glas und Rahmen ein kleines Foto. Das Passbild eines molligen, fröhlichen Mädchens mit Rastazöpfen und Sommersprossen.

»Wer ist das?«

»Niemand.«

»Niemand?«

»Eine aus der Schule. Irene.«

»Okay«, sagte Fredrik gekünstelt. »Was spielst du eigentlich?«

Jacob verdrehte die Augen. Setzte wieder seine Kopfhörer auf und nahm das knorrige Instrument vom Bett. »Ein Stück von Brahms. Über Kopfhörer hör ich die Gesamtkomposition«, erklärte er, als müsste er seinem Vater selbst die Grundlagen erklären.

»Lass hören.«

»Dann sei still«, sagte Jacob und schloss die Augen. Er war fast einen Kopf kleiner als Fredrik, aber kräftiger gebaut, hatte die weichen Schultern, den breiten Hintern und Bauch seiner Mutter geerbt. Er war inzwischen fast erwachsen – aber eben auch nur fast.

Die Bratsche klang wütend, derb und brutal.

Als er fertig war, blieb er mit den Kopfhörern auf den Ohren sitzen.

»Jetzt kannst du gehen.«

Das Licht in seinem Schlafzimmer war ausgeschaltet, nur der Flachbildschirm vor dem Bett warf einen blauen Schimmer über Fußboden und Wände. Blau und gelb – die gleichen Farben wie im Fernsehstudio. Ungefähr ein Jahr war vergangen, seit Simon Riebe Ministerpräsident geworden war. Jetzt stand der Parteivorsitzende der Høyre mit einem zusammengekniffenen Auge da und schien dem politischen Gegner eine Lehrstunde in Sachen Verteidigungspolitik zu geben. Als sich Fredrik ins Bild stellte, machte Bettina den Fernseher leise und wartete darauf, dass er das Wort ergriff. Als das nicht geschah, seufzte sie demonstrativ. In seinem Kopf klang noch immer die düster-schöne Melodie nach, die Jacob soeben gespielt hatte. Er scheuchte Krøsus vom Bett, nahm neben Bettina Platz, und wie jeden Abend legte sie den Kopf auf seine Brust. Nahm seinen Schwanz in die Hand. Zwischen den dunklen Haarsträhnen konnte er ihre blasse Kopfhaut sehen. Er legte ihr die Hand auf den Oberarm, auf das Tattoo des argwöhnisch dreinblickenden Adlers, der ihm Mal ums Mal die Laune verhagelte.

»Willst du darüber reden?«, fragte sie.

»Über unser Verteidigungsbudget?«

»Nein.« Sie klang verärgert.

Nein. Auch er wollte nicht darüber reden.

Bettina setzte sich auf ihn. Er schloss die Augen … aber es ging einfach nicht.

6

Ein lebloser Embryo, bekleidet mit Lederslippern, auf denen die Nässe einen weißen Rand hinterlassen hatte.

Vielleicht hatten ja die blauschwarzen Adern über dem Hinterkopf die Assoziation erzeugt. Vielleicht war es auch bloß die Embryonalstellung. Immerhin lag die Leiche zusammengekauert im Kofferraum eines Autos – eines großen Autos zwar, aber nicht mal die Bayerischen Motorenwerke kalkulierten Personentransporte in diesem Teil des Fahrzeugs ein.

Vielleicht war es auch die Harke, die neben dem Körper lag. Oder es waren das Blut und all die Körperflüssigkeiten, die sich auf der weißen Plastikfolie ausgebreitet hatten. Dieser arme Teufel war eine Fehlgeburt des Lebens und Kain für dessen Ausschabung zuständig gewesen.

Kain hob beide Hände. Die Adern auf seinen Handrücken traten deutlich hervor. Auch wenn die Dunkelheit längst Einzug gehalten hatte, leuchtete der Himmel über der Stadt noch immer im Gelb und Orange der Straßenlaternen und erleuchteten Wohnungen. Der Widerschein verlieh seinen Händen einen merkwürdigen Farbton. Allerdings nur schwach. Hier oben im Groruddalen war die Nacht ansonsten größtenteils schwarz.

Seine Zähne taten weh. Sein Herz raste. Er angelte eine Kaugummipackung aus der Tasche seiner engen Jeans. Menthol regte angeblich die Speichelproduktion an. Eigenartig, das Ganze. Die Nachwirkungen des Amphetamins. Er schwitzte. Im Schritt, unter den Armen. Rücken und Stirn fühlten sich klamm an. Er war satt, trotzdem rumorte sein Magen, und er musste ununterbrochen furzen. Profane stinkende Fürze. Sein Mund war trocken, als hätte er auf Zeitungspapier herumgekaut. Trockene Augen. All das, was feucht hätte sein müssen, war trocken, und was trocken hätte sein müssen, war feucht. Alles war verkehrt. Oder ins Gegenteil verkehrt. Aber das spielte keine Rolle. Er spaltete Schädel, keine Worte.

Kain war stark, trotzdem war Leichenschleppen immer eine Plackerei. Er erinnerte sich noch gut an sein erstes Mal. Es war im Sommer gewesen, in den Achtzigern, und Kain war gerade auf einem Kabinenkreuzer in Kragerø angekommen. An der Innenseite des Toilettenspülkastens war ein Block mit 2908 Gramm Kokain befestigt gewesen. Davon waren 92 Gramm im Futter seiner mintgrünen Lacoste-Jacke gelandet. Es war ihm nicht mal aufgefallen, dass derselbe Kerl, der sich in Rotterdam von ihm verabschiedet hatte, am Kai in Kragerø schon auf ihn wartete. Mit derselben beschissenen Waage. Butter-Tore hatten sie ihn damals genannt, weil seine Stimme so butterweich gewesen war. Er hatte versucht, Kain mit einer Luger den Kopf wegzublasen, und es wäre ihm auch glatt gelungen, wäre da nicht eine kleine Nebensächlichkeit gewesen: Die Pistole war seit dem Krieg nicht mehr abgefeuert worden. Butter-Tores historisches Interesse wurde zu seinem Fluch. Denn die Waffe sprengte ihm die Hand weg. Kain sah keinen Grund dafür, es dabei zu belassen. Mit der Eishacke aus dem Barschrank der Jacht setzte er Tores Leben ein Ende.

Damals hatte Kain vier Dinge gelernt. Erstens: Es lohnte sich, zwischen Waffen und Souvenirs zu unterscheiden. Zweitens: Drogenschmuggler mochten es nicht, übers Ohr gehauen zu werden. Drittens: Fasste man den Entschluss, jemanden umzubringen, hatte man in der Regel nur einen Versuch. Und viertens: Tote hatten keine Körperspannung mehr. Sie waren lediglich Masse, ohne jeden Widerstand, ohne Muskelspannung und Respekt vor sich selbst und anderen. Ihr Darm entleerte sich, und es gluckerte in der Kehle, weil die Lunge zusammenfiel und die Eingeweide kollabierten.

Also wappnete sich Kain für einen festen Griff. Ein Arm unter die Knie, einer unter die Achseln. Den künstlichen rechten Arm zu fassen erwies sich als schwierig, und der Gestank, der ihm in die Nase stieg, war einfach widerlich. Der Kerl hätte längst unter der Erde sein müssen. Unten im Kanalschacht waren ein Rohr und ein Ventil zu erkennen. Mit einem Knirschen traf der Körper auf den Stahl.

Er rollte den Kanaldeckel wieder an Ort und Stelle, und es hörte sich beinahe wie Kirchenglocken an, als der Deckel auf den Metallring im Asphalt zurückfiel. Nicht gerade geweihte Erde, aber Kain war auch kein religiöser Mensch. Dafür hatte er bereits zu lange gelebt. Aus Erde sollst du wiederauferstehen? Tot war tot, das war seine Erfahrung.

Zurück am Auto schlug er den Kofferraum zu. Lauschte auf das Klicken. Anschließend lief er um den Wagen herum zur Beifahrerseite und stützte kurz die Hände am Dach ab. Ließ den Kopf hängen und atmete tief durch. Sein Herz arbeitete noch immer auf Hochtouren. In der Scheibe konnte er sehen, wie sich große, schwere Flocken auf seinen Kopf legten und dort, wo er keine Haare mehr hatte, den blanken Schädel benetzten.

Es schneite schon wieder. Alsbald würde der Herbst in den Winter übergehen. Er furzte erneut, bevor er sich ins Auto setzte.

Keine Schneeflocke gleicht der anderen, schoss es ihm durch den Kopf, als er hinüber zu seinem Nebenmann blickte.

7

Fredrik wurde von Bettinas unbeschwertem Schnarchen und seinen eigenen trüben Gedanken wach. Er stand auf und machte sich einen Kaffee. Spürte, wie sich der von den Antidepressiva verursachte Schleier allmählich verzog. Blätterte durch die Dagens Næringsliv, las ein paar Artikel, konnte sich aber nichts davon merken. Als er aus dem Schlafzimmer ein Geräusch vernahm, schlüpfte er in seine Schuhe. Mit einer eingeübten Bewegung griff er nach seinem Gehstock neben der Tür, aber er war nicht da. Auf dem Weg die Treppe hinunter zog er sich die Cordjacke über.

Eigentlich brauchte er den Stock auch gar nicht mehr. Fast anderthalb Jahre waren vergangen, seit er bei einer Explosion im Ullevål-Krankenhaus verletzt worden war – im Zimmer eines Mannes, den sie im Maridalen nach einem Massaker unter Sektenmitgliedern festgenommen hatten. Aber der Stock war ein Geschenk gewesen, und er mochte sein Spiegelbild in den Schaufenstern, wenn er den Bogstadveien entlangging. Seiner Ansicht nach verlieh ihm der Ebenholzstock mit dem wackligen runden Knauf und der Stahlspitze eine gewisse Zeitlosigkeit. Er musste ihn verlegt haben.

Stattdessen sah er jetzt das Spiegelbild eines langen, schlaksigen Körpers, der mit ungelenken, weit ausholenden Schritten seines Weges ging. Für seinen charakteristischen Gang war das verletzte linke Knie verantwortlich, eine Erinnerung an den Tag, an dem Frikk gestorben war.

Die graue Fassade des Polizeigebäudes verschmolz mit dem Himmel über Enerhaugen. Der Schnee hatte sich in dreckigen Matsch verwandelt, und die Stadt stank nach Abgasen.

Auf dem Schreibtisch wartete ein Zettel auf ihn. Nicht nur dass ihm die kantige Handschrift bekannt vorkam; die Nachricht sagte auch alles über ihren Absender aus: »Mein Büro. Sofort.«

Die Tür zum Vorzimmer des Polizeipräsidenten stand offen. Fredrik wusste genau, dass die Sekretärin noch nicht da war – dabei handelte es sich um seine eigene Lebensgefährtin, Bettina. Sie waren einander bei einem Seminar begegnet. Hatten wie wilde Tiere gevögelt, während irgendein Staatssekretär vor den Kollegen einen Vortrag über den Wert empirischer Erhebungen gehalten hatte. Empirisch messbar war auf jeden Fall, dass Fredrik jetzt hier stand. Immerhin kam es nicht alle Tage vor, dass Polizeipräsident Trond Anton Neme seine Untertanen nach einer Krankmeldung zum Gespräch einberief. Bettina musste geplaudert haben, und Fredrik verfluchte sie dafür.

»Beier …«

Der wuchtige Polizeipräsident trat in die Durchgangstür zu seinem Büro und beorderte Fredrik mit einem entschlossenen Nicken herein. Er wies auf den Besucherstuhl vor seinem Schreibtisch, ein Möbel, das dafür designt zu sein schien, dass man es sich darauf nicht allzu bequem machte.

»Kaffee?«

Fredrik schüttelte den Kopf. Er hatte sich bereits am Automaten auf dem Flur mit einem Becher dieses anscheinend aus Schießpulver hergestellten Gebräus versorgt.

Neme schenkte sich eine Tasse ein und lehnte sich über den Schreibtisch. Musterte den Ermittler mit zusammengekniffenen Augen.

»Sind Sie wieder gesund?« Doch noch ehe Fredrik antworten konnte, fuhr er auch schon fort: »Einen Teil meiner praktischen Polizeiausbildung hab ich auf Tromøya absolviert, bei Arendal. Der dortige Polizeichef … Er hieß Scheie, ein tüchtiger, patenter Kerl. Bei der Lokalbevölkerung hoch geachtet, ein wirklich bemerkenswerter, fairer Ermittler. Hat hart durchgegriffen, wenn es nötig war. Ein Ehrenmann.« Neme schob sich den Daumen in die Kinnfalte. »Eines Tages kam er einfach nicht mehr zur Arbeit. Als Jüngster der Truppe wurde ich zu ihm nach Hause geschickt. Er wohnte in einem kleinen weißen Häuschen, wie sie im Sørlandet typisch sind. Scheie reagierte nicht, als ich klingelte. Allerdings war das Wasser für den Gartenschlauch aufgedreht, und durch das gekippte Schlafzimmerfenster war der Schlauch nach innen gezogen worden. Von drinnen kam ein merkwürdiges Geräusch. Also verschaffte ich mir Zugang zu seinem Haus. Und fand ihn. Im Schlafzimmer.«

Die Pause war so lang, dass Fredrik sich schon fragte, ob ihm die Pointe entgangen war.

»Er war nackt«, sagte Neme schließlich. »Nackt … und tot. Erdrosselt mit einem Hundehalsband, das er an der Decke befestigt hatte. Den Gartenschlauch hatte er sich in den Hintern geschoben.« Als Fredrik etwas sagen wollte, gebot der Polizeipräsident ihm mit einer Geste Einhalt. »Fragen Sie mich nicht – ich bevorzuge die Missionarsstellung.« Er senkte die Stimme. »Aber das war nicht mal das Schlimmste. Denn wissen Sie, was überall an den Wänden, an der Decke, auf jedem Quadratzentimeter des Schlafzimmers klebte?«

Natürlich wusste Fredrik es nicht.

»Augen.« Neme presste die Lippen aufeinander. »Im Keller fanden wir Unmengen Magazine und Zeitschriften. Der Kerl hatte sämtliche Augen ausgeschnitten, die er finden konnte. Tier oder Mensch, das spielte keine Rolle. Und dann hat er sie an die Wand geklebt.« Er holte mit beiden Händen aus. »Ich war zum Abendessen dort gewesen. Hatte in seinem Wohnzimmer gesessen, Pils getrunken und Fußball geguckt.«

Fredrik sah, wie Neme förmlich erschauderte.

»Irre«, schloss Neme knapp. »Der Typ war einfach völlig irre. Schwanzfixiert und durchgeknallt.« Er zeigte mit dem Finger auf Fredrik. »Aber er war ein verdammt guter Polizist.«

Der Polizeipräsident verschränkte die Arme, lehnte sich in seinem Bürostuhl mit der breiten Rückenlehne zurück und beäugte ihn selbstsicher.

»Sie verstehen, was ich damit sagen will?«

»Absolut«, antwortete Fredrik. »In höchstem Maße.«

Eine Weile musterten sie einander stumm. Nach ein paar Schlucken Kaffee räusperte sich Neme. »Gibt’s noch was?«

»Wenn ich schon mal hier bin«, murmelte Fredrik. »Diese Fälle häuslicher Gewalt – es sind inzwischen drei, und Andreas meinte, es stünde ein weiterer an.« Der Polizeipräsident hob eine Hand, doch Fredrik fuhr fort: »Ich weiß, dass all dem Vorrang eingeräumt werden soll. Daran ist auch gar nichts auszusetzen. Aber … es zehrt an uns. An Andreas und mir.«

Fredriks Rücken fühlte sich klamm an. Er war auf dem besten Wege hinein in ein Fahrwasser, für das er in Nemes Augen keinen Segelschein besaß.

»Wir werfen also noch einen dieser Typen ins Gefängnis. Dort sitzt er ein paar Monate ab, während Frau und Kinder ihre Wunden lecken. Aber sobald die blauen Flecken verheilt sind, kommt der Kerl doch wieder frei. Und dann fangen wir wieder von vorne an. Das ist verflucht deprimierend, Trond Anton.«

Der Polizeipräsident zuckte zusammen, als Fredrik ihn mit seinem Vornamen ansprach. Sie hatten beide früher bei der Bereitschaftspolizei gearbeitet. Vielleicht gab es ja doch noch einen Hauch von Kollegialität.

»Beier.« Neme klang wie ein Bestattungsunternehmer, der sein Geld nicht bekommen hatte.

»Könnten Sie mit Koss sprechen?«, hakte Fredrik nach.

»Die Zuteilung der Teams fällt in den Verantwortungsbereich des Polizeidirektors. Das wissen Sie.«

»Könnten Sie mit ihm sprechen?«

8

»Irgendwer hat beim Allmächtigen gepetzt, sehe ich das richtig?«

Der Bariton kam vom anderen Ende des Raums, und die Stille, die sich zwischen den Schreibtischen breitmachte, sagte Fredrik, dass er sein Ziel erreicht hatte. Polizeidirektor Sebastian Koss marschierte quer durch das Großraumbüro, in dem das Dezernat für Gewalt- und Sexualverbrechen untergebracht war, und schleuderte einem kräftigen Kerl mit Runzeln und Bürstenschnitt eine Mappe auf den Tisch. Alle starrten ihn an.

»Franke, ab sofort bist du hierfür zuständig. Ich weiß schon, dass du viel zu tun hast, aber der gute Fredrik Beier – frisch zurückgekehrt aus dem sagenumwobenen Land der Krankschreibungen – hat wohl einen gewissen Rücken gekrault.«

Sebastian Koss hob einen säuberlich manikürten Finger in Richtung der darüberliegenden Etage.

Frankes Augen glühten vor Wut.

Im Dezernat für Gewalt- und Sexualverbrechen gab es zwei Chefs: die Polizeidirektoren Synne Jørgensen und Sebastian Koss. Gemeinsam bildeten sie den Januskopf der Abteilung. Synne hatte sämtliche Dienstgrade durchlaufen, sie war Kollegin, Freundin und Vertraute, und sie wusste, wo sie herstammte. Aber Synne hatte auch Ambitionen, und wenn sie weiter aufsteigen wollte, dann würde sie endlich ihr Jurastudium beenden müssen. Blieb Koss, ein unsympathischer Reedereierbe und hochnäsiger, wenn auch äußerst begabter Jurist. Er verachtete Fredrik ebenso sehr, wie Fredrik ihn verachtete.

Der Polizeidirektor marschierte weiter auf Fredrik und Andreas zu, die ihre Plätze am hinteren Ende des Raums hatten. Unterwegs entledigte er sich seiner dunkelblauen, maßgeschneiderten Anzugjacke, knöpfte die Manschetten auf und krempelte die Ärmel hoch. Als er endlich am Ziel angekommen war, hob er eine Hand und hielt sie sich zitternd vor die Brust.

»Waren es wieder die Nerven«, fauchte er leise. Fredrik konnte sehen, wie die akkurat gezupften Augenbrauen glänzten.

»Koss?« Andreas war aufgestanden. »Fahren Sie zur Hölle.«

Er musste zurückschlagen. Jedes Mal wieder. Das machte ihn in den ewigen Ränken dieses Hauses zu einer leichten Beute.

Fredrik sah ihn mit festem Blick an und schüttelte den Kopf. Je mehr Dramen, umso mehr Aufmerksamkeit. Nur Andreas wusste, warum Fredrik krankgeschrieben gewesen war, und er wollte, dass das auch so blieb.

Koss grinste schief. Offensichtlich hatte er ein Ass im Ärmel. »Nachdem Sie sich zu fein dafür sind, Frauen und Kindern in Not zu helfen, haben die Wachleute der Abwasserbehörde in einem Kanal oben in Kjelsrud eine Leiche für Sie aufgetan. Machen Sie sich auf den Weg dorthin.«

Auf dem Weg nordwärts in Richtung E6 stand der Verkehr beinahe still. Während sie das Osloer Stadtzentrum hinter sich gelassen hatten, waren die Regenschauer in Starkregen übergegangen, und die Straßen waren heimtückisch glatt. Heimtückisch war auch die Stimmung zwischen ihnen, nachdem Andreas seiner Wut auf Sebastian Koss Luft gemacht hatte.

»Also …«

»Es ist doch noch mal gut gegangen«, sagte Fredrik, um das Thema zu beenden, und nach einer Weile: »Es macht mich wahnsinnig, dass ich mich an nichts mehr erinnern kann.«

»Aber … hattest du vor …« Andreas beendete die Frage zunächst nicht. Strich sich stattdessen durch die grauen Locken, bevor er sich anschließend wenig subtil mit dem Zeigefinger quer über die Kehle fuhr. »Als wir an dem Abend zusammengesessen … Als wir essen gewesen sind?« Er schaltete das Blaulicht ein und wechselte auf die Busspur. »Es geht mich wahrscheinlich nichts an, aber … Du hast in kürzester Zeit echt viel getrunken. Und läufst du immer mit den Taschen voller Schmerzmittel herum?«

Andreas hatte die Frage gestellt, ohne ihn dabei anzusehen.

Fredrik lehnte den Kopf ans Fenster. Beobachtete, wie sein Atem sich auf das Glas legte und verdampfte. Wieder und immer wieder.

Die Wahrheit war, dass er die Pillen brauchte. Auch wenn die Narben, die nach der Explosion zurückgeblieben waren, längst verheilt waren, kam es mitunter vor, dass er urplötzlich wieder Schmerzen hatte. In der Schulter, in der Brust, in beiden Beinen. Sein Herz schlug dann heftiger, ihm brach kalter Schweiß aus, und die Atmung wurde hektisch und unregelmäßig. Natürlich wusste er, dass das keine echten Schmerzen waren. Und er wusste auch, dass die von den Pillen herbeigeführte Linderung bloß eine Linderung der Wut war. Ihm war klar, dass die Pillen nicht dafür gedacht waren, aber so war es nun mal. Und das war auch der Grund, warum er in der Regel immer ein, zwei Blisterpackungen in der Tasche hatte. Aber das ging tatsächlich niemanden etwas an. Nicht mal Andreas.

»Ich will nicht darüber reden«, antwortete Fredrik.

Für den Rest der Strecke schwiegen sie. Als sie wenig später das Industriegebiet im Groruddalen erreichten, hing die Wolkendecke so tief, dass sie kaum die sperrigen Blocks an der abschüssigen Talseite ausmachen konnten. Das Zuhause von Einwanderern, Zahnarzthelferinnen, Krankenpflegern – von all jenen, die aufgrund der rasant steigenden Wohnungspreise hier rausgezwungen worden waren. Die kleinen Zahnrädchen der Gesellschaftsmaschinerie. Allerdings lebten hier draußen auch nicht gerade wenige von denen, die ganz gezielt Sand ins Getriebe der Gesellschaft streuten. Hier wurden Gauner zu Räubern, Kleindealer zu Schmugglern im großen Stil und Pöbler zu Mördern. Das Groruddalen.

»Diese Erinnerungslücken … Womöglich ist das ja nicht dauerhaft. Vielleicht kannst du dich eines Tages wieder erinnern.«

»Möglich«, antwortete Fredrik knapp. »Der Arzt hat so was angedeutet.«

Andreas runzelte die Stirn.

9

Der Mitarbeiter der Stadtwerke wartete auf dem Parkplatz auf sie. Im Nieselregen reflektierte sein Overall das Scheinwerferlicht in mehreren leuchtenden Heiligenscheinen. Alles andere als göttlich sah hingegen sein Bart aus, in dem die Nasenhaare in eine Art Schnauzer übergingen.

Auf dem benachbarten Grundstück standen ausrangierte Lkws und Busse ohne Dächer. Über dem gesamten Areal hing der Gestank von Öl und Rost.

»Der Grundstückseigentümer hat uns benachrichtigt«, sagte der Mann, ohne sich vorzustellen.

Fredrik blieb neben ihm stehen und ließ den Blick über die Senke vor ihnen schweifen. Durch den Nebel hindurch konnte er vage die Fenster eines Bürogebäudes ausmachen. Es lag am Ende eines asphaltierten Vorplatzes, der die Größe mehrerer Basketballfelder hatte. Am anderen Ende stand eine Lagerhalle, die aus rohem Wellblech und schwarzen Schiebetoren zusammenmontiert worden war. Die Tore waren von eins bis vier durchnummeriert.

In der Mitte des Platzes lag ein Gullydeckel neben einem Loch im Asphalt. Ein paar Streifenpolizisten sperrten den Bereich gerade großzügig ab.

Der Mann wies auf einen löchrigen Streifen im Asphalt. Er ging zwischen ihnen und murmelte etwas in seinen Bart. In der Hand hielt er einen langen Stahlhaken, den er bei jedem zweiten Schritt auf den Boden hämmerte.

»Ratten«, schimpfte er. »Derzeit sind es so verdammt viele, dass der Eigentümer letztlich reagieren musste. Wegen der Ratten – und dem Gestank.«

Fredrik stellte überrascht fest, dass auch ein Teil des Bürogebäudes als Lagerhalle genutzt zu werden schien. Allem Anschein nach waren hier Hunderte Bürostühle, Schreibtische und Regale ausrangiert worden, und Schneematsch und Pfützen bedeckten die Planen, die über die Möbel ausgebreitet worden waren.

Der Typ von den Stadtwerken kratzte sich mit dem Griff des Hakens, mit dem er den Gullydeckel geöffnet hatte, an der Wange.

»Hier herrscht nicht viel Betrieb. Wären die Ratten nicht gewesen, dann … glaub ich nicht, dass ihn jemand gefunden hätte.«

Dort wo das Absperrband den Weg blockierte, stand ein weiterer Mann in einem gelb-schwarzen Overall und sprach mit einem Polizisten. Er war blass um die Nase.

Ihr selbst ernannter Guide reichte Fredrik eine Taschenlampe. »Ist aber kein schöner Anblick.« Dann wies er auf den Kanalschacht.

Fredrik duckte sich unter dem Absperrband hindurch und machte ein paar Schritte nach vorn. Beugte sich vor und leuchtete in den Schacht hinab.

Es war tatsächlich kein schöner Anblick.

10

Kafa Iqbal stand im Badezimmer der Villa auf Bygdøy vor dem Spiegel. Wenn sie jetzt die Augen schlösse, würden die Gedanken zurückkehren. Das Leder – geruchlos, an den Rändern verhärtet. Das Schnalzen, sobald es durch die Luft sauste. Das Peitschen auf der Haut. Der rote Schleier vor den Augen.

Behutsam strich sie sich über den Hals. Wund – dort, wo die angespannte Sehne unterm Schlüsselbein verschwand. Die Schulter tat ihr weh, als sie den Arm hob, um den Blusenkragen hochzuschlagen. Sie nestelte kurz daran herum, ehe der Knoten ihres Seidenschals richtig saß. Sie fing ihren eigenen Blick im Spiegel auf und hielt ihn für einen Moment fest. Bis sie nichts anderes mehr sah als Entschlossenheit.

Das Bad befand sich in der ersten Etage und war größer als Kafas Wohnzimmer. Die Bodenfliesen bestanden aus dunklem Marmor, die Wandfliesen aus hellem. Die Badewanne stand auf Löwenfüßen.

Auf dem Waschbeckenrand hatte sie eine kleine Plastiktüte abgelegt. Jetzt griff sie danach. Die Tüte enthielt den Schnipsel eines alten Fotos, kaum größer als eine Briefmarke. Unmöglich zu erkennen, was auf dem Foto abgebildet gewesen war. Hielt man den Schnipsel allerdings ins Licht, war auf der Rückseite ganz deutlich ein Wasserzeichen zu erkennen. Калипсо. Russisch. Kalypso. Der Tanz – oder die griechische Nymphe?

Den Papierschnipsel hatten sie in der Eingangshalle im Erdgeschoss direkt neben der Tür zum Esszimmer gefunden. Er schien von einem der unzähligen Nägel an den Wänden zu stammen. Der einzige handfeste Hinweis auf die Bilder, die dort unten gehangen haben mussten. Was wohl auf dem Foto abgebildet gewesen war? Und warum war es entfernt worden?

Als jemand mit Fingernägeln gegen den Türrahmen trommelte, warf Kafa einen letzten Blick in den Spiegel, bevor sie sich zu der rothaarigen Polizistin umdrehte. Hanna Irgendwas. Kafa versuchte zu lächeln.

»Tja … Was haben wir?«

»Gerda Thrane«, hob der Rotschopf an, »die Eigentümerin der Villa. Verheiratet mit Direktor Ernst Thrane, der schon vor dreißig Jahren verstorben ist. Zusammen hatten sie einen Sohn, Axel Thrane, der ebenfalls tot ist. Keine weiteren Angehörigen, anscheinend keine engen Freunde.«

»Und?«

»Der Sohn war beim Militär und ist Anfang der Neunziger bei einem Unfall ums Leben gekommen, einige Jahre nach dem Tod des Vaters. Die Nachbarn beschreiben die Witwe als eine zurückgezogene, sparsame Frau. Sie soll schon eine ganze Weile gekränkelt haben.« Die Polizistin runzelte die Stirn, bevor sie fortfuhr: »Anscheinend hatte sie eine Art Haushaltshilfe – ein Mann von der Gemeinde. Er hat den Rasen gemäht und für Ordnung im Haus gesorgt. Ein großer, schweigsamer Typ, sagen die Nachbarn.«

»Groß?«, wiederholte Kafa. »Wie der Mann auf der Treppe?«

Die Polizistin nickte. »Eigenartig ist nur, dass die Gemeinde bestreitet, einen ihrer Angestellten hergeschickt zu haben … Und kann ich Ihnen noch was zeigen?«

Hanna führte sie ins Nachbarzimmer, ein Schlafzimmer. Die Luft war abgestanden und staubig, und auch hier waren die Wände mit Textiltapete versehen. Dunkle Blumenmotive. Sicher nicht billig. Vor den Fenstern hingen Spitzengardinen. Trotzdem wirkten die Fenster nackt. Nirgends Bilder, keine Bücher auf dem Nachttisch. Ein akkurat bezogenes Doppelbett.

Kafa schob die Gardinen zur Seite. Ein Stück hangabwärts im Bootshafen sah sie leere Liegeplätze. Die schmalen Aluminiumstege lagen über dem dunklen Wasser wie ein bewegliches, rechtwinklig angelegtes Netz. Die meisten Boote waren bereits für den Winter an Land gebracht worden.

»Sie haben erwähnt, dass die Halle Sie an ein Mausoleum erinnert«, sagte Hanna. »Haben Sie hier oben nicht das gleiche Gefühl?«

Kafa drehte sich zum Kleiderschrank um und zog die Türen auf. Schubfach um Schubfach mit Unterwäsche, Blusen, dunklen Hosen und Röcken, wie alte Frauen sie trugen. Auf den Kleiderbügeln hingen Kleider und Jacken. Es roch leicht süßlich nach Mottenkugeln.

»Dieses Zimmer ist seit einer Ewigkeit nicht mehr benutzt worden«, stellte sie fest.

»Genau«, pflichtete Hanna ihr bei. »Ganz im Gegenteil zum Gästezimmer unten im Flur.« Sie nickte in Richtung des Treppenaufgangs.

»Im Wäschekorb in der Waschküche liegen Herrensachen und im Gästezimmer ebenfalls. Große Größen. Unter der UV-Lampe ist auf dem Laken sowie auf dem Bettbezug eine Menge Material zu sehen.«

Kafa sah sie abwartend an.

»Blut oder Sperma. Sieht allerdings nicht aus wie Blutflecken.«

»Kommen Sie«, sagte Kafa und winkte sie hinüber ins Bad. Im Medizinschrank standen Schachteln mit Blutdrucktabletten, Schmerzmitteln und Insulin. Daneben ein verhältnismäßig neuer Insulinpen. Doch nicht das hatte Kafas Aufmerksamkeit erregt. Dort lag auch ein Rasierapparat, eine massive, schwarze Ausgabe mit Dreifach-Scherkopf.

»Was meinen Sie, hat die alte Frau Thrane sich damit die Beine rasiert?« Kafa wartete die Antwort nicht mal ab. »Hier hat keine Witwe gewohnt«, konstatierte sie. »Hier hat ein Mann gewohnt. Der Mann auf der Treppe? Mikael Morenius?«

»Sieht ganz so aus.«

»Und was wissen wir über ihn?«

»Seine Identität ist wohl geschützt«, sagte Hanna.

»Geschützt?« Kafa sah sie mit großen Augen an, und Hanna zuckte mit den Schultern.

»Sagt das Einwohnermeldeamt. Entsprechend dauert es auch noch, bis wir an relevante Informationen rankommen. Ich stelle Ihnen was zusammen.«

Geschützte Identität. Kafa hatte mit übergewichtigen, männlichen Haushaltshilfen keinerlei Erfahrung. Allerdings nahm sie an, dass sie in der Statistik all derjenigen, die eines staatlichen Schutzes bedurften, nicht gerade überrepräsentiert waren.

11

Der wasserblaue Lichtschein über der Treppe zum Kellergeschoss des Krankenhauses war ebenso kalt wie das Stahlgeländer.

»Mortui vivos docent«, raunte Andreas Fredrik zu, als sie sahen, wer sie dort unten erwartete.

Rechtsmediziner Konrad Heissmann stand vor einer cremefarbenen Tür mit der Aufschrift »Sektionssaal« und streckte die Hand aus. Sie hatte die Größe eines Buches.

»Mortui vivos docent – die Toten lehren die Lebenden«, sagte er zur Begrüßung. Dann bat der Österreicher sie herein. Er bückte sich, um dem Türsturz auszuweichen – nicht weil die Tür zu niedrig gewesen wäre, sondern weil der kahlköpfige Pathologe mit den leicht nach innen gewölbten Schläfen die beiden Polizisten fast um einen Kopf überragte. Im Vorraum hielt er inne. An den türkisfarbenen Wänden hingen vergilbte Schautafeln zur menschlichen Anatomie. In den Regalen standen Behälter mit verblassten Herzen, Hirnen und Lungen, die in Formalin eingelegt waren: ein Vorgeschmack dessen, was sie dort hinter den Türen zur Frischwarenabteilung der Seligkeit erwartete.

Fredrik hatte bereits genügend Leichen gesehen – in allen erdenklichen Zuständen. Es waren nicht die Leichen an sich, die ihn am meisten berührten. Woran er sich nie ganz hatte gewöhnen können, war die klinische Sachlichkeit in der Wortwahl der Mediziner. Die Schöpfkelle, die der Pathologe zur Hand nahm, um die Toten ihres Blutes zu entleeren. Die Tische aus gebürstetem Stahl, der hellblaue Mundschutz, der beim Ein- und Ausatmen vibrierte, das Skalpell, der Rippenspreizer, die Knochensäge auf dem weißen Laken … Wann immer es sich einrichten ließ, zog Fredrik den Vorraum vor. Das Gleiche traf auch auf Andreas zu. Andreas Figueras lernte bereitwillig von den Toten, ihren Anblick jedoch mochte er nicht.

»Ich nehme an, es eilt, wenn Sie nicht auf den Bericht warten können?«

Die Grammatik war korrekt, die Satzmelodie jedoch irgendwie merkwürdig. Der Österreicher lehnte sich an ein schmales Katheder und hatte seine charakteristische Körperhaltung eingenommen: die Hände über dem kahlen Schädel verschränkt, die Daumen in die Schläfen gebohrt. Vielleicht sah er ja deshalb so aus, wie er aussah.

»Eigentlich nicht«, antwortete Andreas. »Aber die Identität des Toten ist nach wie vor unbekannt. Wir hatten gehofft, Sie könnten uns dahingehend ein bisschen behilflich sein.«

Der Arzt ließ das Gummiband einer Mappe mehrmals auf das Plastik schnippen.

»Mann in den Vierzigern, dem Aussehen nach Nordeuropäer. Der Tod ist vor zwei bis drei Wochen eingetreten. Er wurde in einem Kanalschacht gefunden, war es nicht so?«

Fredrik nickte. »Gestern.«

»Die Leiche kann erst vor einigen Tagen dort hintransportiert worden sein. Hätte er länger dort gelegen, wäre nicht viel von ihm übrig gewesen.«

Es war keine leichte Aufgabe gewesen, den Toten aus dem Schacht nach oben zu hieven. Erst als auch noch die Kollegen von der Spurensicherung in den Schacht gekrochen waren, waren die Ratten widerwillig zurückgewichen. Damit sich die Leiche nicht zersetzte, hatten sie den Körper erst nach vorn ziehen und dort in einen Leichensack bugsieren müssen, der dann fest verschlossen mit einem Kran nach oben befördert worden war.

»Normal gebaut, eins dreiundachtzig groß. Der Tote war mit Unterhose, Hose und Pullover bekleidet. Schuhe an den Füßen. Vierundvierzig Kronen in der rechten Hosentasche, zwei Zwanzig-, vier Einkronenmünzen. Eine Broschüre des Auktionshauses Bierche in der Gesäßtasche. Kein Portemonnaie, keine Ausweispapiere.«

»Die Broschüre eines Auktionshauses?«

Heissmann klappte seine Mappe auf und zückte einen Asservatenbeutel. Darin lag ein schwer in Mitleidenschaft gezogener Papierfetzen. Körperflüssigkeiten hatten die Seiten verfärbt.

»Ich hab sie durchgeblättert, sie wurde extra für eine Auktion erstellt, die vor etwas mehr als einem Monat stattgefunden hat. Außer einem Kreuz bei einem Spiegel hab ich keinen Vermerk gefunden – so ein altmodischer Bodenspiegel, Rokoko, mit Blattgold und all solchem Schnickschnack. Teures Ding.«

Er reichte den Asservatenbeutel an Andreas weiter.

»Bei dem, was wir in seinem Magen und im Darm gefunden haben, handelt es sich vermutlich um Pizzareste. Käse und Schinken in unterschiedlichen Verdauungsphasen.«

»Und was bedeutet das?«

»Dass seine Ernährung ziemlich einseitig war. Die letzten zwei oder sogar drei Mahlzeiten vor seinem Tod waren Pizza.«

»Und die Todesursache?«

»Tja, das ist so eine Sache«, antwortete der Österreicher. »Folgen Sie mir.«

Die weiß gefliesten Wände verstärkten das Tropfen, das aus dem Aluminiumbecken widerhallte. Der süßliche Geruch nach Fäulnis und Chemikalien setzte sich ganz hinten im Gaumen fest. Heissmann schlug das Laken zur Seite.

»Das hier könnte von Nutzen sein«, sagte er und warf Fredrik, der auf der anderen Seite des Obduktionstisches stand, einen kurzen Blick zu. Andreas hielt sich im Hintergrund.

Kälte. Dieses Gefühl, das Fredrik überkam, wenn er einen Toten in dieser Weise betrachtete – die nackte Haut auf dem Stahltisch, der entblößte Oberkörper, die nackten Oberschenkel, das kläglich geschrumpfte Geschlechtsteil. Ab und zu bekam er Leichen zu sehen, noch ehe der Rechtsmediziner den Y-Schnitt von den Schlüsselbeinen bis zum Bauch wieder zugenäht hatte, und in solchen Fällen war es ihm nie möglich, den Blick vom Herzen abzuwenden. Diesem faustgroßen Muskel, der dann blass und leblos vor ihm lag. Tot zu sein wirkte unendlich … kalt.

Dieser Mann war bereits wieder zusammengeflickt worden, und seine Haut hatte eine grünlich schwarze Färbung angenommen. In seinem geschorenen Schädel klafften zwei leere Augenhöhlen. Die Wunden legten deutlich Zeugnis von den Verwüstungen der Aasfresser ab. Aber nicht das hatte der Österreicher gemeint. Unterhalb der rechten Schulter lag ein Arm – ein künstlicher Arm. Eine Prothese.

»Einen Augenblick«, sagte Heissmann schnell, sowie Fredrik sich vorbeugte, um sich das Ganze genauer anzusehen. »Lassen Sie mich Ihnen erst den Zeitpunkt umreißen, an dem das Schicksal dieses unglückseligen Menschen besiegelt wurde.«

Der Pathologe zögerte, als wollte er kurz abwägen, wo er anfangen sollte. Dann griff er mit der Hand, über die er sich bereits einen Latexhandschuh gezogen hatte, nach der Schulter der Leiche und hob sie an. Gleich unter dem Schulterblatt war eine Wunde zu erkennen. Tief, aber im Umfang nicht größer als eine Fünfkronenmünze.