Der Deutsche von Bayencourt - Adam Kuckhoff - kostenlos E-Book

Der Deutsche von Bayencourt E-Book

Adam Kuckhoff

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Beschreibung

Bayencourt in der Picardie, Mitte 1914: Als der Erste Weltkrieg ausbricht, gerät der deutschstämmige Landwirt Bernhard Sommer – seit 1897 französischer Bürger – plötzlich zwischen die Fronten: viele seiner Mitbürger verlieren das Vertrauen, manche halten ihn sogar für einen Verräter. Sommer selbst verzweifelt an seiner Pflicht, ein „guter“ Franzose zu sein, ohne es als Deutscher wirklich sein zu können. Als die Front näher kommt und eine deutsche Patrouille auf seinem Hof Zuflucht sucht, eskaliert die Situation vollends… Adam Kuckhoffs als historischer Roman getarnte Patriotismus-Kritik erschien 1937 zunächst im Feuilleton der Köllnischen Zeitung, kurz darauf als Buch im Rowohlt-Verlag. Für Kuckhoff war die Publikation ein Akt des Widerstandes — es ging ihm darum, das „politische Bewußtsein der Leser wachzuhalten und ihren Blick zu schärfen“ (Greta Kuckhoff). Während des Zweiten Weltkrieges war Kuckhoff als Mitglied der „Roten Kapelle“ aktiv, 1943 wurde er vom Volksgerichtshof wegen „Kriegsverrats“ zum Tode verurteilt und hingerichtet.

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Adam Kuckhoff

Der Deutsche von Bayencourt

Unpatriotischer Roman

Edition Widergänger

Impressum Copyright © 2017 ebooknews press Verlag Dr. Ansgar Warner Rungestr. 20 (V) 10179 Berlin ISBN: 9783944953571
Herausgegeben & mit e. Nachwort versehen von Ansgar Warner, Text folgt der 1937 beim Rowohlt Verlag Berlin verlegten Erstausgabe
Coverbild: ebooknews press

„Ich glaube, es gab nicht viele, die sich selbst so unausweichlich befragten wie Adam Kuckhoff. Auch er glaubte zuerst, durch seinen Roman 'Der Deutsche von Bayencourt', später durch Kurzgeschichten und Essays wenigstens eins erreichen zu können: das politische Bewußtsein der Leser wachzuhalten und ihren Blick zu schärfen.“

Erster Teil

Erstes Kapitel

1
«Natürlich wieder einmal von letzter Wichtigkeit!»
«Er hat schon zweimal die Kleine geschickt. Ja — und er wäre selbst gekommen, läßt er sagen, wenn er nicht bis über den Kopf in der Arbeit steckte. Herr Sommèr könne sich leider denken, um was es sich handelt.»
Sie sehen sich an und lächeln, der Herr und der Großknecht (bei dem Knecht, dessen Züge in unveränderliche Falten gelegt scheinen, ist es nur ein helleres Licht in den Augen): Die Botschaften, die Bary, der Bürgermeister von Bayencourt auf die Ferme de la Haye hinausschickt, enthalten immer irgendein geheimnisvolles Wort wie jetzt dieses „leider“. Und die Arbeit, in der er steckt, hat ihm noch nie niedriger als „bis über den Kopf“ gestanden.
«Vielleicht sind die Entschädigungen für die Maimanöver zu niedrig ausgefallen? Oder warte: Bei der Witwe Lamarre wird sich der Verdacht auf Maul- und Klauenseuche unter ihrem anderthalb Stück Rindvieh bestätigt haben. Nun, wir werden ja sehen!»
Der Herr von Ferme de la Haye bekundet eine sträfliche Gleichgültigkeit gegen Gemeindeangelegenheiten von „letzter Wichtigkeit“. Trotz der zweimaligen, drängenden Aufforderung macht er in aller Ruhe den gewohnten Rundgang durch Ställe und Leutewohnungen, begleitet von dem Großknecht, der ihm mit dem, immer wie hastigen, Schritt des Lahmenden zur Seite bleibt. Auch als er nach genau beratener Einteilung für den nächsten Tag den Hof durch die nordwestliche Einfahrt verläßt, hat er es nicht eilig. Wo es auf den gutgehaltenen Feldweg von Foncquevillers nach Bayencourt hinausgeht, bleibt er stehen und es ist kein ersichtlicher Grund, der ihn minutenlang im Anblick der spät-juli-nachmittäglich daliegenden Landschaft verweilen läßt.
Nein, kein ersichtlicher Grund. Vielmehr nach langer Pause wieder einmal das, was er bei sich selbst „seinen kindischen Augenblick“ zu nennen pflegt, ein Gefühl aus Dank und leiser Ungläubigkeit: daß das wirklich sein ist, was da um ihn herumliegt, sein Land, das sich unter dem goldenen Fell des Weizens fern in die Unendlichkeit zu senken scheint, seine Schafherde, die sich halblinks unter dem Schutz des ausgebauchten Schäferkarrens hell in den Himmel zeichnet, sein Hof, der ihn im Rücken deckt, mit den Lauten des warmen Lebens in seinem Innern, reichlichem Kuhgeblök, dem Flatterschlag der Tauben, einem Ruf von der Scheune her, dem rasselnden Klang der Hofuhr, deren oberster Rand — er glaubt es zu fühlen — rückwärts von dem hohen, weiß und roten Turm des Geflügelhauses auf ihn niedersieht.
Aber zugleich weckt ihn der Stundenschlag zu einem halb schamvollen, halb ärgerlichen Erröten. Alter Narr! Mag es angegangen haben damals, als alles noch neu war, ja natürlich gewesen sein im Übermaß der Erfüllung eines auf immer preisgegebenen Jugendtraums — aber heute, nach fast zweieinhalb Jahrzehnten! Es ist wohl der nachmittägliche Gang durch die Felder gewesen, die Sinnlichkeit der ungewöhnlich frühen und schwer tragenden Frucht, was ihn so gelockert hat. Eine überall aufs beste bestellte Wirtschaft, eine Ernte wie seit Jahren nicht mehr — kein Wunder, wenn der doppelt, von Sonne und Freude, durchglühte Körper jedem Eindruck mit gesteigerter Empfänglichkeit begegnet.
Ja, denn wird ihm nicht auch, wie er jetzt weitergeht, der altvertraute Weg zu einer Fülle bewußt genossener kleiner Erlebnisse? Da neigen sich von links her einzelne Ähren voll über den Weg und man kann nicht umhin, die harten Körner mit einem wohligen Gefühl ihres Widerstands durch die Hände gleiten zu lassen, da reißt von der anderen Seite der Wald — unser Wald, wenn es auch nur ein Wäldchen ist — eigenwillige Schattenbuchten in das schon bräunlich werdende Feld gegenüber und aus seinem dichten Unterholz, das nach französischer Gepflogenheit die Zwischenräume zwischen den hochstehenden Eichen und Akazien ausfüllt, leuchten Brombeeren, denen erst die Augustsonne ihre mädchenäugige Schwärze schenkt, in himbeerfarbigem Rot. Unter den Füßen aber schickt der beschattete Boden sich an, nach der Bruthitze des Tages den ersten kühlenden Atemzug zu tun.
Rechts biegt jetzt das Wäldchen in einem scharfen Winkel nach Nordwesten ab, um an der entferntesten Ecke in sieben einzelne Pappeln über niedrigem Gestrüpp auszulaufen, die als unverwechselbares Wahrzeichen die Ferme de la Haye nach dieser Seite hin kenntlich machen. Die Felder, die nun den Weg nach Bayencourt begleiten, gehören schon nicht mehr zum Hof: Wer sich darauf versteht kann es ablesen wie aus einem natürlichen Grundbuch. Wenn auch der niedrigere Wuchs der Ähren auf eine andere Sorte weist, das Auge, das darüber hingeht, stößt überall auf Löcher der Höhe und der Breite nach, ungleich Gewachsenes, kahle und verkrautete Stellen, sehr verschieden von der pelzigen Gleichmäßigkeit der Felder nebenan. Der gleiche Boden erhält nicht sein gleiches Recht.
Der Hofherr von Ferme de la Haye sieht es mit einer Mischung von Ingrimm und Befriedigung, und halb ist es uneigennützige Zärtlichkeit zu dem willigen Boden selbst, was sein Herz mit ohnmächtigem Ärger erfüllt. Er ist schon oft dem Wäldchen hinter dem Hof dankbar gewesen, daß es ihm den Blick hier herunter verbirgt, er vermeidet es peinlich hier durchzukommen, wenn sie bei der Feldbestellung sind und wählt lieber den Umweg halbwegs Souastre. Alles hat einmal zur Ferme de la Haye gehört — schön, man hätte es verschmerzen können, die Gelder aus dem Verkauf sind dem übrigen zugute gekommen, der alte Ratour hat schon recht, wenn er sich giftig rühmt, daß er selbst, unsinniges Stück Ochsenfleisch, dem Boche von Ferme de la Haye seinen modernen Krimskrams erst ermöglicht habe. Ein fremder Hof, heruntergewirtschaftet, mit dem rückständigsten Inventar, viermal so groß als das, was einem in der Kindheit als Stätte eines gut gesessenen Bauerntums vor Augen gewesen ist — ein Schnitt von einem Drittel, weg damit, man hat es kaum gespürt. Aber später, als sich erwies, daß die Verschiebung der flüssigen Mittel die Betriebsverhältnisse auf den beiden Anwesen gerade umgekehrt gestaltete? Was wäre natürlicher gewesen, als durch einen Rückverkauf den alten Zustand wieder herzustellen, dazu mit einem eindreiviertelfachen Gewinn für den alten Gauner; hol ihn der Teufel, wer bezahlt ihm denn das noch!
Ein gieriger Hund, der nurmehr festhält, was er nicht verschlingen kann: Wenn vor dem Verkauf der Aufwand an Quertreibereien, die chauvinistische Hetze gegen den „Deutschen“ noch einen Sinn zu haben schien, wenn man vielleicht hätte hoffen können, das ganze Anwesen des glücklich Weggegraulten an sich zu bringen, was dann, wenn sich herausstellt, daß man nicht einmal imstande ist, ein Drittel davon intensiv zu bewirtschaften? Ohnmächtige Gier also und ein leidenschaftlicher Deutschenhaß oder nur die Gier im dünnen Gewand dieses Hasses? Ach was, Haß so oder so: Langt es bei uns nicht mehr zum eigenen gegen den seit Jahr und Tag erledigten Widersacher, so doch zu einem ebenso triebhaften Widerwillen. Ja, überlebhaft wie er heute alles empfindet, fühlt Sommer bei dem Gedanken, dem Alten in ein paar Minuten gegenüberzustehen, eine ganz ungemäße Wut in sich aufsteigen. Er sieht ihn vor sich, die langen weißen Bartsträhnen ums Kinn, das übrige Gesicht unrasiert, um den Kopf ein paar wehende Haarfetzen, die nichts, aber auch gar nichts von der vielberufenen Ehrwürdigkeit des Alters haben. Er riecht den Gestank der offen hängenden Weste, mit dem schmierigen, am Hals geknöpften Flanellhemd darunter, er hört sein tonlos meckerndes Gelächter, der alte Halunke, der Lump, der Narr! Ja, ein niederträchtiger Narr: Hat der elende Schwätzer nicht einmal monatelang Kapital daraus zu schlagen versucht, als die nationale Kommission für Baudenkmäler das schmiedeeiserne Balkongitter an seinem Wohnhaus für künstlerisch wertvoll erklärt hat? «Hingegen die Ferme de la Haye, ein alter Kasten, ohne jeden Wert. Gehen Sie!» Wahrhaftig, man kehrte am besten noch um. Sommer hat den Feldbereich verlassen, vor ihm duckt sich Bayencourt in die kleine Bodenfalte, die es sich vor Jahrhunderten mit dem instinktiven Gefühl seiner gleichbleibenden Bedürfnisse ausgesucht hat. Es ist nicht das erste Mal, daß nach dem mißliebigen Gang durch die einst zur Ferme gehörigen Felder dieses sanfte Hineinsinken in den Ort zwischen Hecken und Wiesen ihn unversehens aufgeheitert hat, als sähe ihm schon hier das gute, treue Gesicht Barys entgegen, Barys, der alle Ratours tausendfach aufwiegt, wie sein kindlicher Enthusiasmus seinerzeit in den Wall aus Mißtrauen, Vorurteil und Quertreibereien die erste Bresche geschlagen hat.
Aber was Sommer heute ergreift und allen kleinlichen Ärger mit eins hinwegwischt, kommt aus größeren Tiefen. Das ist im Frieden des späten Julinachmittags nicht Bayencourt, ein Weiler von wenig mehr als hundert Einwohnern irgendwo in der Picardie, es ist mit seinen Fachwerkhäusern der kleineren, den steinern umschlossenen Höfen der größeren Bauern das ewige Dorf, zäh und demütig hineingebettet, in den Hang, ohne andern Schutz als den aus Hecken, Wiesen und Obstgärten. Was bedeuten ihm und den Feldern, die es friedlich beherrscht, die Sommers, Ratours, oder wie sie heißen mögen, und ihre kurzlebigen Streitigkeiten? Es liegt da, atmet und ruht, wie es gestern und vor Jahrhunderten gelegen hat und morgen und in Jahrhunderten da liegen und atmen wird. Umkehren? Nein, eher schlägt ihm das Gewissen, daß er trotz der wiederholten Nachricht Bary so lange hat warten lassen, nun, es wird wirklich nicht so wichtig sein.
Hinter den ersten Häusern von Bayencourt kommt links die Straße von Sailly-au-bois her eine Frau in vorgeschrittenen mittleren Jahren ihm entgegen, Madame Tapin, weit bekannt in der Gegend als Botengängerin und Besitzerin eines unermüdlichen, nicht immer harmlosen Maulwerks. Sommer ist nicht besonders gut auf sie zu sprechen, sie hat, solange es lohnend schien, zur alten Clique Ratours gehört, aber auch sonst ist sie ihm unangenehm, mit ihrem Getratsch von Haus zu Haus, dem Ausstreuen unfaßbarer Gerüchte, die schon manches Unheil angerichtet haben. Wie gewöhnlich will er grüßend an ihr vorübergehen, da scheint ihm, als ob sie ihn mit einer gewissen Aufgeregtheit anzureden beabsichtige. Aber da seine Miene wohl ebenso verschlossen bleibt, wird nichts daraus und so setzt er ohne innezuhalten seinen Weg die Dorfstraße hinunter fort. Als er in den Hof der Bürgermeisterei einbiegen will, sieht er zufällig zurück. Madame Tapin steht noch an derselben Stelle. Sie scheint hinter ihm herzusehen, als erblicke sie ihn zum ersten Male. 
2
Sommer hat nicht Zeit, sich dieses seltsamen Vorgangs bewußt zu werden. Links aus der offenstehenden Tür in der Hofecke stürzt Bary die Stufen hinunter auf ihn zu. Er ist bleich, als sei ihm ein Knecht unter die Karre geraten, er ergreift Sommers rechte Hand und drückt sie mit seinen beiden, während er ihn durch die Hornbrille, die so ungemäß zu seiner bäuerlichen Kleidung steht, hilfesuchend in die Augen blickt.
«Wo bleiben Sie nur! Wo bleiben Sie nur!»
Sommer löst seine Hand, es ist ihm zu viel. «Ruhe, Bary! Sie wissen, daß man von meinem Weg aus Bayencourt übersieht. Es ist noch an keiner Stelle in Brand geraten.»
«Scherzen Sie nicht, scherzen Sie damit nicht, Herr Sommèr! Keiner von uns hat gedacht, daß es diesmal ernst werden könne, lieber Gott, wenn ich denke, es ist keine drei Tage her — Man wird es doch noch verhindern können, sie werden doch drüben Vernunft annehmen, nicht wahr?»
«Namen Gottes, so sagen Sie wenigstens, was geschehen ist!»
Bary starrt ihn an, als begreife er nicht. «Sie haben doch die Zeitungen gelesen?»
«Die Zeitungen?»
«Sie wissen von nichts? Lieber Gott, auch das noch!»
«Also jetzt reden Sie!»
«Es ist — daß wir den Krieg haben werden.»
Sommer weiß nicht, was in diesem Augenblick in ihm vorgeht. Er müßte lachen, sein gutmütig beruhigendes Lachen, wie er es schon oft bei Tartarennachrichten des allen Schauergerüchten offenen Mannes gelacht hat. Aber er lacht nicht. Durch die offene Tür sieht er Bonfour und Cabochette, die sonst wie Hackklötze da zu hocken pflegen, in deutlicher Erregung. Ratour aber — in offenhängender Weste und schmierigem Flanellhemd, genau wie er ihn eben im Geiste vor sich gesehen hat — Ratour ist aufgestanden, er lehnt, die Hände in den Hosentaschen, das eine Auge hochgekniffen, mit der rechten Schulter am Türpfosten:
«Ja, Herr Sommèr, den Krieg.»
Sie sind in die Stube getreten, Sommer hat seinen Hut seitlich auf einen der alten Halbschränke geworfen, die von einem Wust von Briefen, Aktenstücken, Merkbüchern bedeckt sind, er steht an dem großen runden Tisch, der ihren gemeinderätlichen Sitzungen zu dienen pflegt, ein Anschlag, schwarz auf rosafarbenem Papier, ist darauf ausgebreitet, er zeigt als Emblem zwei gekreuzte französische Fahnen, darüber fett die Überschrift: «Requisitionsbefehl».
«Das ist nicht möglich!»
Nein, es ist nicht möglich. Auf jedem Gesicht steht geschrieben, daß es nicht möglich ist.
«Nein, nicht wahr? Und das vor einer Ernte wie dieser — alle Pferde des ersten Aufgebots und sogar die zurückgestellten — Sehen Sie hier: 'mit Trense, Halfterleine und Beschlag, alles in gutem Zustand' — Einfach so, in gutem Zustand! Als ob wir an nichts anderes zu denken hätten!»
Sommer schlägt ärgerlich auf den Tisch. «Also jetzt geben Sie zunächst einmal eine Zeitung her!»
Er hat in der Tat in den letzten Tagen keine Zeitung zur Hand genommen, es kommt ihm törichterweise wie eine schwerwiegende Verfehlung vor.
Bary unterbricht seine Lamentationen, er klaubt seitlich aus dem Wust die beiden letzten Nummern des Journal d’Amiens heraus. Im Zimmer herrscht Stille. Alle starren gespannt auf Sommer, nur Ratour geht, den Blick zur Decke gerichtet, im Zimmer auf und ab.
Gott sei Dank übertrieben, Gott sei Dank natürlich wieder einmal übertrieben. Zwar empfiehlt der Leitartikel der Sonntagsnummer, auf alle Ereignisse gefaßt zu sein, die Lage scheint ernst, aber das hat sie in vergangenen Jahren schon des öfteren geschienen.
Bary ist mit der Aufmerksamkeit eines eingewöhnten Hundes dem Wechsel in Sommers Zügen gefolgt: «Sie glauben, daß es noch einmal vorübergeht?» «Hier steht, daß Vermittlungsaktionen im Gange sind, sie müssen zu einer Verständigung führen, niemand wird bereit sein, die ungeheure Verantwortung zu übernehmen.»
«Und das hier?» Bary deutet auf den Requisitionsbefehl. «Und die Einberufung der Territorialreserven?»
«Eine Vorsichtsmaßnahme. Sehen Sie doch! Das Datum fehlt. Haben Sie kein Begleitschreiben — Was sagen Sie? Der Territorialreserven ?»
Ratour tritt an den Tisch, zwischen Bonfour und Cabochette hindurch ergreift er schweigend ein Blatt, das vor Bary liegt und reicht es Sommer hinüber, kaum daß er seinen Gang dazu unterbricht. Sommer liest wortlos. Wenn das Vorsichtsmaßregeln sein sollen, so sind sie allerdings verwünscht weit getrieben. Unter dem Datum von gestern ein als vertraulich gekennzeichnetes Rundschreiben des Kriegsministeriums an alle Bürgermeistereien der Region von Doullens. Die älteren Jahrgänge der Territorialreserven sind durch persönliches Anschreiben einberufen. Bis sie in Tätigkeit treten, haben die örtlichen Zivilbehörden Eisenbahnanlagen, Brücken, Straßen auf das schärfste zu überwachen. Verdächtige sind unverzüglich dem nächsten Gendarmerieposten zuzuführen. Der Requisitionsbefehl soll jetzt schon den zuständigen Stellen „vorbereitende Maßnahmen für den vierten Tag“ einer etwaigen Mobilmachung ermöglichen.
Bary hält sich nicht mehr. Im geheimen hat er die törichte Hoffnung gehegt, daß Sommer, der ihn schon so oft durch gutmütigen Spott oder energischen Anruf von Hirngespinsten und überflüssigen Sorgen befreit hat, auch das hier mit einer Geste beiseite schieben werde.
«So erklären Sie uns doch! Serbien — du lieber Himmel, wenn ich offen sein soll, ich weiß nicht einmal genau, wo ich es auf der Karte zu suchen habe, irgendwo da unten rechts bei der Türkei, ich habe einmal gelesen, daß es dort nur Hammel gibt. Sagen Sie selbst, es ist doch nicht möglich, daß zivilisierte Völker um eines solchen Gesindels willen...» Sommer antwortet nicht. Zwar weiß er etwas genauer, wo Serbien liegt, auch stellt Bary sich in seiner Aufregung und Wut zu unwissend, wenigstens was die Hammel angeht, aber in der Tat, Serbien, ein Unruheland, mit dem Hintergrund von Freiheitskämpfen, Banden, politischem Mord... Die französische Presse hat ihm gelegentlich des Balkankrieges vor zwei Jahren warme Sympathien bekundet, das hatte wohl seine Gründe, Rußland, der große Verbündete, so ungefähr, weiter reicht es nicht. Sommer hat sich die ganzen Jahre über nicht um politische Dinge gekümmert. Was soll er sagen über etwas, wovon er kaum mehr versteht als einer der andern hier?
Cabochette dreht sich schwerfällig zu ihm hin:
«Es wäre... wir hatten uns gedacht, Bonfour und ich — na, weil Sie doch drüben gelebt haben... es kann doch nicht sein, sagt er, daß sie, Teufel nochmal, drüben anders denken als wir — sie haben doch jetzt auch die Ernte, oder ist es so viel kälter da? Man weiß das ja alles nicht.»
Bonfour nickt. Genau das sind die Gedanken, die er kurz vor Sommers Ankunft zu Cabochette geäußert hat. Bary fällt ärgerlich ein:
«Red keinen Unsinn, hörst du? Wie oft soll ich dir sagen, daß du von Politik nichts verstehst? Nein, der einzige, auf den es ankommt, ist jetzt ihr Kaiser, er braucht dem andern dort unten in Österreich doch nur ein Telegramm zu schicken — was wollen Sie, ein alter Mann mit einem weißen Bart, die 'Illustration' hat noch vor kurzem ein Bild von ihm gebracht — Nein: Hinfahren müßte er! hinfahren, ohne einen Augenblick zu verlieren, es macht ihm doch nichts aus, er hat doch einen Salonzug — und dann Schluß damit, Schluß, Schluß, Schluß!»
Sommer möchte lächeln, aber es erschüttert ihn. Bonfour und Cabochette sehen ihn erwartungsvoll an, als habe Bary wirklich den einfachsten Ausweg aus dem drohenden Unheil gewiesen. Er fühlt, daß er ihnen ein paar beruhigende Worte sagen muß: Vorläufig sei es ja noch gar nicht so weit, von Deutschland ist überall nicht die Rede, eine Angelegenheit, zwischen Österreich und Serbien, schlimmstenfalls noch mit Rußland. Wie hat man damals nach Agadir monatelang vom Krieg gesprochen, nun und? Sie haben sich schließlich verglichen, niemand wird wagen, wegen Serbien einen Krieg vom Zaun zu brechen, vor drei Tagen ist ja noch alles im tiefsten Frieden gewesen —
Ratour unterbricht sein Gewander und bleibt vor Sommer stehen:
«So? das glauben Sie, das glauben Sie wirklich? Soll ich Ihnen sagen, was ich denke — entschuldigen Sie, wenn ich so wenig von Politik verstehe, wie unser armer Cabochette: Das sind keine Menschen wie wir da drüben. Sauerkraut- und Kartoffelfresser, schling, soviel du herunterkriegen kannst! Agadir — gut, daß Sie davon reden: Er wird es sich gerade einfallen lassen, nach Wien zu fahren, Ihr Kaiser, einmal ist es mißglückt, lehren Sie mich die Deutschen kennen! Eins hab’ ich wenigstens von Ihnen gelernt, Herr Sommèr: Das weiß, was es will!»
«Was wollen Sie damit sagen ?»
Ratour fährt mit der Hand durch die Luft: «Nichts. Sie sind am Ende nicht der Kaiser, das wenigstens nicht!» Er tritt an den Tisch, seine dürren Finger hämmern auf der Platte: «Schwören Sie, daß die Ihren nicht über Frankreich herfallen werden, schwören Sie!»
Sommer hat hinter sich nach der Lehne seines Stuhls gefaßt, als wolle er aufspringen. Dann wendet er sich ruhig zu Bary: «Jedenfalls müssen wir alle nötigen Vorkehrungen treffen. Schon die Einberufung der Territorialen nimmt uns ein gut Teil der Leute weg, die wir in den nächsten Wochen zur Einbringung der Ernte nötig haben.»
Er erhält keine Antwort. Der unvermutete Ausbruch Ratours hat alle nur noch hilfloser gemacht. Ratour selbst scheint zu fühlen, daß die Stunde anderes verlangt. Er macht eine Geste zu Sommer hin: «Gehen Sie! Wir sind heute alle verrückt!»
Sie besprechen die Fragen, die sich unmittelbar ergeben. Für Bayencourt kommt von den Anweisungen nicht viel in Betracht. Die Eisenbahn liegt überall gut ein Dutzend Kilometer entfernt, durch das Dorf läuft nur eine Nebenstraße und auch das von Süden nach Norden — also nicht nach „drüben“. Bary wird sich mit dem Gendarmerieposten in Acheux in Verbindung setzen. Was den Ersatz für die Einberufenen angeht, so weiß man vorläufig nicht einmal, was unter den „älteren Jahrgängen“ zu verstehen ist. Vorläufig wird die Arbeit kaum darunter leiden. Im übrigen: Wer lebt, wird es erleben.
Sie stehen auf und sehen sich einen Augenblick schweigend an. Ratour reicht Sommer die Hand, Cabochette und Bonfour folgen mit biederem Druck. Bary möchte Sommer zurückhalten und ist enttäuscht, als der sich entschuldigt und mit den andern den Hof verläßt. Auf der Straße trennt man sich mit kurzem Gruß.
3
Nein, es ist nicht möglich, jetzt mit Bary zusammen zu sein, seine rührenden, aber auch ein wenig albernen Ahnungslosigkeiten anzuhören. Sommer hat die paar hundert Schritte bis zum oberen Ausgang des Dorfes zurückgelegt, er bleibt stehen, der gerade Rückweg zur Ferme scheint ihm mit einemmal unerträglich. Er wird im weiten Bogen über Norden zurückgehen, nur kein Stück des Weges, den er vor einer Stunde in tiefem Frieden gekommen ist. Als er beim untern Ausgang des Dorfes an der Kirche vorbei auf das Feld zubiegt, ruft ihn aus einem stattlich hinter Gittern gelegenen Hause eine aufgeregte und mühsam verstärkte Frauenstimme an. Sommer tut, als höre er nicht, unmerklich sucht er seinen Schritt zu beschleunigen. Das fehlte noch: jetzt Madame Léandre mit einem Schwall von Redensarten, geheimnisvollen Andeutungen, klischeefertigen Meinungen, denen gegenüber die Naivitäten Barys eine Wohltat sind. Aber er hat noch nicht die letzten Häuser hinter sich gelassen, als er eilig jemand hinter sich herlaufen hört. Cathérine, die Madame Léandre ihre Zofe zu nennen beliebt, obschon sonst niemand zu Haus- und Gartenarbeit zur Verfügung steht, erreicht ihn — sie ist in Häubchen und nachmittäglich weißer Schürze —: Madame Léandre lasse Herrn Sommer bitten, einen Augenblick heraufzukommen, sie habe ihm die bedeutsamsten Mitteilungen zu machen.
Sommer verwünscht sich, daß er nicht ganz außen herumgegangen ist, fast hätte er es sich denken können, aber jetzt bleibt nichts übrig. Sie gehen die paar Schritte zurück durch das große Gittertor, auf das „Schloß“ zu, wie die Bauern hierzulande in naiver Verallgemeinerung jedes mit Sandsteinprofilen verzierte Gebäude zu nennen pflegen. Madame Léandre erwartet ihn ungeduldig unter der Haustür. Es hat eine Zeit gegeben, in der Sommer hier ein ständiger, gern gesehener, aber nicht ebenso gern verweilender Gast gewesen ist, damals, als seine Frau noch lebte und einen eifrigen Verkehr zwischen dem „Schloß“ und der Ferme de la Haye unterhielt. Die Léandres, Mutter, Sohn und unverheiratete Tochter, hatten nach dem Tode des „Herrn Lieutnant“, wie Herr Léandre bis in seine weißen Haare hinein genannt wurde, die nicht übermäßigen Ländereien in Pacht gegeben. Das Schloß behielten sie bei, und aus guten Gründen! Als Schloßbesitzer aus der hier seltenen, aber im ganzen Lande hochgeschätzten Klasse von Leuten, die „von ihren Renten leben“, bedeuteten sie etwas, mochte diese Rente auch eben für Bayencourt, eine Winterwoche in Paris, einen Sommeraufenthalt „an den Ufern des Meers“ oder in einem kleinen Landbadeort reichen. Sie empfängt Sommer genau so, wie er es erwartet hat.
Die ineinandergefalteten Hände fast bis an das Kinn gehoben, sieht sie ihm klagend mit schräg geneigtem Kopf in die Augen: «So ein Anlaß, mein lieber Herr!! Aber Sie sind selbst schuld daran, wenn Sie sich so selten machen. Kommen Sie, wir gehen in den Salon. Cathérine, schließen Sie das Tor, ich bin jetzt für niemanden zu sprechen!»
Sommer hat auf einer der mit Schutzhüllen überzogenen Sitzgelegenheiten Platz genommen, die den Raum wie eine vielgestaltige Gespensterschar in Besitz zu halten scheinen. Er hört kaum etwas von dem, was Madame Léandre, vom Hundertsten zum Tausendsten springend, seit ein paar Minuten auf ihn herabschüttet. Ihm ist, als sei er unversehens in ein Stück erstarrter Vergangenheit getreten und sie hat zu seiner Bestürzung einen faden und muffigen Geruch: Stunden zwitschernder Gespräche über Nichtigkeiten und fanfaronierende Allerweltsmeinungen, Tante Aimées Nervenschmerzen, die Kleine Mathildes, die so reizend ist, Sarah Bernards „verrückter“ Erfolg in dem neuen Stück von Sardou, wann der Camembert die richtige Reife hat, Clémenceaus unerhörter Leitartikel im „Homme libre“ («Sagen Sie, was Sie wollen, das ist eine Type!») Dort am Kamin haben die Anfängerinnen und zweiten Rollen, die Gaston später vom Theater in Amiens mitbrachte, in endlosen Deklamationen aus dem „Cid“ oder aus Victor Hugos „Ernani“ — o Victorgo! — geschwelgt, dort hat Jean, der Sohn, als er noch jünger war, unselig auf seiner Geige das „Ave Maria“ von Gounod und die Berceuse aus „Jocelin“ heruntergekratzt, für die er, der ganz Unmusikalische, jeden Sonnabend fluchend nach Albert hinüberfuhr — und wie Madame Léandre jetzt vor ihm sitzt, auf dem Rande des Sessels, den Oberkörper aufrecht, so haben sie alle dagesessen, die Damen, scheinbar eifrig zuhörend, ein leeres Lächeln auf den Lippen, während die Herren, zurückgelehnt, den Kopf auf der Brust, Versunkenheit markierten. Es gibt Sommer einen Stich. Er sieht Marie Louise vor sich, mit dem gleichen leeren Lächeln, und doch so beseligt in einer Atmosphäre, die recht eigentlich die ihre gewesen ist oder doch Ersatz für das, was sie nicht hat haben können. — Was heißt denn das? Bilder, Erinnerungen, wie sie ihm seit dem Tode seiner Frau so noch nie aufgestiegen sind, vielleicht hat er deshalb unbewußt das Haus hier nach Möglichkeit gemieden, er sammelt sich. —
Madame Léandre redet noch immer fort, sie hat einen Brief von Gaston bekommen, Madame Tapin hat ihn eben gebracht: «Wirklich, Sie wissen, daß Sie der allererste wären, aber Gaston hat es viermal unterstrichen, Sie verstehen, daß jetzt alles ganz und gar geheim bleiben muß, man hat Gaston zu gewissen vertraulichen Enquèten verwandt, sie müssen sich natürlich ihre Leute aussuchen, Gaston hat schließlich eine Offizierstochter zur Frau — ich kann nur sagen, Gaston ist scheint’s Dingen auf der Spur, Dingen! Gaston —»
— Gaston, Erfüllung aller Ambitionen Madame Léandres, Redakteur und Schriftsteller, das Tor zu Literatur und Öffentlichkeit, Gaston seit seiner Heirat mit Eugénie der eigentliche Sohn des Hauses, kaum zum Unwillen Jeans, der, fest im Pariser Automobilhandel, für den Kult um den Schwager nur gutmütig-boshafte Witze übrig hat —
«Und in solchen Zeiten muß man in dem Loch hier sitzen. Gaston schreibt, daß die Bewegung in Paris nicht größer sein kann als in Amiens. Hören Sie» — sie greift nach dem Brief, den sie auf einem kleinen Tischchen neben sich bereitliegen hat — «das kann ja am Ende nicht vertraulich sein, wenn alle es sehen, nicht wahr?: „Trotz des herrlichen Wetters bleiben die öffentlichen Gärten von ihren Stammfreunden verlassen. Müßigganger bewegen sich unablässig im Kreise, vom Nordbahnhof zum Rathaus, von da zur Präfektur. Sie sind niemals die letzten, denn sie folgen sich ohne Unterbrechung“ Das ist gut gesagt, finden Sie nicht, so anschaulich — Mein Gott, wenn diese Affäre jetzt nur nicht seinem großen Werk in den Weg kommt!» (Es ist das ein Werk, von dem man immer nur erfährt, daß es „weiterrückt“.)
Natürlich ist es gut gesagt, nur zu gut. So also sieht es schon in den größeren Städten aus —
«Schreibt Herr Gaston nicht, ob beim 'Journal' neue Nachrichten vorliegen über die Vermittlungsaktionen in Wien und Petersburg, von denen im Morgenblatt die Rede war?»
«Neue Nachrichten? Selbstverständlich! Das 'Journal' bekommt doch alles zuerst, sie stehen in ständiger telephonischer Verbindung mit ihrer Pariser Redaktion... Wie sagten Sie: Vermittlungsaktionen in Wien und Petersburg? Warten Sie! — Nein, soviel ich sehe. Wahrscheinlich darf er darüber sogar mir nichts berichten — Aber... mein lieber Herr Sommèr! Ich hätte gerade mit Ihnen so gern darüber geredet ... Sie sind am Ende ein Vertrauter des Hauses, Sie werden es für sich behalten, nicht wahr, Sie brächten mich in die furchtbarste Verlegenheit ... Was meinen Sie? — Also: Gaston hat die Listen der Schausteller auf dem St. Jean-Jahrmarkt durchgesehen, es sind nicht weniger als dreiundzwanzig Deutsche darunter! Und auf dem Platz vor der Kathedrale — das habe ich nicht von Gaston, sondern von Madame Tapin, die sie selbst noch fliegen gesehen hat — hat jemand einen ganzen Korb Brieftauben ausgelassen, zum Glück ist es der Vorsitzende des Brieftaubenvereins in Amiens gewesen, aber denken Sie sich, bei hellichtem Tage, auf dem Platz vor der Kathedrale!»
Sommer begreift nicht, warum der Vorsitzende des Brieftaubenvereins seine Tauben nicht bei hellichtem Tage auflassen soll und wieso der Platz vor der Kathedrale dazu ungeeigneter wäre als irgendein anderer, er faßt auch nur halb, was an diesen Nachrichten so besonders Aufregendes sein soll — »Beim St.-Jean-Jahrmarkt hat es immer eine ganze Anzahl deutscher Schausteller gegeben.«
«Ja, nicht wahr? Ich habe mir das gleich gesagt. Ich habe Sie doch selbst mit den Leuten reden hören, damals, als wir noch alle zusammen hinüberfuhren. Gaston meint allerdings — dreiundzwanzig — ich muß selbst sagen —»
«Aber, Madame Léandre! Wanderndes Volk, das überall und nirgends zu Hause ist!»
«Eben, eben! — Nein, ich habe immer gesagt: ihr kennt die Deutschen nicht. Herr Sommèr — wir haben doch über zwanzig Jahre mit ihm verkehrt — Nicht wahr, Sie halten es doch auch für ausgeschlossen, daß Ihre Landsleute, wie soll ich sagen, hergeschickt sind, daß sie das drüben seit langer Zeit vorbereitet haben?»
«Aber nein! Das heißt, wie soll ich das wissen! Ich sitze am Ende genau so wie Sie in Bayencourt, Madame Léandre!»
«Ah, verzeihen Sie!» Sie legt die ausgestreckte Hand begütigend auf die seine und sieht ihn mit einem Abbitte heischenden Jungmädchenblick an, der so seltsam steht zu dem verwitterten, von Puder grau gewordenen Gesicht.
«Ja, es wird nicht leicht für Sie werdenl Denken Sie nur gar nicht, daß ich dafür kein Verständnis habe! Wenn Marie Louise das erlebt hätte! Sie hat doch Frankreich so geliebt — um Himmels willen, ich rede ja, als ob es schon so weit wäre — Gastons Brief ... Hoffen wir das Beste, nicht wahr?« Sommer erhebt sich: «Sie müssen mich entschuldigen, sie warten auf mich mit dem Abendessen.»
An der Tür schlägt Madame Léandre plötzlich die Hände zusammen: «Nein, das habe ich ganz vergessen, Ihr Marcel, er müßte doch sofort ausrücken, nicht wahr? Schrecklich, schrecklich! Und Jean, Sie haben ihn zwar zurückgestellt — Nun, wenn es sein soll, es wird für das Vaterland sein! Unsere Kinder werden denen da drüben zeigen, daß man Frankreich nicht einfach überfallen kann!»
Sommers Gesicht bleibt unbeweglich.
«Jeder wird seine Pflicht tun, Madame!»
4
Die Dorfstraße liegt unbegangen. Sommer hat mechanisch den geraden Weg eingeschlagen. Warum auch der verlorene Bogen nach Norden? Was ihm das Herz schwer macht, fällt dabei nicht ab, er bringt es mit, mit jedem Schritt, den er tut, nähert es sich der Ferme —
Täuscht er sich? Überall aus den zum Abend geöffneten Fenstern dringt erregtes Gespräch. Oben an der Straßenkreuzung erscheint jetzt eine Gruppe junger Leute. Sie bleiben stehen und reden gestikulierend aufeinander ein. Als er sie erreicht hat, sieht er, daß es nicht die einzigen sind. Links auf dem Weg nach Souastre steht eine zweite Gruppe, halb in den Hof der Sauvets hinein. Die Sauvets halten nebenher das „Café“ von Bayencourt, es liegt im Hintergebäude und ist durch hellgrüne Strohjalousien kenntlich. Lautes Stimmengewirr klingt herüber, ungewöhnlich zu Anfang der Woche.
Sommer wird freundlich begrüßt. Es sind ein paar Knechte, der junge Thomas scheint auf dem Heimweg bei ihnen stehengeblieben zu sein.
«Was gibt es?»
Verlegenes Schweigen, als schäme man sich vor einem Einsichtigeren Unsinn zu reden. Thomas überwindet es zuerst.
«Donner nochmal, wo sie sagen, daß wir den Krieg haben werden!»
Ja so, es hat in den Zeitungen gestanden. Oder haben die Braven das streng vertrauliche zu Hause streng vertraulich weitererzählt? Nein, es ist Madame Tapin gewesen. Wie ein Bazillenträger hat sie die Ansteckung von Amiens her übertragen.
Anderthalb Stunden, ein viertel Quadratkilometer Dorf und schon wütet es in den wildesten Gerüchten. In Amiens sind dreiundzwanzig deutsche Spione verhaftet worden, sie werden wahrscheinlich schon morgen früh erschossen werden. Über der Kathedrale hat ein Flugzeug unerkennbarer Abkunft gekreist, gleichzeitig sind von allen Ecken der Stadt Scharen von Brieftauben aufgelassen worden. Bei Acheux hat man versucht, eine Brücke zu sprengen.
«Aber man sollte diese Frau festsetzen! Verbrecherisches Altweibergeschwätz! Ihr kennt doch Madame Tapin!»
Die vier lachen; ja, sie kennen Madame Tapin. Aber als Sommer weitergeht, hört er gerade noch, wie Thomas sich leidenschaftlich an die anderen wendet: «Und ich sage euch —»
Er hat die kleine Höhe vor dem Dorf wieder erreicht. Unwillkürlich bleibt er stehen und sieht zurück. Wieviel Zeit ist seitdem vergangen? Das gleiche Bild, nur daß die Strahlen der zum Untergang eilenden Sonne schräger fallen, der Rauch aus einem Schornstein, wo sie noch eben das Futter für das Vieh bereiten, sich goldener kräuselt. Ein paar Fenster glühen im Abendlicht, als schlügen Flammen dahinter.
Sind sie es, die in dem Mann auf der Höhe eine ferne Erinnerung hervorrufen? Manchen Abend hat er damals in Paris vom Balkon seines Zimmers im vierten Stock auf die gegenüberliegende Häuserfront gestarrt, das wechselnde Spiel der erleuchteten und wieder verdunkelten Fenster verfolgt; tief beunruhigt von der Fülle unsichtbaren Schicksals hinter der blinzelnd unveränderlichen Maske aus Stein, Schiefer und Glas.
Es ist dem Landkind wie ein Sinnbild der großen Stadt erschienen, in der er sich vom ersten bis zum letzten Tag als Fremder gefühlt hat, des ruhelosen Her und Hin, des flutenden Gewanders, um das Häuser neben Häusern, Straßenzüge auf Straßenzüge als eine einzige ausgehöhlte Schale stehen.
Ein Trug von Ewigkeit, in dem nichts ewig ist als der Wechsel, der heimatlose Aufbruch von Wohnung zu Wohnung, vom Guten zum Bessern, vom Bessern zum Schlechten, wie es der Zufall eines erbitterten Lebenskampfes gerade fügt und will.
Und heute? Und hier? Ein Trug auch das, das „ewige“ Dorf, mit seinen festgegründeten Stätten, Wiege und Grab von Generationen? Unter den Dächern dort unten hockt jetzt verwandeltes Volk, beugt sich vor seiner Angst oder überschreit sie, Stunden haben genügt, und alles ist fragwürdig geworden.
Der feste Hof, der Jahrhunderten getrotzt hat, zeigt seine Eingeweide, im Fachwerk der Kätnerwohnung knistert das Feuer, die Pflugschar, die der Sohn dem Alten vor kaum einem Jahr aus der Hand genommen hat, führt schon ein Fremder. — Und die Felder ringsum? Die stark und demütig reifende Frucht? Was gilt es noch, daß das Ratour gehört oder nicht, zur Ferme gehört oder nicht? Ein Mann des Augenblicks ist vor ein, zwei Stunden diesen Weg gegangen, er hat triumphiert, daß hier das Korn ungleichmäßig, von Unkraut durchwachsen steht, er hat den dichteren Stand dort drüben, die volleren Ähren für das Maß aller Dinge gehalten. Es ist ein Mann, der gedacht hat, «Mein Sohn steht in Amiens beim 72. Infanterieregiment», nein, nicht einmal das hat er gedacht, mag er da stehen, er steht da noch lange gut —
Die Waldwand der Ferme wächst langsam hoch, die untergehende Sonne streift sie und die sieben Pappeln mit ihrem schrägsten Licht. Auch sie sieht anders aus, ernster, verschlossener, ja als schließe sie ab, decke im Rücken, anstatt verlangend über das weggeschnittene Stück nach Westen zu sehen. Heda, heda! Wir sind dabei, uns auf das schönste gehen zu lassen, armseliges Stück Menschenkind, das mit seinen Freuden und Sorgen gleich die ganze Natur in hellen oder dunkeln Farben bemalt. Was ist schließlich bisher geschehen? Man hat einen Erzherzog und eine Erzherzogin erschossen, vielleicht ist es ganz gut, daß sie den bissigen Kötern da unten einmal die Peitsche zeigen, sollen sie endlich Ruhe halten in ihren Bergtälern, und wenn sie es schon nicht lassen können, gegeneinander hinter Felsstücken im Anschlag liegen! Das müssen selbst die in Petersburg einsehen: Die Zivilisation Europas aufs Spiel gesetzt für eine Nation von Halbwilden! Eigentlich hat Bary es mit seinem naiven Gemüt nicht einmal so falsch gesehen. Und wenn dann noch die Deutschen in Wien ihr Wörtchen sagen — nein, allein werden sie sich da unten in Österreich auf das Abenteuer nicht einlassen. — Ruhe, Ruhe! Morgen werden wir weiter sehen.
Auf dem Weg zwischen Waldrand und Feld wartet etwas. Sommers Gesicht leuchtet auf, Lucien hat den Vater erblickt, er rast, als gälte es einen Wettlauf, auf ihn zu und fliegt ihm, die Beine nach vorn geworfen, um den Hals, ein Klammersprung, aus den er besonders stolz ist. Yvonne folgt hüpfend mit der zögernden Zärtlichkeit, die er so an ihr liebt. Er faßt ihr lächelnd emporgewandtes Gesicht unter dem Kinn: «Na, Kleines?»
Es sind aufregende Dinge geschehen. Sie haben mit dem kleinen Eselskarrem den der Vater eigens für sie zurechtgezimmert hat, eine ganz weite Ausfahrt gemacht, «weißt du bis dahin, wo es so furchtbar steil heruntergeht», und Pique — so heißt der kleine Störrische — ist ganz folgsam gewesen, er hat sogar so arg getrabt, daß Klein-Henriette von Meissoniers schrecklich zu schreien angefangen hat, und überhaupt hat er nur ein einziges Mal nicht weitergewollt. —
«— und dann hab’ ich ihn beim Zügel genommen und da ist er mir sofort gefolgt», unterbricht Yvonne den anreißerischen Bruder und strahlt zu dem Vater hinauf.
«Ja, aber wenn ich ihn genommen hätte, wäre er mir auch gefolgt!»
Yvonne streitet nicht, obwohl sie es trotz ihrer scheinbaren Sanftheit sehr gut imstande ist. Sie schmiegt sich an den Vater und schweigt, während Lucien die Wechselfälle der Fahrt in heißen Schilderungen weiter entbreitet.
Sommer atmet die kühle Luft, die vom Wald her abendlich über den Weg langt. Er fühlt, wie unter dem Anhauch des jungen Lebens neben ihm das, was noch an Druck geblieben ist, sich langsam von ihm hebt. Überall wachsen sie so heranglänzen die Augen, schmiegen sie sich an den Vater, wenn sie ihm die immer aufregenden Erlebnisse des Tages erzählen.
Die Männer, die jetzt Europas Schicksal in Händen haben, sind schließlich Menschen wie du und ich. Sei es um die Erwachsenen — sie werden nicht wagen, das aufs Spiel zu setzen.
5
Berthe wartet mit dem Abendessen auf sie. Sie ist in ein Buch vertieft, von dem sie sich nur schwer loszureißen scheint. Sie setzen sich an den ungewöhnlich großen Mahagonitisch, der von einem schwer ausgebuchteten Sockel getragen wird. Er ist nicht gedeckt, sondern nur durch eine abgepaßte Glasplatte geschützt, und das auch nur so lange, bis die Kinder ihn nicht mehr durch Teller- und Messerschrammen beschädigen, vor jedem Platz und unter jeder Schüssel werden dann kleine flache Strohgeflechte liegen. Das ist eine geschmackvolle Laune Sommers, der sie seinerzeit mit schwerer Mühe bei Marie Louise durchgesetzt hat, er ist in den tiefrot leuchtenden Glanz verliebt, die einfachste Speise scheint darauf festlich zu werden.
Die Zwillinge sind in ausgelassener Stimmung. Sie versuchen sich gegenseitig Fleischstücke vom Teller wegzupicken, so daß Sommer schließlich «Scht» sagen, und als das nichts hilft, Berthe als mütterliche Respektperson Lucien sogar einen Klaps auf die Finger geben muß, was mit ein paar kleinen Tränen quittiert wird.
Berthe, zuerst noch ein wenig wie benommen, beginnt zu ihrer gewohnten Lebhaftigkeit aufzutauen. Sie ist bei den Déraings in Foncquevillers gewesen und hat sich die neue Butterknetmaschine angesehen. «Du glaubst nicht, wie praktisch das ist, man dreht einfach an einem Schwengel wie bei einer Wringmaschine, und dann sind da aus einer runden Platte Stahlrippen, die sich um sich selbst und um die Platte drehen, wir müssen uns das unbedingt anschaffen, warum hast du es eigentlich noch nicht?» Und als sie nach Hause gekommen ist, hat gerade die große Zuchtsau ihre Jungen gehabt, vierzehn Stück, «sie sind ja wieder so entzückend, wie rosiges Fettpapier, man wird immer nur die Hälfte zu ihr lassen können, die andern tun wir dann solange in einen zugedeckten Korb». —
«Hast du die Zeitung gelesen?» 
Berthe errötet, scheinbar ohne Grund. Aber ein Grund ist schon vorhanden: sie glaubt zu wissen, worauf der Vater hinzielt: auf ihren leidenschaftlichen Anteil an dem Caillaux-Prozeß, der jetzt eben alle Spalten füllt. Sie weiß, wie sehr ihm die sensationell aufgemachten Berichte der Pariser Gerichtskorrespondenten zuwider sind, er nimmt dann, wie eben jetzt, tagelang die Zeitung nicht zur Hand.
Sie sagt, und möchte es möglichst gleichgültig sagen: «Ja, ich habe hineingeschaut.» 
«Der Caillaux-Prozeß?»
«Auch.» 
«Und sonst?» 
«Sonst? Ach ja, sie schreiben, daß es vielleicht Krieg gibt, aber das ist ja Unsinn.» 
Sommer schweigt. Ist er verstimmt? Sie wartet auf den Blick, den sie so schwer ertragen kann. Aber er sieht vor sich hin und ißt das Stück Käse, das er gerade genommen hat, wie ungern zu Ende. Als die Zwillinge wieder einmal laut werden, fährt er sie ärgerlich an; sie merken die veränderte Stimmung und froh, eben fertig zu sein, bitten sie: »Dürfen wir noch etwas draußen spielen?« 
«Aber nicht zu lange. — Berthe!» 
«Ich bringe sie schon rechtzeitig zu Bett.» 
Berthe deckt den Tisch ab. 
«Brauchst du noch etwas?» 
«Ach ja, die Zeitung. Und auch die von gestern, wenn sie noch da ist.» 
Berthe hat sie aufgehoben. Es kommt vor, daß er um irgendeiner Sache willen danach fragt. Auf der ersten Seite der Sonntagnummer steht in großen Buchstaben: «Herr Caillaux als Zeuge vor den Assisen.» 
«Lies doch das dumme Zeug nicht, Berthe.» 
Sie nickt. Endlich. Und es hat noch ziemlich gut gegangen. Sie holt sich ihr Buch, das sie mit dem Titel nach unten auf einen der Halbschränke gelegt hat, sie hält es auf dem Rücken, als sie dem Vater den Gutenachtkuß gibt. Sommer merkt es nicht. Er ist es zu gewohnt, daß sie mit rotem Kopf in irgendeinem Buch steckt, meist zehnmal gelesenen albernen Jungmädchengeschichten, die zu ihrer sonstigen Reife längst nicht mehr passen. Er weiß freilich nicht, daß sie seit einiger Zeit zu den harmlosen aber doch nicht mehr jungmädchenhaften Romanen aus dem Nachlaß der Mutter übergegangen ist. Kein Grund, das nicht offen dem Vater zu zeigen, sie ärgert sich über sich selbst.
«Gute Nacht. Ich lege mich dann auch bald hin.» 
Sie freut sich schon jetzt. Sie, ihr Bett und das Buch, das ist der schönste Dreiklang des Tages.
6
Sommer ist allein. Sein Blick bleibt mechanisch an den fett überdruckten Spalten hängen, die über den Caillaux-Prozeß berichten. Wie er das haßt, das wohlige Herumgeschnüffel in den privatesten Dingen, um so abstoßender durch die scheinheilige Diskretion, mit der man das Nichtgesagte zehnfach zu verdeutlichen weiß. Ein Finanzminister, der eine geringfügige Steuer auf die höheren Einkommen durchsetzen will, skrupelloser Kampf der Interessenten, Veröffentlichung von Liebesbriefen an seine Frau, als sie noch die eines andern war, der tödliche Schuß dieser Frau auf den Urheber oder vielmehr das Werkzeug dieser Kampagne — das ist es, was seit einer Woche und gestern noch ganz Frankreich in Atem gehalten hat.
„... Recht darauf zu erfahren, was das so oft und mit so viel Geheimnis erwähnte Dokument ... Wenn es zutrifft, daß Herr Caillaux hinter dem Rücken des Ministerpräsidenten ... Die Deutsche Botschaft ...“ 
Der Raum liegt im gedämpften Licht der Tischlampe, von den Tellerbrettern und dem Löffelgehäng der alten normannischen Anrichte leuchtet es in kleinen Reflexen. Die Standuhr auf dem schweren Holzmantel des weiß und lila gekachelten Kamins mißt eine Stille, die nur durch das Geknister der umgewendeten Blätter, einmal durch das Prusten und Trappeln der zu Bett gehenden Kinder unterbrochen wird, die sich auf ihre Weise bemühen, leise zu sein.
Der Blick des Mannes am Tisch, der langsam Zeile für Zeile entlang gegangen ist, liegt sorgenvoll im Lampenlicht, die rechte Hand aus der rot leuchtenden Tischplatte hält die abgenommene Lesebrille.
Nicht der Ernst der Nachrichten aus Wien und Petersburg, der bei genauerer Kenntnis auch ihm, dem politisch Ahnungslosen nicht entgehen kann —: Es ist das Gefühl dieser Ahnungslosigkeit selbst, was Sommer beim Lesen immer bedrückender ins Bewußtsein getreten ist. Ein Blitz aus heiterm Himmel?
O alles weniger als das! Was jetzt herunterzuzucken droht, hat sich seit Jahren zusammengebraut, es hat schon an mehr als einem wolkenlosen Julitag wie heute zu Häupten gestanden — und er ist darunter herumgegangen, gleichgültig, sorglos oder höchstens mit einer Geste belästigter Abwehr, wenn ein Schatten davon ihm allzu deutlich über den Weg fiel. Gewußt? O ja, er hat darum gewußt, es hat sogar eine Zeit gegeben, wo er an politischen Vorgängen lebhaft Anteil genommen hat, damals zu Beginn, als die Pariser Atmosphäre noch frisch herüberwirkte. Aber wenn jedes unbefangenere Wort zwei sattsam bekannte Falten auf einer vertrauten Frauenstirn hervorruft? Es ist ihm nicht ganz leicht geworden, aber am Ende hatte Marie Louise Recht und ein Anrecht zugleich.
Siebzig hat damals kaum ein halbes Menschengedenken zurückgelegen, die Armee des Generals Bourbaki ist nach der verlorenen Schlacht bei Amiens durch diese Gegend zurückgeflutet, sie haben feindliche Einquartierung mit ihren großen und kleinen Unzuträglichkeiten kennengelernt — War es zu viel, wenn sie als Entgelt für Scholle und Hof, die sie ihm mit sich selbst in die Hand gab, einen im Vergleich so geringfügigen Verzicht verlangte? Und doch ist Sommer heute, als habe er vielleicht Falten Falten lassen sein sollen. Er hätte ja auch bloß nicht davon zu reden brauchen (obwohl er aus der Erinnerung weiß, wie schwer das ist) ... Schließlich: Was hat ihn später und besonders nach Marie Louises Tod gehindert, zu kannegießern wie nur irgendeiner in der Gegend?
Ja, das ist es! Dummes Geschwätz auch das übliche politische Gerede der Neunmalweisen! Wäre er, wenn er außer dem „Journal d’Amiens“ den „Temps“ und meinetwegen sogar die „Kölnische Zeitung“ gelesen hätte, ein Gran klüger, ein Gran vorbereiteter gewesen, nicht als die großen Politiker im Salon von Madame Léandre, sondern fast alle die XYZs in allen Ländern, die sich auf ihre politische Weisheit einen Klumpen zugute tun? Ja, und wozu eigentlich? Um den Gemeindehäuptern, Bary, Bonfour und Cabochette, mit etwas mehr Einsicht und etwas weniger Unsicherheit einen politischen Vortrag zu halten, als er es heute abend getan hat?
Sommer stutzt. Es ist ihm als sei er in die Nähe eines Punktes gekommen, der ihm schon die ganze Zeit über unbewußt zu schaffen gemacht hat. Wahrhaftig! Hat er nicht den Dreien, nein Vieren, Rede und Antwort gestanden, als sei er in irgendeinem Sinne verpflichtet, davon mehr zu wissen als sie? Hol sie der Teufel, was heißt denn das! Plötzlich fällt ihm auf, daß alle, alle ohne Ausnahme, mit denen er heute geredet hat, sich zu ihm verhalten haben, als ob — nun, als ob er natürlicherweise irgendwelche geheimnisvollen Kenntnisse besitze!
Ratours Ausbruch, die unsinnige Aufforderung, zu beschwören, daß die Deutschen nicht über Frankreich herfallen werden — haben die andern, Bonfour, Cabochette, Madame Léandre, freundschaftlich und jeder in seiner Art, nicht im Grunde das Gleiche verlangt? Sommer fühlt, wie ihm das Blut zu Kopf schießt: Bary, nein er täuscht sich nicht, er ist in der Verwirrung des Augenblicks darüber weggekommen — Bary hat klar und deutlich Ihr Kaiser zu ihm gesagt! Ihr Kaiser — als wären dreiundzwanzig Jahre mit einem Schlage ausgelöscht, als hätten sie nicht bei Gelegenheit oft genug einträchtig über „den“ Kaiser geschimpft, seine theaterhaften Coups, das großmächtige Gerede, das allmählich in einer belanglosen Konferenz versickerte. Sei es um Madame Léandre und ihre kleinen Anzüglichkeiten, sie verkörpert schließlich die Schicht, in der die gängigen politischen Begriffe zu Hause sind: das gewalttätige und heimtückische Deutschland, Elsaß-Lothringen, der Krieg 1870, die Revanche, aber Bary! Das ist dummer Verrat, um so kränkender als er sicherlich ganz unbewußt geschieht. Oder wäre ... am Ende ...?
Nein. Sommers Zorn macht einer unvermittelt aufleuchtenden Erkenntnis Platz. Er sieht wieder Barys Blick auf sich gerichtet, er hört seine aufgestörte Stimme. Nein. Nein. Kein Verrat: Angst ist es gewesen, nicht nur bei Bary, bei allen, selbst bei Ratour — der triebhafte Drang, sich im Augenblick des Schreckens noch an den letzten zu klammern, der zu den herabdrohenden Mächten in irgendeiner Beziehung steht: «Du bist drüben geboren, du mußt jetzt sagen, daß es nicht sein kann, wir kennen euern Kaiser, euere Staatsmänner nicht, dich haben wir vor uns, sie sind schließlich Deutschbürtige wie du, so sag doch schon, daß es nicht sein wird!» Kindliche Hilflosigkeit. Als ob sie ihm antworten könnten, was Herr Poincaré oder Herr Delcassé im Sinne tragen, nur, weil sie auch Franzosen sind!
Sommer wird der gewonnenen Einsicht nicht froh. Plötzlich taucht Madame Tapin vor ihm auf, wie sie hinter ihm herschaut. Also auch das schon! Madame Léandres Stimme klingt an sein Ohr: «Ja sie werden es nicht leicht haben!» Wenn es nun wirklich hereinbricht? Nun und? Es ist nicht das erstemal, daß er sich über dies Äußerste, das immer im Bereich der Möglichkeit stand, Gedanken gemacht hat. Drüben in der Schublade liegt das Dokument, das ihn zum französischen Bürger erklärt, er hat in jedem Augenblick gewußt, was es bedeutet, er wird sich treu an das halten, was es ihm auferlegt. Das wissen sie auch, keiner, selbst nicht Ratour im Grunde, zweifelt daran. Was verbindet ihn nicht alles mit diesem Lande: die besten Jahre seines Lebens, das Grab auf dem kleinen Friedhof, die Kinder, die oben schlafen, der Sohn unter der Trikolore drüben in Amiens — Sommer ist, als ob er jetzt zur Wirklichkeit erwache.
Marcel! Wie hat er das einen Augenblick vergessen können! Ja, was bedeuten die Nichtigkeiten, Barys Ausgleiten, Madame Léandres Geschwätz, und wie sie ihn sehen oder nicht sehen, vor der Sorge um den Jungen! Die Angst der andern, zum erstenmal hat sie ihn voll im Nacken, aus den Spalten der Zeitungen vor ihm scheint im Lampenlicht es drohend aufzusteigen — 
Sommer erhebt sich. Der Raum wird ihm zu eng. Ein Gang in die Nacht, die nach der langen Dämmerung grauschwarz vor den Fenstern liegt. Noch ist es nicht soweit, noch kann alles vorübergehen.
7
Ein Lichtschein — kam er nicht aus Berthes Zimmer? — erlischt im Augenblick, wo Sommer in die Tür des Wohngebäudes tritt. Unter dem mondlosen Sternenhimmel ist der Hof eine massige Feste. Nur noch die wechselnden Laute des Schlafs sind lebendig: das Klirren einer Kette, der Aufschlag eines Hufs, Gegacker und Geflatter eines aufgeschreckten Huhns aus dem Geflügelhaus, das unwahrscheinlich starke Schnarchen eines Mannes in der Leutewohnung drüben, wo die kleinen Fenster weit offenstehen. Sommer geht auf das rechte Torgewölbe zu. Die Wand des Stallgebäudes, das den weiträumigen Hof auf dieser Seite flankiert, wächst ihm mit der Größe der nächtlichen Dinge entgegen. Die Gehtür im Torflügel ist wie immer unverschlossen. 
Vor ihm zeichnen sich die Silhouetten der Außengebäude in den Nachthimmel. Rechts an der Zufahrt das »große« Leutehaus, links etwas erhöht die beiden Geräteschuppen, in der Mitte die vorlängst zur Zucht neu eingerichteten Schweineställe, von dem alten Nußbaum überragt.
Ein leichtes, schleifendes Kettenrasseln, ein kleines, bescheidenes Piepsen kommt aus der Richtung des Baums. Armer, alter Kerl, wie lange ist es her, daß man sich nicht mehr mit dir beschäftigt hat. Die „Neuen“, die beiden deutschen Schäferhunde, mit denen du es nicht an Reinheit des Bluts, wohl aber an Härte und Mut aufnehmen kannst, haben dir ein gutes Stück von deinem verdienten Anteil weggenommen.
Sommer geht hin, das Tier begrüßt ihn mit der lautlosen und auch in der Bewegung zart zurückhaltenden Freude, die ihm von jeher eigen gewesen ist. Komm! Gehst mit, so warm ist die Julinacht, wie viele Winter hast du bei aller Kälte hier draußen gelegen, aber immer noch besser, als hätte dich das fahrende Volk zu Tode geprügelt, dem ich dich drüben am Gartenzaun abhandelte, nicht wahr, Treux, du Hund mit dem merkwürdigen Namen?
Der Kopf des Hundes schmiegt sich der streichelnden Hand entgegen, Sommer kettet ihn los, ein paar dankbare Sprünge an dem Herrn hinauf, dann läuft er erwartungsvoll der Ausfahrt zu.
Warum kommt der Herr nicht? Da steht er noch immer in dem schwarzen Schattengewölbe unter dem Nußbaum. Eine plötzliche Müdigkeit hat Sommer überfallen, nein, nicht Müdigkeit, obwohl die Schwere des Tags sich in der unbewegten Schwüle lastend fühlbar macht: Eine Abneigung, auf das freie Feld hinauszutreten, den bergenden Bannkreis des Hofes zu verlassen, warum? Ach was, nicht mehr denken — 
Treux trabt forschend heran, die Schnauze am Boden stromert er ein wenig um den Herrn, dann legt er sich still zu seinen Füßen. Ein andermal, du treue Seele, ich werde es nicht vergessen. Geduldig fügt der Hund sich wieder an die Kette.
Der Hof liegt in dunkler Versunkenheit, als Sommer zurückgeht. Kein Laut ist jetzt zu hören. Oben empfängt den Schlaftrunkenen weit aufgeschlagen das breite französische Bett, das er einst mit Marie Louise geteilt hat.
Es hat ihn aufgestört ohne Übergang in das Wachsein. Sein Herz schlägt hart und schnell wie in der Nachwirkung eines jähen Schreckens. Die Luft im Zimmer ist stickig und schwer.
Berthe hat vergessen, die Fenster zu öffnen.
Nichts hemmt von hier oben den Blick. Felder, Wiesen und Felder die Nähe, schwach erhellt vom Geflimmer der Sterne, hinter einer Bodenfalte die Drillingsdörfer, Foncquevillers, Gommécourt, Hébuterne, als graue, niedrige Wälle, ununterscheidbar in dunkler Tiefe die Ferne —
Osten — — 
Sommer starrt hinüber. Das hat er unten vermeiden wollen, es zwingt ihn, es kommt ihm entgegen, es läßt ihn nicht. Wieder ist es der Trug eines Unwandelbaren, was ihn im tiefsten ergreift. Der Horizont, das Land, das er begrenzt, die Kuppel des Himmels darüber sind wie die Feste der Welt. Aber die kreisenden Sterne, die ewig unveränderlichen, sie kreisen so über Petersburg, Belgrad, Wien und Berlin, sie sehen auf die dunklen Fenster der deutschen Botschaft in Paris, zu der Herr Caillaux in geheimnisvollen Beziehungen gestanden hat, sie leuchten über dem Quai d’Orsay, der Wilhelmstraße, der Hofburg, dem Kreml. Und sind die Fenster der deutschen Botschaft dunkel, so erlöschen sie an den Generalstabsgebäuden der Hauptstadte vielleicht erst in den frühen Morgenstunden. Wer weiß, ob nicht in diesem Augenblick eine Hand über eine Karte fährt, auf der der weite Raum, der ihn umgibt, in ein namenloses Nichts zusammengeschrumpft ist, wer weiß, ob, während die Völker sich sorgen, sorgen und — hoffen, nicht hinter ein paar Stirnen schon der Gedanke wohnt, der diese ganze „Ewigkeit“ in ein fragwürdiges Heute, in ein noch fragwürdigeres Morgen verwandelt? Wollen sie drüben den Krieg?
Kaum hörbar der Klang einer Kirchturmuhr, ein einzelner Schlag. Wie lange hat er geschlafen? Die Zeit der hellen Nächte ist vorüber, der wandernde Schein im Norden seit Tagen erloschen, aus dem Osten kommt kein Licht, es ist tief in der Nacht.

Zweites Kapitel

1
Pierre tritt aus der Milchkammer. Er hat sie beim Vorübergehen halb offenstehend gefunden, drinnen liegen die Seihtücher ungewaschen durcheinander, von den Bottichen ist nur die Hälfte gesäubert.
«Marie! Elise!» Die beiden Mägde sitzen hinten unter dem Vordach zur Scheune, sie sehen die Säcke für die Ernte nach, wenigstens geben sie vor, damit beschäftigt zu sein: schon von weitem erkennt man, daß das Getratsche mit Hyazinthe, der bei ihnen an einem Pfosten lehnt, die Hauptsache ist.
Elise legt den Sack, den sie gerade in Händen hat, beiseite und kommt heran mit dem selbstbewußten Wiegen des üppigen Fleisches, das sie für einen ausreichenden Grund ihres Selbstbewußtseins hält. Marie ist aufgestanden und sieht herüber, bleibt aber stehen und wartet vorerst das Weitere ab.
Sie hat Pierre aus der Milchkammer kommen sehen, auch kennt sie sich im Klang seiner Stimme aus. «Ihr meint wohl, ihr könnt euch jetzt alles herausnehmen? Eine Schweinerei ist das! Wollt ihr die Milch nachher in die schmutzigen Bottiche tun?»
«He, wo der Postbote gerade die roten Briefe für André und Octave gebracht hatte! Was wollen Sie, man hat es vergessen!» 
Sie sieht ihn mit dem plump koketten Blick an, der vor seinem düsteren Gesicht nicht zum erstenmal versagt.
Gerade betritt Madame Patte, von draußen kommend, den Hof. «Was gibt es?»
Pierre winkt, einen Schein verlegen, zu der offengebliebenen Milchkammer hinüber. «Eh, Madame Patte, Ihre Sache, ich kam nur gerade vorüber.» 
Madame Patte schwankt einen Augenblick, gegen wen sie sich wenden soll. Pierre ist für sie immer noch der Hergelaufene, vor dem sie sich bis in kleinste Kleinigkeiten neidisch zu behaupten sucht, Elise kann sie nicht ausstehen, weil das Mannsvolk hinter ihr her ist und weil sie alles tut, daß es es ist.
«Möchte wissen, was ihr noch mehr braucht, um einmal ein Auge zuzudrücken. Ein Krieg, das genügt euch wohl noch nicht?» 
Sie hat sich zur Attacke gegen Pierre entschlossen, Elise kann immer ihren Auswischer bekommen.
«Soviel ich weiß, sind Elise und Marie bisher noch nicht einberufen.»
«Und im übrigen laßt das meine Sorge sein. He, Marie! Macht voran! Das Vieh hat des Kriegs wegen die Euter nicht später voll.» 
Pierre hinkt zum Wohnhaus hinüber. Elise kommt dem Anschnauzer Madame Pattes geschickt zuvor: «Sagt, was ihr wollt, das gönnt euch euren gesunden Gliedern nicht, die Krüppel.» 
«Genug geschwätzt. Und legt nachher die Säcke zusammen.»
Sommer sitzt untätig an dem rohen, altersrauhen Tisch, als Pierre in die Stube im Erdgeschoß tritt. Es ist der einzige Raum, den er ganz so gelassen hat, wie er ihn antraf. Die sonderlinghafte Gleichgültigkeit Mr. Paradis’, Marie Louises Vater, gegen alles äußere Behagen begegnet in diesem zusammengewürfelten Durcheinander einfachster Gegenstände seinem eigenen Sinn für das Zweckhafte einer Arbeitsstätte.
Pierre bleibt zögernd stehen.
«Nun?» 
«Es wäre — wenn wir uns vielleicht einmal die nächsten Tage überlegen wollten, Herr Sommèr? Die Leute, die abgängig sind, und dann ist doch übermorgen der Gestellungstag für die Pferde und Fuhrwerke drüben in Pas.» 
„Am vierten Mobilmachungstag“ — Sommer sieht im Geiste die handschriftlich in den Drucktext eingefügten Worte. Eine Woche ist es her, daß das in Barys Stube vor ihm gelegen hat. 
«Teil es nur ein, Pierre. Wieviel sind wir denn noch?»
«Mit André und Octave, die morgen wegmüssen, fehlen uns sieben Leute. Aber das Schlimmste sind die Pferde und vor allem die Karren. Weiß der Herr, ob wir die drei neuen abgeben müssen?»
«Wenn es Ersatz für ein Gefährt ist, das beim letzten Klassement eingetragen wurde?»
«Zwei davon bestimmt. Wenn Sie einmal nachsehen wollten?» 
Sommer tritt an den ramponierten Empiresekretär und zieht eine der dicht übereinandergereihten Seitenschubladen heraus. 
«Mit dem Roggen warten wir wohl, bis wir das hinter uns haben. Vielleicht kann der Herr ein paar Leute aus dem Dorf bekommen. Ja, und Madame Patte hat da noch Verwandte in Achiet-le-petit. Sie könnten sie mal hinüberschicken?«
Sommer hat die Stammrolle gefunden. «Leider. Der Dritte gehört auch dazu. Wenn man das vorausgesehen hätte — Noch etwas?»
«Ja — wird der Herr am Mittwoch mit nach Pas hinüberfahren? Es wäre, daß wir doch noch etwas frei bekämen. Herr Bary meint —»
«Bary, naja! Wo ihm die Gemeindeangelegenheiten so wenig Zeit gelassen haben, sein Zeug instand zu halten — Nein, alles zu gut im Schuß bei uns, Pierre. Und dann — ich habe noch keine Nachricht aus Amiens.»
«Der Briefträger meint, daß die Privatpost nicht mehr herüberkommt.»
«Was sagst du? Sie werden doch nicht schon ausmarschiert sein?» Sommer geht erregt im Zimmer auf und ab. «Ohne den Jungen noch einmal gesehen zu haben!»
Pierre schweigt. Nicht nur aus Mitgefühl mit dem Vater, Marcel ist seine eigne Liebe. Wird er ihn wiedersehn?
«Ich fahre einfach morgen früh hinüber. Der kleine Jagdwagen ist doch in Ordnung? Halt, da fällt mir ein: haben wir nicht hinten in der Ecke noch zwei alte Sturzkarren stehen? Wir könnten sie herrichten lassen, wo uns die Wagen fehlen. Schick doch gleich heute abend —» 
Ein scharf schlagendes Geklingel vom Torweg. Gleich darauf erscheint ein junger Mann, sein Rad führend, auf dem Hof. Oben öffnet sich ein Fenster. «Hallo, Maurice!», dann kommt Berthe die Treppe heruntergesprungen.
«Der junge Baudaire! Was heißt das? Will er Feuer läuten?» Sommer runzelt die Stirn. Er mag Baudaire und er mag vor allem Berthes Vorliebe für ihn nicht sehr. Der Gastwirtssohn aus Sailly-au-bois schlägt nach seinem Vater, der ein halber Hanswurst und ein gerissener Geschäftsmann zugleich ist. Die Kneipe in Sailly—au-bois wird bis spät in die Nacht nicht leer, dafür sorgen ein riesiges Orchestrion und der alte, seit einiger Zeit auch der junge Baudaire mit kräftigen, nicht immer ländlichen Späßen und Scharlatanerien. Maurice hat als Spezialität frisch abgelegte Pariser Schlager und Schlagworte, die er von Abstechern nach Amiens herüberbringt. Wenn er sich auch Berthe gegenüber sichtlich zurückhält und es bei ihm selbst mehr jugendliches Geltungsbedürfnis ist — 
Die Tür wird aufgerissen, Berthe erscheint, sie glüht, hinter ihr Baudaire, mit einer gewissen Befangenheit, die er Sommer gegenüber in den ersten Minuten immer an den Tag legt.
«Denk dir, Vater, Maurice hat sich freiwillig gemeldet, er meint, sie werden ihn bestimmt nehmen, er hat in Amiens einen Vetter, der Unterleutnant ist! Und vierzehn sind es allein aus Sailly, darunter Albert Pontelieu, der den Gemischtwarenladen hat, und der ist doch schon über fünfzig. Und gleich kommen sie alle hier herauf, die Reservisten und die Freiwilligen und überhaupt alle, auch die Frauen. Sie machen einen Umzug über Ferme de la Haye und Bayencourt, gestern sind sie nach Hébuterne hinüber gewesen, und überall haben sie sie begrüßt und die Marseillaise gesungen, sag doch, Maurice!» 
«Na ja, wie Sie sich das denken können. Und ich wollte nur fragen, ob Ihre Leute mitkommen dürfen?» 
«Natürlich. Wenn nur die nötige Anzahl zum Melken und Füttern zurück ist.» 
«Versteht sich.» 
«Und du — du hast dich also freiwillig gemeldet. Bravo, bravo!»
«Ja ja, müssen doch sehen, wie drüben das Sauerkraut schmeckt.» Berthe will sich ausschütten vor Lachen.
«Und eine Karte habe ich mir auch schon geschrieben: Herrn Maurice Baudaire, Sohn vom alten Baudaire, postlagernd Berlin. Kriegst auch eine Ansichtskarte von da, Berthe, mit dem Kaiser am Galgen drauf ... Hörst du?» 
Der rhythmische Schlag einer dicken Trommel wird hörbar, Lärm und Gesang, der sich verstärkend näher kommt.
Sie stürzen hinaus. 
«Vielleicht sollte man ihnen ein Fäßchen Cidre aufschlagen?»
«Wenn der Herr meint.» 
«Meinst du nicht?» 
«Aber doch. Ich lasse mir dann von Madame Patte die Kellerschlüssel geben.»