Der letzte Kuss - Carly Phillips - E-Book

Der letzte Kuss E-Book

Carly Phillips

4,6
7,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Wer von ihnen den Herzenswunsch ihrer Mutter nach Hochzeit und Enkelkindern erfüllen soll, entscheiden die drei Brüder Rick, Chase und Roman mit einer Münze. Ausgerechnet Auslandskorrespondent Roman muss sich der Herausforderung stellen. Und der Weg zu seiner Traumfrau ist voller Hindernisse …

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 442

Bewertungen
4,6 (24 Bewertungen)
16
6
2
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Die Originalausgabe THE BACHELOR erschien bei Warner Books, New York
Ausgabe 03/2010
Copyright © 2002 by Carly Phillips Copyright © 2004 der deutschen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München, unter Verwendung eines Fotos von © Shutterstock/Yuri Arcurs
ISBN 978-3-641-09021-0V002
www.heyne.de

Inhaltsverzeichnis

PrologKapitel einsKapitel zweiKapitel dreiKapitel vierKapitel fünfKapitel sechsKapitel siebenKapitel achtKapitel neunKapitel zehnKapitel elfKapitel zwölfKapitel dreizehnEpilog

DAS BUCH

 

Raina Chandler ist mehr als stolz auf ihre drei Söhne Rick, Chase und Roman. Der einzige Kritikpunkt: Keiner von ihnen macht Anstalten zu heiraten oder eine Familie zu gründen, obwohl dies doch Rainas Herzenswunsch ist.

Um die Sache ein wenig zu beschleunigen, täuscht sie eine Krankheit vor. Und ihre besorgten Söhne, die alles tun würden, damit es der geliebten Mutter wieder bessergeht, treffen eine ungewöhnliche Vereinbarung: Einer von ihnen muss sein Junggesellendasein aufgeben, wer der »Glückliche« ist, entscheiden sie durch das Werfen einer Münze.

Ausgerechnet der Globetrotter Roman muss sich der Herausforderung stellen. Nach langen Jahren des Herumreisens zum ersten Mal wieder in Yorkshire Falls, begegnet er seiner Jugendliebe Charlotte Bronson. Die Funken sprühen, doch Charlotte hat Roman schon einmal abgewiesen.

 

»Eine durch und durch mitreißende Story mit warmen und lebendigen Charakteren.« Romantic Times

DIE AUTORIN

 

Carly Phillips hat sich mit ihren romantischen und leidenschaftlichen Geschichten in die Herzen ihrer Leserinnen geschrieben. Sie veröffentlichte bereits über zwanzig Romane und ist inzwischen eine der bekanntesten amerikanischen Schriftstellerinnen. Mit zahlreichen Preisnominierungen ist sie nicht mehr wegzudenken aus den Bestsellerlisten. Ihre Karriere als Anwältin gab sie auf, um sich ganz dem Schreiben zu widmen. Sie lebt mit ihrem Mann und den zwei Töchtern im Staat New York.

Prolog

»Ihnen fehlt nichts, Mrs. Chandler. Das Kardiogramm ist normal und ebenso Ihr Blutdruck. Nichts als eine Magenverstimmung. Ein Mittel gegen Sodbrennen, ein bisschen Ruhe und es geht Ihnen wieder blendend.« Die Ärztin legte sich das Stethoskop um den Hals und machte eine weitere Notiz auf dem Krankenblatt.

Ein Gefühl der Erleichterung überkam sie, ebenso stark, wie sie zuvor der Schmerz übermannt hatte. Das brennende Gefühl in Brust und Arm hatte sie unvorbereitet getroffen. Seit Raina ihren Mann durch einen Herzanfall im Alter von siebenunddreißig Jahren verloren hatte, konnte sie unerwartete Schmerzen nicht mehr leicht hinnehmen. Sie war gesundheitsbewusst geworden, achtete auf ihr Gewicht und hatte sich angewöhnt, stramme Spaziergänge zu machen, bis zum heutigen Tag.

Beim ersten stechenden Schmerz hatte sie zum Hörer gegriffen und ihren ältesten Sohn angerufen. Nicht einmal die Erinnerungen an die sterilen, antiseptischen Krankenhausgerüche oder die deprimierenden grauen Wände konnten sie davon abhalten, auf ihre Gesundheit zu achten. Bevor sie diese Welt verließ, war noch eine Mission zu erfüllen.

Sie betrachtete die attraktive junge Ärztin, die sie in der Notaufnahme betreut hatte. Jede Frau, die in dem trostlosen Krankenhausgrün gut aussah, verfügte über Potenzial. »Sie sind neu in der Stadt, oder?« Aber Raina kannte die Antwort, noch bevor die Ärztin genickt hatte.

Sie kannte jeden in Yorkshire Falls, jeden von den 1 723 Einwohnern – bald 1724, sobald der Herausgeber des Lokalteils der Yorkshire Falls Gazette und seine Frau ihr Baby bekommen hatten. Dr. Eric Fallon, ihr praktischer Arzt, war seit Jahren ein enger Freund. Eric war ebenfalls verwitwet und hatte erst kürzlich dem Wunsch nachgegeben, weniger zu arbeiten und sein Leben mehr zu genießen. Dass er eine neue Partnerin, Dr. Leslie Gaines, eingestellt hatte, war seine Antwort auf zu viel Stress.

Sie war neu in der Stadt und wurde dadurch für Raina zu einem nicht nur interessanten, sondern auch unverbrauchten möglichen Heiratsmaterial für ihre übersättigten Söhne. »Sind Sie verheiratet?«, fragte Raina. »Hoffentlich verzeihen Sie mir meine Neugier, aber ich habe drei ledige Söhne und …«

Die Ärztin kicherte. »Ich bin erst seit ein paar Wochen hier, und schon ist der Ruf Ihrer Söhne ihnen vorausgeeilt, Mrs. Chandler.«

Raina stand da mit stolzgeschwellter Brust. Ihre Jungen waren gute Männer. Sie waren ihre größte Freude und doch seit kurzem Anlass zu ständiger Frustration. Chase, ihr Ältester, Rick, der Lieblingspolizist der Stadt, und Roman, der Auslandskorrespondent und kleine Bruder, der sich zur Zeit in London aufhielt, um über einen Wirtschaftsgipfel zu berichten.

»Also dann, Mrs. Chandler …«

»Raina«, verbesserte sie und betrachtete die Ärztin prüfend. Nettes Lachen, Sinn für Humor und ein fürsorgliches Wesen. Nein, als Partnerin für Roman oder Rick käme sie doch nicht in Frage.

Roman würde von ihrer sachlichen Art gelangweilt sein, und die Arbeitszeit einer Ärztin würde mit der eines Polizeibeamten kollidieren. Aber für Chase, ihren ältesten Sohn, könnte sie genau die richtige Frau sein. Seit er vor fast zwanzig Jahren die Nachfolge seines Vaters als Herausgeber der Yorkshire Falls Gazette angetreten hatte, war er viel zu ernst, herrisch und überfürsorglich geworden. Gott sei Dank hatte er das gut aussehende, markante Gesicht seines Vaters, um einen anständigen ersten Eindruck zu hinterlassen, ehe er den Mund aufmachte und die Kontrolle übernahm. Zum Glück liebten Frauen fürsorgliche Männer, und die meisten alleinstehenden Frauen der Stadt würden Chase auf Anhieb heiraten. Er war attraktiv, ebenso wie Rick und Roman.

Rainas erklärtes Ziel war es, alle ihre drei Jungen zu verheiraten, und das würde ihr auch gelingen. Aber zunächst einmal müssten sie mehr von einer Frau wollen als nur Sex. Nicht, dass etwas nicht in Ordnung war mit Sex; tatsächlich konnte sie sich daran als etwas mehr als Angenehmes erinnern. Aber die Mentalität ihrer Söhne bereitete ihr Probleme. Sie waren Männer.

Und da sie die drei großgezogen hatte, wusste Raina genau, wie sie dachten. Selten akzeptierten sie ein weibliches Wesen länger als für eine Nacht. Die Frauen hatten Glück, die einen ganzen Monat durchhielten, aber niemals länger. Interessierte Frauen zu finden, war nicht das Problem. Bei ihrem guten Aussehen und ihrer Ausstrahlung lagen den Chandler-Boys die Frauen zu Füssen. Aber Männer – ihre Söhne eingeschlossen – wollten nun einmal das, was sie nicht haben konnten, und ihren Jungs wurde zu viel angeboten; und alles leicht zu haben.

Der Reiz des Verbotenen und der Spaß an der Jagd waren dahin. Warum sollte ein Mann Bis dass der Tod uns scheidet in Erwägung ziehen, wenn ihn Frauen umgaben, die ihm ohne jede Verpflichtung erlagen? Es war nicht so, dass Raina die heutige Generation nicht verstand. Durchaus nicht. Aber sie liebte auch das Drumherum eines Familienlebens – und war schlau genug abzuwarten, bis sie das gesamte Paket bekam.

Allerdings musste in der heutigen Welt eine Frau für den Mann eine Herausforderung darstellen. Aufregung versprechen. Und selbst dann, spürte Raina, würden ihre Jungen zurückschrecken. Um ihr Interesse zu wecken und wach zu halten, brauchten die Chandler-Männer ganz besondere Frauen. Raina seufzte. Welche Ironie des Schicksals, dass sie, eine Frau, deren idealer Lebensinhalt Ehe und Kinder waren, drei Söhne aufgezogen hatte, denen das Wort Junggeselle heilig war. Bei dieser Einstellung würde sie niemals Enkelkinder haben, nach denen sie sich so sehnte. Und ihren Söhnen würde ein Glück verwehrt bleiben, das sie verdient hatten.

»Ein paar Anweisungen, Raina.« Die Ärztin klappte das Krankenblatt zu und blickte auf: »Sie sollten für den Notfall eine Flasche Antazidum im Hause haben. Oft ist aber auch eine Tasse Tee die beste Medizin.«

»Also keine Pizza-Lieferungen zu später Stunde mehr, was?«

Amüsiert sah die jüngere Frau sie an.

»Ich fürchte, so ist es. Sie müssen sich schon eine andere Zerstreuung suchen.«

Raina zog einen Schmollmund. Was sie nicht alles für ihre Zukunft auf sich nahm. Für ihre Jungen. Chase und Rick würden übrigens jede Minute zurück sein, und die Ärztin hatte die dringlichste Frage noch nicht beantwortet. Raina’s Blick glitt über deren schlanke Figur. »Ich möchte Sie nicht drängen, aber …«

Dr. Gaines grinste, offenbar immer noch amüsiert. »Ich bin verheiratet. Und selbst wenn das nicht so wäre, würden Ihre Söhne es sicher vorziehen, sich ihre Frauen selbst auszusuchen, denke ich.«

Raina schluckte ihre Enttäuschung herunter und winkte als Antwort mit der rechten Hand ab. »Als ob meine Jungen je selbst ihre Frauen finden würden. Oder besser gesagt Ehefrauen. Es müsste schon um Leben und Tod gehen, damit sie sich gezwungen sähen, zu heiraten und eine Familie zu gründen …«

Rainas Stimme verebbte, als ihr die Bedeutung ihrer eigenen Worte bewusst wurde.

Eine Sache um Leben und Tod. Der einzige Umstand, der ihre Söhne von der Notwendigkeit zu heiraten überzeugen könnte. Wenn es um Leben und Tod ihrer Mutter ginge.

Als der Plan gerade Gestalt annahm, meldete sich Rainas Gewissen, die Idee gleich wieder fallen zu lassen. Es wäre grausam, ihren Söhnen weiszumachen, sie sei krank. Andererseits wäre es zu deren eigenem Besten. Sie konnten ihr nichts abschlagen, nicht, wenn ihre Mutter sie wirklich brauchte. Indem sie sich auf ihre Gutmütigkeit verließe, könnte sie sie letztendlich zu einem Glücklich bis an ihr Lebensende führen. Was sie allerdings zunächst weder wissen noch schätzen würden.

Sie kaute an ihrer Unterlippe. Es war riskant. Aber ohne Enkelkinder war ihre Zukunft von Einsamkeit bedroht und ebenso die ihrer Söhne, wenn die ohne Frau und Familie blieben. Sie erhoffte sich mehr für sie als ein ödes Zuhause und ein Leben von so unermesslicher Leere, wie sie es seit dem Tod ihres Mannes führte.

»Frau Doktor, meine Diagnose hier … ist sie vertraulich?«

Die jüngere Frau warf ihr einen schrägen Blick zu. Zweifellos war sie an diese Frage nur bei den ernstesten Fällen gewöhnt. Raina sah auf ihre Uhr. Die Zeit, bis ihre Söhne wiederkamen, wurde knapp. Der Plan, den sie gerade gefasst hatte – und damit die Zukunft ihrer Familie – hingen von der Antwort der Ärztin ab, und Raina klopfte ungeduldig mit dem Fuß auf den Boden.

»Ja, sie ist vertraulich«, sagte Dr. Gaines mit einem gutmütigen Lachen.

Raina entspannte sich etwas und zog den Krankenhauskittel enger um sich. »Gut. Ich nehme an, Sie wollen nicht den Fragen meiner Söhne ausweichen müssen, deshalb vielen Dank für alles.« Sie streckte höflich ihre Hand aus, obwohl sie die Ärztin eigentlich lieber durch den Vorhang geschubst hätte, bevor die Kavallerie mit gezielten Fragen anrückte.

»Es war eine Freude und ein Erlebnis, Sie kennen zu lernen. Morgen ist Dr. Fallon wieder in der Praxis. Falls Sie bis dahin irgendwelche Probleme haben, rufen Sie mich ohne zu zögern an.«

»Ja, mach’ ich«, antwortete Raina.

»Was ist jetzt also los mit dir?« Rick, das mittlere Kind, das keiner jemals hatte ignorieren können, stürmte durch den geschlossenen Vorhang, Chase auf seinen Fersen. Ricks unverfrorene Art spiegelte den Charakter seiner Mutter wieder. Seine haselnussbraunen Augen glichen ihren, ebenso die dunkelbraunen Haare, ehe ihr Friseur sie in die Hände bekommen und ihr nun fast graues Haar in honigblondes verwandelt hatte.

Roman und Chase, die Buchstützen, standen mit ihren pechschwarzen Haaren und strahlendblauen Augen ganz im Gegensatz dazu. Beide, ihr Ältester und ihr Jüngster, waren dem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten. Ihre imposante Gestalt und das dunkle Haar erinnerten sie stets an John. Vom Charakter her waren sie allerdings einmalig und mit keinem zu vergleichen.

Chase stand vor seinem aufgeregten Bruder und sah der Ärztin direkt ins Gesicht: »Was ist los?«

»Ich glaube, Ihre Mutter möchte Ihnen das selbst erklären«, sagte Dr. Gaines und verschwand durch den schrecklich kunterbunten Vorhang.

Zugunsten der guten Absicht setzte sich Raina über ihr schlechtes Gewissen hinweg und kämpfte mit den Tränen, während sie sich einredete, die Drei würden ihr am Ende dankbar sein. Dann legte sie eine zittrige Hand auf ihr Herz. Und erklärte ihren Söhnen ihren angegriffenen Gesundheitszustand und ihren einzigen Herzenswunsch.

Kapitel eins

Roman Chandler starrte auf seinen ältesten Bruder, oder genauer gesagt auf die Vierteldollarmünze in dessen rechter Hand. Sofort nach dem Anruf, der ihn von den Herzproblemen seiner Mutter in Kenntnis gesetzt hatte, stieg er ins nächste Flugzeug von London nach New York. Dort musste er einen Anschlussflug nach Albany nehmen und dann einen Leihwagen, um die eine Stunde in seinen Heimatort Yorkshire Falls zu fahren, eben außerhalb von Saratoga Springs, New York. Er war so müde, dass ihm vor lauter Erschöpfung die Knochen weh taten.

Jetzt kam zu all seinen Problemen auch noch dieser Stress hinzu. Wegen des Herzleidens seiner Mutter würde einer der Chandlerbrüder seine Freiheit opfern müssen – um Raina ein Enkelkind zu bescheren. Welcher der Brüder diese Last auf sich nehmen sollte, wollten sie mit einer Münze entscheiden, woran aber nur Rick und Roman beteiligt waren. Chase hatte bereits seine Pflicht und Schuldigkeit der Familie gegenüber getan, als er das College aufgab, um die Zeitung weiterzuführen und seiner Mutter zu helfen, die jüngeren Brüder großzuziehen. Deshalb sollte er jetzt nicht mitmachen – obwohl er zunächst darauf bestand. Weil er absolute Gleichberechtigung verlangte. Aber Rick und Roman hatten durchgesetzt, dass er an der Auslosung nicht teilnehmen durfte.

Statt dessen sollte er den Scharfrichter spielen.

»Also, dann sagt schon was. Kopf oder Zahl«, forderte Chase sie auf.

Roman blickte zur ungestrichenen Decke hoch, zum ersten Stockwerk des Hauses, in dem er seine Kindheit verbracht hatte und wo sich seine Mutter gerade auf Geheiß des Arztes ausruhte. Sie standen indessen auf dem staubigen Lehmboden der Garage, die an das Wohnhaus angebaut war, und mussten sich entscheiden. Dieselbe Garage, in der sie als Kinder ihre Bälle und Fahrräder aufbewahrt hatten und in die Roman Bier geschmuggelt hatte, wenn er seine älteren Brüder nicht in der Nähe wähnte. Dasselbe Haus, in dem sie aufgewachsen waren und an dem ihre Mutter festhielt, was sie sich leisten konnte, da Chase hart arbeitete und bei der Zeitung Erfolg hatte.

»Nun los, Jungs, einer muss anfangen«, sagte Chase in ihr Schweigen hinein.

»Du brauchst nicht so zu tun, als würde dir das hier Spaß machen«, murmelte Rick.

»Du glaubst also, dass es mir Spaß macht?« Chase drehte die Münze zwischen seinen Fingern, und seine Lippen zitterten vor Enttäuschung. »Das ist großer Blödsinn. Todsicher möchte ich nicht mit ansehen müssen, wie einer von euch beiden das Leben aufgeben muss, das er gewählt hat – nur einer Laune wegen.«

Roman war sich sicher, dass Chase das Ganze deshalb so mitnahm, weil er selbst seinen eigenen Lebensweg nicht hatte bestimmen können. Er war über Nacht mit der Doppelrolle des Verlegers und des Erziehungsberechtigten belastet worden. Als ihr Vater starb, fühlte sich Chase verpflichtet, den Platz des Familienoberhauptes einzunehmen – mit seinen siebzehn Jahren war er der älteste der Geschwister. Und genau das veranlasste Roman dazu, überhaupt an dem Münzewerfen teilzunehmen. Er war derjenige gewesen, der Yorkshire Falls hatte verlassen und seine Träume verwirklichen können, während Chase zurückbleiben und seine Wünsche aufgeben musste.

Roman und Rick betrachteten ihren ältesten Bruder als Vorbild. Wenn Chase glaubte, dass die angegriffene Gesundheit der Mutter und deren heftiger Wunsch nach einem Enkelkind ein Opfer rechtfertigten, dann musste Roman zustimmen, weil er es seinem Bruder schuldig war und weil er das Gefühl der Hingabe an die Familie mit ihm teilte.

»Es handelt sich bei unserer Mutter nicht um eine Laune«, erklärte Roman. »Sie sagt, sie habe ein schwaches Herz, das keinen Stress vertragen könne.«

»Oder keine Enttäuschungen«, erwiderte Rick. »Mama hat das Wort nicht benutzt, aber du weißt verdammt gut, dass sie so empfindet. Wir haben sie enttäuscht.«

Roman nickte zustimmend: »Wenn Enkelkinder sie also glücklich machen, dann liegt es bei einem von uns, ihr eins zu verschaffen, das sie verhätscheln kann, solange sie es noch genießen mag, Großmutter zu sein.«

»Wenn sie weiß, dass einer von uns glücklich verheiratet ist, wird sich der Stress verringern, den sie ja vermeiden soll«, ergänzte Chase. »Ein Enkelkind wird ihrem Leben einen neuen Impuls geben.«

»Könnten wir ihr nicht einfach ein Hundebaby schenken?« , fragte Rick.

Diesen Vorschlag konnte Roman gut verstehen. Er war mit seinen einunddreißig Jahren einen Lebensstil gewohnt, der es ausschloss, sich niederzulassen. Ehe und Familie waren ihm nicht bestimmt gewesen. Bis jetzt. Es war nicht so, dass er sich aus Frauen nichts machte. Im Gegenteil. Himmel, er liebte die Frauen – wie sie dufteten, wie ihre weiche Haut sich anfühlte, wenn sie seinen erregten Körper streifte. Aber er konnte sich nicht vorstellen, seine Karriere aufzugeben, um für den Rest seines Lebens jeden Morgen dasselbe weibliche Gesicht über den Frühstückstisch hinweg anzusehen. Er war verblüfft, dass in diesem Moment eine Entscheidung fürs Leben fallen sollte, und ihn überlief ein Schauer.

Er wandte sich an seinen mittleren Bruder: »Rick, du hast schon mal eine Ehe gewagt. Nicht nötig, das erneut zu tun.« Obwohl sich Roman durchaus nicht als der geeignete Kandidat vordrängeln wollte, konnte er es nicht zulassen, dass sein Bruder einen Fehler der Vergangenheit wiederholte – nämlich zu heiraten, um jemand anderem zu helfen, und dabei sich selbst zu opfern.

Rick schüttelte den Kopf: »Falsch, kleiner Bruder. Ich werde mit dir eine Münze werfen. Das letzte Mal hat hiermit nichts zu tun. Jetzt geht es um die Familie.«

Roman verstand. Die Chandlers waren Familiennarren. Damit war er wieder keinen Schritt weiter. Sollte er zu seinem Job als Auslandskorrespondent der Associated Press zurückkehren, weiterhin im Umfeld politischer Brennpunkte landen und dem Rest der Welt Geschichten aufdecken, von denen man noch nichts erfahren hatte, oder sollte er sich in Yorkshire Falls niederlassen, wie er es niemals vorgehabt hatte? Obwohl Roman sich manchmal nicht ganz im Klaren war, welchem Traum er eigentlich nachjagte – seinem eigenen, dem von Chase oder einer Kombination aus beiden – lebte er in der Angst, das unfreie Leben seines Bruders zu reproduzieren.

Trotz seines aufgewühlten Magens war er bereit und nickte Chase zu. »Lasst es uns hinter uns bringen.«

»Wie du meinst.« Chase warf die Münze hoch in die Luft.

Roman nickte Rick zu, um ihm die Wahl zu lassen, und Nick rief: »Kopf!«

Wie in Zeitlupe drehte sich die Münze und flog durch die Luft. Genau so zog Romans sorgloses Leben vor seinen Augen an ihm vorbei: Die Frauen, denen er begegnet war und mit denen er geflirtet hatte, die besonderen, mit denen er lange genug zusammen gewesen war, um eine Beziehung aufzubauen. Nie war es eine Frau fürs Leben gewesen, höchstens eine heiße, leidenschaftliche Bekanntschaft – in letzter Zeit seltener, seit er älter und kritischer wurde.

Laut klatschte Chase eine Hand auf die andere, und benommen fand Roman in die Wirklichkeit zurück. Er begegnete dem ernsten Blick seines ältesten Bruders.

Die Wende im Leben.

Der Tod eines Traums.

Der Ernst der Situation versetzte Roman einen Schlag in die Magengrube. Er straffte die Schultern und wartete ab, während Rick hörbar die Luft einsog.

Chase hob die eine Hand hoch und blickte auf die Münze, ehe er zunächst Rick und danach Roman ansah. Dann tat er seine Pflicht, wie er sie immer erfüllte, ohne einen Rückzieher: »Es sieht so aus, als könntest du jetzt was zu trinken gebrauchen, kleiner Bruder. Du bist das Opferlamm bei Mutters Streben nach Enkelkindern.«

Rick stieß einen tiefen Seufzer aus, der nichts war im Verhältnis zu dem Bleiklumpen in Romans Magen. Chase ging zu Roman hinüber. »Wenn du da wieder raus willst, ist jetzt noch Zeit. Es wird dir niemand Vorwürfe machen.«

Roman zwang sich zu einem Lächeln, womit er dem achtzehnjährigen Chase nachzueifern versuchte. »Du hältst es also für eine schwere Aufgabe, Frauen unter die Lupe zu nehmen und Babies zu machen? Wenn ich damit fertig bin, wirst du dich an meine Stelle wünschen.«

»Sieh zu, dass sie Klasse hat«, sagte Rick sehr hilfsbereit, aber weder in seinen Worten noch in seinem Tonfall war eine Spur von Humor. Er konnte sich offensichtlich in Romans Schmerz hineinversetzen, obwohl er sichtlich erleichtert war, nicht der Auserwählte zu sein.

Roman wusste den Versuch, ihn aufzuheitern, zu schätzen, auch wenn es nichts nützte. »Es ist noch wichtiger, dass sie nicht zu viel erwartet«, schoss er zurück. Welche Frau er auch immer heiraten würde, sie musste von Anfang an wissen, wer er war, und akzeptieren, was er nicht war.

Chase gab ihm einen Schlag auf den Rücken. »Ich bin stolz auf dich, Kleiner. Das ist eine Entscheidung, die man nur einmal im Leben trifft. Sei dir vorher sicher, dass du mit ihr leben kannst, ja?«

»Ich habe nicht vor, mit irgendjemand zu leben«, murmelte Roman.

»Was hast du dann vor?«, fragte Rick.

»Eine nette Ehe aus der Ferne, die mein Leben gar nicht besonders verändern muss. Ich möchte eine Frau finden, die bereit ist, zuhause zu bleiben und das Kind aufzuziehen, und die glücklich ist, mich wiederzusehen, wann immer ich zurückkomme.«

»Du hast dir schon genug aufgeladen, ist es das?«, konterte Rick.

Roman sah ihn finster an. Der Versuch, ihn aufzuheitern, war fehlgeschlagen. »Wir hatten es doch eigentlich verdammt gut, als wir Kinder waren, und ich möchte sicher gehen, dass die, die ich heirate, meinem Kind ein ebenso schönes Leben geben kann.«

»Du wirst also unterwegs und die Frau wird zuhause sein.«

Chase schüttelte den Kopf. »Halte mit dieser Einstellung besser etwas hinter dem Berg. Bestimmt willst du doch nicht gleich zu Beginn deiner Suche mögliche Kandidatinnen vergraulen.«

»Keine Chance«, kicherte Rick. »Wie sagt man? Bevor er in ein Leben voller Abenteuer entschwand, gab es kein einziges Mädchen auf der High-School, das ihn nicht begehrt hätte.«

Trotz der angespannten Situation musste Roman lachen. »Aber erst nach deinem Abgang. Es war nicht leicht, in deine Fußstapfen zu treten.«

»Das versteht sich ja von selbst.« Rick verschränkte die Arme vor der Brust und grinste. »Aber man sollte fair bleiben. Ich musste in die Fußstapfen von Chase treten, und die waren riesig. Die Mädels liebten seine starke, stille Art. Allerdings, sobald er seinen Abschluss nahm, lenkten sie ihr Augenmerk auf mich.« Er schlug sich auf die Brust. »Und als ich dann weg war, konntest du das Terrain übernehmen. Und alle waren sie interessiert.«

Nicht alle. Wie so oft tauchte ohne Vorwarnung die Erinnerung an seine High-School-Angebetete wieder auf. Charlotte Bronson, ein schönes Mädchen mit pechschwarzem Haar und grünen Augen, hatte seine Teenager-Hormone gründlich durcheinander gebracht. Sie hatte ihn brüsk zurückgewiesen, und das lag ihm immer noch im Magen, genauso schmerzhaft wie damals. Sie war diejenige, die ihm entkommen war, und er hatte sie niemals vergessen. Gern hätte er alles als Teenager-Schwärmerei bezeichnet und es dabei belassen, aber er musste sich der Wahrheit zuliebe eingestehen, dass es tiefer gegangen war.

Seinen Brüdern gegenüber hatte er das nie zugegeben, noch würde er es heute tun. Einiges musste ein Mann auch für sich behalten können.

Zuletzt hatte Roman gehört, dass Charlotte nach New York City gezogen wäre, der Hauptstadt der Modewelt. Obwohl er ein Apartment in derselben Stadt gemietet hatte, war er ihr nie begegnet oder hatte sie gar besucht. Abgesehen davon war er selten länger in der Stadt als für eine Übernachtung, um seine Kleidung zu wechseln und dann seinen nächsten Bestimmungsort anzusteuern.

Seit längerem hatte ihm auch seine Mutter keinen Klatsch mehr serviert, sodass ihn jetzt die Neugier packte. »Ist Charlotte Bronson wieder in der Stadt?«

Rick und Chase wechselten einen überraschten Blick. »Und ob«, antwortete Rick. »Sie besitzt ein kleines Geschäft in der First Street.«

»Und sie ist unverheiratet«, ergänzte Chase und lächelte endlich.

Romans Adrenalinspiegel stieg rapide an. »Was für ein Geschäft?«

»Warum gehst du nicht einfach vorbei und siehst es dir an?«, wollte Rick wissen.

Der Gedanke reizte ihn. Roman fragte sich, wie sie jetzt wohl war. Immer noch so still und ernst wie damals? Ob ihr das pechschwarze Haar noch auf den Rücken fiel und so manchen Mann in Versuchung führte, es zu berühren? Er war neugierig, ob ihre grünen Augen noch so ausdrucksstark und offen wirkten. Sie waren wie ein Fenster zu ihrer Seele gewesen – für denjenigen, dem etwas daran lag, hineinzuschauen.

Ihm hatte es etwas bedeutet, und er war für sein Bemühen mit Nichtachtung gestraft worden. »Hat sie sich sehr verändert?«

»Geh und schau selber nach.« Ebenso wie Rick wollte Chase ihn ein wenig anschubsen. »Du kannst es ja als deine erste Chance betrachten, mögliche Kandidatinnen zu sichten.«

Als ob Charlotte interessiert sein würde! Nach ihrer einzigen Verabredung war sie mit Leichtigkeit davongegangen und hatte ihn anscheinend ohne eine Spur von Bedauern ziehen lassen. Aber Roman hatte ihr dieses Desinteresse niemals abgenommen, und das war sicherlich nicht nur selbstgefällig. Die Funken zwischen ihnen waren heftig genug gewesen, um die ganze Stadt anzuzünden, die chemischen Reaktionen zwischen ihnen waren so heiß, dass eine Explosion zu befürchten gewesen war. Aber sexuelle Anziehung war nicht das Einzige, was sie verbunden hatte.

Sie waren einander in einer tieferen Weise zugetan gewesen, und zwar derartig, dass er seine innersten Hoffnungen und Zukunftsträume preisgab, was er noch nie zuvor getan hatte. Dass er einen so intimen Winkel seiner Seele bloßgelegt hatte, machte ihn sehr verletzbar, und so hatte ihn ihre Zurückweisung besonders schmerzhaft getroffen. Das erkannte er jetzt mit der Einsicht des Erwachsenen, die ihm damals gefehlt hatte.

»Vielleicht schau ich mal bei ihr vorbei.« Roman verhielt sich mit Absicht etwas unbestimmt. Er wollte seinen Brüdern nicht noch mehr Anzeichen seines neuerlichen Interesses an Charlotte zeigen. Außerdem brauchte er eine ganz andere Art Frau, eine, die mit seinen Plänen einverstanden war.

Als er sich vergegenwärtigte, weshalb es überhaupt zu diesem Gespräch gekommen war, stöhnte er laut auf. Seine Mutter wollte Enkelkinder haben. Und Roman würde sein Bestes tun, sie ihr zu schenken. Aber das bedeutete nicht, dass er vorhatte seiner Gemahlin all die erstickenden Gefühlen und Erwartungen einer typischen Ehe zu bieten. Er war ein Mann, der seine Freiheit brauchte. Er war kein Ehemann für alle Jahreszeiten. Bei seiner Frau in Spe sollte der Wunsch nach Kindern größer sein als der nach einem Ehemann, und sie musste es genießen, allein zu sein. Eine unabhängige Frau, die verrückt war nach Kindern, dürfte genau die Richtige sein.

Denn Roman hatte vor zu heiraten, seine Frau zu schwängern, wie der Blitz zu verschwinden und möglichst nicht mehr zurückzublicken.

 

Die Sonne schien durch das Schaufenster und brannte mit unglaublicher Wärme auf Charlottes Haut. Der perfekte Rahmen für die tropische Dekoration, die sie gerade arrangierte. Sie band die Träger eines String-Bikinis auf dem Rücken der Schaufensterpuppe zu, die den Mittelpunkt der Dekoration bilden würde, und drehte sich dann zu ihrer Assistentin um. »Wie findest du es?«

Beth Hansen, die auch Charlottes beste Freundin seit Kindertagen war, kicherte. »Ich wünschte, ich wäre so toll gebaut.«

»Bist du doch jetzt.« Charlotte betrachtete Beths zierliche Figur und ihre korrigierten Brüste.

Yorkshire Falls war eine kleine Stadt, vier Stunden von New York City entfernt – weit genug, um eine Kleinstadt zu bleiben, dicht genug, dass sich die Fahrt in die Großstadt lohnte, solange es der Anlass rechtfertigte. Und für Beth war eine Brustvergrößerung offensichtlich ein guter Anlass gewesen.

»Das könntest du auch haben. Da brauchst du gar nicht so viel Vorstellungskraft.« Beth deutete auf die Schaufensterpuppe. »Schau sie dir an und stell dir vor, du würdest genauso aussehen.« Sie zeichnete mit den Händen die kurvenreiche Form nach. »Liften wäre ein Anfang, aber eine Vergrößerung um eine Körbchennummer würde die Aufmerksamkeit der Männer noch mehr erregen.«

Charlotte stieß einen übertriebenen Seufzer aus. »Wenn man bedenkt, wie viel Aufmerksamkeit unser Laden jetzt schon auf sich zieht, brauche ich keine weitere Hilfe, die Blicke auf uns zu lenken.«

Mit Männern hatte sie seit ihrer Zeit in New York City – also seit sechs Monaten – keine Verabredungen mehr gehabt, und obwohl sie sich manchmal einsam fühlte, war sie noch nicht bereit, wieder mit dieser Routine anzufangen – mit den langen Essensverabredungen einschließlich der sich hinziehenden Schweigeminuten, oder dem obligatorischen Gute-Nacht-Kuss, bei dem sie unvermeidlich die forschende Hand ihres Begleiters festhalten musste, bevor es in richtige Fummelei ausartete. Ihr war andererseits klar, dass sie dieses Spiel in absehbarer Zeit wieder aufnehmen musste, wenn sie zusätzlich zu ihrer Karriere ihr Leben mit Mann und Kindern vervollständigen wollte.

»Jede Frau braucht männliche Beachtung. Es stärkt das Selbstbewusstsein, da gibt’s gar nichts zu argumentieren?«

Charlotte runzelte die Stirn. »Mir wäre lieber, ein Mann würde …«

»An deinem Verstand interessiert sein als an deinem Gesicht oder Körper«, äffte Beth sie nach, die Hände in die Hüften gestützt.

Charlotte nickte: »Das ist richtig. Und ich würde es jedem Mann mit dem gleichen Respekt vergelten.« Sie grinste: »Klinge ich langsam wie eine Platte, die einen Sprung hat?«

»Ein bisschen schon.«

»Erklär mir mal Folgendes: Warum sind die Männer, die mich anziehen, nur an der Verpackung interessiert und bleiben nicht auf lange Sicht in meiner Nähe?«, fragte Charlotte.

»Weil du dich mit den falschen Männern verabredet hast? Oder vielleicht, weil du ihnen keine Chance gibst? Außerdem ist es eine bewiesene Tatsache, dass Männer zunächst von der Verpackung angezogen werden. Ein cleverer Typ, der richtige Typ, wird dich kennen lernen, und dann kannst du ihn mit deiner brillanten Intelligenz umhauen.«

»Männer, die zuerst auf das Aussehen achten, sind zu oberflächlich.«

»Du fängst ja schon wieder an! Ziehst verallgemeinernde Schlüsse. Dabei bitte ich dich, Unterschiede zu machen.«

Beth legte wieder die Hände in die Hüften und sah Charlotte finster an. »Die Verpackung vermittelt nun mal den ersten Eindruck«, beharrte sie.

Charlotte fragte sich, wie Beth derartig darauf bestehen konnte, wo sie doch der lebende Beweis für das Gegenteil war. Wenn Beth daran glaubte, dass ein Mann zunächst nur von der Verpackung angezogen wurde, um erst danach eine Frau um ihrer selbst willen kennen und schätzen zu lernen, warum hatte sie sich dann einer Schönheitsoperation unterzogen, nachdem sie ihren Verlobten gefunden hatte? Doch hatte Charlotte ihre Freundin zu gern, um sie mit einer solchen Frage zu verletzen.

»Sieh dir zum Beispiel dieses Geschäft an.« Beth fuhr mit der Hand durch die Luft. »Du verkaufst die Verpackung und bist damit verantwortlich für die Verjüngung so manch einer Beziehung oder Ehe, die fade geworden ist.«

»Das kann ich nicht bestreiten.« Viele ihrer Kunden hatten ihr dasselbe erzählt.

Beth grinste: »Die Hälfte aller Frauen dieser Stadt hat wieder Sex, und das verdanken sie dir.«

»So weit würde ich nun nicht gehen.«

Die Freundin zuckte die Schultern. »Wie auch immer. Was ich damit sagen will: Vermittelst nicht gerade du die Botschaft, dass Verpackung wichtig ist?«

»Ich hielte es lieber für meine Botschaft, dass es okay ist, ganz sich selbst zu sein.«

»Ich glaube, wir meinen dasselbe. Aber ich lasse das Thema jetzt mal fallen. Habe ich dir erzählt, dass David Pauschalangebote macht? Augen und Kinn, Liften und Implantate.«

Charlotte verdrehte die Augen. Ihrer Meinung nach war Beth perfekt gewesen, bevor sie sich unters Messer begeben hatte, und Charlotte konnte immer noch nicht verstehen, was sie auf den Gedanken gebracht hatte, sich verändern zu müssen. Aber Beth wollte offenbar nicht darüber reden. Sie pries nur die Dienste ihres zukünftigen Mannes an.

»Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du dich wie eine Werbung für deinen Schönheitschirurgen anhörst?«

Beth lächelte: »Aber natürlich. Ich habe vor, den Mann zu heiraten. Warum sollte ich sein Geschäft und unser gemeinsames Bankkonto nicht gleichzeitig aufbessern?«

Beths geldgierige Reden passten überhaupt nicht zu der süßen, sachlichen Frau, wie Charlotte sie kannte; eine weitere feine Veränderung, die Charlotte seit ihrer Rückkehr an Beth bemerkte. Wie Charlotte war Beth in Yorkshire Falls geboren und aufgewachsen. Und wie einst Charlotte wollte auch Beth bald nach New York City ziehen.

Charlotte hoffte, dass ihrer Freundin die strahlenden Lichter der Großstadt gefallen würden. Mit gemischten Gefühlen erinnerte sie sich an ihre eigenen Erfahrungen. Am Anfang hatte sie die belebten Straßen geliebt, das rasende Tempo, den Lichterschein und das rege Leben selbst noch am späten Abend. Aber sobald der Reiz des Neuen verblasst war, wuchs die Leere. Nach einem Leben in einer eng verbundenen Gemeinde wie Yorkshire Falls hatte sich die Einsamkeit als überwältigend erwiesen. Beth würde sich damit nicht auseinandersetzen müssen, da sie nach New York zu ihrem Ehemann ziehen wollte.

»Du weißt, dass ich niemals vollwertigen Ersatz für dich finden werde«, sagte Charlotte wehmütig. »Du bist die perfekte Assistentin.« Als Charlotte sich entschlossen hatte, ihren Posten als Verkaufsmanagerin bei einer noblen Boutique in New York City aufzugeben und Charlottes Speicher in ihrer Heimatstadt zu eröffnen, war nicht mehr als ein Anruf nötig gewesen, um Beth zu überreden, ihren Job als Empfangsdame in einem Immobilienbüro zu kündigen und bei Charlotte anzufangen.

»Ich werde dich auch vermissen. Dieser Job hat mir mehr gegeben als alles, was ich je zuvor gemacht habe.«

»Das liegt daran, dass du endlich deine Begabungen richtig einsetzt.«

»Weil du einen solchen Weitblick hattest. Dieser Laden ist unglaublich.«

Charlotte errötete leicht. Sie hatte sich Sorgen gemacht, ob eine schicke Boutique in ihrer kleinen Heimatstadt im ländlichen Norden erfolgreich sein könnte. Beth war diejenige gewesen, die sie in der Phase vor der Eröffnung emotional angetrieben und unterstützt hatte. Charlotte hatte sich unnötig Gedanken gemacht. Dank Fernsehen, Internet und Magazinen waren die Frauen von Yorkshire Falls reif für Mode. Ihr Geschäft war ein Hit – wenn auch eine gewisse Kuriosität inmitten der alteingesessenen Läden.

»Wo wir gerade von Talenten sprechen: Ich bin so froh, dass wir doch anstelle von Schwarz dieses Aquamarinblau gewählt haben.« Beth fingerte an den Bändern herum, die fest um den Rücken der Schaufensterpuppe gebunden waren.

»Es gleicht genau der Farbe des Wassers vor den Fidschi Inseln, der Koro-See und des Südpazifischen Ozeans.« Charlotte schloss die Augen und versuchte sich das alles vorzustellen, wie es in den Broschüren abgebildet war, die in ihrem Büro lagen.

Sie hatte gar nicht vor zu reisen, aber von fernen Ländern hatte sie geträumt, solange sie denken konnte. Schon als junges Mädchen hatten Fotos von idyllischen Ferienorten ihre Hoffnung genährt, dass ihr umherziehender Vater zurückkehren würde und sie teilhaben ließe an seinem gewiss glamourösen Leben. Auch heutzutage konnte sie das gelegentliche Verlangen, exotische Orte kennen zu lernen, kaum unterdrücken. Aber sie befürchtete, dass dieser Wunsch sie ihrem Vater zu ähnlich machte – selbstsüchtig, oberflächlich und herzlos zu sein – und so beschränkte sie sich auf die Abbildungen. Wie die in ihrem Büro, Fotografien von glitzerndem Wasser, schaumgekrönten Wellen und nackter Haut unter brennender Sonne.

»Nicht zu vergessen, dass Aquamarinblau die Sommerdekoration für das gesamte Schaufenster bestimmen wird.«

Beth Stimme drang in Charlottes Gedanken, und sie öffnete daraufhin ein Auge. »Das kommt noch dazu. Jetzt sei still und lass mich weiter träumen.« Aber der Zauber war gebrochen.

»Man kann sich schwer an den Anblick von Badeanzügen gewöhnen, wo wir den Winter erst knapp hinter uns haben.«

»Ich weiß.« Neben luxuriöser und schlichter Unterwäsche verkaufte Charlotte auch einige ausgewählte modische Teile – Pullover im Winter, Badeanzüge und passende Überwürfe im Sommer. »Aber die Modewelt arbeitet nach ihrem eigenen Zeitplan.«

Das tat Charlotte ebenfalls. Kaum war die kalte Luft einer blassen Märzsonne gewichen, da kleidete sie sich schon für die Sommersaison in schockierend knalligen Farben und leichten Stoffen. Was anfangs dazu dienen sollte, Leute in ihren Laden zu locken, hatte sich bewährt. Jetzt kamen Kunden durch Mundpropaganda zu ihr, und inzwischen liebte sie das, was sie trug.

»Ich denke, wir sollten die Badeanzüge in der rechten Ecke der Auslage drapieren«, sagte Charlotte nach einiger Zeit.

»Klingt gut.«

Charlotte zerrte die Schaufensterpuppe zum Fenster, das auf die First Avenue hinaussah, die Haupteinkaufsstraße von Yorkshire Falls. Sie hatte das Glück gehabt, sich den perfekten Standort zu schnappen, und es hatte sie dabei nicht beunruhigt, ein weiteres Einzelhandelsgeschäft an die Stelle des früheren Bekleidungsladens zu setzen, denn ihre Ware war auf der Höhe der Zeit. Sie brauchte erst nach sechs Monaten mit einer Mieterhöhung zu rechnen, Zeit genug, um auf die Beine zu kommen, und der Erfolg bewies ihr inzwischen, dass sie auf dem richtigen Weg war.

»Hör mal, ich bin am Verhungern. Ich werde mir nebenan was zu essen gönnen. Kommst du mit?« Beth nahm ihre Jacke hinten von dem Garderobenständer und zog sie an.

»Nein, danke. Ich bleibe lieber hier und mache das Schaufenster fertig.« Charlotte und Beth hatten heute fast die gesamte Inventur geschafft. Wenn das Geschäft geschlossen war, konnte man schneller notwendige Arbeiten erledigen als zu den Öffnungszeiten. Die Kunden wollten nicht nur einkaufen, sondern auch plaudern.

Beth seufzte:« Wie du willst. Aber deine sozialen Kontakte sind jämmerlich. Selbst ich kann dir besser Gesellschaft leisten als diese Schaufensterpuppen.«

Charlotte wollte lachen, warf dann aber einen Blick auf Beth und erkannte in deren Augen etwas mehr als nur einen Scherz. »Du vermisst ihn, stimmt’s?«

Beth nickte. Fast jedes Wochenende war ihr Verlobter hergekommen, blieb von Freitag bis Sonntag, um dann für die Arbeitswoche in die Großstadt zurückzufahren. Da er dieses Wochenende ausgelassen hatte, konnte Charlotte sich vorstellen, dass Beth wahrscheinlich keine Lust auf eine weitere einsame Mahlzeit hatte.

Ebenso wenig wie Charlotte. »Weißt du was? Geh und besetze uns einen Tisch, und ich komme dann in fünf …« Ihre Stimme verebbte, als sie vor dem Fenster einen Mann entdeckte.

Pechschwarzes Haar glänzte in der Sonne, eine aufregende Sonnenbrille verdeckte sein Gesicht. Eine abgetragene Jeansjacke verhüllte die breiten Schultern, und Jeans saßen eng um seine langen Beine. Charlottes Magen machte einen Hüpfer und hinterließ ein warmes Gefühl in ihrem Bauch, als sie ihn zu erkennen glaubte.

Sie blinzelte und war sich dann wieder sicher, dass sie sich geirrt hatte. Er war weit genug zurückgewichen und jetzt außer Sicht. Sie schüttelte den Kopf. Unmöglich, dachte sie. Jeder in der Stadt wusste, dass Roman Chandler als Nachrichtenreporter unterwegs war. Seine Ideale hatte Charlotte stets respektiert, den brennenden Wunsch, Ungerechtigkeiten aufzudecken, die bisher nicht publik waren. Allerdings verstand sie nicht, was genau ihn von zuhause fernhielt.

Schon immer hatten seine Ambitionen sie an ihren Vater, einen Schauspieler, erinnert. Ebenso sein Charme und sein gutes Aussehen. Ein Zuzwinkern, ein Lächeln, und die Frauen lagen ihm zu Füßen. Verdammt, sie war von ihm hingerissen gewesen, und nachdem sie heftig geflirtet und sich sehnsüchtige Blicke zugeworfen hatten, folgte ihre erste Verabredung. Es war ein Abend gewesen, an dem sie sich auf Anhieb und in einer bedeutungsvollen Weise mit Roman verstanden hatte. Sie hatte sich schnell und heftig verliebt, wie es nur einem Teenager ergehen kann. Und es war ein Abend gewesen, an dem sie erkennen musste, dass Roman vorhatte, Yorkshire Falls zu verlassen, sobald sich ihm die Gelegenheit bot.

Jahre zuvor hatte Charlottes Vater Frau und Kind verlassen, um nach Hollywood zu gehen. Bei Romans Erklärung hatte sie sofort erkannt, was er durch sein Fortgehen dann alles zerstören würde.

Sie musste sich nur das einsame Leben ihrer Mutter anschauen, um standhaft nach ihrer Überzeugung zu handeln. Am selben Abend noch hatte sie sich von Roman für immer mit der Lüge verabschiedet, er würde sie nicht wirklich anziehen. Und sie hatte sich nicht erlaubt, zurückzuschauen, egal, wie sehr das schmerzte – und es schmerzte sie sehr.

Vorsicht, nicht berühren. Eine kluge Regel für ein Mädchen, das sich sein Herz und seine Seele unversehrt erhalten wollte. Zur Zeit war ihr nicht nach einer Beziehung zumute, aber das würde sich ändern, wenn der richtige Mann auftauchte. Bis dahin würde sie sich an diese Regel halten. Sie hatte nicht die Absicht, dem Weg ihrer Mutter zu folgen, indem sie darauf wartete, dass der Wandervogel hin und wieder heimkehrte, also würde sie sich auch nicht mit einem rastlosen Wesen wie Roman Chandler einlassen. Außerdem gab es keinen Grund, sich darüber Gedanken zu machen. Mit Sicherheit war er nicht in der Stadt, und selbst wenn er es wäre, würde er sich von ihr fernhalten.

Beth Hand auf ihrer Schulter ließ sie überrascht zusammenzucken.

»Hey, geht’s dir nicht gut?«

»Doch. Ich war nur in Gedanken.«

Beth zupfte ihr blondes Haar aus dem Jackenkragen hervor und öffnete die Tür zur Straße. »Bis gleich. Ich besetze uns einen Tisch, und du kommst in ein paar Minuten nach.« Sie ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen, und Charlotte wandte sich wieder der Schaufensterpuppe zu, wild entschlossen, die Sache zu beenden – und sich zu beruhigen – bevor sie zum Essen ging.

Ausgeschlossen, dass Roman zurück war, redete sie sich ein. Völlig ausgeschlossen.

Kapitel zwei

Es dämmerte bereits, als Roman Normans Gartenrestaurant betrat – so benannt nach Norman Hanover Senior, der es eröffnet hatte, und wegen der Gärten auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Inzwischen führte Norman Junior das Restaurant, Besitzer und Koch zugleich. Am Morgen nach der Münzgeschichte schlief Roman lange und lenkte sich dann ab, indem er mit seiner Mutter Karten spielte und somit sicher ging, dass sie sich schonte. Einige Zeit hatte er auch damit verbracht, über ein Angebot der Washington Post nachzudenken, einen Job in der Redaktion in D.C. zu übernehmen, das ihn an diesem Morgen erreicht hatte.

Jeder Journalist war für eine solche Chance zu einem Mord fähig, das wusste Roman. Aber obwohl er zugeben musste, dass er die politischen Intrigen und das veränderte Tempo genießen könnte, war es noch nie sein Ziel gewesen, sich an einem Ort niederzulassen. Er war schon viel herumgekommen, aber es gab immer noch mehr zu sehen, noch mehr zu berichten, noch mehr Ungerechtigkeiten aufzudecken. Allerdings konnte er sich auch ausmalen, dass er sich im Hinblick auf die dort herrschende Korruption in Washington, D.C. nicht gerade langweilen würde.

Roman bezweifelte auch, dass er sich in der Hauptstadt der Nation ebenso eingeengt vorkäme wie in seiner kleinen Heimatstadt, und hätte das Angebot wohl ernster genommen, wenn er beim Werfen der Münze nicht der Verlierer gewesen wäre. Jetzt, da er sich auf eine mögliche Ehefrau einzustellen hatte, die zweifellos liebend gern mit einem Mann zusammenleben würde, der sein Zuhause in den Vereinigten Staaten hatte, sprach alles dafür, diesen Job nicht anzunehmen. Es war somit für ihn noch reizvoller, wieder ins Ausland zu gehen.

Am frühen Abend war seine Mutter vor dem Fernsehapparat eingenickt, und Roman konnte endlich das Haus verlassen in der beruhigenden Gewissheit, dass sie sich ausruhte und sich nicht übernehmen würde.

Weil es schon spät war, ging er schnellen Schrittes durch die Stadt, bis die Farben in einem Schaufenster – jede Menge leuchtender Farben – seinen Blick anzogen und ihn veranlassten, stehen zu bleiben, um die Veränderung zu ergründen. Er blinzelte, um besser sehen zu können, die Nase an der Fensterscheibe, Damenunterwäsche im Visier.

Die Auslage bestand aus heißen Rüschennachthemden, Strumpfhaltern und was das andere Geschlecht sonst noch so trug, um einen Mann zu becircen – und er hatte in seinem Leben reichlich derlei Aufmachung gesehen. Die Stücke im Fenster waren sinnlich und dekadent, auch verführerisches Leopardendesign war dabei.

Offensichtlich hatte sich wirklich einiges in seiner kleinen Heimatstadt verändert. Als er sich fragte, wer es wohl geschafft hatte, den Konservatismus in die Knie zu zwingen, kam ihm die Unterhaltung mit seinen Brüdern vom Vorabend wieder in den Sinn. Ist Charlotte Bronson wieder in der Stadt?, hatte er sie gefragt.

Sie hat ein kleines Geschäft in der First Street … Geh mal vorbei und sieh es dir an. Seine Brüder hatten ihm absichtlich ungenau, auf jeden Fall amüsiert geantwortet, fiel ihm jetzt wieder ein.

Er gönnte sich einen weiteren Blick auf die aufreizenden Slips im Schaufenster und schüttelte heftig den Kopf. Unmöglich, dass dieser Laden Charlotte gehörte.

Die Charlotte, an die er sich erinnerte, war eher zurückhaltend als extrovertiert, eher von Natur aus sinnlich als unverhohlen sexy. Diese Kombination hatte ihn immer fasziniert, aber ungeachtet dessen kam ihm Charlottes ganze Persönlichkeit nicht so vor, als könnte sie einen derartig verführerischen und erotischen Laden aufgemacht haben. Oder etwa doch?

Ein Auto hupte und holte Roman in die Wirklichkeit zurück. Als er sich umdrehte, sah er, wie Chase seinen Laster weiter unten an der Straße einparkte. Er blickte auf seine Uhr. Rick würde schon im Restaurant warten. Es war später noch reichlich Zeit, den Laden in Augenschein zu nehmen, nachdem er sich mit seinen Brüdern getroffen hatte. Er stürmte in das Lokal und ging nach hinten durch, vorbei an den Tischen am Fenster.

Roman fand Rick bei der alten Jukebox, aus der der jazzige Reggae-Rhythmus des neusten Hits ertönte. Er schaute sich um und ließ die vertraute Atmosphäre auf sich wirken. »Abgesehen von der Musik ist das Nachtleben von Yorkshire Falls so aufregend wie eh und je.«

Rick hob die Schultern. »Hast du wirklich erwartet, dass sich etwas geändert hätte?«

»Eigentlich nicht.« Selbst die Innenausstattung war die alte, wie er bemerkte. Da Norman Senior ein besessener Vogelfreund gewesen war, bestand die Dekoration aus hölzernen, handbemalten Vogelhäuschen, die die Wände zierten, im Wechsel mit Bildern verschiedener Vogelarten in ihrem natürlichen Lebensraum.

Dieser Ort war früher und auch heute noch ein Zuhause für die älteren Teenager, die sich von ihren Eltern abnabeln wollten, ebenso für die Singles in der Stadt und für die Familien, die einen Happen essen wollten, wenn sie vom Little League Training kamen. Heute gehörten die Chandler-Brüder zu den Stammkunden. Nachdem Roman wochenlang in Hotels gewohnt und kaum seine New Yorker Wohnung, geschweige denn seine Familie zu Gesicht bekommen hatte, musste er zugeben, dass es schön war, nach Hause zu kommen.

»Sag jetzt nur noch, dass die Burger immer noch so gut sind wie früher, und ich bin ein glücklicher Mann.«

Rick lachte: »Dich kann man wirklich schnell glücklich machen.«

»Womit könnte man denn dich glücklich machen, Rick?« Jahre waren vergangen, seit Ricks Ehe mit einer verheerenden Scheidung geendet hatte. Seine Frau hatte ihn wegen eines anderen Mannes verlassen. Rick war der unbekümmerte Bruder geblieben, das musste man ihm hoch anrechnen, aber Roman fragte sich oft, wie es wohl in seinem Innern aussah.

Rick verschränkte die Arme vor seiner Brust: »Ich bin bereits ein zufriedener Mann.«

Nach allem, was Rick durchgemacht hatte, konnte Roman nur hoffen, dass sein Bruder wirklich meinte, was er da sagte.

»Hi, mein Hübscher, was kann ich dir bringen?«, fragte ihn eine hohe Frauenstimme.

Roman erhob sich, um Isabelle, Normans sechzigjährige Frau und die Lieblingskellnerin aller, kurz an sich zu drücken. Sie roch nach einer einzigartigen Mischung aus Hausmannskost und dem guten, altmodischen Fett, das Norman zum Kochen benutzte, wenn sie es nicht bemerkte.

Er trat einen Schritt zurück. »Schön, dich zu sehen, Izzy.«

Sie lächelte: »Deine Mutter ist überglücklich, dich zu Hause zu haben.«

Er setzte sich wieder hin. »Ja, schon, ich wünschte nur, es gäbe dafür einen anderen Grund.«

»Deine Mutter ist zäh. Sie wird sich wieder erholen. Norman und ich haben ihr genug vorgefertigte Mahlzeiten rübergeschickt. Sie ist für die ganze Woche versorgt.«

»Ihr seid die Besten.«

Sie grinste. »Als ob ich das nicht wüsste. Was soll ich dir also bringen? Cheeseburger deluxe?«

Roman lachte. »Du hast ein Gedächtnis wie ein Elefant.«

»Nur wenn es sich um meine Lieblingsgäste handelt.« Sie zwinkerte Roman zu und wandte sich dann an Rick. »Steak und Kartoffelbrei, soweit ich weiß. Selterwasser heute Abend, Wachtmeister?«

Rick nickte. »Ich bin im Dienst.«

»Ich nehme das gleiche.«

»Was hast du also vor, wo du jetzt zuhause bist?«, fragte Izzy.

»Was sich so ergibt. Heute Abend will ich mal sehen, ob Chase irgendwelche Hilfe brauchen kann, wenn ich schon mal da bin.«

Sie steckte sich den Stift hinters Ohr. »Ihr Chandlerjungs arbeitet zu hart.«

Rick zuckte die Schultern. »So sind wir nun mal erzogen, Izzy.«

»Ach, übrigens … Mach auch einen Burger für Chase fertig. Er wird gleich hier sein«, sagte Roman.

»Bin schon da«. Sein älterer Bruder tauchte hinter Lizzy auf.

»Gutes Timing. Ein Cheeseburger, ein Burger und ein Steak. Setzt euch hin, und ich bringe euch was zu trinken.« Isabelle wollte gehen.

»Für mich eine Cola, Izzy.« Chase schüttelte sein Jacke ab, hängte sie über die Stuhllehne und setzte sich. »Was habe ich bisher verpasst?«

»Rick hat mir erzählt, wie zufrieden er mit seinem Leben ist«, antwortete Roman trocken.

»Das sollte er auch sein. Du würdest dich wundern, in was für Notlagen sich die Frauen dieser Stadt befinden, nur um eine Entschuldigung dafür zu haben, anrufen zu können und den Bullen zu ihrer Rettung kommen zu lassen«, erwiderte Chase. »Wir könnten eine ganze Seite der Zeitung Wachtmeister Ricks Heldentaten widmen.«

Roman grinste. »Ich bin sicher, dass er es nicht als Belastung empfindet, oder?«

»Genauso wenig wie Chase es hart findet, die Frauen mit Picknickkörben abzuwimmeln, die ihn aus seinem Büro locken und auf den Rücken legen wollen. Ich meine auf die Picknickdecke.«

Rick lachte und lehnte sich in seinen kunststoffbezogenen Stuhl zurück, Genugtuung im Gesicht. »So viele Frauen, und so wenig Zeit.«

Roman lachte. »Außerhalb von Yorkshire Falls ist die Auswahl ja wohl größer. Wie kommt es, dass du dich nie fortbegeben hast?« Er hatte sich immer gefragt, warum sein mittlerer Bruder damit zufrieden war, diese kleine Stadt im Griff zu haben, wo er doch besseren und abwechslungsreicheren Gebrauch von seinen Talenten machen könnte, wenn er in eine große Stadt ginge.

Weiß der Himmel, Roman hatte sich in den Sommern, als er für Chase Reportagen gemacht hatte, eingeengt gefühlt durch die dürftigen und oft trivialen Geschichten, mit denen er betraut war, während die übrige Welt ihn anzog und lockte mit Größerem, Besserem … Was eigentlich, hatte er damals selbst nicht gewusst. Er war immer noch nicht sicher, was eigentlich die Attraktion war, aber er fragte sich, ob sein Bruder jemals ähnliche Unzufriedenheit empfand oder den Drang, etwas anderes zu machen.

»Roman? Roman Chandler? Bist du das?«

Offenbar bekam er in absehbarer Zeit keine Antwort auf seine Fragen. Er schob seinen Stuhl zurück, blickte auf und sah sich einer seiner alten High-School-Freundinnen direkt gegenüber.

»Beth Hansen?« Er stand auf.

Sie kreischte vor Aufregung und schlang ihre Arme um seinen Hals. »Du bist es! Wie geht es dir? Und wie konnte mir bloß entgehen, dass du zurück bist?«

»Da meine Mutter aus dem Verkehr gezogen ist, mahlen die Klatschmühlen wohl etwas langsamer.« Er erwiderte die freundschaftliche Umarmung und trat einen Schritt zurück, um sie genauer anzuschauen.

Professionell gestyltes blondes Haar fiel auf ihre Schultern, das sie schicker aussehen ließ als das lässige, typisch kalifornische Mädchen, das er in Erinnerung hatte. Und war es Einbildung, oder waren ihre Brüste unglaublich gewachsen, seit er weg war?

»Ich habe das von Raina gehört. Geht es ihr einigermaßen?« , fragte Beth.

Er nickte. »Es wird ihr wieder gut gehen, wenn sie sich schont und auf die Anweisungen des Arztes hört.« Und es würde ihr noch besser gehen, wenn Roman heiratete und sobald wie möglich eine Frau schwängerte. Es war ihm unmöglich, anders als in klinischen Begriffen an seine Mission zu denken, da doch Liebe und Begierde nichts damit zu tun hatten.

Er warf Beth einen weiteren prüfenden Blick zu, diesmal als möglicher Kandidatin. Er hatte sie immer gemocht, was hilfreich sein konnte, um sein Ziel zu erreichen. Sie waren gute Freunde gewesen, weiter nichts, aber damals auf der High-School war er jedenfalls mit ihr ausgegangen. Sie hatten sich einige Male verabredet und dann auf dem Rücksitz von Chase Auto miteinander geschlafen – weil sie bereit und er geil war.

Vor allem aber, weil er nach der Zurückweisung durch Charlotte Bronson verzweifelt sein Selbstbewusstsein aufbessern musste.

Er hatte beschlossen: tat er ›es‹ nicht mit Charlotte, dann verdammt noch mal mit Beth.

Das war alles männliche Eitelkeit gewesen, wie er jetzt zugeben musste. Aber er und Beth waren bis zum Abitur zusammengeblieben, weil es unkompliziert war und Spaß machte.

Danach konnten sie beide getrennter Wege gehen. Keiner fühlte sich verletzt, und ihre Kameradschaft war offensichtlich erhalten geblieben.

»Grüß Raina ganz lieb von mir, ja?«, bat Beth.

»Mach ich.«

»Wie lange bleibst du also diesmal?« Ihre glänzenden Augen funkelten vor Neugier.

Beth zog ihn nicht so an wie früher Charlotte, aber sie hatte ein gutes Herz. War sie wohl noch interessiert? Roman hätte es gern gewusst. Wenn ja, würde sie sich auf eine freundschaftliche Ehe ohne Liebe einlassen? Er kam ihr etwas näher. »Wie lange möchtest du mich denn hier behalten?«

Sie lachte und knuffte ihn in die Schulter. »Du bist immer noch so ein Aufreißer. Jeder weiß doch, dass du nicht länger bleibst, als du unbedingt musst.«

Chase hinter ihm räusperte sich, ein Geräusch, das sich mehr wie eine Warnung anhörte. »Du kannst Beth gratulieren, Roman. Sie hat sich mit einem Großstadtarzt verlobt, einem Schönheitschirurgen.«

Roman lächelte seinen Bruder dankbar an für dessen Hilfestellung, die verhinderte, dass er sich blamierte, indem er Beth tatsächlich anmachte.

»Hoffentlich weiß er, was er für ein Glück hat.« Roman griff nach ihren Händen und bemerkte erst jetzt den riesigen Stein an ihrem Finger. »Mein Gott. Ich hoffe, sein Herz ist ebenso groß wie dieser Ring. Du hättest es verdient.«

Sie blickte ihn ganz offen an. »Das ist das Netteste, was ich je gehört habe.«

Wenn das das Netteste war, dachte Roman, dann musste ihr Verlobter aber sehr an seiner Ausdrucksweise arbeiten.

»Hör mal, ich muss mich hinsetzen, sonst ist unser Tisch weg.« Sie gab ihm einen freundschaftlichen Kuss auf die Wange. »Lass öfter mal von dir hören, so lange du in der Stadt bist, ja?«

»Mach’ ich.«

Er setzte sich wieder hin und hoffte, seine Brüder würden vergessen, dass er Beth offenbar als mögliche Kandidatin anvisiert hatte. Er sah ihr nach, als sie weiter ging und sich an einem Tisch, der sich außer Hörweite befand, niederließ. Erst dann schaute er Rick und Chase ins Gesicht.

Sie sahen einander an, ohne das Schweigen zu brechen, bis von Rick ein unterdrücktes Lachen zu hören war. »Du hoffst, dass sein Herz so groß ist wie der Ring?«

Roman grinste. »Welch anderen Vergleich hätte es sonst gegeben?« Ohne das Naheliegendste zu nennen, dachte er.

»Für einen Moment dachte ich nur, du würdest die Größe ihrer … Ach, schon gut.« Rick schüttelte den Kopf und grinste immer noch amüsiert.

»Du weißt, dass ich mehr Stil habe.«

»Findest du, dass sie zehn Mille wert sind?«, wollte Chase wissen. »Nicht, dass ihr Verlobter ihr etwas berechnet hätte.«

»Sie sind … eindrucksvoll«, antwortete Roman.