Der Mörder gibt ein Rätsel auf - Rainer Ballnus - E-Book

Der Mörder gibt ein Rätsel auf E-Book

Rainer Ballnus

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Beschreibung

Ein Baby-Mord in einer Unternehmerfamilie. Ein grausamer Säuglingsmord, wie es ihn in Deutschland bisher nur einige Male gab. Der Chef-Ermittler in der Mordkommission spürt, wie ihn seine eigene schicksalhafte Vergangenheit einzuholen droht. Er überdenkt seine Ehe, entdeckt nie gekannte Gefühle zu einer anderen Frau. Und dann noch ein Missgeschick und ein erneuter Mordversuch – alle Spuren platzen wie Seifenblasen. Erst ganz am Schluss gelingt es der Mordkommission, das Rätsel zu lösen. Diesem spannenden Krimi liegt ein authentischer Fall zu Grunde.

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Rainer Ballnus

Der Mörder gibt ein Rätsel auf

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Tatort Flensburg

Er stand am Fußende des Babybettes…

Mittagszeit.

Der Chefarzt zeigte seine strengste Miene.

Der Arbeitslose genehmigte sich sein siebentes Bier.

Wartefuhl hatte angespannt zugehört, …

Diese verdammten Schnüffler, dachte Norbert Eichstätt.

Ein anderes Wort für ‚Ausscheidung’.

Seine Augen funkelten böse.

Sie stand am Fenster und weinte.

Der Arzt auf der Intensivstation musterte Wartefuhl skeptisch…

Jetzt waren alle im Vernehmungszimmer versammelt, …

Impressum neobooks

Tatort Flensburg

Ein Baby-Mord in einer Unternehmerfamilie. Ein grausamer Säuglingsmord, wie es ihn in Deutschland bisher nur einige Male gab. Der Chef-Ermittler in der Mordkommission spürt, wie ihn seine eigene schicksalhafte Vergangenheit einzuholen droht. Er überdenkt seine Ehe, entdeckt nie gekannte Gefühle zu einer anderen Frau. Und dann noch ein Missgeschick und ein erneuter Mordversuch – alle Spuren platzen wie Seifenblasen. Erst ganz am Schluss gelingt es der Mordkommission, das Rätsel zu lösen.

Diesem spannenden Krimi liegt ein authentischer Fall zu Grunde.

Sommer. Endlich Sommer. Seit fast zwei Wochen schien ununterbrochen die Sonne und heute Morgen meinte sie es besonders gut, denn die wärmenden Strahlen knallten unbarmherzig in das prächtig und fast ein wenig protzig eingerichtete Büro von Norbert Eichstätt. Da hatte es selbst die moderne Klimaanlage nicht leicht, die Temperaturen erträglich zu gestalten.

Eichstätt stand stöhnend auf, ging ans Fenster und wollte per Knopfdruck die Außenjalousie hinunterlassen, doch die Elektronik streikte. Leise vor sich hinfluchend ließ er sich wieder in seinen mächtigen Bürosessel fallen und schaute auf den riesigen Aktenberg auf seinem mondänen Schreibtisch. Für ihn gab es keinen Sommer, für ihn schien keine Sonne. Er hatte kein Auge für die in voller Blüte stehenden Rosen in dem gepflegten Steingarten vor dem Bürohaus, hörte nicht das fröhliche Vogelgezwitscher in den Baumwipfeln mit den sattgrünen Blättern. Im Herzen des Sohnes vom Brauereiunternehmer Viktor Eichstätt sah es finster aus. Bislang hatte er seine homosexuellen Neigungen vor der Familie geheim halten können, doch jetzt stand er vor der Entscheidung, seinen Freund zu heiraten. Doch er wusste nicht, wie er das seinen Eltern beibringen sollte. Vor allem seinem Vater! Der würde ihn bestimmt enterben und eine Nachfolge als Chef des Unternehmens konnte er sich dann natürlich abschminken.

Widerwillig griff er nach der zuoberst liegenden Akte und wollte sich gerade in diese vertiefen, als es an der Bürotür klopfte. Norbert Eichstätt zuckte zusammen.

Noch bevor er etwas sagen konnte, öffnete sich die Tür und seine Schwester Yasmine trat ein.

„Guten Morgen, Nobby, ich bringe dir dein leichtes Jackett. Du hattest es gestern Abend bei uns liegen lassen. Es wird bestimmt heiß, und da dachte ich…“

„Schon gut, Schwesterlein. Ich danke dir, aber es war nicht nötig, denn wie du siehst, arbeite ich heute ohnehin nur im Hemd – bei der Hitze. Da hatte sogar unser Vater ein Einsehen und allen eine Marscherleichterung genehmigt“, unterbrach Norbert Yasmine lächelnd.

Er war aufgestanden und ihr entgegengegangen. Sie schmollte ein wenig.

„Ich dachte, ich würde dir was Gutes tun, und da kommt mir Vater zuvor.“

Er spielte ihr Spiel mit und nahm sie in den Arm.

„Yasmine, Liebes, ist ja gut“, tröstete er sie und streichelte ihr liebevoll über die Wange. Sie schaute spitzbübisch zu ihm hoch.

„Mach’ nicht so lange heute, Nobby. Chris meinte, wir könnten doch alle am Abend noch mal ins Meer springen, bei den Temperaturen.“

Yasmine wartete keine Antwort ab, trat einen Schritt zurück.

„Du gefällst mir gar nicht, Bruderherz. Als ich rein kam, habe ich dein Gesicht gesehen. Es sah so aus, als sei dir eine ordentliche Laus über die Leber gelaufen. Gibt es etwas, was ich wissen sollte?“

„Nichts, Yasmine, wirklich, nichts.“

Norbert Eichstätt versuchte es mit einem Lächeln, doch er merkte selbst, dass es etwas verkrampft wirkte. Aber sie gab nicht so leicht auf.

„Nobby, was ist los? Mach’ mir bitte nichts vor. Ist es unser Vater, der dich mal wieder ärgert, oder ist es Chris, der ja sowieso andauernd was zu nörgeln hat? Spuck’s aus, alter Junge.“

Yasmine kam ganz dicht an ihren Bruder heran, doch er trat hinter seinen Schreibtisch zurück und ließ sich auf den Bürosessel fallen. Für einen Moment dachte er daran, seiner Schwester die Wahrheit zu sagen, doch dann entschloss er sich zu lügen. Mit der rechten Hand zeigte er auf einen riesigen Aktenberg, offenbar noch unbearbeitet.

„Es ist das Geschäft, Yasmine. Der Umsatz, er stagniert, und Vater will das einfach nicht wahrhaben. Wenn wir künftig nicht aufpassen, dann…“ Weiter kam er nicht, denn es klopfte erneut. Es war die Sekretärin, die den Morgenkaffee brachte.

„Guten Morgen, Frau Eichstätt, möchten Sie auch einen?“

„Nein, danke, ich werde mir lieber in der Stadt ein Eis gönnen – schön im Schatten.“

Als sie wieder allein waren, stellte sich Yasmine auf ihre Zehenspitzen, drückte ihrem Bruder einen Kuss auf die Wange und ging. Sie war beinahe aus der Tür, da fragte Norbert, schon halb auf seinem Stuhl sitzend:

„Wo ist eigentlich Cyril-Amadeus?“

„Höre ich da etwa Eifersucht aus deiner Stimme?“, fragte sie verschmitzt lächelnd zurück.

„Quatsch! Aber ich hätte es mir ja denken können. Vater sollte sich lieber um die Bilanzen kümmern als mit seinem Enkel zu schmusen“, wiegelte er ab.

„Du weißt doch, wie vernarrt Vater in ihn ist. Der würde ihn doch am liebsten schon heute…“

„Auf den Chefsessel hieven, ich weiß!“, beendete Norbert ihren Satz.

Sie lächelte und meinte ein wenig ironisch: „Na siehst du, dann ist ja wenigstens alles klar und Chris und du, ihr müsst euch nicht darum streiten!“ Sprach’s und schloss die Bürotür.

Es war gut, dass Yasmine den Gesichtsausdruck ihres Bruders nicht mehr sehen konnte.

Sie trat einige Schritte von der Staffelei zurück und warf einen prüfenden Blick auf das neu entstehende Bild, einen Strauß bunter Blumen in einer elegant geschwungenen Vase. Den Kopf leicht hin- und herwiegend tauchte sie den Pinsel in einen der vielen Farbtöpfe, trat wieder dicht an das Bild heran und tupfte zart, sehr zart einen Farbklecks auf eine rosafarbene Blüte. Und wieder ging sie ein paar Schritte rückwärts, bemerkte nicht, dass Chris, ihr Schwiegersohn, durch die offene Tür das Atelier betreten hatte, stolperte über ein paar verstreut am Boden liegende Malutensilien, geriet ins Straucheln und wurde von Chris aufgefangen, ganz sanft. Er hatte seiner Schwiegermutter hierbei von hinten unter die Arme gegriffen und wie von selbst seine Hände knapp unterhalb der Brüste zusammengenommen.

„Das ist ja noch einmal gut gegangen“, meinte er lächelnd und Barb Eichstätt schien sich in dieser augenblicklichen Lage nicht unwohl zu fühlen, denn sie verharrte einen Moment länger als nötig in der Position. Ganz langsam löste sie sich aus der Umarmung und drehte sich zu ihrem Schwiegersohn um.

„Warum bist du eigentlich gerade immer dann zur Stelle, wenn es wichtig wird?“

„Du weißt doch, ich bin der Mann für alle Fälle!“, gab er leicht ironisch zurück und nahm sehr vorsichtig eine Haarsträhne aus ihrem Gesicht und legte sie sanft hinter ihr rechtes Ohr.

„Ach, und dazu gehört wohl auch, dass du deiner Frau ein Kind gemacht hast, was?“

Sie wusste genau, dass sie ihn damit treffen konnte.

„Dir macht es wohl offenbar riesigen Spaß, mir diesen Fehlschuss immer wieder unter die Nase zu reiben!“

Seine Stirn zeigte leichte, aber doch sichtbare Zornesfalten.

„Es gibt eben dumme Fehler, die nicht verzeihbar sind. Du bringst es noch fertig, und Yasmine wird wieder schwanger!“, konterte sie, doch sofort nach dieser kleinen Giftspritze trat sie auf ihn zu und streichelte ihm versöhnlich über die Wange.

„Du weißt es doch: Kinder schaden der Karriere, mein Lieber.“

Chris fasste ihre Hand, die immer noch an seiner Wange lag.

„Es ist nun mal so, wie es ist“, meinte er lakonisch. Barb Eichstätt löste sich energisch von ihm und meinte spöttisch: „Ach, der Herr ergibt sich in sein Schicksal.“

Chris Eichstätt, der den Familiennamen seiner Frau angenommen hatte, winkte mit der Hand ab und verließ ihr Atelier. Schon in der offenen Tür stehend, drehte er sich noch einmal zu ihr um und meinte resigniert: „Weißt du denn was Besseres?“

Die Frau des Unternehmers schaute ihm mit einem viel sagenden Lächeln hinterher.

Das Telefon läutete ununterbrochen; das Handy auf dem Schreibtisch vibrierte, doch das interessierte Viktor Eichstätt nicht im Geringsten. Er brauste mit dem Kinderwagen in seinem riesigen Büro hin und her und war geradezu verzückt von dem Gejauchze des Babys. Der Unternehmer hatte seine Umgebung völlig vergessen und auch als die Sekretärin es nach mehrmaligem Anklopfen wagte, die Tür ausnahmsweise ohne das gewohnte ‚Herein’ zu öffnen, musste sie sich erst lautstark bemerkbar machen, um zu sagen, dass ein wichtiger Kunde in der Leitung ‚hänge’.

„Lassen Sie ihn hängen, Frau Brodersen, lassen Sie ihn hängen! Sie sehen doch, dass ich gerade einen sehr wichtigen Besucher habe oder etwa nicht?!“ Augenzwinkernd machte er seiner Sekretärin deutlich, dass sie den Kunden vertrösten und ihn mit dem Enkel allein lassen sollte. Bärbel Brodersen war einiges gewohnt, aber sie wusste auch um den momentanen wirtschaftlichen Einbruch im Unternehmen und dachte dabei natürlich an ihren Job. Ihr musste also schon wieder eine triftige Ausrede dafür einfallen, dass der Chef sehr bald zurückrufen würde.

Kaum hatte sie das Büro ihres Bosses verlassen, den sie über alles schätzte und auf den sie nichts, aber auch gar nichts kommen ließ, da klopfte es an ihrer Tür zum Vorzimmer und gleich darauf trat Yasmine ein, beschwingt und offenbar gut gelaunt.

„Hallöchen, Bärbel, wie steht’s, wie geht’s? Hat mein Dad schon wieder die Erde erreicht oder schwebt er immer noch auf ‚Wolke Sieben’?“

„Ach hören Sie bloß auf, Yasmine! Wenn Ihr Vater sich so um seine Kunden kümmern würde wie um seinen Enkel, dann bräuchten wir uns alle weniger Sorgen zu machen.“

„Ist es denn wirklich so schlimm?“

Die Sorgen in der Stimme der Sekretärin waren nicht zu überhören.

„Wenn Sie wüssten, Yasmine, aber ich bin ja nur die kleine Angestellte, und was versteht die denn schon vom Geschäft, nicht wahr!?“

Yasmine war klar, auf wen sie anspielte, natürlich auf Chris, ihren Mann, der die kleinen Mitarbeiter gern übersah und sie oft spüren ließ, dass sie keine Meinung ungefragt zu äußern hätten. Die Tochter des Unternehmers zuckte mit den Schultern, so als wolle sie sagen: ‚Sie haben ja recht, aber was soll ich tun?’

Für einen kurzen Moment legte sie ihre Hand auf Bärbels Schulter und betrat ohne anzuklopfen das Heiligtum ihres Vaters. Der hatte seinen Enkel gerade aus dem Wagen genommen und ihn unter lautem Gekreische hoch geworfen und wieder aufgefangen.

„Wenn du ihn weiter so verwöhnst, dann kann aus Cyril-Amadeus ja gar nichts werden“, meinte Yasmine lächelnd. Sie sprach ihren Sohn immer komplett mit dem Doppelnamen an und ärgerte sich, wenn andere in ihrer Familie das nicht taten.

„Ach weißt du Yasmine, der Kleine ist mein Ein und Alles, und am liebsten würde ich ihn schon heute auf meinen Stuhl setzen. Du weißt doch, wenn zwei sich streiten…“

„Aber Papa, du kennst doch meine Meinung, wie ich zu der Übernahme der Geschäftsleitung stehe. Ich liebe Chris, aber als Chef deiner Brauerei, das kann ich mir im Augenblick bei ihm nun überhaupt nicht vorstellen.“

Das war ihre ehrliche Ansicht. Und auch gegenüber ihrem Mann machte sie keinen Hehl daraus. Natürlich wusste sie auch, wie er darüber dachte, und gelegentlich kam es deswegen auch zum Streit zwischen den beiden, manchmal recht heftig sogar.

„Am liebsten wäre es mir, wenn du…“

„Hör’ auf damit, Papa!“, unterbrach Yasmine ihren Vater mit strengem Blick. „Du weißt, ich möchte einen ganzen Sack voller Kinder, wenn auch durch Adoption und beides geht nicht!“

Ihr Vater schaute sie nachdenklich an, liebkoste seinen Enkel und legte ihn behutsam in den Kinderwagen zurück, doch das gefiel diesem gar nicht und er zeigte seinen Unmut mit lautem Gezeter.

„Vielleicht überlegst du dir das doch noch mal“, meinte er und sie hörte etwas Trauriges in seiner Stimme. „Oder ich warte, bis du soweit bist, nicht wahr, Cyril-Amadeus?!“

„Aber Paps, du hast doch einen Sohn, wenn ich dich daran erinnern darf. Trau’ ihm doch einfach was zu. Er hat ‚Biss’ und auch das Können, glaub’ mir.“

Sie trat dicht vor ihren Vater. Auch bei ihm musste sie sich auf die Zehenspitzen stellen, um ihm einen Kuss zu geben, schnappte sich den Kinderwagen mit dem immer noch protestierenden Sohn und verließ eilig das Büro. Sie hörte nicht mehr die leise Stimme ihres Vaters, als er sich auf seinen Bürosessel fallen ließ: „Wenn ich nur wüsste, wie ich sie überzeugen könnte.“

Er tat das, was er immer machte, wenn er nichts zu tun hatte: Kreuzworträtsel lösen. Gleich hatte er es geschafft. Mit einem kleinen Quäntchen Glück könnte diesmal ein DVD-Player als Gewinn herausspringen. Der arbeitslose Elektriker zuckte mit den Schultern.

„Wann hatte ich zum letzten Mal im Leben Glück gehabt?“, murmelte er vor sich hin, steckte den Lösungsbogen in einen Briefumschlag und verschloss ihn sorgfältig.

Der Mann schaute sich in seiner 30 qm kleinen, bescheidenen Mansardenbude in Flensburg-Harrislee um. Sein Blick war traurig. Was war nur aus ihm geworden. Vor knapp elf Jahren hatte er so ziemlich alles verloren, was Lebensqualität bedeutet, seine Arbeit, seine Frau und auch seine Kinder, die er nach der Scheidung nie wieder gesehen hatte. Es war seiner Ex-Frau gelungen, ihn in den Augen seiner beiden Mädchen als einen brutalen Schläger hinzustellen, der es nicht verdient hatte, Vater genannt zu werden. Anfangs hatte er aufbegehren wollen und bitterböse Briefe geschrieben sowie gerichtlichen Beistand gesucht und nicht erhalten. „Das Gericht kann Ihnen kein anteiliges Sorgerecht zusprechen“, hatte damals die Richterin gemeint. „Schließlich haben Sie Ihre Frau krankenhausreif geschlagen und sind ohne Arbeit“, war ihre beißende Begründung gewesen. So etwas konnte auch nur eine Frau sagen. Seine mehrfachen Befangenheitsanträge gegen diese Richterin waren natürlich abgeschmettert worden. Und in der Zeit danach, da war es nur noch bergab gegangen mit ihm. So richtig in Arbeit gekommen war er nicht mehr; immer mal wieder Gelegenheitsjobs, aber nie etwas Festes.

Ehrlicherweise musste er sich eingestehen, den Verlust seiner letzten Arbeitsstelle selbst verschuldet zu haben. Aber das war ja nicht aus irgendeiner Laune heraus geschehen. Diese arroganten Herren in der Chefetage, die waren mit ihm mehr als mies umgegangen. Gelegentlich klopfte er sich noch heute stolz auf die Schulter, wenn er daran dachte, was er alles daran gesetzt hatte, diese lausigen Typen von der Geschäftsleitung in der Zeit nach seinem Weggang aus der Fassung zu bringen. Rache war sein Motiv. Gewiss, ein primitiver Beweggrund, aber seine Aktionen hatten Wirkung gezeigt. Er war sich nicht zu schade gewesen zu schnüffeln und dabei herauszufinden, dass der Sohn des Unternehmers schwul war und seine sexuelle Befriedigung in entsprechenden Kreisen suchte. Seine Erpressungen brachten ihm zumindest eine kleine Aufbesserung seiner Stütze. Sein Gefühl, nicht zu hohe Schweigesummen zu kassieren, war richtig gewesen, denn es wurden ohne größeres Murren mal 2000, mal 1500 Mark und nach der Währungsumstellung gelegentlich auch 1500 € gezahlt, immer wieder an ein und derselben Stelle im Kaufhaus in der Fußgängerzone in Flensburg.

Mit den Erpressungen hatte er erst begonnen, als seine Frau ihn aus der gemeinsamen Wohnung hinausgeworfen hatte, sogar mit der Polizei. ‚Wegweisung’ nannten diese Typen das. Und warum? Nur, weil seine Frau so sauer gewesen war, als er die Arbeit ‚geschmissen’ hatte. Mein je, war sie da ausgerastet und hatte ihn in der übelsten Fäkaliensprache beschimpft, ihn als jämmerlichen Versager niedergemacht. Da war es eben geschehen. Er hatte rotgesehen und zugeschlagen, nicht nur einmal. Es wäre durchaus auch möglich gewesen, dass seine Frau diese Attacke nicht überlebt hätte. Sehr wahrscheinlich hatte sie das Klingeln an der Wohnungstür gerettet. Wie sich später herausstellte, war es ein Nachbar gewesen, der nach ein paar Eiern gefragt hatte.

Ja und dann gab es eine äußerst prekäre Situation in seinem Leben für ihn selbst, nach der er zum Erpressten wurde und ausgerechnet von den Menschen, die ihm übel mitgespielt hatten und von denen er einen damals erpresst hatte. Er nannte das die Ironie des Schicksals.

Der Mann stand stöhnend von dem einfachen Holzstuhl auf, trank einen Schluck des schon abgestandenen Bieres aus einem völlig verschmutzten Glas und wollte zur Tür gehen, um den Brief mit dem gelösten Rätsel in den Briefkasten zu befördern, da schrillte sein uraltes Telefon, noch mit einer Drehscheibe ausgestattet. Das hatte ihm ein ehemaliger Kollege mitleidsvoll überlassen. Er drehte sich zu der zerkratzten Anrichte um, auf der das Museumsstück stand, war kurz unschlüssig, ob er rangehen sollte oder nicht. Schließlich nahm er doch den schweren Hörer von der Gabel und sagte: „Ja!“

Nach wenigen Sekunden musste er schlucken. „Sie? Was wollen denn Sie von mir?“

Wenn er eines hasste, dann waren das Staus. Jörg Wartefuhl trommelte mit seinen Fingerkuppen auf das Lenkrad, nicht zum Takt einer Musik aus dem Radio, nein, er war genervt. Der Chef der Mordkommission in Flensburg wollte nach Hause. Ein langes Wochenende stand ihnen bevor. Und das hatten seine Frau und er bitter nötig. Nicht, weil er zu viel zu tun hatte. Ganz im Gegenteil, seit einem halben Jahr gab es für die Mitarbeiter im Kommissariat wenig zu tun und alle fragten sich, ob das wohl die Ruhe vor dem großen Sturm sei. Dabei hatten sie keine Langeweile, insbesondere deshalb nicht, weil seine Truppe von sich aus vorgeschlagen hatte, sich alte, noch immer ungelöste Fälle vorzunehmen. Ihn hatte es gefreut, dass sie selbst auf diese Idee gekommen waren. Sie waren ‚ganz heiß’ darauf gewesen, eventuell in dem einen oder anderen Fall doch noch Licht ins Dunkle zu bringen. Und es hatte sich schon mehr als einmal gelohnt. Außerdem konnten sie alle in der letzten Zeit den riesigen Berg an Überstunden, den jeder vor sich herschob, zu einem guten Teil abbauen.

Nein, nein, er musste das lange Wochenende nicht dafür nutzen, um sich von der Arbeit zu erholen. Er brauchte fast jede freie Minute, um etwas aufzuarbeiten, was sie beide, aber vor allem seine Frau immer noch zutiefst belastete.

Auf Jörgs Stirn bildeten sich augenblicklich Zornesfalten. Vor ihm schlich ein Auto mit dem Kennzeichen OH. Stimmt also doch, dachte er grimmig, was ich letzte Woche gehört habe, als mir jemand das OH-Kennzeichen übersetzte: Ohne Hirn. Der Chef-Ermittler drückte derart stark und lang anhaltend auf seine Hupe, dass er den Gummi beinahe durchstoßen hätte. Wild fluchend zog er rechts an dem Wagen mit dem trödelnden Fahrer vorbei, schenkte ihm noch einen kopfschüttelnden Blick und dann war er auf der Ausfallstraße nach Glücksburg. Ganze elf Jahre wohnten sie in dem reizvollen Ort, eigentlich konnte man auch Örtchen sagen, weil er so überschaubar, so anheimelnd war. Doch Glück gebracht hatte dieses schöne Fleckchen Erde seiner Frau und ihm nun wahrlich nicht. Allein diese jetzt wieder aufkommenden Gedanken ließen seine Augen feucht werden. Wie oft hatte er das in der Vergangenheit schon erlebt, aber er schaffte es immer noch nicht, eine professionelle Distanz zu dem damaligen Geschehen einzunehmen, das sie beide, aber vor allem seine Frau, beinahe aus der Bahn geworfen hätte.

„Schatz, dieses kleine Haus ist für uns wie geschaffen, für uns beide und für unsere vielen, vielen Kinder, die hier eines Tages unbeschwert herumtollen werden“, hatte Karin gesagt, als sie damals vor diesem ‚Knusperhäuschen’ standen und die Wahl hatten, es zu mieten oder zu kaufen. Die Entscheidung war für das Mieten gefallen. Er war sich damals noch nicht ganz sicher, ob hier in Flensburg seine berufliche Karriere als Chef der MK, wie das Kommissariat für Tötungsdelikte allgemein genannt wird, beendet sein würde. Mit 39 Jahren gehörte man schließlich noch nicht zum ‚Alten Eisen’, und er konnte sich schon noch eine Ausbildung zum ‚Höheren Dienst’ und damit eine Verwendung als Leiter einer Kriminalinspektion vorstellen, theoretisch zumindest. Aber praktisch? Seine Gedanken wanderten wieder zu Karin. Ja Karin, er musste unwillkürlich seufzen. Vor einer knappen halben Stunde hatte sie noch bei ihm angerufen und gedrängelt: „Komm’ nach Hause, Schatz. Du weißt, ich brauche dich.“

Ja, sie brauchte ihn wirklich. Seine Gefühle waren zwiespältig. Einerseits machte es ihn glücklich, dass Karin seine Nähe, seinen Beistand suchte und er ihr so eine Stütze sein konnte und dabei immer wieder ihre große Dankbarkeit erlebte. Auf der anderen Seite fragte er sich, wie lange das noch so gehen sollte. Wie lange würde er noch die Kraft aufbringen können, ihrer Depression so zu begegnen, dass sie ohne eine stationäre Therapie aus den vielen, vielen Tiefs immer wieder herausfinden konnte? Und wie lange hatte seine Frau selbst noch die Kraft dazu? Seine Gedanken wurden abrupt durch das Klingeln seines Handys in der Freisprechanlage unterbrochen. Auf dem Display war zu lesen: „Werner Hansen“. Werner war sein Vertreter, ein Kollege, auf den er sich hundertprozentig verlassen konnte. Wenn er sich meldete, dann hatte das seinen Grund.

„Na, Werner, kommt jetzt der Sturm, auf den wir so lange gewartet haben?“

„Glaub’ nicht, Jörg, und ich bin mir auch nicht sicher, ob du das wissen musst. Ich weiß ja, dass Karin dich…“

„Stopp, alter Junge! Was hatten wir abgemacht? Wenn es knallt, dann…“

„Na ja, geknallt hat es eigentlich in unserem Sinne gar nicht, es ist eher etwas zum Schmunzeln. Und ich denke, du solltest es dir zumindest mal anhören“, unterbrach ihn sein Vertreter.

„Na, dann schieß mal los, ich bin ganz Ohr!“

Der Arbeitslose zündete sich eine Zigarette an. Er saß in der Schrottkiste seines Kumpels auf dem Beifahrersitz, schwitzte und hielt ein Rätselheft auf seinen Knien. Der Innenraum dieser Rostlaube strotzte vor Dreck und das widerte ihn an. Außerdem stank dieser Mensch aus allen ‚Knopflöchern’. Doch obwohl er sich mit solchen Typen im Allgemeinen nicht abgab, konnte er im Augenblick nicht auf ihn verzichten. Der leidenschaftliche Kreuzworträtsler hatte etwas vor, was ihm eine gehörige Portion Geld einbringen würde. Und für diesen Job brauchte er nun mal jemanden, der ihm die Drecksarbeit abnahm. Und leider erlaubte es seine momentane Lebenssituation nicht, sich für diese Art von Arbeit einen Menschen auszusuchen, der ihm sympathisch war. Und dieser Asoziale neben ihm hatte auch sein Gutes. Er war absolut zuverlässig und konnte sein Maul halten, war also nicht so geschwätzig wie andere, die nach einem gedrehten Ding, das am nächsten Tag in der Zeitung nachzulesen war, nichts Besseres zu tun hatten, als damit zu prahlen. Solche Typen waren einfach zu dämlich zu begreifen, dass es unter ihresgleichen auch Neider gab und wenn dann noch eine Belohnung ausgesetzt war, dann konnte sie niemand davon abhalten, selbst ihren besten Kumpel zu verpfeifen. Nein, so ein Mensch war sein Nebenmann auf dem Fahrersitz nicht. Aber dafür hatte er noch eine Eigenschaft, über die er selbst nicht verfügte und die jetzt für seinen Job dringend benötigt wurde: Er kannte keine Skrupel. Als er darüber ernsthaft nachdachte, auf diese miese und feige Art Geld zu verdienen, kamen ihm schwerste Bedenken. Einige Male war er vor den Spiegel getreten, hatte den Kopf geschüttelt und gemurmelt: „Soweit ist es also mit dir gekommen.“

Aber die Gier nach dem Geld hatte ihn auf den teuflischen Gedanken gebracht, dass ein anderer es übernehmen konnte, so etwas Grässliches zu tun. Und außerdem gab es ja auch noch seine Rachegelüste…

„Wie lange sollen wir hier denn noch warten?“