Der Stadtpark - Hermann Grab - E-Book

Der Stadtpark E-Book

Hermann Grab

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Beschreibung

Hermann Grabs erster schmaler Roman ›Der Stadtpark‹ erlebte kaum die Auslieferung, da fiel er – wie sein jüdischer Verfasser – auch schon unter die Verbotsbestimmungen. Das ganz und gar stille Werk, das recht subtil eine Adoleszenzphase eines Großbürgersohns zu k. u. k.-Zeiten beschreibt, bietet – der Vergleich sei gewagt – eine literarische Mischung aus Anklängen an Proust, Kafka und Hofmannsthal. Abgerundet wird diese Ausgabe mit Erzählungen, die überwiegend Exil-Erfahrungen mitteilen. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Seitenzahl: 361

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Hermann Grab

Der Stadtpark

und andere Erzählungen

FISCHER E-Books

Mit einem Nachwort von Peter Staengle

 

Inhalt

Verboten und verbrannt / [...]Der StadtparkIIIIIIIVHochzeit in BrooklynUnordnung im GespensterreichDie KinderfrauDie MondnachtDie AdvokatenkanzleiIIIIIIRuhe auf der FluchtIIIIIIIVDer HausballHochzeit in BrooklynDer TaxichauffeurDer MörderGespräch des TotenTh. W. Adorno über Hermann GrabNachwort von Peter StaengleQuellenverzeichnis der Erstdrucke

Verboten und verbrannt / Exil

Herausgegeben von Ulrich Walberer

Der Stadtpark

I

Wenn sie vom Essen aufgestanden waren, dann ging Renato immer noch für eine Weile in sein Zimmer. An den Tagen der Fechtstunde hatte er allerdings schon gesagt, er gehe fort. Aber Miß Florence bemerkte auch vom Nebenzimmer aus, daß er noch da war. »Vorwärts«, rief sie, »warum trödelst du wieder?« »Ja, ich gehe schon«, sagte Renato und blieb dann noch ein wenig sitzen.

Auch im Herbst kam es vor, daß ein Stück vom Sonnenlicht sich durch die Fensterscheiben legte. Es kam bis an den Waschtisch und ließ die Wasserhähne etwas stärker glänzen. Die spiegelten sich dann am Kasten wider, an den Glasscheiben, welche die Bilder bedeckten, die Miß Florence noch vor dem Krieg aus England hatte kommen lassen. Sie sagte, die Bilder stellten Mister Pickwick dar. Ein andermal aber sagte sie wieder, die dicken Herren mit den roten Gesichtern seien einfach Engländer beim Sport. Sie spielten Golf, sie kutschierten und sie spielten Curling. Das taten sie, indem sie auf dem Eis mit großen Besen Gegenstände vor sich hinschoben, von denen die Mama behauptete, es seien Wärmeflaschen.

Wenn Renato auf die Straße getreten war, dann hatte er seine körperliche Lage dennoch nicht verändert. Denn was man die Bewegung seiner Füße genannt hätte, war nichts anderes als die Ruhe, in der er sich zu Hause am Sessel sitzend eben noch befunden hatte, es war die gleiche Ruhe, so wie zwei Melodien die gleichen waren, von denen Fräulein Konrad behauptete, die eine sei nur in eine fremde Tonart transponiert. Und eben diese Ruhe suchte er auch in der Fechtstunde wieder herzustellen. Wenn Herr Kvapny ihn aufforderte, mehrmals die gleichen Stöße zu trainieren, dann ging mit dem Gefühl der Ruhe ein angenehmer elektrischer Strom durch seine Glieder.

In den Pausen legte Herr Kvapny Helm und Handschuhe ab und blickte hinunter auf die Straße. Die Fechtschule lag im fünften Stock. »Wie Ameisen«, sagte Herr Kvapny, dann nickte er befriedigt. Renato fragte ihn, was es noch durchzunehmen gäbe. »Jetzt noch die Doppelfinten«, sagte er, »und im nächsten Jahr kommt Säbelfechten.« Er sah die Schüler kommen und gehen, er wußte von den einen, daß sie im Florett noch nicht sehr fortgeschritten waren und von den anderen, daß sie im Säbelfechten schon sehr schöne Resultate zeigten. So ordnete sich ihm die Welt nach den Leistungen im Florett, im italienischen und deutschen Säbel, so wie für den Schöpfer seine Welt sich nach Wasser und Erde schied, nach bösen und guten und vielleicht auch nach großen und nach kleinen Geistern.

Am Rückweg bemerkte Renato, daß ein oder das andere Schaufenster sich um diese Stunde schon erleuchtet zeigte, um auf solche Weise einen Innenraum mitten in die kalten Straßen zu verpflanzen. Im Torweg traf er immer auf Herrn Knobloch, den Hausbesorger, der mit dem Diener aus dem zweiten Stock, mit dem Gemüsehändler oder mit einem Fremden im Gespräche stand. Es wäre schon Zeit gewesen, im Stiegenhause Licht zu machen, aber Herr Knobloch dachte nicht daran, seine Kontemplationen sein zu lassen. Er sprach über die Zeiten und seufzte hin und wieder. Aber da er zwischendurch das Gesicht bis zur Breite seiner goldgeränderten Brille zu einem Lächeln auseinanderzog, mußte man annehmen, er sei mit den Zeiten, mit der Not und mit dem Kriegsjahr dennoch nicht so unzufrieden, da ihm das alles Gelegenheit gab, hier zu stehen und zu seufzen, in dieser Dämmerstunde, die sich langsam in die Straßen gelegt hatte und die auch im Innern des Hauses lautlos aus den Winkeln hervorgekommen war, um sich mit dem Kaffeegeruch des Nachmittags über den Treppen aufzuschichten.

Zu Hause rief Miß Florence gleich zum Tee. Das Teetrinken war eine sakrale Handlung für sie und Renato fand bald das Zeremoniell, mit dem der Tee hier im Kinderzimmer aufgetragen und genossen wurde, ein wenig lächerlich und übertrieben. Aber Miß Florence hielt etwas auf diese Stunde. Manchmal durfte man sie nicht einmal durch Reden dabei stören. Wenn sie die Tasse ansetzte und ohne zu trinken darüber hinwegsah, dann hatte man zu schweigen. Sie denkt jetzt an England, sagte sich Renato. Und er sah, wie sie dabei war, das Land, in dem sie jetzt am Teetisch saß und von dem sie sagte: »Hier sind die Leute schrecklich, sie haben keine Ahnung von dem, was sich zu tun gehört«, wie sie dabei war, dieses Land mit ihrer Insel zu vergleichen. In England, so dachte Renato, dort sind die Menschen alle gütig, nobel, heldenhaft und zart besaitet, allerdings auch ein wenig ungerecht und beschränkt, wie Miß Florence selbst. Aber Renato wußte, daß das hinzunehmen war: dieses kleine Maß von Dummheit, welche das Tun und Wollen der höheren Mächte so groß und unerforschlich machte.

Gewiß, es bestand ein Gegensatz zwischen diesem Bilde, dem Bild vom guten Lande der Miß Florence, und jenen Anschauungen, wie sie jetzt im zweiten Kriegsjahr in der Schule vorgetragen wurden und wie sie in den Zeitungen zu lesen waren, vom bösen verräterischen Albion, vom schlauen, hinterlistigen Feinde (auch Renato glaubte ihn zu hassen, wenn er nach der Meldung eines Sieges an die Wand trat, um auf der Generalstabskarte der Westfront, die in seinem Zimmer hing, die Stecknadeln mit den schwarz-weiß-roten Fähnchen zu versetzen). Aber wie sollte man annehmen, daß man in diesem Lebensalter daran denkt, die Dinge miteinander in Einklang zu bringen? Auch später, wenn es uns etwa gelungen sein mag, der Wahrheit etwas näher zu kommen, auch dann haben wir gewiß noch lange nicht die volle Wahrheit, die alle Dinge miteinander harmonieren läßt. Der menschlichen Optik ist die Welt offenbar nur in Ausschnitten gegeben und nur so weit als diese Ausschnitte in Widersprüchen zueinander stehen. Und wenn in den Jahren, die wir die Jahre der Reife nennen, die Probleme sich lösen, die Welt sich zu ordnen beginnt, dann sollen wir uns nicht darüber täuschen: wahrscheinlich haben wir oberflächliche Kompromisse geschlossen, während uns die wahre Harmonie verborgen bleibt.

Was nun Miß Florence betrifft, so konnte es geschehen, daß sie zu Renato ins Zimmer kam, nur um ihm zu sagen, es würden auf der Straße Extraausgaben verteilt, in denen von einem Sieg der deutschen und der österreichischen Armee zu lesen war. Sie freute sich dann und meinte, man müsse dafür sorgen, daß Knobloch nicht vergesse, die Fahne aufzuziehen. Aber es konnte auch ganz anders kommen. Wenn Renato sie fragte, ob sie schon von dem neuen Sieg erfahren habe, dann kam es vor, daß sie ihn lange ansah. »Du bist ein großer Junge«, meinte sie, »du wirst bald dreizehn sein, du müßtest wissen, wie man sich benimmt.« Und hatte sie dann beschlossen, kein Wort zu ihm zu sprechen, so blieb sie für den Rest des Nachmittags dabei.

Es nützte dann auch nichts, was immer er versuchte. »Miß Florence«, sagte er, und er sagte es so sanft, daß er sich selber denken mußte, es sei sehr schön und rührend, wie es klang, »Miß Florence, das was wir gestern in Oliver Twist miteinander gelesen haben, das ist wirklich herrlich«, oder er sagte: »Miß Florence, wie die beiden Hunde im Stadtpark heute gerauft haben, daran muß ich noch immer denken.« Aber Miß Florence sah wortlos vor sich hin und ihr Blick schien wieder die Küste Englands zu umfangen, den Hydepark mit den Kindern, die so schön zu Pferde saßen, die Wiesen mit den breiten Bäumen, und ihren lieben Vater, der mit großem aufgezwirbeltem Schnurrbart, seinen Stock in der Hand haltend auf einer Bank saß (so zeigte es die Photographie) und Renato mußte sich sagen: »Ich bin niedrig und verachtenswert« (»niedrig denkend« pflegte Miß Florence das zu nennen).

Manchmal kam auch die Mama zum Tee. Aber sie lag zumeist auf dem Sofa. Mama war immer krank, und wenn der Doktor Wanka kam, eilig und verdüstert dreinsah und in seiner Hand die Reisetasche hielt, in der er an Stelle von Pantoffeln, Zahnbürste und harten Eiern jenes silberne Etwas trug, das er sein Instrumentarium nannte, wenn dann die Köchin zu Miß Florence sagte: »Immerfort und immerfort der Doktor, was das nur für ein Geld kosten muß!« dann wußte Renato niemals ganz genau, gegen wen die Anklage gerichtet war, gegen den Arzt, gegen die Weltordnung oder gegen die Mama. »Deine Mutter ist krank«, sagte der Papa und schwieg. Renato sah ihn an, sah die einzelnen Haare seines Schnurrbarts und spürte, daß er ihm böse sei, weil es ihm nicht gelang, aus seinem Innern sichtbarlich die Materie der Traurigkeit zu entsenden, jener Traurigkeit, die man über die Krankheit der Mama empfinden mußte, während ihm selbst, dem Papa, dieser Schmerz so ganz natürlich eingewachsen war, er diesen Schmerz so gut verankert in sich trug, mit solcher Sicherheit schon damit umzugehen wußte, daß er bei Tisch Gemüse nehmen, nachher in der Zeitung lesen und schließlich sogar lächeln konnte, ohne dabei den Ritus seiner Traurigkeit auch nur um ein Geringes zu verletzen (ganz wie ein Künstler am Volant eine Zigarette nimmt und plaudern kann, während er zugleich die schwierige und schnelle Fahrt mit aller Überlegenheit zu meistern weiß).

Es ist schrecklich, daß die Mama krank ist, dachte Renato, während er bei ihr im Zimmer stand, und er wartete darauf, daß mitten in seiner Brust ein Gegenstand sich loslösen, vielleicht eine kleine Platte sich bewegen würde, um durch die Reibung, die dabei entstünde, den Kummer über Mamas Erkrankung fühlbar zu machen. Es war jenes selbe Ereignis, das er an den Kammermusikabenden erwartete, wenn im verdunkelten Konzertsaal nur die kleinen Lichter an den Pulten brannten und sie begonnen hatten, ein Beethoven-Quartett zu spielen. Dann dachte er sich immer: Das ist Beethoven, das ist die schönste Musik, die geschrieben worden ist, das muß ein großes Erlebnis sein. Aber daß das Erwartete nicht eintraf, darüber dachte er dann nicht mehr nach.

Die Mama fragte immer: »Bist du von Miß Florence abgeprüft?« Dann sagte sich Renato, daß offenbar gewisse Worte – wie das häßliche Wort »abgeprüft« – die Macht besaßen, eine Situation ins Leben zu rufen und mit allen Einzelheiten auszustatten. Wenn Miß Florence die Brille genommen hatte, um sich mit der lateinischen Grammatik in der Hand vor ihn zu setzen und wenn sie die wörtliche Wiederholung der Sätze aus dem Lehrbuch hören wollte und nach Dingen fragte, die man in der Schule gar nicht wissen mußte, dann kam das alles offenbar nur deshalb so, weil sie das Wort »abgeprüft« gebrauchten. Wahrscheinlich sagten sie: Ein Junge muß abgeprüft werden, und ließen überdies noch mit dem Worte Junge einen Schüler dem Erdboden entsteigen, der mit seitwärts geneigtem Kopfe vor Miß Florence stand und dessen Kleidung sie betrachtete – den grauen Rock und die graue Hose, von denen die Mama beim »Einkauf« immer sagte, sie seien »solid«, wobei sie dann hinzufügte, »das ist das Richtige für einen solchen Jungen« – dessen Anzug also Miß Florence »ins Auge fassen« wollte, um zu sehen, ob er »in Ordnung« war, während sie mit dem Lateinbuch und mit der Brille wie hinter einer neuartigen Kriegsmaschinerie schon ihren Platz bezogen hatte.

»Transporto equitatum Rhenum«, sagte Renato, wenn er vor Miß Florence stand, »ich setze die Reiterei über den Rhein.« Miß Florence aber unterbrach ihn gleich: »Wie kannst du nur sagen: ›Ich setze die Reiterei über den Rhein‹, hier steht doch einfach: setze die Reiterei über den Rhein! Du hast ja wieder keine Ahnung.«

Gewiß hätte Renato versuchen können, ihr die lateinische Grammatik zu erklären. Aber Miß Florence verstand nur das, was sie verstehen wollte. So hatte sie sich auch die Hauff-Novellen nicht erklären lassen. Wenn Renato mit dem Buch in der Hand zu ihr gekommen war, um ihr den Anfang jener Novelle vorzulesen, die so großartig mit der Schilderung des Opernabends und des weiß und goldenen Zuschauerraumes begann, dann hatte sie immer einen Grund dafür gefunden, die Sache aufzuschieben. Sie hatte gerade mit der Köchin abzurechnen oder sie war mit der Nähschachtel beschäftigt. Sie hatte vor sich am Tisch die hölzerne Schachtel stehen, deren gelbe Farbe sich in Grau verwandelt hatte, seit sie keine Bonbons mehr enthielt, und der Miß Florence jetzt an Stelle von Schokoladestücken kleine Nähnadeln entnahm, die sie allerdings mitunter – vielleicht den Gesetzen dieser Schachtel folgend – wie ein Stück Zuckerwerk in ihren Mund nahm und zwischen ihren Zähnen festhielt. »Jetzt nicht«, sagte sie zu Renato, nachdem sie die Nadel aus dem Mund herausgenommen hatte. »Du siehst, ich habe keine Zeit für deine Hauff-Novellen.« Renato wußte aber dann, daß sie bei ihrer falschen Vorstellung von den Novellen bleiben würde. Machte er nämlich vor einem Fremden eine Bemerkung über das Theater oder über irgendein Ereignis, dann geschah es immer, daß ihn Miß Florence unterbrach. »Ach hören Sie nicht auf ihn«, sagte sie dann zu dem anderen, »er redet so gescheit, Sie müssen wissen, er hat die Hauff-Novellen gelesen, das ist alles.«

Bei der Mama im Schlafzimmer sah Renato die langgezogenen gläsernen Tropfen an, die immer ganz nahe daran waren, vom Luster herabzufallen (ohne daß es aber jemals geschah oder jemals dazu kommen konnte). Er hörte auch das Ticken der Standuhr. Ein Lebewesen stieg aus ihrer Flanke auf, in der unteren Hälfte ein Fisch, in der oberen ein Mensch, eine Frau, die in die Ferne sah und die mit ihrem großen bronzenen Sommerhut das Zifferblatt beschattete. Renato dachte dann: jetzt könnte ich etwas über Miß Florence sagen. Miß Florence sprach in der Küche viel Schlechtes über die Mama. Und Renato wußte, was geschehen wäre, wenn die Mama davon erfahren hätte. Er wußte, daß er mit dieser Mitteilung, mit bestimmten kleinen Bewegungen nämlich, die er mit seinen Lippen machen würde, eine jener minimalen Hebelverschiebungen vollziehen würde, durch die manchmal eine weitverzweigte Apparatur, ein großes Industriewerk, ein Zaubertheater in der gleichen Sekunde in Betrieb gesetzt wird. Und er sah auch, was er mit dieser kleinen Bewegung auslösen würde: die Empörung der Eltern über Miß Florence – sie wäre schon beim Kofferpacken –, ein Laufen durch die Wohnung, ein Türenschlagen und ein Telephonieren und schließlich auch die Empörung der Dienstboten über die Eltern (»es ist schrecklich«, würden sie sagen, »mitten im Krieg setzt man sie auf die Straße«). Es wäre vielleicht schon spät am Abend. Aber trotzdem würde Knobloch ihren Koffer hinuntertragen. Er würde den breiten, niedrigen Koffer auf seinem Rücken tragen, während er über die Stiegen hinunterginge. Unten würde er dann den Koffer auf den Gehsteig stellen, gerade unter die Gaslaterne. Und dann würde sich Miß Florence auf den Koffer setzen. – Aber nichts von alledem geschah. Renato saß bei der Mama und die bronzene Dame horchte weiter in die bewegungslose Luft des Schlafzimmers hinaus, horchte über das langsame Ticken ihrer Uhr hinüber und vernahm nichts als gelegentlich einmal ein leises Gurgeln in den Rohren der Zentralheizung.

Warum er Mama nichts sagen konnte, diese Frage legte sich Renato freilich manchmal vor. Aber wenn er dann zum Resultat kam: Ich kann nichts tun, weil ich Miß Florence liebe, dann war es, als ob im Augenblick (wie im Orchester ein Instrument, welches die Melodie einem anderen übergibt, einem anderen, das aber nicht erst dann fortfährt, wenn das erste verstummt, sondern mit dem Schlußpunkt des ersten schon seinen Einsatz hören läßt) es war, als würde die Erklärung im Augenblick von einer Stimme abgelöst, welche zu sagen schien: Nein, du liebst sie nicht, du hast nur von der Liebe sprechen hören, und du glaubst, auch du müßtest das erfahren. In Wirklichkeit, so dachte er, wäre es beschämend, gerade sie zu lieben. Aber wenn es ein andermal geschah, daß er sich sagen mußte: sie ist dumm, sie ist böse, dann war im Augenblick die Stimme wieder wach: Wie kannst du nur so denken, du liebst sie ja in Wirklichkeit!

Eines allerdings stand fest: Es war anders um sie bestellt als um die gewöhnlichen Leute, die Professoren in der Schule, die Familienmitglieder, die Besuche, die ins Haus kamen. Das Leben, die Reden, die Meinungen dieser Menschen waren durchsichtig, waren langweilig und ohne Wichtigkeit, die Gestalt der Miß Florence dagegen schien wie ein kostbares Tabernaculum ein Stück von dem Geheimnis, welches die Welt in Gang erhält, in ihrem Inneren zu verbergen. Manchmal schien es sogar, als würde das Geheimnis selbst für einen Augenblick lang an die Oberfläche emporgetragen. Wenn sie vor sich hinsah, wenn sie keine Antwort gab, dann war es plötzlich da und lange nachher blieb das Zimmer noch mit der Traurigkeit angefüllt, die es zurückgelassen hatte. Oft mußte sie auch selbst nichts dazu tun und man stand dennoch mit einemmal davor. So konnte es geschehen, daß man ihren Namen – zwei Silben, zu täglichem Gebrauch geschaffen, unbeachtet, wie der Mechanismus unserer Gehvorrichtung, wie der Zweck des Hebelwerkes für den routinierten Autolenker – es konnte geschehen, daß man diesen Namen wie von einer dahinterstehenden Lampe erhellt plötzlich in seiner Transparenz erleuchtet sah. Und das Wort Florenz – Renato verband damit schon damals die Vorstellung von einer breitangelegten Hügelstadt, von schönen Frauen in roten Samtgewändern, von einer schwärmerischen Jugend und von geheimen Waffengängen – dieses Wort Florenz stand so sehr im Mißverhältnis zu dem armen englischen Mädchen mit seiner fahlen Haut, der spitzen Nase und der kleinen, hinkenden Gestalt, daß es unmöglich war, sich der Tränen zu erwehren. Ihre guten Eltern hatten in den Namen ihren ganzen Stolz und ihre Hoffnung konzentriert. Sie hatten ihr den Namen Florence gegeben, dessen englische Betonung die Wunder der Märchenstadt in das frische Grün des Nordens zu verpflanzen schien, das Bild einer jungen Lilie hinter der vereisten Fensterscheibe sich in seiner zarten Schärfe profilieren ließ. Aber das Leben hatte anders entschieden und der Name, dazu angetan, über einer glücklichen Existenz als Leitstern zu erglänzen, hatte nun keine andere Funktion, als die körperliche Häßlichkeit in unbarmherziger Beleuchtung aufzudecken. Ich liebe sie, sagte Renato manchmal zu sich selbst, und er dachte, Liebe und Mitleid seien eins. War es einmal geschehen, daß er das Geschichtspensum nicht auswendig herzusagen wußte und kam sie dann spät abends noch einmal in sein Zimmer, um mit blitzenden Augen ihren Zorn aufs neue zu entladen – er lag schon im Bett und auch sie war nur mit dem Nachthemd bekleidet –, dann konnte er ihr trotzdem nicht böse sein, denn er sah ihre knochigen, bedauernswerten Arme und ihren kleinen schwarzen Zopf, der gerade nur bis zum Hemdausschnitt herunterreichte.

Er mußte dann auch an andere Tage denken. Hatten sie am Nachmittag nach einem kalten Spaziergang das Haus betreten, dann sagte sie mitunter: »Komm, wir wollen uns im Kamin ein Feuer machen.« Er durfte ihr dabei helfen, die Holzscheite aufzuschichten und das Zeitungspapier unterzulegen. Und hatte es angefangen zu brennen, dann sagte sie: »So, jetzt setzen wir uns davor.« Dann rückte er seinen Stuhl neben den ihren, ließ die Wärme von den Füßen her langsam in seinen Körper steigen und war gerührt bei dem Gedanken an Miß Florence, die es verstand, eine solche Stunde zu genießen.

War sie nun immer bereit, gegen die Eltern, gegen die Familie mit unerbittlicher Kritik zu Feld zu ziehen – wenn etwa Papa es unterlassen hatte, sie einem Fremden vorzustellen, mit dem er durch das Zimmer ging – so schien es, als hätte sie all ihre Demut aufgespart, um einen anderen Kreis mit ihrer Liebe zu bedenken, den Kreis der Kinderfräulein, die man im Stadtpark traf. Allen voran befand sich Miß Harrison, die Gouvernante der kleinen Gérard, im Genuß ihres schrankenlosesten Respektes. Miß Harrison war, bevor Frau Gérard sie aufgenommen hatte, in England im Hause des Herzogs von Teck in »Stellung« gewesen und der Onkel der Kinder, König Eduard der Siebente, hatte sie oftmals mit einem freundlichen Shakehands bedacht. Wenn Renato beim Einschlafen die Bilder des Tages an sich vorbeigehen ließ, wenn er Miß Harrison mit der kleinen Marianne durch die Hauptallee des Stadtparks kommen sah, dann tauchte zugleich im Hintergrunde immer jene kleine Szene auf, in welcher der König die Hand der Miß Harrison in der seinen hielt, um sie kräftig und kameradschaftlich ein paar Sekunden lang zu schütteln. Sein bärtiges Gesicht hatte er dabei mit einem jovialen Lachen illuminiert, während Miß Harrison wahrscheinlich nichts als jenes stille Lächeln sehen ließ, das sie auch jetzt noch zeigte, wenn ihre weiche Gestalt mit dem blonden Pudelkopf vom andern Ende des Stadtparks her ganz langsam auf dem Kies herangeglitten kam. Das Szenarium des königlichen Händedruckes aber – einmal das Kinderzimmer im Hause Teck, ein andermal ein Zimmer im Buckingham Palace, wenn Miß Harrison mit den Kindern für einen Sprung vorbeigekommen war, um den Onkel zu besuchen – dieses Szenarium war Renato so gut bekannt (es war das eigene Kinderzimmer oder das Zimmer Tante Melanies mit den grünen Plüschfauteuils), daß es des ganzen Leichtsinns, der Unsolidität des Königtums bedurfte, um das Bild in seinem schmerzlichen Glanze leuchten zu lassen.

Renato dachte an diese Unsolidität des Königtums und meinte, daß es eben nur dem Verächter der traurigen Prinzipien gelingen konnte, jener Prinzipien, wie sie Herrn und Frau Martin, die Eltern, dazu verhielten, ihr langweiliges Leben fortzuführen, daß es nur mit schlechten, ungeordneten Finanzen möglich war, nur auf der Basis einer zweifelhaften Existenz, das Königtum, das so naiv und weltenfern aus einem blauen Rittersaal herübergrüßte, dieses Königtum in seiner düsteren und doch so zarten jugendlichen Pracht hier neben der Zentralheizung, dem Wasserklosett aufs neue in Leibhaftigkeit erstehen zu lassen. Die Könige von England, sie konnten in Renatos Augen nur als Hochstapler erscheinen, als Hochstapler, so wie die großen Geister, die berühmten Künstler, die sich über ein Leben, wie man es zu Hause führte, zu erheben wußten. Darum war auch Marianne Gérard ein so beneidenswertes Wesen, denn ihre Mutter – so hatte man behauptet – war eine Frau von schlechtem Ruf. Und als einmal jemand gesagt hatte, es sei nicht klar, wovon Frau Gérard denn eigentlich zu leben habe, da hatte Renato es begriffen: man mußte sich in ungeordneten Geldverhältnissen befinden, um einen so schönen roten Mantel zu tragen wie Marianne, um eine Haut zu haben, die an den Schläfen durchsichtig war, und glashelle Augen.

Miß Florence hatte mit Miß Harrison immer viel zu sprechen, darum wurden Renato und Marianne angehalten, vor ihnen herzugehen. Viermal in der Woche fanden diese Spaziergänge statt, an den Tagen, an denen es keine Fechtstunde gab. Renato mußte dann schon am Morgen daran denken, daß er Marianne treffen werde und war auch bemüht, sich die Gespräche, die er mit ihr führen würde, im vorhinein zurechtzulegen. Aber es kam immer anders. War in der Mittelallee der rote Farbfleck von Mariannens Mantel aufgetaucht und sah Renato im Näherkommen, wie ihr schmaler Kopf sich langsam auf dem Grund des grauen Pelzbesatzes modellierte, dann schien es wohl zunächst nicht schwer, mit der Erzählung von Hauffs Othello zu beginnen. Hatte er aber angefangen, ihr die Geschichte vorzuführen, dann mußte er sehr bald begreifen: die Bewunderung, die er damit erregen wollte, die Bewunderung, die sich vom Othello auch auf seine Person zu übertragen hatte, diese Bewunderung stellte sich nicht ein. Es gelang ihm nicht, Marianne etwas anderes als ein gleichgültiges »Ja, ja, ich höre« zu entlocken.

Aber trotzdem gab er das Erzählen nicht auf, bemühte sich, das Letzte, Überzeugendste herauszuholen, während die eigene Stimme ihm immer fremder und mechanischer zu klingen schien, die glanzvollen Formulierungen, die er sich zurechtgelegt, zu kümmerlich verlegenen Geschöpfen dezimiert, den Weg nicht zu Marianne fanden. Sie aber blickte indessen vor sich hin, ohne ihre Miene auch für einen Augenblick zu lösen und nur eine Strähne Haares wurde ab und zu von einem Windstoß in die Stirn getrieben und ließ um so eindringlicher die Unbeweglichkeit des Mundes, der dünnen, geschwungenen Nase, wie in dem Relief auf einer Terrakotta in Erscheinung treten.

Gewiß fand Renato mitunter seinen Trost. Er dachte sich dann: sie ist jünger als ich, sie kann das alles nicht begreifen. Aber wenn sie einmal sagte: »Ich war gestern im Konzert Rosé, sie haben wieder phantastisch schön gespielt«, oder wenn die Mama bei Tisch erzählte, sie habe gehört, die kleine Gérard sei ein ganz ungewöhnlich frühreifes Geschöpf, dann war Marianne und ihr Geheimnis sogleich in unbetretbares Gebiet entrückt.

 

Der Stadtpark war von drei Alleen durchzogen, von der oberen, der unteren und der breiten mittleren. In die obere Allee – sie war neben dem Bahnhof gelegen – ging man nur, um Abwechslung zu suchen, und immer geschah es, daß man sie bald verließ. Die obere Allee wurde von Menschen passiert, die den Stadtpark nur als Durchgangsort benutzten, und es war, als würde, mit den Paketen, die sie trugen, mit dem Strohgepäck der Frauen und den schwarzen Holzkoffern der Soldaten, der Geruch des Eisenbahncoupés, der Geruch von Ruß und Orangenschalen bis an die freie Luft getragen. Hier saß auf seiner Bank der Mann mit dem hölzernen Bein. Die Welt seiner Finsternisse, der Schreckensbilder von Spital und Nachtquartier, hatte ihn so sehr in ihren Bann gezogen, daß man ihn immer wieder nur hieher kommen sah, nur zu dem muffigen oberen Weg, nicht in die lichteren Bezirke des unteren Weges und der Hauptallee.

Der untere Weg war immer menschenleer. Man suchte ihn sehr gerne auf, und am Anfang des Spazierganges bogen die Kinder ab, um die Fräulein unbemerkt dahin zu leiten. Der Weg war geschlängelt und mit der Ordnung der Gebüsche an der Seite – im Winter ein dicht verfilztes Ästewerk – gab er immer wieder einen überraschenden Aspekt. War es Renato gelungen, Marianne zum Lachen zu bringen – mit einer unglaubwürdig einfachen Bemerkung konnte das geschehen, wie etwa: »Schau dort in der Gasse der Mann mit seinem Bart!« – dann konnte er hoffen, der ganze Spaziergang werde so verlaufen.

Der untere Weg wurde aber auch knapp vor dem Nachhausegehen aufgesucht. Man war daran, den Stadtpark zu verlassen, aber im letzten Augenblick schienen sich die Gouvernanten zu besinnen und sagten: »Wir gehen noch einmal den unteren Weg.« Um diese Zeit war in der angrenzenden Mariengasse ein oder das andere Fenster schon erleuchtet und fuhr dort ein vereinzeltes Gefährt vorbei, so schien mit dem Aufschlagen der Hufe und dem Rattern des Wagens auf seiner Fahrt über das schlechte Pflaster die Stille um so deutlicher zu werden, aus der das Geräusch heraufkam und in der es sich wieder verlor. Mit Marianne hatte sich Renato nicht zu verständigen gewußt, aber während er neben ihr herging, dachte er schon an das nächste Mal. Nächstens – so dachte er – wird er versuchen, von »Freischütz« mit ihr zu sprechen, ihr dasselbe zu sagen, was Felix heute in der Schule über das Stück geäußert hat. Er wird Felixens Rolle spielen und sie wird gezwungen sein, dabei dieselbe Spannung zu empfinden, mit der man Felix immer zuzuhören pflegt.

Übrigens wurde aber auch der untere Weg nicht allzu oft betreten. Die Fräulein favorisierten die Mittelallee. Breit und kerzengerade angelegt, gab sie einen weiten Blick und die anderen Kinder und ihre Gouvernanten waren schon auf eine große Distanz hin zu erkennen. Manchmal kam man so zu einem Haufen zusammen, ein großes Rudel von Kindern und ein großes Rudel von Fräulein. Meist aber blieb man mit den anderen nur für eine kurze Weile stehen. Miß Florence und Miß Harrison kamen nicht in die Hauptallee, um sich allzu häufig in ihrer Unterhaltung stören zu lassen. Es steht allerdings nicht fest, ob es sich nicht ganz anders verhielt, ob sie nicht hierher kamen, gerade in der Hoffnung, mit den anderen gehen zu können. (Die Hochachtung, mit der Miß Florence von allen Gouvernanten sprach, macht die Vermutung nicht ganz unwahrscheinlich.) Vielleicht waren es die anderen, die einen ständigen Verkehr mit den Engländerinnen zu vermeiden suchten, vielleicht aber waren auch beide Teile daran interessiert, die Freundschaft des anderen zu gewinnen, und es gab als Hinderungsgrund nur die beiderseitige Ungeschicklichkeit.

Mit Helene Pauer freilich und mit ihrer Gouvernante ging man jedesmal, wenn man sie traf. Wenn Marianne Helene kommen sah, dann freute sie sich und Renato wußte, daß der Spaziergang endgültig verdorben war. Er mußte zusehen, wie die Mädchen eng umschlungen abseits gingen, wie sie leise miteinander sprachen und auch manchmal lachten. Freilich war er dann bemüht, so auszusehen, als kümmere ihn das alles nicht, aber es war sehr fraglich, ob es ihm gelang. Denn Felix Bruchhagen hatte ihm schon einmal gesagt: »Ich hab’ dich gestern beobachtet, mein Lieber, das war ja entzückend anzuschauen, wie die Mädchen dich im Stich gelassen haben und dein Gesicht dazu.« So mußte er also an den Tagen, an denen man mit Helene ging, auch befürchten, von Felix überrascht zu werden.

Was die Mädchen einander erzählten, das konnte er in der Entfernung nicht verstehen, aber er hörte, was die Gouvernanten sprachen und hörte die Lamentationen Fräulein Stöwes über die Zustände im Hause Pauer. »Das ist alles nur eine Mache«, pflegte sie zu sagen, »außen hui, innen pfui, heißt es hierzulande. Das wäre übrigens bei uns denn doch nicht möglich, daß ein gesunder, kräftiger Mann, wie dieser Herr Pauer, zu Hause seinem Profit und seinen Geschäften nachgeht, während sich draußen so viele blühende junge Menschenleben opfern müssen. Aber dabei ist das eine Kleinlichkeit und ein Geiz, das kann man gar nicht schildern. Neulich kommt die Frau zu mir: ›Ach Fräulein Stöwe‹, sagt sie, ›Sie könnten doch mit uns in den neuen Kriegsfilm kommen.‹ Aber wie wir dann hingehen, heißt es plötzlich: man hat nur eine kleine Loge bekommen, und mir gibt man so einen schlechten Platz, daß mein Kopf nachher noch drei Tage am Zerbersten ist von dem Geflimmer. Aber nach außen hin alles vornehm und tipptopp. Na, unsereins kommt eben doch dahinter. Da genügt es auch schon, die gemeine Art mitanzusehen, wie der Herr und die Frau miteinander streiten. Das geht den ganzen Tag lang, und auch bei Tisch nimmt man kein Blatt vor den Mund. Für so ein Kind ist das natürlich Gift.«

Miß Florence nickte mit tiefem Ernst und dennoch mit Befriedigung zu den Erzählungen des Fräulein Stöwe. Sie träumte von einer Welt, die nach einem besseren Gesetz geordnet war, von einer Welt, in der die Gouvernanten, mit Ehren überhäuft, das Leben der Familien, ja vielleicht sogar der Völker leiten würden. So nahm sie die Schilderungen Fräulein Stöwes mit der Würde und dem Verantwortungsgefühl des Generals entgegen, der einen Bericht über die feindliche Kriegsmacht erhält, zugleich aber auch mit dem überlegenen Lächeln des Historikers, dem neues Tatsachenmaterial zugetragen wird, ein Forschungsergebnis, das sich zur Stützung seiner These und seiner politischen Überzeugung sehr gut in sein Geschichtsbild fügt.

Allerdings geschah es nicht allzu häufig, daß man Helene und Fräulein Stöwe traf. In einem anderen Stadtteil wohnend, besuchten sie meist eine andere Parkanlage. Miß Florence und Miß Harrison dagegen blieben dem Stadtpark treu, blieben treue Besucherinnen seiner Hauptallee. Nur in den Sommermonaten ging man nicht hierher. Da gab es die Gärten der Peripherie, auch war im Stadtpark das Gedränge allzu groß. Aber im Winter waren die Besucher der Hauptallee auf solche Distanzen hin verteilt, daß man an das Bestehen eines höheren Gesetzes glauben mußte, das nur deshalb die Bäume entlaubt und große Strecken eines grauen Himmels freigelegt hatte, um nach allen Richtungen hin Platz zu machen, und das so durch Verwandlung der Erde in ein übersichtliches Gelände die Freuden der kalten Jahreszeit vermehrte.

War der November eingezogen, so hatte er wohl in den Straßen der Stadt die Fassaden alle in eine Dunstschicht gehüllt, das Innere der Kirchen schon am frühen Nachmittag in eine Dämmerung versinken lassen, in der die Menschen, die jetzt den Raum betraten, das ewige Licht wie in unendlich weiter Ferne glimmen sahen. Hier aber in den Parkanlagen hatte der November die andere Seite seines Januskopfes über dem Prospekt erhoben. Nachdem das Laub endgültig abgeräumt war, hatte der Maronimann mit seiner kleinen Lokomotive in der Hauptallee Aufstellung genommen und auch die Kinder, mit Gamaschen und warmen Mänteln bekleidet, waren bereit, die Fahrt in den Winter anzutreten.

Um aber die wehmütige Fröhlichkeit dieses Abreisebildes noch durch einen letzten Handgriff zu beleben, hatte es sich der Maler nicht versagt, mitten in die hellgrauen Töne einige karminrote Flecken aufzusetzen, die Nasen der alten Herren, deren kleine Phalanx sich langsam durch die Hauptallee bewegte. Allerdings waren es nicht die Nasen, die auf den Bildern von Jordaens und von Ostade als Prunkstück in den Gesichtern der Greise figurieren und die, umspielt vom Duft, der aus einem Weinglas steigt, in ihrem milden Glanz die Unbekümmertheit der Jahre widerspiegeln, die als Epilog dem Fluß der Zeit enthoben sind und die darum den Kinderjahren gleichen, die dieser Fluß noch nicht ergriffen hat. Die Nasen der alten Herren waren ganz einfach von der Luft gerötet, von jener Luft, in der erste Kälte (wie Siphonperlen, die künstlich ins Trinkwasser gepreßt sind) aufstieg, um mit ihrer Schärfe gegen die Zartheit des Gewebes vorzudringen. Und die Flügel dieser Nasen, schon beim ersten Hauch erzitternd, suchten vergebens die Atmosphäre wiederzufinden, aus der man sie getrieben hatte und die, sorgsam bewahrt mit Hilfe der Teppiche am Fensterbrett, zwischen den Löwenköpfen der Fauteuils den rechten Aufenthalt gewährte, mit ihrer Mischung von Ofenwärme, Plüschgeruch und jenem Holzgeruch, der dem Büfett entströmt – seit vierzig Jahren steht es in seiner eichenen Pracht in Erwartung imaginärer Festlichkeiten. Gewiß, auch diese Alten waren ins Kinderland zurückgekehrt, doch hatte nur das erneute Schutzbedürfnis sie diesen Weg gewiesen, den Weg, der bei allem noch immer recht beschwerlich war. Gab es nämlich etwas zu sagen, dann blieben sie stehen, wandten einander die Köpfe zu und hielten so alltäglich eine Probe für den Leichenzug ab, der sich eben so langsam vom Trauerhause fortbewegen würde, um immer wieder einen kleinen Halt zu machen, bei einer Straßenkreuzung oder beim Vereinslokal, wo der Verewigte die Stelle eines Vorstandsmitglieds eingenommen hatte.

Von den Herren Valenta wurde Renato immer angehalten. Der jüngere der beiden, der fünfundsiebzigjährige Doktor war es, der das Wort an ihn zu richten pflegte. »Wie geht es denn der Frau Mama?« »Danke gut«, gab Renato dann zur Antwort. Er sagte es, ohne zu überlegen, wie es der Mama denn wirklich gehe. Aber auch in der Erwiderung des Doktor Valenta gab es keine Variation. »Das ist recht, das ist recht«, meinte er, dann blieb er immer noch ein Weilchen stehen. Offenbar glaubte er, es wäre nicht höflich, sich gleich abzuwenden und suchte darum nach einer Freundlichkeit, die er Renato hätte sagen können. Aber so sehr er sich auch anstrengen mochte, es fand sich keine und so blieb ihm denn nichts anderes übrig, als das Lächeln, das die letzten Worte begleitet hatte, auf seiner Miene zu fixieren. Und wie ein großer Felsblock, der einsam über dem Meeresspiegel hängt, so schien dieses Lächeln in die Verlegenheit der Gesprächspause hineinzuragen, ohne aber auch die Wildheit von Doktor Valentas Äußerem zu besänftigen, die Schrecken seiner mächtigen Gestalt und das Drohende seines Barthaares, das noch immer nicht ergraut, in dünnen Strähnen sein Gesicht umwehte.

Wie war dieser Bart doch verschieden von dem Bart des anderen Bruders! Herr Valenta senior war nur um ein Jahr älter als der Doktor und darum mußte man glauben, die Natur habe hier einen jener Sprünge gemacht, wie man sie oft beobachten kann, etwa bei Erwärmung einer Flüssigkeit, die nicht allmählich in gasförmigen Zustand übergeht, sondern die bei erreichtem Siedepunkt sogleich verflogen ist. Der Bart des älteren Bruders hatte sich in silbergrauen Eispaketen kristallisiert und als Umrahmung eines schönen, rotwangigen Gesichtes, als Bestandstück eines wohlgepflegten Äußeren war er ein Element der lichteren Welt. Man sagte von Herrn Valenta senior, er sei von religiösem Wahn befallen und während er neben dem Bruder stand – niemals sprach er zu Renato auch nur ein einziges Wort – währenddessen hielt er den Blick an den Himmel geheftet, und man mußte glauben, er sähe dort die Madonna thronen, von musizierenden Engeln umgeben. Übrigens wußte auch Renato nicht, was er zu sagen habe und so blieben denn alle wortlos stehen. Endlich aber schien Herr Valenta senior aus seiner Verzückung erwacht, ganz langsam und noch gleichsam überschüttet von den Zeichen der empfangenen Gnade wandte er sich dem Bruder zu und sagte mit sanftester Stimme: »Na also, gehen wir.« Dann erst setzten sich die Herren in Bewegung.

Wenn Renato zu Hause der Mama erzählte, Doktor Valenta habe nach ihr gefragt, dann pflegte sie zu sagen: »Ein ungewöhnlich gescheiter Mensch.« Und oftmals fügte sie hinzu, er sei in seiner Jugend ein Tänzer und ein großer Verehrer ihrer Tante Melanie gewesen. Die Vorstellung, die sie damit wachrief, zeigte den Doktor, wie er den Riesenkörper vor Tante Melanie, die auf einem Lehnstuhl saß, zu einer leicht angedeuteten Verbeugung zwang, während das durchfurchte bärtige Gesicht von seinem verlegenen Lächeln überzogen war. Der Fortgang der Zeit ist ein Faktum, das wir nicht erfassen wollen und wenn wir in den Photographien vergangener Jahrzehnte kein junges Gesicht zu sehen glauben, dann hat nicht nur die Mode jener Zeit die Schuld, sondern es ist eben auch unser Instinkt der Abwehr, von dem die Optik sich bestimmen läßt. Darum war die Vorstellung von jenen Ballgesprächen, von jener alten Liebelei nicht sehr verschieden von dem Bild, das man sich machen mußte, wenn davon die Rede war, daß Doktor Valenta auch heute noch allabendlich bei Tante Melanie erschien. Nur jenes Element der Aufregung, des unehrlichen Spiels, war aus dem Bild verflogen. Der Doktor tat sich keinen Zwang mehr an. Er ließ sich auch nicht daran hindern, in der Brusttasche seines Pelzes ein langes Salzstangel mit sich zu führen (denn daß das Gebäck, das man bei Tante Melanie bekam, wirklich altbacken sei, darauf konnte man sich, wie er meinte, nicht verlassen). Da er nun die Gewohnheit hatte, auch im Zimmer seinen Überrock nicht abzulegen, geschah es ihm beim Sprechen immer wieder, daß sich das Ende der Salzstange in den Strähnen seines Barts verfing. Hinter seinem Lehnstuhl hatte man auf einem Bücherregal die Bände des Konversationslexikons in peinlicher Ordnung aufgestellt. Doktor Valenta war sehr gebildet und zu allen Fragen, auf die die Rede kam, konnte er Auskunft geben. Kam es aber dennoch einmal vor, daß eine Tatsache, die im Gespräch genannt war, ihn auf eine Lücke seines Wissens stieß, dann scheute er es nicht, sich langsam zu erheben, nach einem Band des Lexikons zu langen und die fragliche Stelle mit lauter Stimme vorzulesen.

 

Am Dienstag pflegte Miß Florence den Spaziergang mit den Worten abzubrechen: »Heute ist ja Dienstag.« Miß Harrison nickte dann und meinte: »Klavierstunde, das dachte ich mir gleich.« Wenn sie nach Hause kamen, fanden sie manchmal Fräulein Konrad schon im Zimmer vor, wie sie beim Klavier saß, mit einer Hand in den Noten blätterte und mit der anderen ganz leicht ein paar Akkorde anschlug. Miß Florence war dann immer betreten, denn sie verehrte Fräulein Konrad sehr. Sie sagte, es gäbe auf der Welt niemanden, der besser Klavier spielen könne als sie. Sie war darauf gekommen, obwohl es Fräulein Konrad niemals ausgesprochen hatte, sondern immer nur die diskretesten Formen dafür fand, diese Tatsache erraten zu lassen. Aber Miß Florence begriff es eben ganz und gar. Wenn Fräulein Konrad sagte, sie sei gestern im Klavierabend des Pianisten X. gewesen, dieses Pianisten, den die »Herren Kritiker« so »welterschütternd« fanden, und wenn sie dann hinzufügte: »Das war katastrophal, so dürfte mir kein Schüler in die Stunde kommen«, dann schüttelte Miß Florence in Bewunderung den Kopf und meinte: »Das ist noch nicht da gewesen, daß jemand alles so durch und durch hört wie Sie.« Oder wenn sie gesagt hatte: »So, jetzt werde ich einmal etwas vorspielen«, wenn sie dann in der höchsten Höhe des Diskantes die Passagen hören ließ, von denen sie behauptete, sie klängen wie ein Wasserfall, und wenn sie nach Beendigung des Stückes eine kleine Weile ruhig sitzen blieb, die Augenlider, die aus Leder schienen, halb geschlossen hielt und ihre Stumpfnase in die Höhe gerichtet, dann sagte Miß Florence jedesmal: »Ich finde keine Worte!« Und sie wiederholte immer wieder: »Nein, ich finde einfach keine Worte«, bis Fräulein Konrad die Augen gänzlich schloß. Aber sogleich schlug sie sie wieder auf und wandte sich lächelnd zu Renato: »Siehst du, Renato«. Dann nickte Miß Florence mehrmals mit dem Kopf. Renato hatte bei Fräulein Konrads Spiel nicht sehr gut zugehört. Aber als er sah, wie Miß Florence und jetzt auch Fräulein Konrad zu nicken begannen und wie sie gewissermaßen schadenfroh erwarteten, daß er mit seinem Klavierspiel angesichts dieser Könnerschaft sichtbarlich einschrumpfen werde, da dachte er sich wirklich, er müsse so gut es ging, seinen Körper zusammenziehen, und zwar nicht so sehr in Anbetracht von Fräulein Konrads Spiel, sondern eher darum, weil die beiden Fräulein das so von ihm erwarteten.

Allerdings wußte Renato von Helene Pauer, daß Fräulein Konrad sein Spiel sehr lobe, daß sie sagte, er sei ihr bester Schüler. Auch den Eltern gegenüber schien sie von seinem Spiel entzückt zu sein. Darüber freuten sich die Eltern sehr und an den Abenden, an denen ein Fremder zu Gast war, sagten sie, Renato solle ans Klavier gehen und solle spielen, die Mazurka von Chopin oder das Frühlingslied von Mendelssohn. »Großartig«, sagte dann der Gast, »erstaunlich für dieses Alter.« Miß Florence aber pflegte nachher immer zu bemerken: »Na, Gott sei Dank, da haben sie wieder eine Gelegenheit gehabt, mit dir zu prahlen.« Und sie erinnerte gerne an den Nachmittag bei Tante Melanie, da man ihn aufgefordert hatte, vorzuspielen. Doktor Valenta habe nachher gefunden – so hatte sie es vom Hausfräulein gehört – er spiele gar nicht gut. »Das ist nur so künstlich großgezogen«, habe Doktor Valenta gesagt.

So sehr aber Fräulein Konrad vor Helene, vor den Eltern von Renato schwärmen mochte, Miß Florence gegenüber lobte sie ihn nicht. Zu Miß Florence sagte sie, die Stunden seien ein Martyrium. »So etwas Unaufmerksames, wie diesen Jungen, findet man nicht leicht«, so sprach sie immer wieder. Und wenn Renato beim Spielen einen Fehler machte und wenn der Fehler sich wiederholte, dann ließ sie ein Stöhnen hören, so wie es offenbar Prometheus hatte vernehmen lassen, der in den »Sagen des klassischen Altertums« auf jener Federzeichnung zu sehen war, die mit der Abbildung des angstverzerrten Gesichtes, des wirren Barthaares, das voller Ungeziefer schien, und mit den dünn schraffierten Geierflügeln die Grauen des Buches, des gelbgewordenen glänzenden Papiers und des alten schwarzen Einbands unermeßlich steigerte. Fräulein Konrad stöhnte und behauptete, eine solche Stunde verursache ihr eine Migräne, an der sie tagelang zu leiden habe.

In der Stunde sagte Renato gern, er habe Durst und müsse sich ein Glas Wasser holen. Wenn er die Küche betrat, dann sah er die Köchin, wie sie in einer Ecke auf einem niedrigen Schemel saß und mit Hilfe einer silbergeränderten Brille, deren langgezogene Ovale auf dem unteren Ende ihrer Nase ruhten, in ihrer eigenen Zeitung las. Auch wenn Herr Knobloch in der Küche stand, um mit ihr – wie die Mama es sagte – »hohe Politik« zu treiben, dann legte sie das Blatt nicht aus der Hand, sondern über die Zeitung und über die Brille hinüber sah sie zu Herrn Knobloch auf.

»Ich habe immer gesagt, nur die Artillerie kann es machen«, meinte er. »Bei uns bauen sie Kanonenrohre, die sind 30 Zentimeter dick, in Deutschland haben sie 42 Zentimeter dicke. Aber Kavallerie muß auch sein. Da müssen Sie nur denken, was so eine Schwadron alles zusammenreiten kann.«

»Sie brauchen jetzt die Pferde zum Essen«, sagte die Köchin.

»Noja, noja, da haben Sie recht«, erwiderte Herr Knobloch schmunzelnd. »Sie schlachten jetzt auch schon Kaninchen und neulich hat ein Fleischer einen Hund verkauft.«

»Das Brot wird auch immer teurer«, meinte die Köchin.

Herr Knobloch nickte: »Und wie das jetzt mit den Brotkarten sein wird, das weiß man auch nicht.«