Hochzeit in Brooklyn - Hermann Grab - E-Book

Hochzeit in Brooklyn E-Book

Hermann Grab

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Beschreibung

Der Prager Dichter Hermann Grab hinterlässt bei seinem Tod 1949 ein denkbar knappes schriftstellerisches Werk: einen Roman und eine Handvoll Erzählungen. Gleichwohl bescheinigen ihm Freunde und Bewunderer wie Hermann Broch, Theodor W. Adorno oder Klaus Mann, in würdiger Tradition eines Franz Kafka, Thomas Mann und Marcel Proust zu schreiben. Hermann Grab - ein frühvollendeter, durch Hitlerdeutschland schnellvergessener Dichter. Zwei Themen bestimmen das literarische Schaffen Hermann Grabs: das großbürgerliche Milieu in Prag der untergehenden k.u.k. Monarchie und das Aufkommen des Faschismus, Flucht und Exil. Das Weltanschauliche war seine Sache nicht. Nicht das Symbolische, sondern die Impression, das Angeschaute, das Atmosphärische war das Eigentliche von Grabs Kunst. Genaueste Beobachtungsgabe und ein »wohlbehüteter Erfahrungsschatz seelisch-sinnlicher Impressionen« (Klaus Mann) machen in ihrer Dichte Hermann Grabs Geschichten zu kleinen Meisterwerken lyrischer Prosa.

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Inhalt

 

Unordnung im Gespensterreich

Die Kinderfrau

Die Mondnacht

Die Advokatenkanzlei

Ruhe auf der Flucht

Der Hausball

Hochzeit in Brooklyn

Editorische Notiz

Zum Autor

Hermann GrabHochzeit in Brooklyn

 

 

Verlag Neue Kritik

 

© Verlag Neue Kritik Frankfurt am Main 1995

Die Printausgabe erschien 1995 im Verlag Neue Kritik

© für die E-Book-Ausgaben Verlag Neue Kritik 2015

ISBN 978-3-8015-0517-2 (epub)

ISBN 978-3-8015-0518-9 (mobi)

ISBN 978-3-8015-0519-6 (pdf)

Umschlag Helmut Schade

www.neuekritik.de

 

Unordnung im Gespensterreich

 

 

 

Friedlich liegen jetzt die Paläste. In der Sonne sind ihre Flächen scharf abgegrenzt, gegen Abend ziehen sie sich ein wenig zusammen, und später noch scheint hinter einem Fenster eine kleine Lampe, klingt ein dünner Glockenton vereinzelt durch die Nacht. Gewiss, der Graf Abälard geht noch umher, aber es scheint nur eine alte Gewohnheit zu sein, das Gesandtschaftspersonal denkt sehr gleichgültig darüber. Er geht in dem Raum, in dem die Golfschläger und das Ping-Pong-Brett aufbewahrt sind, und nichts ist noch geschehen. Im übrigen erscheint er nicht mehr regelmäßig, in der letzten Zeit wohl etwas häufiger, aber das ist gewiss nur ein Zufall. Im Durchschnitt kommt er immer seltener, bald wird er gar nicht mehr zu hören sein.

Aber in der Gegend der langen Straßenzüge hat es schon vor einigen Jahren angefangen. Und jetzt greift es immer mehr um sich. Du gehst an der Reihe der braunen, der grauen und der schmutzig-grünen Häuser vorbei, überquerst die kleine Kreuzung, an der schon die Auslagenfenster des Drogeriegeschäftes erleuchtet sind, und mit einemmal bleibst du erschrocken stehen und weißt: hier und dort, in diesem oder jenem alten Stockwerk rührt es sich. Dort sitzt das Mädchen beim Pianino und übt. Und plötzlich tritt es durch den Plüschvorhang ins Zimmer und das Gespenst steht da. Es ist der Großvater, klein und dick, im dunklen Lüsterrock und mit dem weißen Spitzbart. So tritt er langsam ans Klavier heran und sieht von hinten in den Notenband. Das Kind springt auf, schreit laut und läuft in die andere Ecke. Inzwischen ist freilich alles längst verschwunden.

Aber nicht nur die Orte haben die Gespenster gewechselt. Man sieht, auch ihre Stunde ist jetzt eine andere. Es ist die Stunde nach Sonnenuntergang, die Stunde, da in den Straßen die Tagbeleuchtung schon von den Lampen durchsetzt ist, und wo die Mischung von Licht uns an die Mischung von Salz und Zucker denken lässt. Um diese Stunde geschieht es, dass im halbdunklen Treppenhaus zwischen der Tür zur Hausmeisterwohnung und den Mülleimern eine reglose Gestalt zu sehen ist. Und wenn die Familie beim Kaffee sitzt, senkt sich plötzlich die verstorbene Tante mitten auf den Tisch, in ihrer ganzen Massigkeit, und ihre Hände sind beinahe ins Riesenhafte angequollen. Zugleich weiß man auch, dass jetzt draußen der Mann mit seinen Krücken die Treppen auf- und niedersteigt. Oft kommt er ins Vorzimmer und stellt sich in der Ecke beim Kleiderständer auf, und manchmal tritt er auch für Sekunden durch die Wand ins Zimmer selbst herein.

Aber man kann nicht sagen, dass Gespenster sich jetzt gerade an die eine Stunde halten. Auch des Nachts, wenn man im Bett liegt, kann es geschehen, dass man etwas merkt. Dann sieht man hin, und auf der Kommode lächeln zwei runde, schlüpfrige Köpfe.

Es gibt jetzt leider viel Unordnung in unserem Gespensterreich. Früher, das weiß man, waren andere Zeiten. Man konnte den Portier befragen und bekam auch sehr präzise Antwort: Hier spukt es und dort und immer nur zu sehr genauer Stunde. Jetzt lächelt der Portier und sagt, im Hause sei es still. Aber dort, wohin sich das Gespenstervolk verzogen hat, dort weiß man eben gar nichts. Sie kommen immer unerwartet, manchmal zu zweit, manchmal in seltsamer Gestalt als ungeborenes, als halbwüchsiges Kind, das keine Beine hat und an Stelle der Arme an den Schultern nur zwei Finger. Sie haben auch nicht mehr ihre bestimmten Häuser. Wer in dem einen Haus gelebt hat, muss in dem anderen erscheinen zum Schrecken der Bewohner und zu seinem eigenen Schrecken.

So leidet alles unter der Verwirrung, auch die Gespenster selbst. Wird es noch lange dauern? Wird diese Trostlosigkeit nicht bald beendet sein? Man weiß es nicht. Hier und dort wird eine Stimme laut, die von dem Nahen besserer Zeiten spricht. Aber wer es über sich gebracht hat, für eine kurze Weile einem der Gespenster ins Antlitz zu blicken – und nur ganz selten kann das einer fertigbringen, höchstens ein- oder zweimal in seinem Leben – wer es also ertragen konnte, einem dieser armen Wesen ins Gesicht zu sehen, der hat für immer alle Hoffnung aufgegeben.

Die Kinderfrau

 

 

 

Sie sah dem Dackel Waldi ähnlich. Freilich war ihr Gesicht viel spitzer zugeschnitten, die Nase vor allem, die einen kleinen Höcker trug und in einem langen dünnen Ende auslief. Eine solche Nase gab es sonst gar nicht zu sehen. Auch Bibbi und Tommy sahen immer diese Nase an.

Bibbi war sechs Jahre alt und Tommy war neun. Tommy wurde von den Eltern gerne mitgenommen: wenn der Flieger Blériot zum Beispiel in die Stadt gekommen war und in einem Hotel, in einem sehr großen weißen Saal, seinen riesenhaften Apparat sehen ließ, während er selbst unverständlich und spannend alles erklärte und mit der eigenen Hand auch einmal dem Propeller eine Drehung gab.

Sie musste bei solchen Gelegenheiten mit Bibbi zu Hause bleiben oder den gewohnten Spaziergang machen, zum Fluss gehen, über eine von den Brücken und dann über eine andere Brücke den Weg zurück. »Du bist das vernachlässigte Kind« sagte sie zu Bibbi und am Abend, wenn sie ihn auf den Tisch gesetzt hatte, um ihn zu waschen, sprach sie beschwörend auf ihn ein: »Du armes Kind! Was wird das für ein Ende nehmen! Vernachlässigt, zurückgestoßen! Immer und überall nur der Große! Der wird verwöhnt und verhätschelt, und von dir wollen sie nichts wissen.« Und dann erzählte sie, wie Schauerliches sich mit solchen Kindern zu ereignen pflege, sprach von einem Jungen, der verblödet war und sagte: »Das war ganz genau derselbe Fall, immer zurückgesetzt und immer weggestoßen.«

Kam ein Fremder ins Zimmer, ein Onkel oder eine Tante, dann blieb sie in ihrer Ecke sitzen, nickte mit dem Kopf und krümmte sogleich den kleinen Körper wieder über ihrer Arbeit zusammen. Bibbi und Tommy spürten, dass das unangenehme Momente waren. Aber sie sahen ihre funkelnden schwarzen Augen und den großen lappigen Mund, mit dem sie, während der Besuch da war, manchmal zuckte, und sie dachten sich, sie habe recht, wenn sie diese Leute verachtete, die immer nur so dumme Sachen sagten.

»Die alte Hexe«, meinten die Onkeln und Tanten und lachten. Und die Eltern lachten auch.

Tommy hatte einen photographischen Apparat bekommen, Kodak Nr. 2. Einmal kam er ins Zimmer und sah, wie Bibbi an den Schrauben drehte. Er hatte eine ganze Filmrolle belichtet und verdorben. Sie schmunzelte aber und gab zu, sie habe ihn dabei ermutigt. Damals wollte Tommy alles, was es im Zimmer gab, und auch den Bibbi, zu kleinen Stücken zerschlagen.

Sie hatte übrigens eine große Leidenschaft. Sie liebte das Theater. »Ich gehe immer nur auf die Seitengalerie links«, sagte sie, »das sind meine liebsten Plätze.« Sie erzählte von den Festspielen, von großartigen Abenden, von Caruso und Battistini. Nur Pelleas und Melisande hatte ihr missfallen. Aber Hamlet mit Kainz, das war ihr schönster Abend.

Sie sagte zu Tommy, Hamlet sei ein dänischer Prinz gewesen, und während sie ihm vormachte, wie Kainz die Rolle spielte, währenddessen glaubte Tommy in ihrem hässlichen Kopf so etwas wie eine prinzliche Zartheit zu entdecken und wusste nicht, warum ihn das so traurig machte.

Wenn es Bibbi beim Waschen einfiel, plötzlich einen Schrei von sich zu geben, dann sagte sie, er werde bestimmt einmal eine prachtvolle Stimme haben, ein großer Sänger werden. Und da er schwarze Haare hatte, sagte sie, er werde Bassist sein, ein zweiter Arimondi.

Tommy hatte damals einen merkwürdigen Traum. Ihm träumte, Battistini war in die Stadt gekommen und hatte einen Brillanten verloren. Er, Tommy, hatte es bemerkt, hatte von hinten gesehen, wie der große, schwarzgekleidete Sänger den Brillanten aus der Manteltasche herausstieß. Und dann hatte er in einer anderen Straße den Brillanten auf dem Pflaster glitzern sehen. Dort hatte er ihn aufgehoben und zu Battistini ins Hotel gebracht. Aber während Battistini auf ihn zuging, um ihn mit ausgestreckten Armen an sich zu drücken, währenddessen wachte Tommy auf.

Im Theater zeigt man ihm die Seitengalerie, eine Reihe von Stühlen hinter einer Ballustrade und abseits von den anderen Plätzen. Dort musste sie natürlich sitzen.

Einmal im Winter – die Eltern waren gerade sehr weit weggereist, in die Schweiz oder sonst irgend wohin – kam Tommy um eine Stunde zu spät aus der Schule nach Hause. Sie hatte inzwischen an die Eltern telegraphiert: »Tommy verloren gegangen.« Die Eltern waren darüber sehr böse, und sie musste das Haus verlassen.

 

*

 

Sie nahm zwei Zimmer, eines für sich und eines für »Zimmerherren«. Bibbi und Tommy kamen, um sie zu besuchen. »Pst«, sagte sie und zeigte auf eine Glastüre, »dort sind meine Zimmerherren. Sie studieren an der Universität.« Bibbi und Tommy sahen sich den Raum an, in dem sie standen. Er war groß und niedrig und dunkel, und neben dem Bett stand nur ein schwarzer Koffer an der Wand. Sie hatten noch nie ein Zimmer so gern gehabt wie dieses. Und beim Anblick der Glastüre dachten sie an die schrecklichen Zimmerherren, vor denen sie sich so sehr fürchtete.

Als sie das nächste Mal kamen, sagte sie: »Die Zimmerherren sind ausgezogen und jetzt wollen keine anderen mehr kommen.« Bibbi und Tommy erschraken sehr. Sie sahen, wie sie mit ihrem lappigen Munde und jetzt auch mit der Nase zuckte. Wie ist das möglich, dachte Tommy, sie hat doch die Zimmer nur aufgenommen, damit die Zimmerherren bei ihr wohnten. Und er sah sie an, sah wie sie bereit war, alle Süße ihres hässlichen Gesichtes für die Zimmerherren aufzubieten und sah, wie die Zimmerherren trotzdem nur an die Türe kamen, um zu sagen: »Nein, wir wollen Sie nicht, wir wollen hier nicht wohnen.«

Auch Bibbi bemerkte, wie traurig sie war. »Sie wollen nicht kommen«, sagte sie. »Und dabei gebe ich ihnen alles, Frühstück, und was sie nur wollen.«

Zu Hause sagte man: »Es ist bedauerlich, aber man kann verstehen, dass niemand bei ihr wohnen will.«

Ein paar Wochen später hieß es, sie habe sich mit Gas vergiftet. Etwas so Furchtbares hatte Tommy noch nicht erlebt. Die Zimmerherren waren es, die schrecklichen Zimmerherren. Sie wollten nicht kommen, trotzdem sie ihnen gerne alles gegeben hätte, Kaffee und Buttersemmel, und auch zwei Eier zum Frühstück, wenn sie es verlangt hätten.

Bibbi und Tommy gingen zum Begräbnis.

Man machte nachher ihren schwarzen Koffer auf. Neben Kleidern und alten Schuhen fand man sehr viele Photographien darin, Photographien von der Duse, von Caruso, Scotti und Battistini, von Kainz, von der Destinn und der Farrar. Man fand Theaterprogramme und viele kleine gelbe Zettel mit dem Aufdruck: Seitengalerie links.

Die Mondnacht

 

 

 

Soldaten lagen in den Schützengräben, in Russland, in Rumänien und in Italien, Soldaten, so wusste man es, gaben ihr Blut, sie waren der Schutz, das Lebensmark der Monarchie, die jetzt im dritten Kriegsjahr stand. Ein junger Herrscher hatte den Thron bestiegen, man sah in den Lichtspielhäusern die Krönung in Ungarn, und die illustrierten Blätter zeigten ihn beim Besuch von Frontstellungen und im Gespräche mit der Mannschaft. Man sah Soldaten in den Straßen der Stadt, manche mit merkwürdigen Sprüngen und Bewegungen, andere waren erblindet, denn der Gaskrieg machte Fortschritte, und da in Wien ein privater Hilfsverein im Interesse der Unheilbaren unter den Kriegsbeschädigten gegründet worden war, hatte Frau Hofrat Klier einen glücklichen Gedanken: In der Hauptstadt unserer großen und bedeutenden Provinz sollte sich eine Zweigstelle konstituieren, die nötigen Mittel für den Anfang sollten durch ein Konzert, durch Kartenverkauf und Überzeichnungen zustande kommen.

Der Hofrat billigte den Plan. Es war seine Freude, die Frau in ihrer Tätigkeit so allgemein geschätzt zu sehen, in einer Tätigkeit, die sich jetzt in der großen Zeit so fruchtbar und so vielfältig entwickelt hatte, im Kriegsfürsorgeamt, im Vaterländischen Verein und an zwei Nachmittagen im Spital. Er war der treue Diener seines Staates. Jetzt hatte er sein geräumiges Zimmer im ersten Stock des Amtsgebäudes, »mein Staat im Staate«, sagte er lächelnd, wenn ein Besucher den Perserteppich, die eingelegten Schränke, die Familienphotographien bemerkte. Im Frühjahr sah der Hofrat, wie die Bäume draußen auf dem kleinen Platz Knospen und grüne Blätter ansetzten; das Hupen eines Automobils, das Rasseln eines Wagens drang selten in die Stille dieser Gegend. Der Hofrat billigte namentlich die Absicht, die Gattin des Statthalters um das Protektorat über den Abend zu ersuchen, eine Vorsprache wurde durchgesetzt, die Not der Kriegsbeschädigten wurde bei dieser Gelegenheit der Exzellenz eindringlich ans Herz gelegt, und die Hofrätin kam befriedigt und höchst angeregt nach Hause.

Was aber das Programm des Abends anging, so hatte sie sich schon das Ihre ausgedacht. Denn Frau von Zeisel, eine junge Nichte, vor kurzem ihrem Mann aus Graz in unsere Stadt gefolgt, hatte nicht nur den Liebreiz ihrer jungen Person, sondern auch ein gewisses Renommee als Sängerin mitgebracht. Schmeichelhafte Zeitungsnotizen aus der Heimatstadt, eine gelegentliche Mitwirkung in Wien bekräftigten den Ruf der jungen Frau, ja selbst von Verhandlungen mit verschiedenen Opernhäusern hatte man gesprochen. Das hofrätliche Ehepaar war kinderlos. Es war den jungen Leuten zugetan, die Hofrätin sah in dem Abend die glückliche Gelegenheit, ihre Sängerin gleich vor das auserwählte Publikum der Stadt zu bringen, das Publikum aber seinerseits mit einer liebenswürdigen Nichte zu erfreuen, und da sie noch im stillen hoffte, ihre geliebte Schwester werde bei einem solchen Anlass die Reise nicht scheuen, so konnte sie nebst Wohltätigkeit und Konzert auch einer freudigen Familienreunion entgegensehen.

Das Damenkomitee, das bald zusammentrat, nahm die Ideen der Hofrätin Klier mit Wohlgefallen auf, man wusste, ihrer Tüchtigkeit und Umsichtigkeit konnte man vertrauen, man lobte den guten Zweck der Unternehmung, auch von der jungen Sängerin hatte man schon Erfreuliches gehört. Die Sitzung fand im Hause der Frau Körner statt, es wurde Tee mit kleinen Bäckereien angeboten, dann sprach man von dem restlichen Programm des Konzerts, man wollte eine gewisse Buntheit, ein gewisses Maß von Abwechslung nicht missen. Die Damen brachten dies und jenes vor, Frau Worlitschka ein heimisches Streichquartett, Frau Siegel eine Rezitationskünstlerin aus Reichenberg, man beriet und schließlich fand man eine Lösung. Der junge Zimmermann, ein Geiger, zwar nicht von Beruf, aber Amateur von bestem Schlag, seit einigen Wochen eingerückt, war, wie Frau von Neidhart wusste, in nächster Nähe stationiert, und da Frau Oberst Seidel meinte, ein kurzer Urlaub werde in Anbetracht des patriotischen Zweckes durchzusetzen sein, war die Entscheidung leicht. Was aber die pianistische Nummer anging, ohne die der Abend nicht gut denkbar war, kam man auch hier zu einer Lösung. Ein Meisterschüler oder eine Meisterschülerin des Staatlichen Konservatoriums war das gegebene, gewiss nur eine bescheidene Belastung des Budgets. So konnte man befriedigt auseinandergehen, das Datum des Konzerts – in der ersten Woche des April – war noch gerade günstig, das Protektorat der Fürstin an sich schon ein Erfolg, und was das Programm betraf, so konnte man sich von dem Auftreten der Frau von Zeisel, die Gesangskunst und Verwandtschaftsbeziehung so vorteilhaft verband, gewiss sehr viel versprechen und auch die Wahl des Geigers war ein guter Griff. Man dachte an die Uniform, in der er auf dem Podium erscheinen, und in welcher er den Geist des Militärs so reizvoll und so zeitgemäß verkörpern würde.

Die Hofrätin, jetzt Präsidentin des Vereins, konnte in den nächsten Wochen von den Damen nur das Beste sagen, von Frau Körner, die das Amt der Kassiererin so gewissenhaft versah, von Frau von Greinz, die die Angelegenheit des Saales und der Dekoration betreute, und von Frau Siegel, die die Anzeigen in der Presse und die Ausstattung der Programme, kurz, die Domäne des Gedruckten, übernommen hatte. Und als der Abend kam, waren sämtliche Plätze vergeben, war der Saal – es war der große Saal des Deutschen Hauses – mit grünem Laub geschmückt und es standen auch zwei grüne Bäume in Behältern vor dem Hauptportal.

Nikolas Körner besuchte das Konzert mit seiner Mutter. Er stieg mit ihr über den Läufer die niedrigen und bequemen Treppen auf, er sah sie an, sah ihren dunklen seidigen Mantel, ihre glatte, ein wenig gepuderte Haut und ihre funkelnden Ohrgehänge.

»Ist das ihr jüngerer Sohn, der Gymnasiast?« fragte Frau von Neidhart. »Ja«, sagte Frau Siegel, »sie beklagt sich über ihn, sie sagt, er ist ein Träumer.«

Jetzt, da sie über den Treppenläufer stiegen, sagte Frau Körner: »Sei freundlich, wenn wir der Hofrätin Klier begegnen.«

Aber die Hofrätin war sehr beschäftigt. Sie gab den Saaldienern Anweisung und überdies den jungen Mädchen, die weiß gekleidet an den Türen standen. Sie boten die Programme an, auch ihre langen Handschuhe waren weiß. Zwei von den Mädchen kamen auf Frau Körner zu, sie lächelten. Frau Körner schien sie zu erkennen. »Mimi Greinz«, sagte sie, »nicht wahr? und Marion, ihre Schwester.« Die Mädchen machten einen Knicks. Nikolas sah sie an, er sah, dass Marion groß und blond war, er sah ihre tiefliegenden Augen und spürte einen leisen Schwindel. »Das ist mein Sohn«, sagte Frau Körner. Die Mädchen blickten einander an.

Später, als sie auf ihren Plätzen saßen, sagte Frau Körner: »Das sind nette Mädchen, warum hast du nicht mit ihnen gesprochen?« »Was hätte ich ihnen sagen sollen?« fragte Nikolas. Seine Mutter lachte: »Ein Kavalier bist du gewiss nicht.« Er sah, dass Marion ein Programm verkaufte, sie knickste und lachte dann mit ihren Freundinnen.

Inzwischen füllte sich der Saal. Zwei große Spiegelscheiben waren in den Seitenwänden eingelassen, auch das Podium war mit Grün geschmückt. »Das ist also das Wohltätigkeitskonzert«, dachte Frau Springer, als sie eintrat, »ich bin froh, dass ich hier gesehen werde.« Sie dachte an ihr dunkelrotes Abendkleid und ihre Perlenschnur, und sie sah, wie Damen und Herren, die sie nicht kannte, miteinander sprachen. Man sprach in kleinen Gruppen, man lehnte sich zur rückwärtigen Reihe, und manche Damen hielten ihre Fächer in Bewegung. Frau Springer bemerkte, wie ein alter Herr mit rosigem Gesicht und sehr gepflegtem Bart sie lange ansah, es war der Professor Weigel, und sie wusste nicht, dass er gerade seine Galle spürte und dass er hoffte, er werde nicht nach Hause gehen müssen, denn seine Frau hatte sich gewünscht, bei dem Konzert dabei zu sein. Dann kamen Herr und Frau von Hölty. Er lächelte nach allen Seiten, sein blonder englisch gestutzter Schnurrbart war mit ein wenig Grau vermischt, er hatte gerade einen neuen Staatsauftrag erhalten. Jetzt liefen die Fabriken in zwei Schichten, wie immer auch der Krieg entschieden würde, er hatte seine Industrien bedeutend ausgebaut.

Nikolas musste aufstehen, denn Herr und Frau Hölty saßen in der gleichen Reihe. Die Dame setzte sich neben seine Mutter, und sie fragte: »Ist das Ihr jüngerer Sohn? Was hören Sie vom anderen?« »Noch immer an der Isonzo-Front«, sagte Frau Körner, »und seit ein paar Wochen nur vorgedruckte Karten. Sie haben von diesen Karten gehört, nicht wahr? Ich bin gesund und es geht mir gut.«

Frau von Hölty nickte tief und schloss die Augen. Tat sie es, um mit größerer Sammlung an die Begebenheiten draußen an der Front zu denken, an die Toten, an die überfüllten Feldspitäler?

Jetzt waren fast alle Plätze besetzt, es war halb neun, und mit einem Mal verstummten die Gespräche. Die weißgekleideten Mädchen standen still, sie hielten die Programme, die sie nicht verkauft hatten, graziös an ihre Brust, die Mitteltüre öffnete sich weit, der Fürst und die Fürstin traten in den Saal. Der Hofrat und seine Frau geleiteten sie an die Plätze, dann trat der Hofrat vor das Publikum.

Er räusperte sich zuerst, dann sagte er: »Durchlauchtigste Exzellenzen! Meine Damen und Herren! In dieser großen Zeit, da unser aller Gedanken bei Tag und Nacht dem teuren Vaterlande zugewandt sind, da jung und alt alle Kräfte vereinen, um den heimtückischen Feinden, die uns von allen Seiten bedrohen, siegreich zu begegnen, da wandern unsere Gedanken auch zu jenen heldenhaften Verteidigern des Vaterlandes, die eine dauernde körperliche Schädigung davongetragen haben.« Der Hofrat sprach dann von den Amputierten, von solchen, die das Augenlicht verloren hatten, er blickte gelegentlich in ein Manuskript und nahm seinen Knebelbart in eine Hand. Er sprach von großen Fortschritten, mit denen die neue Technik der Prothesen neue Möglichkeiten und neue Lebenshoffnungen ersprießen ließ. »Aber dennoch«, so fuhr er fort, »aber dennoch, wir haben noch immer alle Hände voll zu tun, wir haben zu geben und zu geben, die Not ruft noch immer zum Himmel.« Und er hielt inne und blickte in die Höhe, als könne er durch die Saaldecke hindurch in jenen Himmel sehen. Die Zuhörer sowie die Exzellenzen bewahrten eine bewegungslose Stille, und ebenso die weißen Mädchen, die jetzt auf einer gepolsterten Bank entlang der einen von den Spiegelscheiben saßen. Der Hofrat schloss mit einer Note der Zuversicht. Denn die Opferfreudigkeit des Hinterlands, so meinte er, sei ein würdiges Gegenspiel zu den großen Taten der Armeen. »Und indem wir jeder«, so sagte er, »auf unserem Platz stehen, blicken wir vertrauensvoll in eine große siegreiche Zukunft, und wir alle lassen den kräftigen Ruf erschallen: Hoch Österreich! Hoch das erhabene Kaiserhaus!« Das Publikum ließ den Ruf zwar nicht in Wirklichkeit erklingen, aber ein jeder applaudierte heftig, und die Fürstin, recht korpulent, tat dieses, indem sie ihre Arme in die Höhe hob und ihre Hände in raschen und kleinen Bewegungen gegeneinanderschlug.