Die Bestie im Turm - Tom Wolf - E-Book

Die Bestie im Turm E-Book

Tom Wolf

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Beschreibung

Goslar 1527: Heinrich der Jüngere, Herzog von Braunschweig-Wolfenbüttel, fordert von der freien Reichsstadt die Anteile am silber-, blei- und kupferreichen Rammelsberg wieder zurück. Die Stadt wehrt sich erbittert, um nicht die Quelle ihres Reichtums zu verlieren. Mitten in den Auseinandersetzungen wird ein führendes Ratsmitglied, der Metallgroßhändler Ludolf Walberg von einem Pfeil durchbohrt, tot aufgefunden. War es die Tat eines herzoglichen Schützen?Als der Fernhandelskaufmann Friedrich von Mellnau mit seinem Gehilfen Georg Basler in der Worth Quartier bezieht, wird ihm die frische Mordgeschichte serviert. Als zwei weitere Ratsherren auf mysteriöse Weise sterben, sind sich die Leute sicher, dass die mysteriöse "Bestie im Turm" wieder ihr Unwesen treibt. Doch Mellnaus humanistisch geschulter Geist fühlt sich herausgefordert und setzt alles daran, die wahren Gründe der Todesfälle aufzudecken.

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TOM WOLF

Die Bestie im Turm

Ein Hansekrimi

Die Hanse

© e-book Ausgabe CEP Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 2014

Karten mit freundlicher Genehmigung der Stadt Goslar aus: »Goslar um 1500«, 4., verb. Aufl., Goslar 1999

eISBN 978-3-86393-515-3

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Übersetzung, Vervielfältigung (auch fotomechanisch), der elektronischen Speicherung auf einem Datenträger oder in einer Datenbank, der körperlichen und unkörperlichen Wiedergabe (auch am Bildschirm, auch auf dem Weg der Datenübertragung) vorbehalten.

Inhalt

Dienstag nach Johannis, 25. Juni 1527

I

II

III

IV

Donnerstag nach Johann et Pauli, 27. Juni 1527

V

VI

VII

Montag nach Petri et Pauli, 1. Juli 1527

VIII

IX

Mittwoch nach Petri et Pauli, 3. Juli 1527

X

XI

Donnerstag nach Petri et Pauli, 4. Juli 1527

XII

XIII

XIV

Dienstag vor Margareta, 16. Juli 1527

XV

XVI

Donnerstag vor Margareta, 18. Juli 1527

XVII

Sonnabend, 20. Juli 1527 (Margareta)

XVIII

XIX

XX

Montag, 22. Juli 1527 (Maria Magdalena)

XXI

XXII

XXIII

Dichtung und Wahrheit

Goslar 1527: Der Rat der freien Reichsstadt streitet sich mit dem Herzog von Braunschweig-Wolfenbüttel um den erzreichen Rammelsberg. Seit Monaten ruht die Arbeit in den Bergwerken, und nicht nur die Bergleute stehen vor dem Ruin: Das ganze Goslarer Wirtschaftsleben droht zu erliegen. In dieser schwierigen Zeit werden zwei angesehene Handels- und Grubenherren von unbekannter Hand getötet. Daniel Jobst, frischgebackenes Ratsmitglied, fühlt sich aufgerufen, die Todesfälle zu untersuchen. Gregor Geismar, sein Lehrling, hilft ihm dabei – doch so richtig vorwärts kommen die beiden nicht. Die »Bestie« mordet weiter und weiter …

Tom Wolf, geboren 1964 in Bad Homburg, ist Schriftsteller und freier Journalist. Er schreibt u. a. für die Berliner Tageszeitung »taz«. Als Autor der erfolgreichen »Preußenkrimis« wurde er 2005 mit dem Berliner Krimipreis »Krimifuchs« ausgezeichnet und war 2006 der 23. »Stadtschreiber zu Rheinsberg«.

Dienstag nach Johannis,

25. Juni 1527

Tempus fugit

Das Brechen des Rückgrats klang wie das Knacken eines starken Astes. Zum letzten Gebet fehlte die Zeit. Die rote Samtkappe rollte herrenlos den Hang hinab. Kühl stieg es in ihm auf. Etwas Entscheidendes war geschehen, etwas Endgültiges. Er sah die eiserne Pfeilspitze, die ihm aus der Brust ragte, eine solide Schmiedearbeit, für die man im Dutzend sicher einen Mariengroschen verlangen konnte – für das Schock vielleicht fünfe …

I

Die Sturzflut war vorüber. Mächtig angeschwollen wälzte sich die Innerste im schmalen Tal. Dunstschwaden schwebten über dem schlammigen Spiegel. Im Morgenlicht schimmerten die nassen Lanzen der Weidenblätter.

Daniel Jobst führte das Pferd am Zügel durch die starke Strömung. Bis zur Hüfte stieg ihm das kalte, tosende Wasser. Seine flachen Schuhe kamen auf den glitschigen Steinen ins Rutschen, aber er balancierte geschickt. Während der Rohrweih übers Schilf strich, zeterte ein Zaunkönig, stimmte dann ein hell-lautes Gezwitscher an. Eine Wasseramsel schnurrte vorbei, den hellen Brustschild vorweisend.

Daniels Pferd setzte über struppiges Gebüsch aus Hagedorn, Schlehen und Brombeeren und erklomm den kurzen Steilhang. Als der Reiter, dem Tier zu Fuß nachsteigend, über den Rand kam, lag blau vor ihm der Harz. Die Blätter rauschten, wispelnd bog sich das hohe Gras. Eine frische Brise blies ihm ins Gesicht.

Daniel atmete tief ein und ließ den Blick schweifen, das Ende seines Zweitagerittes vor Augen. Zur Linken hatte sich, von reichem Gefolge flankiert, der dicke Brocken hingefläzt und wärmte sich in der ersten Sonne. In der Mitte standen der Sudmerberg, der Hahnenberg, der Brautstein, Gelmke- und der Rammelsberg wie palavernd beisammen, rechts folgten, ausgeschlossen vom innigen Gespräch, der Herzberg, der Steinberg und der Todtberg und so viele weitere, dass es schier kein Ende nehmen wollte. Doch wo war Goslar abgeblieben? Unsichtbar von diesem Fleck aus lag es noch verschlafen in der Senke, halb vom Ausläufer des Steinberges verdeckt, halb hinter Gebüsch verborgen. Sah man da nicht wenigstens den mittleren der fünf Finger des Torturmes vom Breiten Tor? Nicht weit davon wohnte sie … Rike … die Tochter Simon Raschens …

In Daniels Bauch machte sich ein wunderbares Ziehen breit, wenn er an sie dachte. Kaum zwei Wochen war es her, dass sie einander in Braunschweig getroffen hatten. Nun ja, eigentlich hatten sie sich nur gesehen. Wenn man es genau nahm, war er es gewesen, der sie gesehen hatte. Rike war mit ihren Schwestern und der Mutter im ersten Gasthof abgestiegen. Daniels Kontor hatte direkt gegenüber gelegen. Er hätte viel darum gegeben, durch ein Fenster etwas von der Angebeteten zu erblicken … doch alle Bemühungen waren vergeblich geblieben. Der Bergrichter Schmidt hatte den Raschens wohl einmal seine Aufwartung gemacht. Sonst war Daniel leider gar nichts ersichtlich gewesen.

Er blinzelte, aber er konnte keine Turmspitze erkennen – müsste sich wohl oder übel eine Brille anmessen lassen … Mit seinen 33 Jahren fühlte er sich noch immer nicht alt, auch wenn die Augen schwächer wurden. Ob sie, die so Vielbegehrte, einen alten Mann wie ihn überhaupt noch würde haben wollen? Wahrscheinlich hatte sie längst mehrere Geliebte, und mit Sicherheit war sie einem von ihnen bereits versprochen.

Daniels Ohren wenigstens taten ihren Dienst wie eh und je. Deutlich hörte er, dass Goslars Kirchen zur Frühmesse läuteten. Es war fünf Uhr. Noch bis vor Kurzem hätte das den bevorstehenden Beginn der Arbeit im Berg bedeutet. In Sankt Peter und Paul und in Sankt Johannis hätten die Bergleute um diese Zeit vorm Einfahren gebetet. Aber jetzt ruhte der Bergbau schon seit Monaten, und eine unsichtbare Wolke aus Unmut zog sich über der Tochter des Rammelsberges zusammen.

Während der Gaul die Ruhe zum Grasen nutzte, versank Daniel in Gedanken, den Blick zum kahlen Goslarer Hausberg gerichtet, wo nebelfarbenes Gestein das Bild bestimmte. Deutlich waren der schlanke Wachturm auf der Halde und die spitzen zeltförmigen Schindeldächer über den zahlreichen Vorhäusern der Gruben auszumachen. Ob sich dort jemals wieder die Göpel-Pferde im Kreis bewegen würden, um die Menschen und das Gestein aus den Schachtanlagen zu heben?

Daniels Oheim, stets gestreng darauf bedacht, seinen Ziehsohn aufs Berufsleben vorzubereiten, hatte ihn früher die Namen der Schächte aufsagen lassen – der Redding, die Bleizeche, die Rathstiefste, der Deutsche Schacht, Rottmanns Grube, die Nachtigall, der Breitling, das Kaninchenloch, Innigs Schacht, der Hasenstall, die Detlefsche Grube, das Neuwerk, der Vogtsche und der Froborgsche Schacht, Hogewart Tillings Grube, die Heuscheune, Sieh-dich-um, der Sumpf, die Silberhöhle, der Aschenort, die Kohlengrube, In-der-Katz und das Hirschgehege. Sollten aller Schweiß der Bergleute und alle Tränen der Financiers nun vergeblich geflossen sein?

Der Bergbau, der schon seit unvordenklichen Zeiten betrieben wurde, hatte deutliche Spuren in der Gegend hinterlassen. Nicht nur der Rammelsberg mit seinen Schächten – auch der Herz-, Stein- und Sudmerberg zeigten sich so gut wie kahl. Unablässig gierten die gefräßigen Blei- und Silbergruben nach Holz, kaum dass der Wald reichte für all die Werke. Ein Bergwerk erforderte Stempel zum Ausbau und Gestänge für die Wasserkünste, Pipen-Rohre, Zapfen, Wasserräder, Gestelle, Hunte, Karren und Wagen für den Erztransport, doch vor allem Feuerholz zum Feuersetzen in der Nacht. Die Hitze zermürbte das Gestein, und am nächsten Tag konnte das Erz mit eisenbewehrten Stangen heruntergebrochen werden. Würde jetzt der Wald wieder sprießen? Müssten die Gruben so lange ruhen, bis alles nachgewachsen war?

Die Schmelzhütten an den nahen und fernen Wasserläufen, wo das Gebirge vom Erz geschieden und aus dem Erz das Metall gezogen wurde, kamen mit ihrer unstillbaren Gier nach Holzkohle hinzu. Forst um Forst war in den Meilern verschwunden und in Säcken, kleinstückig und schwarz, zu den Schmelzen gefahren worden. In den Öfen erweicht, verflüssigt, hatte sich das Metall tropfend vom Stein getrennt und war nach dem Anstich aus dem Vorherd in die Laib-Formen geschöpft worden, wo es erstarrte. Sollte das jetzt auf Dauer Vergangenheit sein? Würde je wieder ein Tropfen heißes Metall aus dem glühenden Gestein sickern, jemals noch ein Blei-Brot oder ein Silber-Kuchen die eisernen Schmelzformen verlassen?

Daniel vermisste die Schwaden der Kohlenmeiler, die sich früher überall von den Kahlschlägen erhoben und mit den Ausdünstungen der feuchten Erde vermischt hatten. Es hatte ausgesehen, als würden die Füchse, die Feen und Geister, die Hexen und Kobolde am weiten Horizont ihre Suppen und Lebenstränke kochen. So war es ihm vor allem an jenem kühlen Morgen erschienen, als er zum ersten Mal die einsamen Harztäler erblickt hatte, da seine Muhme Grete und sein Oheim Hans ihn zu sich nach Goslar holen ließen. Damals erzählte ihm Lisbeth, die Bez, seine Kinderfrau, um ihn zu beruhigen, die Sage vom Jäger Ramm, dessen Pferd angeblich einst aus Langeweile mit seinen Hufen den ersten Erzgang angekratzt hatte.

Jetzt war die Muhme schon seit neun Jahren tot und der Oheim Hans ihr nach langem Siechtum gefolgt. 82 Jahre war er alt geworden, das war viel, selbst für einen wohlhabenden Mann.

Schreie brachten Daniel in die Wirklichkeit zurück. Unten aus dem überschwemmten Bachtal kamen sie.

»Zu Hilfe! Jesus! Gott im Himmel, hilf! Ihr Heiligen, helft! Maria, Martha, Magdalena, Johannes, Petrus, Paulus: Ich kann – … urrgh! … – doch nicht schwimmen!«

Ein Maulesel trieb vorüber, scheinbar von zwei prall gefüllten, schwimmenden Wachstuchsäcken über Wasser gehalten. Aber so ein Tier konnte schwimmen, seine Augen glänzten irr; seine Nüstern zogen die Luft heftig ein und stießen sie wieder aus, dass es dampfte. Die Schreie rührten wohl von jemand anderem her …

»Zu Hilfe! Ich ertrinke!«

Aha – jetzt kam der Schreihals angetrieben, an einen Ast geklammert. Wasser ausspuckend und den Kopf immer wieder aus der dreckigen Brühe reckend, fixierte er Daniel mit flehendem, schräg aufwärts gerichtetem Blick, als könnte er sich auf diese Weise an ihm festhalten und vor der sicheren Verdammnis retten.

»Was hältst du dein spätes Johannisbad auch in dem reißenden Bach ab?«, rief Daniel ihm zu und schwang sich aufs Pferd. Rasch war er wieder den Hang hinab und folgte am Ufer entlangreitend dem menschlichen Treibgut.

»Versuch, dich daran festzuhalten!«, rief er, zog seinen langen Bogen aus einem seitlich dem Pferd umgeschnallten Futteral und hielt ihn übers wilde Wasser. Nach einigen fehlschlagenden Versuchen gelang es dem Treibenden, den schmalen Stock zu fassen. Daniel zog ihn behutsam näher ans Ufer, bis er Tritt fasste und sich schließlich durchs Geäst einer Weide an Land hangelte. Da stand er dann kurz darauf, zitterte und tropfte.

»Ich verdanke dir mein Leben!«

Der Retter wies den Triefenden mit spöttischem Blick auf den weiteren Verlauf des Flüsschens hin. Nur wenige Steinwürfe entfernt nahm eine Sandbank fast die ganze Breite des vormaligen Bettes ein. Die Wucht des Wassers verströmte sich seitlich, sodass sich der Junge leicht auch selbst hätte retten können. Sein Maulesel hatte es bereits geschafft. Der stand auf festem Boden, schüttelte sich, dass die Säcke auf und ab sprangen, und gab Laut.

»Der heilige Johannes ist mit uns! Er hat auch meine Kräuter nicht absaufen lassen!«

»Lass mich raten – Gürtlerkraut?«

Der Nasse nickte und lächelte. Er strich sich die dunkelbraunen Haare aus dem Gesicht und klopfte unbeholfen an seinem klammen grünen Gewand herum.

»Johanniskraut, Beifuß, Königskerze, Ringelblume, Arnika, Himmelsschlüssel, Bärlapp, Bilsenkraut, Farn und Eisenkraut. Die Goslarer Weibsbilder sind ganz verrückt nach den Gürteln, die ich ihnen daraus drehe.«

»Du bist ein Scharlatan, mein Freund! Wie willst du das alles gestern gesammelt haben? Nur dann – von der Kraft des heiligen Johannes erfüllt – wirkt es doch, oder täusche ich mich?«

»O, ich bin fix und versiert! Ich sammele die Kräuter so schnell wie im Traum, auch Erz- und Wasseradern finde ich dir und ziehe selbst die Drachen an, falls dich nach ihnen begehrt. Brauchst einem vorbeifliegenden Drachen nur was Rechtes nachzurufen, und schon regnet’s Gold!«

»Und du bist bei deinen Künsten durch Drachenschimpf nicht selbst reich geworden? Hierzulande braucht man die geflügelten Bestien künftig sicherlich, um wieder Reichtum zu erlangen. Wie heißt du?«

»Gregor Geismar. Ich gebe zu, dass mir die Sache mit den Drachen bislang nicht gelungen ist …«

Gregors Gesicht war von angeborener, vornehm wirkender Blässe. Volles Haar glänzte über einer breiten Stirn, und mancher Frauenblick mochte ihm folgen, dachte Daniel, auch ohne Gürtlerkraut und ungeachtet der schalen Kleider, mit denen man eine Vogelscheuche bestens hätte ausstaffieren können.

Daniels Gewand dagegen, das hatte Gregor sofort gesehen, zeugte von Wohlstand. So kleidete sich ein erfolgreicher Kaufmann. Die Tuche wirkten zwar abgetragen, als wollten sie sagen: Unser Herr schont sich nicht, sondern arbeitet schwer trotz seines Standes. Im Kleidersack aber, den das teure, schmucke Pferd zu tragen hatte, steckte bestimmt ein prächtiges Festtagsgewand. Und der edle Bogen war aus einem Holz, das Gregor nicht kannte.

Während Daniel ihn in seinem langen Lederfutteral verschwinden ließ, sagte er: »Ich heiße Daniel Jobst. War lange in Braunschweig, doch jetzt gedenke ich, in Goslar meinen Oheim Jonathan Unruh zu beerben. Den Namen kennst du sicher.«

Gregor nickte. Das Unruhhaus an der Abzucht wurde allgemein die Halskrause genannt. Ebenso kannte er den markigen Spruch an der Fassade: Herr, verzeihe mir meine Sünde, stärke meinen Glauben, segne mein Vermögen, lass dir gefallen das Werk meiner Hände, zerbrich den Rücken meiner Feinde, die mich ohn’ Ursach hassen, lass sie nicht aufkommen, sondern zuschanden werden. So unverhofft einem Spross aus diesem ehrwürdigen und reichen Haus zu begegnen, schüchterte ihn denn doch ein.

»Also das … ich … äh …«

Daniel lächelte. Die offene und unverstellte Art des Knaben gefiel ihm. So ganz ohne falschen Respekt, ohne Unterwürfigkeit und Gedrücktheit. Dass sie sich zwanglos duzten, fand er ganz natürlich, auch wenn kaum ein anderer es an seiner Stelle geduldet hätte.

»Schon gut. Ich hoffe nicht, dass du dich vor mir verbiegen willst, bloß weil mein Onkel im engen Rat saß. Erzähl mir lieber, was du machst. Ich bin seit Langem weg, damals musst du noch so kurz gewesen sein …«

Er deutete mit der rechten Handfläche eine derart unvorteilhaft niedrige Höhe über dem Boden an, dass Gregor die Wut in den Kopf schoss. Aber dann lachte er.

»Paulus Geismar ist mein Vater – wir wohnen draußen vor der Mauer beim Vititor in der Reeperstraße. Mein kleiner Bruder Hans wird einmal das Handwerk weiterführen. Ich soll die Rechte studieren, aber ich habe gar keine Lust dazu. Ich will viel lieber Kaufmann werden …«

»Oh, da wohnt ihr also in einem von den kleinen Häuschen mit den endlos langen Gärten?«

Gregor schämte sich für die Lage seines Elternhauses. Waren sie nicht Stadtbürger wie alle? Warum konnten sie dann nicht drinnen wohnen, hinter den Festungsmauern, angesehen und geschützt, wie es sich gehörte? Nur, weil die Reepschläger ihre Seilbahnen so lang ausspannen mussten und dies in der Enge der Stadt nicht zu tun vermochten …

»Die Grundstücke müssen so lang sein, damit man lange Seile winden kann. Zugegeben, die Seiler-Häuser sind klein, mit dem Unruhhaus kann es keines aus der Reeperstraße aufnehmen … Als Kaufmann bist du sicher schon weit herumgekommen. Doch hast du, so scheint mir, nichts von Goslars Fehde mit deinem Herzog gehört, sonst wärst du fort geblieben!«

Daniel lachte sauer.

»Er ist nicht mein Herzog. Ich habe in Braunschweig nur als Goslarer Kaufmann gesessen, habe das Außenkontor für meinen Oheim geführt. Wir verkauften Silber, Blei, Kupfer, Farben und Gose-Bier. Im Gegenzug kauften wir Fische und Wein und Gewürze. Der Goslarer Rat hat einen großen Bedarf an diesen Gütern.«

»An Fischen?«

Gregor lachte, und Daniel stimmte ein.

»Vor allem an Fischen – wusstest du, dass es ein Stör- und Hecht-Register im Rathaus gibt, wo alle Störe und Hechte verzeichnet sind, die der Rat bei seinen rituellen Zusammenkünften verspeist hat? Das reicht zurück bis in Zeiten … ja, also quasi bis in die Tage, als diese Tiere aus der Arche Noah ins Wasser zurückgesprungen sind.«

Gregor konnte es nicht glauben.

»Du willst mich zum Narren halten – eine Kladde in einem Schrank im Rathaus, in der Hechte und Störe aufgelistet sind?«

»Ganz recht, und die Anlässe für ihre genüssliche Verspeisung: jedes einzelne Ratsessen, das Gewicht der Fische und wie teuer sie waren.«

»Ich hab noch nie andere Fische als Karauschen und Forellen gegessen … Was ist denn so anders bei einem Stör?«

»Ich glaube, du hast nichts verpasst – das Besondere an einem Stör ist bloß sein Preis. Ihn verspeisen zu können, bedeutet, dass man über anderen steht. Der enge Rat hält sehr darauf, sich von den gewöhnlichen Sterblichen und Fischessern abzusetzen … Was weißt du über den Streit zwischen dem Herzog und dem Rat?«

»Der Herzog will den Rammelsberg zurück, denn er hat ihn einstmals nicht verkauft, sondern nur gegen ein Pfandgeld eingetauscht, um ihn jederzeit wieder einlösen zu können. Jetzt hat er Goslar das Geld zurückgegeben. Aber der Rat will den Berg behalten.«

Die Art, in der Daniel nickte, zeigte Gregor, dass der Ältere prüfen wollte, ob er es mit einem Grünschnabel zu tun hatte. Offenbar wusste er das alles viel besser. Gregor schätzte Daniel, was das Alter betraf, schon auf jenseits von Gut und Böse, doch er fand, dass er sich für einen so alten Mann recht gut gehalten hatte.

»Selbst, wenn ich in Braunschweig nichts davon gehört hätte – was ganz unmöglich wäre, da es in der Stadt zur Zeit keinen aufregenderen Gesprächsstoff gibt, außer vielleicht die Gerüchte um des Herzogs Geliebte –, so hätte ich doch nicht einen Meter die Seesener Heerstraße entlangwandern können, ohne die aufgedonnerte Tracht eines herzoglichen Landsknechtes an meiner Seite zu bestaunen. Der Wolfenbütteler zieht, scheint’s, seine Truppen für einen tüchtigen Schlag gegen Goslar zusammen.«

Gregor nickte unsicher. Die Vorstellung flößte ihm Furcht ein, wie jedem in Goslar.

»Er hat sein Heerlager im Kloster Riechenberg. Nachts können wir die Flammen der hohen Feuerstöße sehen und hören das Gebrüll der närrisch gekleideten Schurken, die sich in seinem Tross verdingen. Sie wollen der Stadt Angst machen. Schon seit Februar sollen die Hüttenleute dem Herzog die Metallkuchen hinaus auf den Riechenberg fahren, auf einen Lagerplatz direkt neben der Krypta, aber keiner tut es. Der Herzog war in eigener Person an den Bergwerken und hat alle Inhaber auf sich vereidigt, aber nur eine Handvoll hat gehalten, was sie ihm dort in ihrer Not gelobten. Ein Bergrichter wurde eingesetzt, Arno Schmidt mit Namen. Der hat alle Grubenbesitzer einbestellt, damit sie die neuen Bedingungen annehmen. Als nur viere kamen, hat der Herzog den Grubenbesitz der Daheimgebliebenen für verwirkt erklärt. Er hat die Schächte beschlagnahmt, alle, bis auf einen.«

»Ach, nicht alle? »

Jetzt war Daniel doch erstaunt. Er hatte von den seit Mai laufenden Verhandlungen über seinen besten Freund, den Syndikus und Doktor der Jurisprudenz, Konrad Dellinghausen, ständig bestens Kenntnis. Konrad war Goslars Abgesandter und Unterhändler beim Reichskammergericht in Esslingen. Er hatte erwirkt, dass zwei Schlichter – die Regimentsräte Hans von Redwitz und Niklas von Kniebis – aus Esslingen nach Goslar kamen. Doch sie hatten vergeblich versucht, zwischen den Parteien einen Konsens und eine Annäherung zu erzielen. Da war nur Hass und Verhärtung. Bisher hatte es ihn belustigt, den aufgeweckten Seiler-Jungen auszufragen. Nun aber berichtete dieser Neuigkeiten.

»Was sagst du? Es liegen nicht alle Gruben still? Wie das? Haben die Grubenherren etwa bewaffneten Schutz auf die Beine gestellt? Wachen städtische Kriegsknechte am letzten freien Göpelzelt und liefern sich Gefechte mit dem Herzog?«

Diese Vorstellung belustigte ihn. Auch Gregor fand das ulkig.

»Abwehrstellungen gegen des Herzogs Spießgesellen? Oh nein – der Schacht der Grube Neuwerk fördert noch, weil sich die Eigentümer mit dem Herzog verständigt haben.«

Daniel war sprachlos. Wie konnte der Rat das zulassen? Er überlegte, um auf die Namen der Bergwerkseigner zu kommen: Sebastian Walberg, Heinrich Wachsmut, Simon Raschen und Henning Heinze. In deren Haut mochte er jetzt nicht stecken. Bevor er sich’s mit den andern im Rat verdürbe, würde er sich lieber dem Herzog entgegenstellen.

Sie setzten auf die Insel über, wo Gregor seinen Maulesel freudig begrüßte. Nachdem sie behutsam die sanfteren Stromschnellen seitlich der Sandbank durchwatet hatten, um dann neben den Tieren die Böschung zu erklimmen, kratzte Gregor sich am Kopf.

»Ehrlich gesagt – die Angelegenheit ist mir noch nicht so völlig klar. So ein dickes Ding wie der Rammelsberg war ja sicher eine ganze Menge Lösegeld wert?«

Daniel lächelte. Das war alles andere als einfach.

»Einst haben die Herzöge von den Herren von Gowische für die Überlassung des Bergzehnten eine Summe Geldes erhalten, die recht klein war. Dann kam der Zehnte an die alten Sechsmannen, in der Folge an den Rat. Über die Jahrhunderte ist immer wieder Geld für diese Abtretung an den Herzog geflossen. Nun hat er stolze 24 663 rheinische Gulden zurückgezahlt, um den Bergzehnten wieder selbst beanspruchen zu können – und noch einmal 11 370 für die ebenfalls verpfändeten Forsten. Jetzt wird er den Bergwerks- und Hütteneignern künftig das Holz teuer zu verkaufen trachten.«

»Warum hat er den Berg aber nicht früher schon zurückgekauft, wenn ihm so viel daran liegt?«

»Na ja, lange war unklar, ob der Berg überhaupt noch etwas abwerfen würde. Als die Gruben ersoffen, war keiner mehr am Zehnten interessiert. Die alten Sechsmannen, ohnehin irgendwie nur vorgeschoben, haben ihre Anteile billig an den Rat losgeschlagen. Dann kam der Bergmeister Claus von Gotha, sümpfte die Schächte mittels der Heinzenkünste – diesen besonders konstruierten Pumpen, in deren Rohren das Wasser von Lederbällen gehoben wird –, und seither stiegen die Erträge wieder unaufhörlich. Der Rat kaufte sich rasch den Löwenanteil am Grubenbesitz zusammen. Dem Wolfenbütteler blieb das nicht verborgen, und er witterte kräftigen Profit, wenn er sich des Berges wieder bemächtigte. Er brauchte ja nur zu sagen, dass er das Pfand wieder einlösen und das einst seinen Vorfahren geliehene Geld wieder zurückzahlen wolle …«

Gregor stellte sich den Herzog wie ein wildes Tier vor, wie eine Bestie, etwa wie ein stachelbewehrtes Wildschwein mit Reißzähnen und blutigem Maul.

»Horch!«

Gregor deutete auf den Harz und hielt sich die Hände wie zwei kleine Schüsseln hinter die Ohrmuscheln. Helle Töne in rascher Folge erklangen. Kurz war Ruhe, dann kamen sie wieder. Sehr leise, aber unheimlich klar und deutlich in der morgendlichen Stille. Auf der Ebene waren kaum Vögel zu hören, und auch der Wind sauste nicht mehr.

»Die Hille-Bille!«, sagten sie beinahe unisono.

Daniel entsann sich deutlich, wie dieses seltsame Musikinstrument der Wächter aussah: Drei untereinander an Seilen hängende Holzbretter unterschiedlicher Größe wurden mit einem Stock geschlagen – das ergab so laute Töne, dass sie bei gutem Wind bis in die Stadt und darüber hinaus zu vernehmen waren.

»Weißt du, was das heißt?«, fragte Gregor, der die überirdischen Töne der schnellen Glocke schon oft gehört, aber nie verstanden hatte, was sie bedeuteten. Es klang irgendwie fremd, er kannte wohl einige Grundsignale, aber dieses nicht.

»Tut mir leid, da muss ich passen – was aber auch immer, es scheint wichtig zu sein!«

Die Töne begleiteten sie die halbe verbleibende Wegstrecke bis zur Stadt. Sie passierten Jerstedt und zogen am Wartberg vorbei. Das Kloster Riechenberg ließen sie so weit rechts liegen wie möglich. Ein Spähtrupp des Herzogs hielt sich in einiger Entfernung. Es war Markttag, und den Landsknechten war offenbar befohlen worden, erst einmal alle von auswärts hineinzulassen und bis sie wieder rauskommen würden, Bier zu trinken, um sie dann zu verprügeln. Das Goslarer Bier war gut … Gose hieß es, wie der Bach, dessen Wasser man hier trank.

Sie passierten die Landwehr, einen weit vor den Mauern angelegten, von Schlehen- und Brombeergestrüpp bewachsenen Wall mit Graben. Jetzt konnten sie schon die Kommende des geistlichen Ritterordens der Johanniter zum Heiligen Grabe und die Türme des Vititors unterscheiden. Die genaue Kopie des Heiligen Grabes verbarg sich in einer der Grabeskirche von Jerusalem Stein für Stein nachempfundenen Rundkirche. Der Keller mit der Kopie der Ruine war so groß, dass hundert Pferde darin Platz hatten. Die trutzigen Mauern und die unzähligen Türme des kleinen Roms tauchten auf. Es gab in Goslar an die fünfzig Gotteshäuser, wenn man alle Kirchen und Kapellen zusammenzählte.

»Wer da nicht fromm wird, wird es nirgends«, murmelte Daniel.

Gregor fragte zaghaft: »Sag, darf ich dich vielleicht meinen Eltern vorstellen? Du könntest sicher auch eine Stärkung vertragen, bevor du dich in die Stadt begibst.«

Daniel sah die vielen Menschen, die sich am schmalen Mauer durchlass auf der Zugbrücke und dem Platz davor stauten. Von überallher strömten sie, um zum Markt zu gelangen: Bauern, fliegende Händler, Fernkaufleute. Die Bauernkarren standen am Ende der Straße, während ihre Besitzer miteinander plauderten oder in der Schänke auf die Abfertigung warteten. Die Wache an der Zugbrücke kam mit ihrem Geschäft nicht hinterher.

Daniel Jobst hätte wohl auf sein Patriziertum pochen und mit ein paar Pfennigen ein rasches Passieren am Tor erwirken können. Doch er war neugierig. Schon seit Langem hatte er kein Handwerkerhaus mehr von innen gesehen – eigentlich seit er in die Handlung seines Oheims eingetreten war.

»Unser Haus ist das erste vor dem Tor – schräg gegenüber vom Vitriolhaus«, verriet ihm Gregor.

Das kannte Daniel, dort war er mit dem Oheim oft gewesen. Vitriol war eines der Produkte, die Goslar zu bieten hatte.

»Meine Mutter ist eine Zauberin – am Herd, versteht sich.«

Gregor wollte Daniel von der Qualität des Essens überzeugen. Wahrscheinlich fürchtete er, sich zu vergiften, wenn er bei ihnen aß …

»Meine Frau Mutter weiß auch die Fastenspeisen sehr gut zu bereiten.«

»Diese Heiligen«, entfuhr es Daniel. »Keinen vernünftigen Bissen Fleisch gönnen sie einem.«

Gregor machte ein entsetztes Gesicht, dann grinste er vorsichtig.

»Ich rate dir, bei uns zu Hause vorsichtig zu sein. Wir haben ein erzfrommes Hausmädchen, das könnte dich leicht in Verruf bringen. Ich muss auch aufpassen mit meinen Kräutern, dass es ihr nicht beifällt, mich als Teufelsjünger anzuschwärzen. Nur der Heilige Johannes wird mich vor dem Scheiterhaufen bewahren. Meine Eltern dagegen sind offener, mögen sowieso den Sachsen Martin mehr als den Römer Clemens … ich übrigens auch, also brauchst du vor mir keine Angst zu haben.«

Daniel lächelte. Er musste sich am Riemen reißen, gerade in Goslar, wo seit Jahren die Fronten des Kirchenstreites heftig aufeinanderprallten. Zwar hatte sich die Stadt vor einem Jahr auf dem Reichstag in Speyer der evangelischen Sache angeschlossen, doch die einfachen Leute waren schwer zu überzeugen.

Daniel selbst war in der Sache nicht fanatisch. Wohl sah er, dass sich die Kirche ändern musste, wenn die Welt sich fortentwickeln sollte. Luthers Angriff auf den Ablasshandel war da ein guter Anfang. Es gab so vieles, was man prüfen konnte. Die Sache mit den Heiligen etwa war ein Kreuz. Nicht allein in der Fastenzeit musste man darben, auch vor jedem Heiligentag durfte man kein Fleisch essen und an Freitagen und Sonnabenden sowieso nie. Jetzt nährte er sich schon seit vier Tagen förmlich von Blättern und Wurzeln … Ein saftiges, gebratenes Stück vom Schwein stand ihm duftend vor Augen. Tags zuvor an Sankt Johannis hatten ihm Appetit und Ruhe auf seinem Ritt gefehlt. Morgen nun kam schon der Johann- und Pauls-Tag, da würde er seine Gelüste auch unterdrücken müssen. Erst übermorgen war noch einmal Fleisch erlaubt, anschließend kamen schon wieder Freitag und Sonnabend, das bedeutete Grünzeug und Fisch.

Außerdem litt der Handel. 52 Sonntage und 48 Heiligentage, an denen nicht gearbeitet und gehandelt werden durfte: Wie sollte da die Wirtschaft je florieren?

»Was geschieht, wenn du ohne Not einen Mitesser bringst?«, fragte er Gregor.

»Was soll schon geschehen? Wir haben ein gastfreies Haus! Nun, sei ehrlich – leidet dein weit gereister Magen jetzt Not oder nicht?«

Daniel verspürte plötzlich einen solchen Hunger und Durst, dass die Vorräte der kleinen Schänke vorm Vititor niemals ausgereicht hätten, beide notdürftig zu stillen.

Der Klosterbezirk St. Georg

II

Markus Reddig, ein feingliedrig wirkender Mann von 32 Jahren, mit schmalem, etwas zu großem Kopf und schwarzem Haar, trug deutliche Spuren seiner nächtlichen Schreibertätigkeit im Gesicht. Er war seit Wochen hauptsächlich damit beschäftigt, alte Ratsakten regestenartig zusammenzufassen, das Verzeichnis der umfangreichen Ratssammlung auf Abgänge zu überprüfen und Urkunden zu archivieren. Damit er diese im Rechtsstreit mit dem Herzog existenziell wichtige Arbeit überhaupt bewältigen konnte, nahm er sich Stapel von Papier in seine Wohnung im Breiten Tor mit, sodass er auch dann arbeiten konnte, wenn er nicht zu schlafen vermochte. Seine Schreibstube im Rathaus lag im Zwischentrakt zwischen Ratsdiele und Gebeinkapelle. Ein großes Schreibpult mit einer Unschlittlampe, ein kleiner Tisch und zwei Stühle, mehr war nicht drin. Das kam seinem vormals geistlichen Stand sehr zupass und gemahnte ihn an seine Zelle im Kloster der Franziskaner am Köketurm. Der Goslarer Stadtschreiberposten wurde traditionsgemäß an Priester oder Ordensleute vergeben, da man diesen am meisten vertraute. Inzwischen war diese Regel gelockert, es gab auch schon einmal vertrauenswürdige Weltliche auf dem Posten. Der Stadtschreiber war Protokollführer bei allen Sitzungen der Räte. Doch diese Regel, das wusste Reddig inzwischen, hatte mit der Wirklichkeit wenig zu tun.

Er schritt trotz seiner fühlbaren Gliederschwere, unausgesetzt gähnend und verzweifelt bestrebt, die eiserne Klammer der Müdigkeit abzustreifen, durch den Laubengang am Gerichtsraum bis zur Tür des Sitzungszimmers. Der Erweiterungsbau des Rathauses roch noch immer neu. Man hatte den Beratungsraum bewusst so platziert, dass es keine Möglichkeit gab, die Oberen der Stadt zu belauschen.

In der letzten Zeit entbehrte man des Stadtschreibers bei Sitzungen sehr oft. Die Herren wollten unter sich sein und keinerlei Aufzeichnungen für den Chronisten hinterlassen. Es genügte nicht, dass Reddig klopfte. Mit beiden Fäusten hämmerte er gegen die Tür, bis sie endlich aufging und der Bürgermeister des gerade amtierenden neuen Rates erschien.

»Ihr seht ja fürchterlich aus!«, sagte Johannes Weidemann in besorgtem Tonfall. Er war nicht eben groß, doch seine gedrungene Gestalt glühte vor Kraft. Das rötlichbraune Haar passte zu seiner vom Wetter gegerbten Haut – sein zweites Gewerbe neben dem Bergbau war der Fischfang. Der Rat selbst war ein gewichtiger Kunde bei ihm …

»Was gibt es denn so Wichtiges?«

Der erste Bürgermeister machte ein finsteres Gesicht. Drinnen in der reich ausgemalten Ratsstube saßen etliche, aber bei Weitem nicht alle Ratsmitglieder auf ledergepolsterten Archivtruhen beisammen. Der enge Rat war ein Auswahlgremium, das in Zeiten der Gefahr rascher handeln können und die Stadt vor Unheil bewahren sollte. Man konnte nicht immer mit den sechs Dutzend Köpfen des weiteren Rates debattieren, wenn Not am Mann war.

Reddig räusperte sich: »Ich hoffe sehr, Herr Bürgermeister, dass Sie den gewaltsamen Tod eines Rats- und Grubenherrn als wichtig genug für die Störung erachten …«

Er hatte die Botschaft mit ungewollter Theatralik und einer unbeabsichtigten Süffisanz verlauten lassen. Im Grunde mochte er Weidemann, auch wenn dieser eine Unnahbarkeit an den Tag legte, die auf viele abschätzig wirkte. Seit März war er im Amt, hatte erst Dienstag nach Reminescere auf die Privilegien geschworen und dirigierte den Rat doch bereits spürbar in eine neue Richtung. Er war einer der Vollmächtigen, die Luthers Forderungen unterstützten, gab in Sonderheit der Gemeine größeren Raum für ihre Interessen. Schon zwei Ratsherren hatten aus Protest gegen Weidemanns Kurs ihr Amt niedergelegt. Einer war gar mit seiner Familie aus der Stadt fortgezogen. Doch gerade jetzt, wo der papst- und kaisertreue Herzog vor der Stadt lag, der es seinen Herren gleichtat und Luther hasste wie die Pest, wäre Goslar mit jedem anderen als Weidemann verloren gewesen.

Auch der zweite Bürgermeister, Joachim Wegener, der nun in der Tür erschien, um zu sehen, was es gab, war von diesem Schlag. Wie ein Gegenbild zum volleren, kernigen Weidemann wirkte Wegeners sehnige, dürre Gestalt. Er sah wohl auf den ersten Blick schwach und zerbrechlich aus, doch nun spannten sich seine Muskeln sichtlich.

Weidemann machte große Augen: »Was, Herr Reddig? Wer ist tot?«

Der erste Bürgermeister wirkte gereizt. Die Sitzung verlief wohl nicht so, wie gedacht. Es ging um die abtrünnigen Gewerken der Grube des Stifts Neuwerk – um dies zu erraten, brauchte Reddig keine große Hilfe.

»Sebastian Walberg wird wohl den Ratssitzungen dauerhaft fernbleiben …«

»Walberg?«, fragte Wegener entgeistert dazwischen. »Sprecht nicht in Rätseln!«

Reddig machte eine wirkungsvolle Pause, bevor er verkündete: »Der Bergmeister vom Neuwerk-Schacht fand ihn bei Sonnenaufgang tot, mit einem Pfeil im Leib, nicht weit vom Wachturm droben. Mit der schnellen Glocke kam die Botschaft. Ein Bote des herzoglichen Bergrichters Schmidt übermittelte dessen Begehr, es möge einer kommen, den Leichnam abzuholen.« Weidemann verneinte gestisch und sagte doch gleichzeitig:

»Ja!«

Man sah, dass es in ihm arbeitete. Kaltblütig und mit einer Gefasstheit, die Reddig nur bewundern konnte, erklärte er: »Bevor dies geschieht, sollte jemand aufs Göpelplateau zum Wachturm hinauf, um zu sehen, ob man noch Indikationen findet, die auf den Mörder hindeuten.«

»Ich bin ganz Eurer Ansicht«, pflichtete Wegener seinem Ratskollegen bei. »Kommt doch einmal mit in unsere gute Stube, Herr Reddig. Ich möchte, dass Ihr die Reaktionen der Herren beobachtet, wenn Herr Weidemann das bekannt gibt. Neid ist eine Todsünde und war schon für viele tödlich. Walberg hatte viele Neider. Versteht Ihr, was ich meine? Als Sohn Florian Walbergs war er schon von Natur aus reich … sozusagen. Doch er hat seine Zeit nicht vergeudet und sein Vermögen immer weiter vermehrt. Wie tragisch, dass er keine Erben hat. Jetzt erbt wohl der Rat, an den herrenloses Vermögen verfällt …«

Reddig betrat hinter den beiden Bürgermeistern den grottenartigen, bunt bemalten Raum. Die Obersten der Stadt saßen unter vielen modisch gekleideten Kaisern, Sibyllen sowie der Leidensgeschichte Jesu und hatten offensichtlich diejenigen unter ihnen, die mit dem Herzog paktierten, bislang vergeblich zur Vernunft bringen wollen. Die übel verbrauchte Luft im Raum hätte man schneiden können. Reddig bemerkte Hermann Marquard, den Kämmerer sowie den zweiten Syndikus Doktor Kurt Mechtshausen. Auch sah er schließlich noch Henning Cabbus, den Worthalter der Gemeine – des weitaus größeren Rates jener Normalbürger, die weder zu den Grubenbesitzern, zunftpflichtigen Handwerkern, Kaufleuten oder Krämern zählten, die aber in Gottes Namen auch irgendwie im Rat vertreten sein mussten, damit sie keinen Aufstand machten.

Walbergs drei Mitgewerken von der Grube Neuwerk hatten sich in den voraufgegangenen Disputen verteidigt, so gut sie konnten. Aber gegen die Verachtung der anderen kamen sie nicht an. Alle in diesem Raum lebten mehr oder minder vom Bergbau, und kaum einer war bestrebt gewesen, für schlechte Zeiten andere Einnahmequellen zu erschließen. Jetzt war der Ausnahmezustand da, und niemand wollte es hinnehmen, dass sich ein paar abseits stellten und mit dem Herzog auf schlechte Geschäfte einließen, während die Mehrheit zusetzen musste.

Weidemann rief: »Walberg ist tot! Es steckt ihm ein Pfeil im Leib!«

Einige der Herren sprangen auf.