Die Bestie - John Vaillant - E-Book
SONDERANGEBOT

Die Bestie E-Book

John Vaillant

0,0
17,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 17,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Pulitzer Prize Finalist 2024 – New York Times Best Books 2023 – National Book Award Finalist 2023 – Baillie Gifford Prize 2023 – »Fesselnd, faszinierend, verblüffend auf jeder Seite.« David Wallace-Wells

Die Menschheitsgeschichte handelt von der Zähmung des Feuers. Im 21. Jahrhundert jedoch lässt sich diese Naturgewalt kaum mehr beherrschen. Dies ist die Geschichte eines verheerenden Brandes und der Bedingungen, die der Mensch dafür schuf.

»Die Bestie« — so nannten Einsatzkräfte den Waldbrand, der als eine der größten Naturkatastrophen in die Geschichte Kanadas einging, monatelang unkontrollierbar wütete und eine ganze Stadt dem Erdboden gleichmachte. Das Feuer schien sich just an einem Ort für die Zerstörung der Natur zu rächen, wo Ölkonzerne mit dem Abbau von Rohstoffen immense Vernichtungen des Ökosystems Wald anrichten — fast 100.000 Menschen mussten vor dem Brand fliehen...

Bestsellerautor John Vaillant vollzieht in seiner packenden Reportage nach, wie lange die Petro-Konzerne tatsächlich schon von den klimaschädlichen Auswirkungen ihres Geschäftsmodells wissen. Und wie die skrupellose Gier des Menschen nach fossilen Brennstoffen von den elementaren Kräften der Natur in die Schranken gewiesen wird: Denn mit dem Klimawandel wachsen sich Brände überall auf dem Planeten immer häufiger zu unaufhaltsamen Katastrophen aus. Eine Dokumentation über das neue Jahrhundert des Feuers, die sich wie ein Thriller liest.

  • Ausgezeichnet mit dem Baillie Gifford Prize for Non-Fiction
  • Mit exklusivem Vorwort des Autors für die deutsche Ausgabe.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 702

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



ZUMBUCH

Die Bestie – so nannten Einsatzkräfte den Waldbrand, der als eine der größten Naturkatastrophen in die Geschichte Kanadas einging, monatelang unkontrollierbar wütete und eine ganze Stadt dem Erdboden gleichmachte. Das Feuer schien sich just an einem Ort für die Zerstörung der Natur zu rächen, wo Ölkonzerne mit dem Abbau von Rohstoffen immense Vernichtungen des Ökosystems Wald anrichten – fast 100 000 Menschen mussten vor dem Brand fliehen…

Bestsellerautor John Vaillant vollzieht in seiner packenden Reportage nach, wie lange die Petro-Konzerne tatsächlich schon von den klimaschädlichen Auswirkungen ihres Geschäftsmodells wissen. Und wie die skrupellose Gier des Menschen nach fossilen Brennstoffen von den elementaren Kräften der Natur in die Schranken gewiesen wird: Denn mit dem Klimawandel wachsen sich Brände überall auf dem Planeten immer häufiger zu unaufhaltsamen Katastrophen aus. Eine Dokumentation über das neue Jahrhundert des Feuers, die sich wie ein Thriller liest.

ZUMAUTOR

John Vaillant, geboren 1962 in den USA, übersiedelte 1998 nach Kanada. Seine Reportagen über extreme Erfahrungen mit Phänomenen der Natur erschienen u. a. in National Geographic, The Atlantic und The New Yorker. Für sein erstes Sachbuch Am Ende der Wildnis erhielt er 2005 den renommierten Governor General’s Award, 2010 veröffentlichte er den internationalen Bestseller Der Tiger. Mit dem Windham-Campbell Literature Prize wurde ihm 2014 der weltweit höchstdotierte Preis für Non-fiction verliehen. Vaillant lebt in Vancouver.

JOHN VAILLANT

DIE BESTIE

Wie das Feuer von unserem Planeten Besitz ergreift

Aus dem Englischen von Iris Hansen und Teja Schwaner

Die Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel Fire Weather – The Making of A Beast bei Alfred A. Knopf, Penguin Random House, New York.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Deutsche Erstausgabe 07/2023

© by John Vaillant 2023

© der deutschsprachigen Ausgabe 2023 by Ludwig Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Covergestaltung: SERIFA, München,

unter Verwendung eines Fotos von Delta Firefighters/Twitter

Karten [>>] u. [>>]: Astrid Fischer-Leitl

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-30945-9V002

www.Ludwig-Verlag.de

Für Wissenschaftler:innen und Visionär:innen

INHALT

Vorwort

Teil 1 – Entstehungsgeschichten

Teil 2 – Feuerwetter

Teil 3 – Abrechnung

Epilog

Danksagung

Anmerkungen

Bibliografie

Bildteil

VORWORT

Eines Morgens, als ich im Sommer 2015 mit meiner Familie auf einer kleinen Insel vor der Küste von British Columbia zeltete, wachte ich auf und bemerkte ein ungewöhnliches Licht. Der frühen Stunde wegen und weil das Zelt orange war, nahm ich an, die Sonne würde durch den Stoff strahlen. Als ich nach draußen kroch, sah ich, dass die Bäume, der Küstenstreifen und die Luft – alles, so weit mein Blick reichte – von orangefarbenem Licht durchflutet und die gesamte Umgebung von Qualm erfüllt waren. Im Osten entdeckte ich über einer nahe gelegenen Insel die aufgehende Sonne – eine blasse, unscheinbare Scheibe, der Sonne so wenig ähnlich, dass ein Nachbar sich laut fragte, ob das, was er sah, der Mond wäre. Eine ältere Dame, die ganz in der Nähe ihr Lager aufgeschlagen hatte, fühlte sich an den Himmel während des London Blitz erinnert. Vor uns lag die See fast gänzlich unbewegt unter schlierigem Dunst. Geräusche wurden auf seltsam fremde Weise übertragen, Licht wurde anders gebrochen als gewöhnlich. Die Vögel sangen nicht. Dieser Ort, friedvoll und fesselnd schön, an dem wir seit zwanzig Jahren zelteten, hatte sich über Nacht verwandelt. Ein von Feuer beschienenes Sargtuch hatte sich über die Insel, die Küste gelegt, und mit ihm eine schauderhafte, zähe Stille. Wir sollten bald erfahren, dass meilenweit entfernt überall im Regenwald Wildfeuer loderten. Sollte die Insel in Brand geraten, blieb als einziger Fluchtort das Meer. Ich betrachtete meine Frau und meine Kinder, schätzte unsere Situation ein und fragte mich, ob das wohl das Ende sein würde.

Vor ein paar Jahren bemerkte der Autor und Futurist William Gibson: »Die Zukunft ist schon da, sie ist nur noch nicht gerecht verteilt.«

Dem würde ich in aller Bescheidenheit hinzufügen, dass die »Zukunft« einen jeweils anderen Ausdruck findet, je nachdem, wo man lebt.

British Columbia erlitt 2017 die schlimmste Brandsaison seiner Geschichte. Genau wie das eine Hemisphäre entfernt liegende Chile. Europa erlebte im selben Jahr die Hitzewelle »Luzifer«, und mit ihr wurde jede Nation von Griechenland bis Grönland von Wildfeuern heimgesucht – ein Novum für den Kontinent. Unterdessen bescherte Hurricane Harvey dem Süden von Texas eintausend Liter Regen pro Quadratmeter.* Wie wir mittlerweile alle Jahr für Jahr feststellen, präsentiert sich der Klimawandel über eine breite Palette von Ausdrucksformen – von vernichtender Dürre über sintflutartigen Regen bis zu jahreszeituntypischen Temperaturen (Hitze und Kälte) und sich verstärkenden globalen Energien wie Gezeiten, Wind und Feuer. Einige Regionen, offenbar auch Nordeuropa, scheinen von den extremsten und zerstörerischsten Auswirkungen verschont zu bleiben. Die Bedrohung durch örtlich begrenzte Hochwasser und Sturmfluten wird dort – noch zumindest – als unmittelbarer empfunden als die durch erntevernichtende Dürren oder verheerende Wildfeuer. Daher mögen viele Leser:innen das in diesem Buch geschilderte extreme Brandverhalten wie ein weit abgelegenes Phänomen wahrnehmen, und ich hoffe zutiefst, dass es das bleibt! (Menschen in südeuropäischen Ländern dagegen wird die Beschreibung schmerzhaft vertraut erscheinen.) Fest steht jedoch, dass die Erwärmung von Böden und Wäldern unweigerlich auch in den dunklen, feuchten Wäldern Nordeuropas zu mehr Verdunstung führt. Überall auf der Welt bindet warme Luft mehr Feuchtigkeit als kalte Luft. Ein langsamer, schleichender Prozess sorgt dafür, dass vertraute Landschaften sich unter unseren Füßen fast unmerklich verändern – viele Nordamerikaner sind davon überrumpelt worden. Wenn Bäume und Brennstoffe in Wäldern austrocknen, mag das nicht immer sichtbar sein, aber es ist messbar. Wenden Sie sich an die Forsthydrolog:innen in Ihrer Region. England, ein für Nebel und Wolken bekanntes Land, hat 2022 die schlimmste Dürre seit 50 Jahren, das heißeste Jahr seit Aufzeichnungsbeginn vor 400 Jahren und den brandgefährlichsten Tag seit dem Zweiten Weltkrieg erlebt. Der Unterschied war natürlich, dass die brennenden Häuser, die den Feuerwehren mehr Arbeit bereiteten, als sie während drei Generationen zuvor gehabt hatten, durch hohe Temperaturen und Dürre verursacht wurden und nicht durch Brandbomben aus der Luft.

Zu den größten Nachteilen des Menschen angesichts der sich abspielenden Veränderungen zählt unser eingeschränktes Vorstellungsvermögen. Man kann durchaus behaupten, dass niemand im wohlhabenden, fortschrittlichen Fort McMurray sich hätte vorstellen können, dass die gesamte Stadt – die viertgrößte in der nordamerikanischen Subarktis – an jenem sonnigen Nachmittag im Mai von einem Wildfeuer überrollt werden würde. Aber in den kommenden Jahren und Jahrzehnten werden wir alle mit »unvorstellbaren« Dingen konfrontiert werden – mit nie zuvor erlebten Phänomenen. In Australien – einem für Brände berühmt-berüchtigten Land und Kontinent – hatte noch nie jemand einen Feuertornado erlebt, bis 2003 einer durch die Vororte von Canberra tobte. Auch auf der gesamten Nordhalbkugel hatte noch nie jemand einen Feuertornado erlebt, bis ein solcher die Einwohner von Redding in Kalifornien im Jahr 2018 aus ihrer Stadt trieb (in Teil 3 dieses Buchs schildere ich diese Ereignisse und ihre Auswirkungen in allen Einzelheiten).

Der Klimawandel verlangt, dass wir unser Blickfeld erweitern, an unserer Vorstellungskraft arbeiten und uns Realitäten stellen, die jenseits unseres Erfahrungsschatzes liegen: heftigere Regenfälle, reißendere Flutwellen, heißere Feuer, stärkere Winde und höhere Pegelstände an Orten, wo sie nie zuvor aufgetreten sind, wo wir sie nie zuvor erlebt haben. Wenn wir weiterhin ein stimmiges Dasein führen wollen, ist es unerlässlich, dass wir visionärer und zukunftsorientierter denken, planen, bauen und leben. Ich hoffe, deutschen Leser:innen eröffnet dieses Buch eine hilfreiche Sichtweise auf diesen Schlüsselmoment und vermittelt ihnen etwas von dem hart errungenen Wissen über die epochalen Veränderungen, die uns bevorstehen.

Zunächst jedoch danke ich Ihnen dafür, dass Sie sich für diese äußerst wichtigen Themen interessieren und dieses Buch lesen.

John Vaillant

Vancouver, British Columbia

*  Das entspricht der jährlichen durchschnittlichen Niederschlagsmenge in München.

TEIL EINS

ENTSTEHUNGSGESCHICHTEN

In der grossen Verkettung von Ursachen und Wirkungen darf kein Stoff, keine Thätigkeit isolirt betrachtet werden.[1]

Alexander von Humboldt

PROLOG

An einem heißen Nachmittag im Mai 2016, fünf Meilen außerhalb der jungen Ölsandstadt Fort McMurray, Alberta, fraß sich ein kleines Wildfeuer* flackernd und Sauerstoff zehrend mit rasanter Geschwindigkeit durch einen Mischwald, in dem es seit Jahrzehnten nicht gebrannt hatte. Dieses Feuer, das weiter abgelegen entstanden war als andere, hatte sich in den ersten Stunden seiner Existenz so verhalten wie die meisten von Menschen verursachten Wildfeuer: Es hatte sich vom Brandherd aus vorsichtig durch Gras, über Humusboden und totes Laub – sozusagen die Babynahrung eines Feuers – vorgearbeitet. Zusammen mit dem Wetter sollte dieses Brandgut darüber entscheiden, ob es sich zu einem schleichenden, bodennahen Schwelbrand entwickeln würde, dem Erstickungstod im schweren Tau einer kühlen und windstillen Frühlingsnacht geweiht, oder zu etwas Größerem, Dauerhafterem und Dynamischerem – einem Feuer, das die Nacht zum Tag und den Tag zur Nacht machen, das unkontrolliert und alles verschlingend die Welt seinem Willen unterwerfen könnte.

Es war erst der Beginn der Wildfeuer-Saison, doch die Wildfire Division des Ministry of Forestry and Agriculture von Alberta befand sich in Alarmbereitschaft. Als Rauch gesichtet wurde, rückten sofort Waldbrand-Crews aus, unterstützt von einem Hubschrauber und Löschflugzeugen. Die Einsatzkräfte waren schockiert von dem, was sie sahen: Als ein Hubschrauber mit einem Water Bucket, wie die Außenlastbehälter genannt werden, über das Feuer flog, war der Rauch bereits schwarz und brodelte, ein Zeichen für ungewöhnliche Intensität. Trotz des rechtzeitigen Eingreifens der Feuerwehrleute breitete sich das Feuer innerhalb von zwei Stunden von einem halben auf 60 Hektar aus. Normalerweise beruhigen sich Waldbrände über Nacht, weil sich die Luft abkühlt und der Tau fällt, aber bis zum Mittag des folgenden Tages hatte dieses Feuer bereits eine Fläche von fast 800 Hektar erfasst. Die rasche Ausbreitung des Feuers fiel mit einer Reihe gebrochener Temperaturrekorde in der nordamerikanischen Subarktis zusammen, wo am 3. Mai ein Höchstwert von 32 °C erreicht wurde, und das an einem Ort, an dem die Temperaturen normalerweise um die 16 °C liegen. An diesem Dienstag baute sich eine rauch- und windunterdrückende Inversion ab und der Wind wehte mit Stärke 6: Eine Bestie sprang über den Athabasca River.

Binnen Stunden wurde Fort McMurray von einer regionalen Apokalypse heimgesucht, die die ganze Stadt tagelang mit Feuerstürmen überzog. Unter einer gewaltigen Glutwolke, wie sie typischerweise über ausbrechenden Vulkanen zu finden ist, brannten ganze Stadtteile bis auf die Grundmauern nieder. Dieses vom Feuer regierte Wettersystem war so gewaltig und energiegeladen, dass es Winde in Orkanstärke erzeugte und Blitze, die noch viele Meilen entfernt weitere Brände entfachten. Fast 100 000 Menschen mussten fliehen – es wurde die größte und schnellste Evakuierung binnen eines Tages in der Geschichte neuzeitlicher Brände. Den gesamten Nachmittag über zeichneten Mobiltelefone und Dashcams auf, wie die Bürger fluchten, beteten und weinten, während sie versuchten, einer urplötzlich vernichtenden Welt zu entkommen, in der Hitzefäuste gegen die Fenster schlugen, es vom Himmel Feuer regnete und die Luft von tosenden Flammen erfüllt war. An diesem Tag gab es nur wenige Möglichkeiten: Es gab das Jetzt, und es gab das Nie.

Eine Woche später gemahnte der dem Feuer gezollte Tribut an die Verheerung durch eine Atomexplosion: Man hatte es nicht etwa mit Schäden zu tun, sondern mit totaler Zerstörung. Nachdem sie die Auswirkungen des Feuers inspiziert hatte, vermochte eine offizielle Sprecherin nur zu sagen: »Man kommt an eine Stelle, wo vorher ein Haus stand, und was sieht man? Nägel, die am Boden liegen. Haufenweise Nägel.«[1] Rund 2 400 Häuser und andere Gebäude wurden zerstört, Tausende weitere beschädigt, 6 000 Quadratkilometer Wald verbrannten. Als die ersten Fotos veröffentlicht wurden, hatte das Feuer bereits 100 Millionen Tonnen CO2 in die Atmosphäre ausgestoßen, größtenteils durch brennende Autos und Häuser. Das Feuer in Fort McMurray, das sich zur teuersten Naturkatastrophe in der Geschichte Kanadas entwickeln sollte, brannte nicht nur tage-, sondern monatelang weiter. Erst im August des folgenden Jahres wurde es für vollständig gelöscht erklärt.

Leben und Sterben von Waldbränden hängen vom Wetter ab, aber dem »Wetter« kommt nicht mehr dieselbe Bedeutung zu wie etwa 1990 oder noch vor zehn Jahren. Der Grund, warum das Fort-McMurray-Feuer im Mai 2016 weltweit in den Nachrichten auftauchte, waren nicht nur sein erschreckendes Ausmaß und seine Vehemenz, sondern auch die Tatsache, dass es ausgerechnet das Epizentrum der milliardenschweren kanadischen Erdölindustrie traf. Dieser Industriezweig und dieses Feuer sind brisanter Ausdruck zweier Trends, die in den letzten anderthalb Jahrhunderten im Gleichschritt auf dem Vormarsch sind. Zusammen verkörpern sie die überaus schnell wachsende Synergie aus fieberhafter Ausbeutung von Kohlenwasserstoffen um jeden Preis und dem entsprechenden Anstieg der wärmespeichernden Treibhausgase, der unsere Atmosphäre in Echtzeit verändert. Im Frühjahr 2016, dem heißesten Jahr des heißesten Jahrzehnts der Geschichte, präsentierte sich der Welt eine neue Art von Feuer.

»So was hat es noch nie gegeben«, sagte der erschöpfte und trauernde Chief der Feuerwehr von Fort McMurray im kanadischen Fernsehen. »Die Art und Weise, wie es entstanden ist, wie es sich fortbewegt hat, wie es sich verhalten hat – die Lehrbücher müssen umgeschrieben werden.«[2]

*  Der Begriff Wildfeuer (eng.: wildfire) beschreibt sog. Vegetationsbrände, ein Oberbegriff, zu dem Wald- und Flurbrände sowie Buschfeuer gezählt werden, die sich ggf. zu großen Flächenbränden auswachsen können.

1

Wenn im Wald ein Feuer brennt und niemand sieht es …

In Kanada ist diese Vorstellung nicht nur eine philosophische. Zehn Prozent der weltweiten Wälder liegen in diesem Land, und ausgedehnte Bereiche davon sind unbewohnt. Aber »ausgedehnt« ist eine untaugliche Beschreibung, wenn es um Kanada, seine Wälder oder seine Brände geht. Will man die Größe dieses Landes begreifen, sollte man sich in Great Falls, Montana, in ein Auto setzen und auf der I-15 nach Sweetgrass an der kanadischen Grenze fahren. In Coutts, Alberta, angekommen, stelle man den Kilometerzähler zurück und fahre gen Norden. Nun richte man sich am besten auf mehrere Tage hinterm Steuer ein. Mit den Rocky Mountains unmittelbar zur Linken führt diese Route am westlichen Rand der Prärie entlang durch Lethbridge, Calgary und Red Deer – Weizen- und Rinderland. Hat man die nördliche Metropole Edmonton einmal hinter sich gelassen, ist man mehr oder weniger allein auf der Straße, umgeben von weiter und karger subarktischer Prärie – Feldern, die gefroren oder nahezu überschwemmt sind und kaum als Viehweiden taugen.

Auf der Hauptstraße, die inzwischen nicht mehr breiter ist als der Weg durch ein Wohngebiet, ziehen Weiler mit nur einem blinkenden Licht und einer Tankstelle vorbei, und erst fünfzig Meilen weiter taucht der nächste auf. Östlich und westlich verlaufen Schotterstraßen bis zum Fluchtpunkt, und von Menschenhand geschaffene Bauwerke wirken jetzt immer sonderbarer: Hier steht eine schulhausgroße ukrainische Kirche mit ihrer blechernen Zwiebelkuppel allein in einer windumtosten Einsamkeit, die so tief ist, dass sie an die russische Steppe erinnert. Dort stürzt eine Scheune asymmetrisch unter dem Gewicht von hundert schweren Jahren ein, die sie zur Hälfte in der geballten Faust des Winters verbracht hat, während die Menschen längst fort waren. Weiter geht es zu einem vier Hektar großen See, der so verblüffend blau ist, dass Reflexion, selbst die des Himmels von Alberta, als Erklärung nicht ausreicht. Irgendwo auf dem Weg überquert man eine unsichtbare Grenze, hinter der die Hirsche den Elchen, die Krähen den Raben und die Kojoten den Wölfen weichen. In North Star werden die weiten, offenen Flächen, für die Alberta berühmt ist, von niedrigen Mischwäldern und Moorlandschaften abgelöst, die stark an Sibirien erinnern. Legt man in einem einsamen Ort namens Indian Cabins schließlich eine Kaffeepause ein, ist bereits der nächste Tag angebrochen und man hat mittlerweile fast 1 000 Meilen zurückgelegt. Und noch immer befindet man sich in der Provinz Alberta.

Hier oben in der landumschlossenen Subarktis scheinen die Dinge überdimensionale Ausmaße anzunehmen: Seen können von der Größe her mit Binnenmeeren konkurrieren und die darin lebenden Forellen an die 50 Kilo wiegen; große Wildtiere, darunter die größte Bison-Art des Kontinents, sind zahlreicher vertreten als Menschen. Im Wood Buffalo National Park, dem zweitgrößten Nationalpark der Welt, stößt man auf den größten bekannten Biberdamm der Welt. Der 2007 mithilfe eines Satelliten entdeckte Damm ist mehr als doppelt so lang wie der Hoover-Damm und scheint noch zu wachsen. Im Jahr 2010 machte sich ein abenteuerlustiger Mann namens Rob Mark aus New Jersey auf, ihn zu besuchen. Er war angeblich der erste Mensch, dem dies gelang, aber es war ein schwieriges Unterfangen. »Das Laub ist so dicht«, berichtete Mark der CBC, »dass man nicht sehr weit sehen kann … und im Sumpfland, das folgt, fällt das Gehen unheimlich schwer. Schließlich steckt man total im Morast.« Das erklärt, warum sich in den wärmeren Monaten so wenige Fremde hierher verirren und warum der Winter die bevorzugte Jahreszeit für Überlandfahrten ist. »Die Moskitos«, ergänzte Mark, »sind die reine Pest.«[1]

Eine Ausnahme vom allgemeinen Gigantismus bilden die Bäume, die selten höher als zwanzig Meter oder älter als hundert Jahre sind. Diese Wälder, eine wechselnde Mischung aus Kiefern, Fichten, Espen, Pappeln und Birken, sind als boreale Wälder bekannt, und was ihnen an individueller Größe fehlen mag, machen sie durch ihre schiere Anzahl wieder wett. Der boreale Wald, der die nördliche Hemisphäre in einem zirkumpolaren Band umgibt, ist das größte terrestrische Ökosystem und umfasst fast ein Drittel der gesamten Waldfläche der Erde (mehr als fünfzehn Millionen Quadratkilometer – eine Fläche, die größer ist als alle fünfzig US-Bundesstaaten zusammen).[2] Ein volles Drittel Kanadas ist von borealen Wäldern bedeckt, dazu zählt die Hälfte Albertas. Weiter westlich, über die Rocky Mountains, durch British Columbia, den Yukon, Alaska und über die Beringstraße nach Russland (wo er als Taiga bekannt ist), erstreckt sich der boreale Wald bis nach Skandinavien. Unbeeindruckt vom Atlantischen Ozean, erobert er Teile Islands, bevor er in Neufundland erneut Fuß fasst und sich westwärts fortsetzt, um den Kreis zu vollenden: ein grüner Kranz, der den Globus krönt.

So dicht die borealen Wälder vom Straßenrand aus auch erscheinen mögen, in ihrem Inneren erstrecken sich Feuchtgebiete mit mehr Süßwasserquellen als in jedem anderen Biom. In diesem Sinne ähnelt der boreale Wald einer Art hemisphärischem Schwamm, der von Bäumen bedeckt ist, deren Milliarden Kilometer lange Wurzeln die Kontinente in einem unterirdischen Gewebe aus Kett- und Schussfäden miteinander verbinden. Wenngleich nicht so eindeutig als Gewässer erkennbar wie Floridas Everglades, erfüllen die zahllosen Seen, Teiche, Moore, Flüsse und Bäche der borealen Zone doch eine ähnliche Funktion: Sie sammeln, speichern, filtern und spülen frisches Wasser. Milliarden von Vögeln, die Hunderte von Arten repräsentieren, leben in diesem Ökosystem und durchwandern es.

Ein Grund, warum die Bäume nie sehr groß oder sehr alt werden, liegt darin, dass sie trotz des vielen Wassers regelmäßig abbrennen. Dazu sind sie bestimmt. So gesehen ist die boreale Waldlandschaft ein Phönix unter den Ökosystemen: Sie wird buchstäblich im Feuer wiedergeboren und muss verbrennen, um sich zu regenerieren. Das tut sie auf zufällige, patchworkähnliche Art alle fünfzig bis hundert Jahre. Dieser kolossale Lebensraum speichert ebenso viel, wenn nicht sogar mehr Kohlenstoff als alle tropischen Wälder zusammen, und wenn er brennt, explodiert er wie eine Kohlenstoffbombe. Das nordamerikanische Epizentrum dieser stratosphärischen Explosionen liegt in Nord-Alberta. Aus diesem Grund steht jede Stadt hier oben, ob groß oder klein, vor demselben Dilemma: Wo die Häuser aufhören, beginnt der Wald. Dort gibt es Bären, Wölfe, Elche und sogar Bisons, aber das Gefährlichste, das in diesen Wäldern lauert, ist Feuer. Unter den richtigen Bedingungen kann ein großes boreales Feuer wüten wie ein Weltuntergang, brüllend und unaufhaltsam. Diese Brände können Tausende von Quadratkilometern Wald samt allem, was sich darin befindet, in Flammen aufgehen lassen und sind nicht zu kontrollieren.

Der Chinchaga-Brand von 1950, das größte jemals in Nordamerika verzeichnete Feuer, trieb sein Unwesen fast im Verborgenen und wurde nur von einer Handvoll Menschen wahrgenommen. Er brach im Juni desselben Jahres an der Grenze zwischen British Columbia und Alberta aus und fraß sich mehr als vier Monate lang in östlicher Richtung durch Nord-Alberta. Dabei wurden etwa 1,6 Millionen Hektar (16 000 Quadratkilometer) Wald in Mitleidenschaft gezogen. (Diese Fläche ist etwa halb so groß wie Belgien.) Das Feuer erzeugte eine Rauchwolke, die so riesig war, dass sie an ein Sargtuch erinnerte und als »The Great Smoke Pall of 1950« bekannt wurde.[3] Sie stieg bis zu vierzigtausend Fuß in die Atmosphäre auf.[4] Ihr kolossaler Kernschatten senkte die Durchschnittstemperaturen um mehrere Grad und veranlasste Vögel, sich mittags zum Schlafen niederzulassen. Auf ihrem Weg um die nördliche Hemisphäre verursachte sie seltsame visuelle Effekte – so gab es zum Beispiel unzählige Berichte über lavendelfarbene Sonnen und blaue Monde.[5] Vor dem Chinchaga-Brand war über Effekte in diesem Ausmaß zuletzt nach dem Ausbruch des Krakatoa im Jahr 1883 berichtet worden.[6] Carl Sagan zeigte sich von den Auswirkungen des Chinchaga-Brands so beeindruckt, dass er fragte, ob sie denen eines nuklearen Winters ähneln könnten.[7]

◆ ◆ ◆

Die National Oceanic and Atmospheric Administration (NOAA) gibt in Zusammenarbeit mit Brandforschern aus Kanada und Mexiko jedes Jahr ein Dokument mit dem Titel North American Seasonal Fire Assessment and Outlook heraus, in dem sie die Wahrscheinlichkeit von Wildfeuern auf dem gesamten Kontinent vorherzusagen versucht. Dieser Outlook enthält für jeden Monat der Brandsaison Karten, die farblich gekennzeichnet sind, wobei Rot die Wahrscheinlichkeit einer erhöhten Feueraktivität und Grün die eines Rückgangs anzeigt.[8] Wie schon 2015 zeigten die Monatsdarstellungen für 2016 viel mehr Rot als Grün, und die Karte für Mai zeigte mehr Rot als alle anderen: Zusätzlich zu großen Teilen Mexikos, des Mittleren Westens der USA und ganz Hawaii bedeckte Rot einen Großteil des südlichen Kanadas – von den Großen Seen bis zu den Rocky Mountains. Es handelte sich um ein riesiges Gebiet, das den größten Teil der aktiven Erdölfelder in Alberta umfasste. In der Mitte dieser heißen Zone, umgeben von Wald, lag Fort McMurray.

Fort McMurray ist in Nordamerika eine Anomalie. Knapp eintausend Kilometer nördlich der US-Grenze und eintausend Kilometer südlich des Polarkreises gelegen, ist die Stadt eine Insel der Industrie in einem Meer von Bäumen. Ohne die Verlockung des Erdöls würde dieser Teil von Alberta noch mehr an Sibirien erinnern, als er es ohnehin schon tut: dünn besiedelt, mit Flüssen, die sich wie Kompassnadeln zum Nordpolarmeer ausrichten, umstanden von niedrigen, kurzlebigen und brandgefährdeten Bäumen. In dieser Region von der Größe Kentuckys gibt es nur zehn permanente Siedlungen, und nur eine davon zählt mehr als 1 500 Einwohner:innen. Im Jahr 2016 lebten in Fort McMurray und seinen Satellitengemeinden fast 90 000 Menschen in 25 000 Häusern und Gebäuden – in Mobilheimen und Eigentumswohnungen ebenso wie in Protzbauten und Hochhausapartments aus Beton. Das »städtische Versorgungsgebiet« – das Gebiet, für das Müllabfuhr und Feuerwehr zuständig sind – umfasst fast 70 Quadratkilometer eines von Bächen und Schluchten durchzogenen Geländes, das zusätzlich durch zwei große Flüsse und zwei Nebenflüsse zerklüftet wird. Zusammen umgeben und umschlingen sie die Stadt wie die sich windenden Arme einer Krake.

In der Umgebung verstreut lebten zeitweilig rund 50 000 Arbeiter:innen in »Man Camps«. Ihre Zahl schwankte mit dem Rohölpreis, dem Entwicklungstempo und den Wartungszyklen in den Verarbeitungsanlagen. Wie ein langjähriger Einwohner es ausdrückte: »Wir sind nur eine Kolonie der Ölgesellschaften.«[9] Kanada ist der viertgrößte Ölproduzent der Welt und der drittgrößte Exporteur. Fast die Hälfte aller amerikanischen Ölimporte kommen von dort: etwa vier Millionen Barrel pro Tag, die Frachtkapazität eines Ultra-Large-Crude-Carrier-Schiffs.[10] Fast 90 Prozent dieser riesigen Menge stammen aus Fort McMurray.[11]

Fort McMurray, ein Ort, der außerhalb Kanadas und der Erdölindustrie praktisch unbekannt ist, hat sich in den letzten beiden Jahrzehnten zur viertgrößten Stadt in der nordamerikanischen Subarktis entwickelt – nach Edmonton, Anchorage und Fairbanks. Gemessen an geleisteten Überstunden und verdienten Dollars ist sie zweifelsohne die Verwaltungseinheit des Kontinents, in der am härtesten gearbeitet und am besten bezahlt wird. Im Jahr 2016, zwei Jahre nach einem Boom, der etwa eine Dekade andauerte und mit dem plötzlichen Rückgang der weltweiten Rohölpreise endete, lag das durchschnittliche Haushaltseinkommen immer noch bei fast 200 000 US-Dollar pro Jahr.[12] Fort McMurray hat sich im Laufe der Jahre mehrere Spitznamen erworben, einer davon ist Fort McMoney.

Der 3. Mai begann für jeden anders, doch in Fort McMurray endete er für alle gleich. Für Shandra Linder fing er mit einem Frühlingsritual an. Linder war Labor Relations Adviser bei Syncrude (ein Kunstwort aus »synthetic crude oil« – synthetisches Rohöl), einer der Hauptstützen der lokalen Wirtschaft dort oben. Shandra Linders Ehemann Corey, Ingenieur, war ebenfalls dort beschäftigt, genau wie viele ihrer Freunde. Beide Linders arbeiteten in der Hauptniederlassung im Mildred Lake Komplex, eine halbe Autostunde nördlich der Stadt. 2016 lebte Shandra Linder seit fast zwanzig Jahren in »Fort Mac«: blonder Pixie-Haarschnitt, fit, warmherzig, eine Frau, die sich nicht zum Narren halten lässt. Kennt man sie und ihre Arbeit erst einmal, leuchtet es ein, aber bis es so weit ist, mag es überraschen, an einem so abgelegenen, industrieorientierten, testosteronlastigen Ort einer so gepflegten – und weiblichen – Person zu begegnen. Auf der Site (Sammelbegriff für alle Abbauflächen oder anderen Arbeitsplätze, die mit Erdöl zu tun haben) liegt das Verhältnis zwischen Männern und Frauen bei etwa 25 zu 1. Für die Arbeit kleidet sich Linder angemessen: minimales Make-up, hoher Kragen, dunkle Hose, keine Absätze – geeignete Kleidung, um in Trucks und SUVs zu klettern und wieder auszusteigen und sich in der Welt arbeitender Männer zu behaupten. Linder strahlt ruhige Zuversicht aus, was zum Teil daran liegt, dass ein Vollzeitjob bei Syncrude oder seinem größeren Pendant Suncor den dort Beschäftigten den Mittelschichtstatus verleiht. Die Arbeit für diese Unternehmen ist das boreale Äquivalent zur Arbeit für Exxon oder Shell, und diese Auszeichnung wirkt wie ein Pheromon. Wie ein Insider es ausdrückte: »Ich bin Syncrude und du nicht.«[13] Handwerker:innen und Maschinenführer:innen tragen ihre Firmenabzeichen wie Vereinsfarben – sogar in den Bars, wo sie sich während des letzten Booms vor den verfügbaren Frauen mit ihren Insignien aufplusterten. Vergleichbar mit der Platin-Karte eines Börsenmaklers kommuniziert ein Firmenabzeichen – nach außen sichtbar getragen – auf den ersten Blick Bände: sechsstelliges Gehalt, fünfstelliger Truck, vierstelliges Partybudget, marktgängige Fähigkeiten. Doch das Unternehmen – auch bekannt als »The Owner« oder »Mother Syncrude« – verlangt hohe Gegenleistungen: Wie an der Wall Street oder im Silicon Valley gehören Überstunden und Wochenendarbeit selbstverständlich zum Job dazu. Aber genau da liegt das Geld: In Fort McMurray sind die Überstunden die besten Stunden.

Shandra Linder hatte die Rauchwolke südwestlich der Stadt bereits gesehen, denn jeder hatte sie gesehen. Seit Tagen war sie schon da gewesen, hatte sich am Sonntagnachmittag wie ein windgepeitschter Ballon aus wogenden Grau- und Brauntönen am Horizont aus dem Wald gewölbt und schien sich immer weiter auszudehnen. Sie war seitdem gewachsen, aber noch meilenweit entfernt, und sie war nicht die einzige. Am Wochenende hatten die Linders Freunde zu Gast gehabt, die man wegen eines anderen Brands in der Nähe des neuen Stonecreek-Bauprojekts nördlich der Innenstadt evakuiert hatte. Fast vergnügt saßen sie am Sonntag, dem 1. Mai, mit ihnen auf ihrer Terrasse in Timberlea, einem der vielen Viertel auf den Hügeln nördlich und westlich des Stadtzentrums, und tranken Cocktails. Die Drinks in den Händen, fotografierten sie die große Wolke, die über dem Fluss aufstieg, ganz so, als würden sie einen Sonnenuntergang oder Regenbogen verewigen. Sie aßen Hühnchen und Reis, es wurde feuchtfröhlich – das Leben war schön in Fort McMurray. Die Freunde fuhren am nächsten Tag nach Hause.

Die Forestry Division hatte sich eingeschaltet: Feuerwehrleute bekämpften das Feuer am Boden, Löschflugzeuge aus der Luft. Nach Einschätzung der Linders und ihrer Gäste wurde getan, was immer zu tun war. Eben das zeichnet die Menschen in Fort McMurray aus: Sie nehmen die Dinge selbst in die Hand. Es gibt nicht viele Regionen, in denen die Selbstselektion so rigoros vonstattengeht wie in Nord-Alberta. Fort McMurray wählt sich seine Arbeiter selbst aus – zähe und einsatzfreudige Teamplayer, die hoch motiviert sind, alles Nötige zu tun und damit Erfolg zu haben. Das gilt auch für die Bekämpfer:innen von Wildfeuern: Die Crews von Alberta Forestry, deren Einsatzgebiet von der Hochgrasprärie und den Parklandschaften bis zu den Rocky Mountains und den borealen Wäldern reicht, zählen zu den besten der Welt. Einige Männer halten sich überdies heimlich für die Besten der Besten. Sicher, Anfang Mai war es noch zu früh für Wildfeuer – an den Flussufern lagen noch Eisblöcke groß wie Autos, und einige örtliche Seen waren noch nicht aufgetaut, aber das war nichts Ungewöhnliches. In jedem Frühling und Sommer verdunkeln Brände den Horizont; Rauch gehört hier oben zur borealen Landschaft. Wie Shandra und Corey Linder praktisch im Chor sagten: »Das gibt es jedes Jahr.«[14]

Womit sie eigentlich recht hatten. Eigentlich.

◆ ◆ ◆

In Bereichen des Waldes, die außerhalb der Sichtweite lagen, veränderten sich die Dinge. Die Winter hatten seit zwei Jahren unterdurchschnittlich wenig Schnee gebracht, und obwohl im Norden immer noch Vorfrühling herrschte, knisterten und knackten unter den Füßen Blätter und Tannenzapfen wie sonst nur im Spätsommer. In Anbetracht dieser Umstände, der ungewöhnlichen Hitze und der Tatsache, dass an diesem Wochenende in der Umgebung der Stadt fünf verschiedene Wildfeuer ausbrachen, ist nur schwer zu fassen, wie unbekümmert die Bürger von Fort McMurray wirkten. Wäre man jedoch wie Shandra Linder am 3. Mai im Morgengrauen aufgestanden und hätte den Himmel so frisch und klar und voller sommerlicher Verheißung gesehen wie sie, könnte man es vielleicht nachvollziehen. Dieser Morgen war selbst für den Norden Albertas so außergewöhnlich schön, dass Linder nach ihrer alltäglichen Routine – Spaziergang mit dem Hund, E-Mails mit Kaffee und Zigarette, gefolgt von einer Dusche – etwas tat, was sie schon lange nicht mehr getan hatte: Sie holte ihr marineblaues Kostüm heraus, wählte Schuhe mit mittelhohen Absätzen und ließ ihre Socken in der Schublade. So gekleidet machte sie sich auf den Weg zur Arbeit in der Syncrude-Zentrale in Mildred Lake. In der Garage standen ein paar Fahrzeuge zur Auswahl, und passend zu Outfit und Stimmung entschied sich Linder für den Wagen, den sie »den Kleinen« nennt – einen schwarzen Porsche, der seit sechs Monaten kein Tageslicht gesehen hatte. Die Winter in Fort McMurray sind lang und dunkel, aber dieser war vorbei, der Frühling war da, und Linder fühlte sich so schön und hoffnungsvoll wie der Tag.

Sie hatte viel Gesellschaft – in den letzten Wochen waren auch ihre Nachbarn zum Leben erwacht und aufgeblüht wie die Frühlingsblumen, die in diesem Jahr schon Wochen früher Knospen gebildet hatten. Mäntel und Stiefel, die man seit Oktober wie eine zweite Haut getragen hatte, wurden verstaut und die Gärten nach einem halben Jahr der Vernachlässigung aufgeräumt. Die Garagen Fort McMurrays, in denen sich das gesellige Leben zwischen Werkzeugbänken, Bierkühlschränken, Quads und diversen laufenden Heimwerkerprojekten abspielt, öffneten ihre Tore, um Luft, Sonne und Gäste hineinzulassen. An der Bushaltestelle lächelten die Menschen vor sich hin, die Gesichter himmelwärts gerichtet, und genossen das lange vermisste Gefühl warmen Sonnenscheins auf der Haut.

2

Es ist nur natürlich, dass die Idee der Erschließung von bituminösem Sand auf Skepsis stößt.

Sie entspricht nicht der etablierten Ordnung der Dinge.[1]

Karl A. Clark, The Bituminous Sands of Alberta, 1929

Um Alberta zu verstehen, muss man die Kraft der Sonne und des Himmels begreifen, die hier einen unverhältnismäßig großen Raum einzunehmen scheinen. Es gibt nicht viele Orte, an denen man in einem Zeitraum von nur zwölf Stunden nicht nur das Nordlicht in voller Pracht sehen kann, sondern auch einen Regenbogen, der so groß und lebendig ist, dass alle sieben Farben in konzentrischen Neonbögen zu vibrieren scheinen – jedes Farbband deutlich abgegrenzt vom nächsten. Das Land ist so weit und offen und der Himmel so klar und übermächtig, dass man stundenlang von diesen Naturphänomenen begleitet wird, selbst wenn man mit Highway-Geschwindigkeit unterwegs ist.

Alberta liegt nördlich von Montana und südlich der Nordwest-territorien; es ist ungefähr so groß wie der US-Bundesstaat Texas, mit dem es viel gemeinsam hat. Wie Texas ist Alberta eine Art Energie-Vortex: Neben weiten Landstrichen und einer patriotischen Verbundenheit mit der Erdölindustrie teilt es mit seinem US-amerikanischen Pendant die schmerzvolle Vertrautheit mit Naturkatastrophen wie Tornados, Hagelstürmen, Überschwemmungen und Bränden. Als eine Provinz hart arbeitender Menschen, unabhängig im Denken, blickt Alberta stolz auf ein mythisches Erbe, das sich um Rinder, Pferde, Cowboys und Öl rankt. Zusätzliche Energie schöpfen die Einwohner:innen aus einem tief verwurzelten Tatendrang, dem evangelikalen Christentum und der zänkischen Distanzierung von der Hauptstadt Ottawa. Wie sehr sich Alberta von der Bundesregierung entfremdet hat, zeigt eine Schneeskulptur, die während des Winterfestivals der University of Alberta im Jahr 1981 auf dem Campus errichtet wurde: Als Reaktion auf den Plan des damaligen Premierministers Pierre Trudeau, die Öleinnahmen Albertas mit weniger wohlhabenden Provinzen zu teilen, wurde Trudeau dargestellt, wie er knieend an einem Bohrturm saugt, der aus dem Schritt des Premierministers von Alberta ragt. Vor diesem provokativen Tableau stand, ebenfalls in Schnee gemeißelt, der Titel: TRUDEAUWILLJEDENTROPFEN.[2]

Aber nicht so sehr wie Alberta. Die beiden Männer mögen in Vergessenheit geraten sein, doch der Unmut lebt weiter, und die Zahl der Öl- und Gasbohrungen in Alberta ist in die Hunderttausende gestiegen.[3] Um jeden Tropfen aufzuspüren, hat man kreuz und quer durch die Provinz Hilfslinien gezogen, die der seismischen Erkundung dienen. Heute verlaufen sie von Horizont zu Horizont, wie Meridiane auf einer Weltkugel. Diese scheinbar zufälligen Wege ins Nirgendwo, die von Geolog:innen gegraben und gesprengt wurden, um das darunterliegende Mineral- und Kohlenwasserstoffpotenzial zu analysieren, werden nur von Flüssen, Biberdämmen und gelegentlich von Straßen, Testgruben oder Bohrstellen durchbrochen. An einigen Stellen, auch in der Umgebung von Fort McMurray, ist die Landschaft durch diese mit Bulldozern geschaffenen Korridore so stark schraffiert, dass der Wald aus der Luft aussieht wie eine terraformierte Waffel. Diese Gitterwerke werden in schrägen Winkeln von künstlich angelegten Öl- und Gasflüssen in Form von Pipelines durchschnitten, die ebenfalls der Erdkrümmung folgen, für niemanden sichtbar und quer über den Kontinent. Alle Pipelines Albertas aneinandergereiht könnten die Entfernung zwischen Fort McMurray und dem Mond überbrücken und zusätzlich dem Äquator einmal um die Erde folgen.[4] Einige dieser Pipelines haben einen Durchmesser von einem Meter zwanzig, und ein Großteil des Erdöls, das durch sie fließt, wird mit unkonventionellen Methoden wie Fracking, dampfgestützter Schwerkraftdrainage und Tagebau gewonnen.

Fort McMurray spielt bei dem Vorhaben, »jeden Tropfen aufzuspüren«, eine zentrale Rolle und gilt in diesem Zusammenhang als »one-industry«-Stadt. Bei dieser einen Industrie geht es um die Gewinnung und Aufbereitung von Bitumen sowie um dessen Transport. Ohne den Wert von Bitumen und seine vorläufige Stellung in der Hierarchie der fossilen Brennstoffe zu kennen, lässt sich das Phänomen Fort McMurray nicht verstehen. Bitumen ist eine Art degenerierter Cousin des Rohöls, besser bekannt als Teer oder Asphalt. In der Umgebung von Fort McMurray, direkt unter dem Waldboden, befindet sich ein Bitumenvorkommen von der Größe des Staates New York. Manchmal als der Alberta-Teersand oder die Ölsände bezeichnet, lagert hier einer der größten bekannten Erdölvorräte der Welt. Hinsichtlich der potenziellen Fördermenge steht er in einer Reihe mit Saudi-Arabien, Venezuela und dem Iran. Doch so reichhaltig die Vorkommen auch sind, es gibt einen Haken: Es ist kein Öl. Genau genommen ist es nicht einmal Bitumen, sondern das, was Geolog:innen bituminösen Sand nennen. Bituminöser Sand verhält sich zu einem Fass Öl wie ein in Melasse getränkter Sandkasten zu einer Flasche Rum. Selbst wenn man ihn aus dem Boden gegraben und von seiner körnigen Matrix getrennt hat, ist man einer brauchbaren Energieform nicht näher gekommen. Es handelt sich immer noch nur um Bitumen: hervorragend geeignet zum Teeren von Dächern und Pflastern von Straßen, aber so unbrennbar, dass sich damit ein Lagerfeuer ersticken lässt.

In Alberta nutzt die Industrie fossiler Brennstoffe mehr als 300 000 Pipelines.  ©  David Carruthers/PlanLab Ltd.

Obwohl man am Athabasca River durchaus Vorkommen von reinem Bitumen findet, kommt es überwiegend als Mineralaggregat vor, vergleichbar mit dem Material, aus dem die Notfallspuren abschüssiger Straßen gebaut werden. Dem Oil Sands Magazine zufolge enthält eine typische Ölsandablagerung »etwa 10 % Bitumen, 5 % Wasser und 85 % Feststoffe«.[5] Diese Feststoffe bestehen hauptsächlich aus Quarzit, einem der härtesten Mineralien der Welt. Für Maschinen, Schaufeln, Kipplaster und Pipelines bedeutet Quarzitsand außerordentlich hohen Verschleiß, für Lkw-Lackierungen oder Küchenböden ist er die Hölle. Der Abbau, das Trennen und die anschließende »Aufbereitung« dieser pflasterähnlichen Substanz erfordern Elemente des Tagebaus, der Gesteinszerkleinerung und der Dampfreinigung – das petrochemische Äquivalent zum Auspressen von Blut aus Steinen. Aus diesem Grund kann man die Erdölindustrie in Nord-Alberta nicht mit derjenigen in Texas, Saudi-Arabien oder einem anderen Ort an der Küste oder im Meer vergleichen, an dem Erdöl mit konventionellen Methoden aus der Erde geholt wird.

Ein Bitumenfeld ist kein Ort, an dem man Kinder spielen lassen würde, aber es wird mit Kippern, Lastern und Bulldozern ausgehoben, die so manchen Vierjährigen an sein Spielzeug erinnern dürften – und auch der Eifer bei deren Einsatz hat Sandkastenqualitäten. Um an das Bitumen heranzukommen, muss zunächst der darüberliegende Wald entfernt werden. Im Fachjargon heißt dieses lebende Material »Abraum«, und die Maschine, mit der es abgetragen wird, ist ein Bulldozer Modell Caterpillar D-11. Der D-11 wiegt mehr als hundert Tonnen und seine Schaufel ist zwei Meter breit; er kann einen Wald umpflügen, als würde er einen Rasen mähen, was auch den Dimensionen hier oben entspricht. Gleich daneben arbeitet der Komatsu D575, eine noch größere Maschine. Sobald der Wald abgetragen ist, graben riesige Schaufeln den bituminösen Sand in findlingsgroßen Brocken aus, die bis zu 100 Tonnen wiegen können und schon mal komplette Dinosaurierfossilien aus der Kreidezeit enthalten. Die garagengroßen Ladungen werden in einen »Hauler« des Typs Caterpillar T-797 gekippt, einen der größten Muldenkipper der Welt. Er ist drei Stockwerke hoch und wiegt unbeladen 400 Tonnen. Auf den Abbauflächen nördlich von Fort McMurray sind Hunderte Maschinen dieser Art im Einsatz. Weil viel zu groß für normale Highways, müssen sie in mehreren Teilen in den Norden transportiert werden. Zwölf überdimensionale Sattelschlepper mit Eskorte sind nötig, um die Teile eines einzigen Haulers zu transportieren. Allein die Reifen sind knapp vier Meter hoch und kosten 65 000 Dollar pro Stück. Fängt einer von ihnen Feuer – was aufgrund der enormen Reibung, die die Ladung erzeugt, häufiger vorkommt, als man vermuten würde –, muss er aus sicherer Entfernung mit einem Gewehrschuss plattgemacht werden. Sollte einer dieser sechs Tonnen schweren Reifen explodieren, kämen die Schäden in der Umgebung denen einer gewaltigen Bombe gleich. Die Aufgabe des Haulers besteht darin, den bituminösen Rohsand zum »Brecher« zu befördern, einer Art mechanischem schwarzem Loch, in dem sich zwei gigantische Stachelwalzen kontinuierlich gegeneinander drehen. Um die unerbittliche Gefräßigkeit dieses Geräts zu verdeutlichen, erklärte mir ein Mitarbeiter, dass ein Brecher »einen Stadtbus in nur drei Sekunden verschlingen kann«.[6]

Abbaufläche nördlich von Fort McMurray: »Hauler« bei der Arbeit.  ©  Andrew Wright

Das Terrain, das derzeit von diesen Ungetümen geschleift wird, ist eine gefrorene Todeswelt, wie man sie durch die Augen von Sebastião Salgado, Edward Burtynsky oder J. M. W. Turner sehen kann: Meile um Meile schwarzer, verwüsteter Erde mit stadionverschlingenden Gruben und toten, verfärbten Seen, bewacht von Vogelscheuchen in aussortierter Regenkleidung und beaufsichtigt von flammenden Schornsteinen und rauchenden Raffinerien, das Ganze zusammengehalten durch Labyrinthe aus unbefestigten Straßen und Rohrleitungen, patrouilliert von gebäudegroßen Maschinen, die, so riesig sie auch sind, in der von ihnen geschaffenen Ödnis wie Zwerge wirken. Allein die Absetzbecken erstrecken sich über eine Fläche von mehr als zweihundertfünfzig Quadratkilometern und enthalten mehr als eine Viertelbillion Gallonen kontaminiertes Wasser und Abwasser aus dem Bitumenveredelungsprozess.[7] Dieser giftige Schlamm kann nirgendwo anders hingelangen als in den Boden, in die Luft oder, sollte einer der gewaltigen Erddämme brechen, in den Athabasca River. Selbst Menschen, die für gutes Geld in diesen Tagebauen arbeiten, vergleichen sie mit Mordor, Tolkiens Dunkelland. In der Nähe der Aufbereitungsanlage von Syncrude gruppieren sich wie in einem antiken Tempelkomplex leuchtend gelbe Türme aus massivem Schwefel, die größer sind als die Pyramiden von Gizeh. Selbst diese überragt aber der zweihundert Meter hohe Schornstein von Syncrude; auch bei Suncor, nur ein paar Meilen entfernt, findet man einen solchen Schlot. Im Jahr 2016 waren diese himmelhohen, feuerspeienden Schattenwerfer die höchsten von Menschenhand geschaffenen Objekte im Umkreis von tausend Meilen.[8]

Angesichts dieser Größenordnung werden Menschen unsichtbar.

Die meisten von uns wissen nicht, was es bedeutet, dass all dies – Mensch und Maschine gleichermaßen – das ganze Jahr über, vierundzwanzig Stunden am Tag zu funktionieren hat, und das bei Temperaturschwankungen, wie sie extremer auf der Welt kaum vorkommen. Unbehandelter Dieselkraftstoff beginnt bei –10 °C zu gelieren, und Bulldozer-Schilde können bei –37 °C zerbrechen, aber in Fort McMurray herrschen in jedem Winter Temperaturen deutlich unter –40 °C, und es wurden sogar schon Tiefstwerte von unter –50 °C gemessen. Die Tankfahrzeuge der Feuerwehr sind beheizt, damit das Löschwasser auf dem Weg zu einem Einsatz nicht gefriert. Gleichzeitig werden im Sommer regional immer häufiger Höchsttemperaturen von über 32 °C verzeichnet. Solche Extreme sind äußerst belastend, nicht nur für Metalle, sondern auch für Hydraulikschläuche, geschmierte Getriebe und alle Flüssigkeiten, die mit gleichbleibender Viskosität fließen müssen. Besonders hart sind diese Bedingungen natürlich für die Menschen: In jedem Werk gibt es Special Crews, die nichts anderes tun, als Gerüste zu bauen, oft im Freien und bei jedem Wetter. Bei einer Windgeschwindigkeit von fünf Knoten fühlen sich –30 °C, im Winter nichts Ungewöhnliches, wie –40 °C an, eine Temperatur, bei der freiliegende Haut und Augäpfel binnen Minuten gefrieren. Die Schichten dauern in der Regel zehn bis zwölf Stunden, und im Winter zeigt sich die Sonne nur sieben Stunden am Tag; selbst mittags schmollt sie am Horizont und spendet keine nennenswerte Wärme.

Dennoch: Wenn ein steifer Nordwind den Rauch von den Koker-Anlagen flussaufwärts in die Stadt trägt, beschweren sich nur wenige. Die meisten schnuppern und sagen: »Riecht nach Geld.«

◆ ◆ ◆

Die Regierung von Alberta hat schon immer eng mit der Industrie fossiler Brennstoffe zusammengearbeitet, und zwar so eng, dass sich gelegentlich die Frage stellt, wo die eine Seite aufhört und die andere anfängt. Gemeinsam bemühen sie sich seit rund hundert Jahren, eine Marke für all das Potenzial zu finden, das direkt unter dem Waldboden liegt. »Nature’s Supreme Gift to Industry«, das größte Geschenk der Natur an die Industrie, wurde in den 1920er-Jahren propagiert, konnte sich aber nicht durchsetzen.[9] Ein weiterer lohnenswerter Versuch war die »Magic Sand-Pile«-Kampagne.[10] Die Werbung richtete sich an US-amerikanische Investoren und Erfinder und wurde 1932 geschaltet, als der Slogan der jungen, dünn besiedelten Provinz lautete: »Alberta hat, was Ihr Unternehmen braucht!« (Niedrige Steuern, großzügige Subventionen und minimale behördliche Aufsicht – Verlockungen, die heute als »Alberta Advantage« bekannt sind). Der Werbetext liest sich wie ein Aufruf an industrielle Siedler.

Trotz der mitreißenden Sprache und des geballten Freiheitsversprechens war die Aussicht auf etwas beinahe Alchemistisches, das in einem magischen Sandhaufen siebenhundert Meilen nördlich von Great Falls begraben lag, für die Kapitalisten und Ingenieure der Depressionszeit zu viel. Außerdem gab es im Süden – in Texas, Oklahoma und Kalifornien – und sogar im südlichen Alberta jede Menge Öl. Im Jahr 1930 hatte man in den USA bereits mehr als 100 000 Meilen Ölpipelines verlegt, durch die jährlich eine Milliarde Barrel Rohöl flossen.[11]

©  Fortune Magazine, September 1947, S. 172

Unerwünschte Dinge neu zu erfinden und ihnen ein anderes Image zu verpassen, gehörte im Westen Kanadas zur Überlebensstrategie, aber die Verwandlung des Ackergauls bituminöser Sand in das Rennpferd »Syncrude Sweet Blend«™ ist die bisher größte Leistung in dieser Disziplin. In einer Sprache, die wie ein Werbespruch von Starbucks klingt, beschreibt eine Website der Ölindustrie »dieses typische, leicht süßliche synthetische Rohöl [als] eine nie versiegende Mischung aus wasserstoffbehandeltem Naphtha, Destillat und Gasölspuren«.[12] Und wer etwas so Untrinkbares wie Kaffeebohnen in einen Dark Chocolate Melted Truffle Mocha™ oder etwas so Unbrennbares wie teerüberzogenen Sand in Syncrude Sweet Blend™, Western Canadian Select oder Albian Premium verwandeln möchte, braucht vor allem eine Menge Wärme und Druck.

Wie auch immer man die Erdölrückstände unter Fort McMurray nennen mag, um Öl handelt es sich nicht – nicht mehr. Hätte die Industrie vor fünfzig Millionen Jahren gesucht, wäre sie auf mehr als eine Billion Barrel Rohöl gestoßen – einen Reichtum, gegen den die Reserven von Saudi-Arabien verblassen würden.[13][14] Doch über Tausende von Jahrtausenden hinweg war ein Großteil dieses süßen Öls den unerbittlichen Naturkräften ausgesetzt, die es durch eine riesige geologische Senke, das sogenannte Western Canada Sedimentary Basin, nach oben und nach Osten migrieren ließ. Dieses Kontinentalbecken, das früher ein Binnenmeer war, enthält üppige Öl-, Gas- und Bitumenvorkommen, die einen Großteil der Geologie zwischen den Rocky Mountains und dem Präkambrischen Schild (dem langen, breiten, flachen Abschnitt westlich der Großen Seen) prägen.

Als dieses eigenwillige Öl seinen Weg in eine Sandsteinschicht von der Größe Englands fand, die als McMurray-Formation bekannt ist und direkt unter der Athabasca-Ebene liegt, war es bereits entdeckt worden. Nicht von den Briten oder den Amerikanern, sondern von Bakterien. Wie eine Mäuseplage in einem Käsekeller überfiel diese Nano-Armee die größte Erdölreserve des Kontinents und hinterließ nur Verpackungen und Rinden. Diese merkwürdigen Raubtiere, die mehrere Gattungen repräsentieren, sind außerweltliche Wesen, die sich von Kohlenwasserstoffen ernähren, ohne Sauerstoff überleben und Methan ausgasen (die einzige Eigenschaft, die wir neben der Gier nach Erdöl mit ihnen teilen). Trotz ihrer geringen Größe sind sie offenbar Herren einer schwer greifbaren unterirdischen Welt, die Geochemiker als »tiefe Biosphäre« bezeichnen. An der unteren Grenze der Bewohnbarkeit, zwischen den leblosen Tiefen der Kruste unseres Planeten und den Oberflächenbereichen von Sonnenlicht und Sauerstoff, wurden mehr als eine Meile unter der Erde und bei Temperaturen oberhalb des Siedepunkts Bewohner der tiefen Biosphäre gefunden.[15] Dem Anschein nach ist diese nicht nur riesig, sondern auch voll wimmelnden Lebens. Steve Larter, Fellow der Royal Society und Inhaber des kanadischen Forschungslehrstuhls für Geochemie an der University of Calgary, schrieb 2014: »Die Ölsande und Schwerölgürtel der Welt stellen den brauchbarsten Zugang zur tiefen Biosphäre dar, die wiederum in puncto Zellbilanz das größte Biom des Planeten ist.«[16]

Als Larter zu berechnen versuchte, wie viele dieser kohlenwasserstofffressenden »Extremophilen« die Bitumenvorkommen rund um Fort McMurray bewohnen, kam er auf eine Zahl von »weit mehr als 10 hoch 23« – Billionen über Billiarden über Trillionen hungriger Kreaturen, die in einer der lebensfeindlichsten Umgebungen der Erde gedeihen.[17] Gemessen an ihrer Anzahl und Wirkung ist erstaunlich wenig über sie bekannt. Ihr einziges bekanntes Bedürfnis ist Wasser. Dennoch haben sie einen verheerenden Tribut gefordert. Mit der Gewissenhaftigkeit und dem Scharfsinn eines Erdölingenieurs haben sich diese winzigen Scharen des alten Öls angenommen und die einfacheren, »süßeren« und markttauglicheren Kohlenwasserstoffe herausgepickt. Zurückgelassen haben sie die längeren, komplexeren Moleküle, die unter anderem mit teerhaltigen Asphalten, Harzen, Salzen, Schwermetallen, komplexen Schwefelverbindungen oder sonstigen widerwärtigen Verunreinigungen belastet sind. Fünfzig Millionen Jahre später, nachdem die niedrig hängenden Früchte weitgehend abgeerntet sind, hat Alberta den Bodensatz geerbt, und an ihm haben die Ölraffinerien genauso wenig Interesse wie jene unerschrockenen Mikroben.

Um diese Kohlenwasserstoffrückstände in etwas zu verwandeln, das moderne Ölraffinerien verarbeiten können und das ausländische Märkte bereit sind zu kaufen, muss es künstlich in den Zustand vor der Degradation zurückversetzt werden, mit anderen Worten, es muss zeitlich zurückgestuft werden. Es heißt, dass Hubschrauber nicht fliegen, sondern die Luft zu Boden prügeln. Vergleichbares lässt sich über den Aufwand sagen, der erforderlich ist, um Bitumen in einen brauchbaren, marktfähigen Kraftstoff zu verwandeln. Man braucht zwei Tonnen bituminösen Sand, um ein einziges Barrel Bitumen herzustellen, und bei Raumtemperatur erweist sich Bitumen ungefähr so flüssig wie Nutella. Damit es entzündet werden kann, muss flüssiges Bitumen (das einzige Erdölprodukt, das schwerer ist als Wasser) weit über den Siedepunkt hinaus vorgewärmt werden.[18] Damit es durch ein Rohr fließen kann, muss es entweder aufgeheizt oder mit einem Verdünnungsmittel vermischt werden. Bei diesen Verdünnungsmitteln handelt es sich in der Regel um Erdgaskondensate oder andere industrielle Verdünner, allesamt hochgiftig und explosiv.[19] Verdünntes Bitumen – »Dilbit« – bleibt nur unter abgedichteten Bedingungen in einem Tank oder einer Pipeline flüssig. Im Falle eines Auslaufens oder einer anderen Exposition verdampft (oder verbrennt) das zugesetzte Verdünnungsmittel fast augenblicklich, sodass das Bitumen auf der nächstgelegenen festen Oberfläche haften bleibt. Bei einem erheblichen Bruch der Enbridge-Leitung 6B im Jahr 2010 bot sich als nächstgelegene feste Oberfläche nur der Grund des Kalamazoo River. Der Austritt von einer Million Gallonen (24 000 Barrel) betraf gut sechzig Kilometer Wasserstraße in der Nähe von Marshall, Michigan, und die Schadensbegrenzung (»Aufräumen« ist hier ein falscher Begriff) erforderte fünf Jahre sowie mehr als eine Milliarde Dollar, was ihn zum teuersten Erdölunfall in der Geschichte des Landes machte.[20] Der Marktwert des ausgelaufenen Bitumens entsprach weniger als 0,01 % (1/1000stel) der Kosten für die Schadensbegrenzung.*[21]

Zwar sind die aus Bitumen gewonnenen Endprodukte letztlich nützlich, wenn sie die Form synthetischem Rohöls, Dieselkraftstoffs und Ausgangsmaterials für andere Erdölprodukte annehmen, doch die Umwandlung in eine Ware, die ein Erdölingenieur oder ein Käufer von Erdöl aus dem Süden akzeptieren kann, bleibt ein mühsamer und teurer Prozess, der enorme Mengen an Wasser, Chemikalien und ausländischem Kapital erfordert. Vor allem aber braucht es rohe Gewalt, und diese rohe Gewalt ist das Feuer. Die bevorzugte Gewinnungsmethode, die heute etwa 80 % der Bitumenproduktion in der Region ausmacht, ist die dampfgestützte Schwerkraftdrainage (SAG-D). Bei der SAG-D handelt es sich um eine schichtweise Anordnung von Bohrlöchern und Rohrleitungen, durch die an Ort und Stelle Dampf eingeleitet wird, um das Bitumen direkt aus seinem Sand- und Tongemisch zu schmelzen. Sowohl bei der SAG-D als auch beim Tagebau wird der Dampf, der zum Schmelzen des Bitumens verwendet wird, mithilfe von Erdgas erzeugt, und die dafür erforderlichen Mengen sind verblüffend groß.[22]

Erdgas besteht zu etwa 80 % aus Methan und wird nicht in Gallonen oder Barrel, sondern in Kubikmetern gemessen. Nach Angaben des kanadischen National Energy Board verbraucht die Bitumenindustrie mehr als 50 Millionen Kubikmeter Erdgas pro Tag (das Energieäquivalent von 350 000 Barrel Öl) allein für die Trennung von Bitumen und Sand.[23] Kanada ist der viertgrößte Erdgasproduzent der Welt, und im Jahr 2017 wurde fast ein Drittel der gesamten kanadischen Produktion für diesen Zweck aufgewendet.[24] Erdgas ist zwar ein organischer Brennstoff, der nur minimal raffiniert werden muss, doch als Ergebnis dieses kolossalen Energieeinsatzes bleibt eine Substanz, die immer noch so stark verunreinigt ist, dass sie nicht brennt. Selbst nach der Abtrennung des Bitumens vom Sand sind weitere radikale und wärmeintensive Prozesse erforderlich, um die im Teer gebundenen Öl- und Gasmoleküle freizusetzen.[25]

Die Branche weiß das und reagiert nicht mit Wohlwollen. Bitumen und seine Derivate werden auf dem freien Markt stark abgewertet. Eine Möglichkeit, den Wert und die Attraktivität eines Brennstoffs zu messen, ist die Berechnung seiner Energierendite (Energy Return on Investment – EROI).[26] Herkömmliche Brennstoffe wie Erdöl oder Erdgas haben einen hohen EROI, da sie für jede zu ihrer Gewinnung eingesetzte Energieeinheit fast dreißig Energieeinheiten erzeugen. Alberta-Bitumen hat einen EROI von etwa sechs zu eins beim Tagebau und drei zu eins bei der dampfgestützten Schwerkraftdrainage – Proportionen, die so grenzwertig sind, dass sich praktisch kein konventioneller Erdölproduzent auf sie einlassen würde. Angesichts dieser Hindernisse dürfte ein Laie wohl Mühe haben, sich für die Wirtschaftlichkeit von Bitumen auszusprechen – vor allem, wenn es auf der Welt noch so viel fließendes Öl gibt.

Alberta ist sich dieser Passivposten bewusst. Damit die Bitumenindustrie auch nur im Entferntesten rentabel ist, müssen vier Bedingungen erfüllt sein: Konventionelles Öl muss zu einem Preis von über 50 Dollar pro Barrel gehandelt werden; die natürlichen Ressourcen, die für die Förderung benötigt werden (Süßwasser, Erdgas und das Ökosystem der borealen Wälder), müssen so gut wie kostenlos zu haben sein; die Industrie selbst muss stark subventioniert werden, und die Explorationskosten müssen gleich null sein.**[27] Es gibt noch eine fünfte Bedingung, die nicht nur von der Bitumenindustrie, sondern von der gesamten brennenden Welt ausgenutzt wird: Emissionen haben keine Konsequenzen.

Darauf hat Alberta seine Wirtschaft aufgebaut – mit unterschiedlichen Ergebnissen.

Anfang der 2000er-Jahre hatten sich diese Bedingungen für Syncrude und Suncor – und in jüngerer Zeit für multinationale Konzerne wie ExxonMobil, Chevron, Conoco, Royal Dutch Shell, die französische Total, die norwegische Statoil, die chinesische Sinopec und die ehemals kanadische, jetzt von Hongkong kontrollierte Husky Energy (neben anderen) – als so günstig erwiesen, dass sie alle in diesen nördlichen Wäldern milliardenschwere Claims absteckten, tausend Meilen vom nächsten Gezeitenhafen oder größeren Markt entfernt. Dank dieser Unternehmen, ihrer Kollegen und Konkurrenten sowie der großzügigen Unterstützung durch die kanadische Regierung und die Regierung von Alberta ist Fort McMurray zum Zentrum des größten, teuersten und energieintensivsten Erdölförderungsprojekts der Welt geworden. Eine grobe Schätzung der bisherigen Investitionen beläuft sich auf eine Drittelbillion Dollar.[28]

* Angesichts des Zustands unseres Planeten kommt eine Berechnung der Ist-Sekundärkosten einer auf Erdöl basierenden Zivilisation der Wahrheit am nächsten, wenn sie die Auswirkungen auf die Umwelt berücksichtigt.

** Saudi-Arabien kann bei fünf Dollar pro Barrel kostendeckend arbeiten.

3

Im babylonischen Land gibt es viele unglaubliche Wunder, aber das größte ist die Menge an Bitumen, die dort gefunden wurde. Es gibt sogar so viel davon, dass … die Menschen, die sich dort eingefunden haben, große Mengen davon einsammeln. Und obwohl die Zahl dieser Menschen unendlich ist, bleibt die Ausbeute wie bei einem reichen Brunnen unerschöpflich.[1]

Diodorus von Sizilien, Bibliotheca Historica

Bitumen hat man schon verwendet, lange bevor Alberta eine Provinz oder Kanada ein Land wurde. Es gibt zahlreiche Orte auf der Welt, darunter Baku in Aserbaidschan, Hīt im Irak, Pitch Lake in Trinidad, Lago de Guanoco in Venezuela und die Insel Sachalin an der Ostküste Russlands, wo Bitumen in offenen Lagerstätten sowohl in fester als auch in flüssiger Form gefunden wird. In den letzten etwa sechstausend Jahren wurde Bitumen an den meisten Orten und auf den meisten Märkten, auf denen es vorkommt, traditionell fürs Bauen, Abdichten und Pflastern verwendet. Zu verschiedenen Zeiten wurde es auch als Klebstoff und zur Einbalsamierung von Toten gebraucht. Das erste goldene Zeitalter des Bitumens begann vor etwa viertausend Jahren in Mesopotamien zwischen den Flüssen Euphrat und Tigris, wo es bei riesigen Bauprojekten mit beachtlicher Wirkung als Mörtel eingesetzt wurde. Bis vor relativ kurzer Zeit bildeten sich auf der Oberfläche des Toten Meeres immer wieder spontan große Klumpen aus festem Bitumen, die aufgrund des außergewöhnlichen Auftriebs auf dem Wasser schwammen. Dieses Phänomen trat so häufig auf, dass das Tote Meer in der Antike als Asphaltsee bekannt war.

Vor dem Kontakt mit Europäern nutzten die indigenen Völker in der Athabasca-Region Bitumen zum Flicken ihrer Kanus und zum Abdichten von Wassergefäßen, ähnlich wie die Menschen im Nahen Osten. Noch heute wird Nord-Alberta vom Volk der Dene bewohnt, die in weiten Teilen der westlichen Subarktis leben. Sie gehören der Athapaskan-Sprachfamilie an und teilen sich jetzt Nord-Alberta mit erst in jüngerer Zeit eingewanderten Cree und mehreren anderen indigenen Gruppen, einschließlich der Métis, einer bundesstaatlich anerkannten Bevölkerungsgruppe mit gemischter indigener und europäischer Herkunft (zu der 2016 auch der Bürgermeister von Fort McMurray gehörte).

Traditionell lebten die Dene von der Jagd, dem Fallenstellen, dem Fischfang und dem Sammeln von Beeren. In der Region gab es Überschneidungen verschiedener Dene-Stämme, und sie alle zeigten ein entschlossenes Auftreten, doch ihre Lage war prekär: Die Winter waren brutal, Hungersnöte an der Tagesordnung, und vor dem Kontakt mit den Europäern zählten die Dene nur wenige hundert Menschen, wenn überhaupt. Ihr Wunsch, Handel zu treiben, war so stark, dass die Kühnsten von ihnen nach Osten reisten, bis zum Handelszentrum der Hudson’s Bay Company in Fort York im heutigen Manitoba, eine gefährliche Reise von über tausend Kilometern. Dort tauchte der erste schriftliche Hinweis auf Alberta-Bitumen im Tagebuch von James Knight auf, dem »Chief Factor« (Manager) des Handelspostens. Am 27. Juni 1715 berichtete Knight von einem Gespräch mit indigenen Jägern, die ihm von einem »Great River« erzählten, der »auf der Rückseite dieses Landes ins Meer fließt & sie sagten uns, dass es ein bestimmtes Gummi oder Pech gibt, das in solcher Überfülle den Fluss hinunterschwimmt, dass sie deswegen nur an bestimmten Stellen anlanden können«.[2]

Es sollte noch sechzig Jahre dauern, bis ein Europäer es zu Gesicht bekam.

Der Fluss, den diese Jäger meinten, war der Athabasca – genauer gesagt, das Gebiet um das heutige Fort McMurray, wo Bitumen eine schwarze und sandige Erdschicht im Flusstal bildet. An besonders heißen Tagen rieselt es die südlich und westlich ausgerichteten Klippen hinunter und sammelt sich am Flussufer; an manchen Stellen fließt es in den Fluss und verursacht zeitweilig Ölteppiche. Wenn es heiß ist und der Wind richtig steht, kann man das Bitumen riechen, bevor man es sieht. Im Winter gefrieren die Tropfen an Ort und Stelle, und es scheint, als würden die Felswände schwarze Tränen weinen, aber selbst bei zwanzig Grad unter null riechen sie nach Dachpappe. Nach ihrer Ankunft erwähnten die europäischen Entdecker und Händler diesen Glibber mit dem beißenden Geruch in ihren Tagebüchern wie eine heiße Quelle, einen Wasserfall oder eine andere lokale Kuriosität. Aber sie waren dort, um Geld zu verdienen, und ja, im borealen Wald konnte man einen großen Reibach machen, aber nicht mit Bitumen, noch nicht.

Lange vor der Zeit von Syncrude, Suncor, Exxon oder Shell gab es die Hudson’s Bay Company. Die »Company«, wie sie genannt wurde, war der erste industrielle Rohstoffausbeuter des Kontinents und begründete eine Verfahrensweise in geschäftlichen Dingen, in Bezug auf Märkte, Mitarbeiter und die Natur, die man als »Wildfire Economics« bezeichnen könnte. Mit Pelzen als Brennstoff, dem europäischen Markt als Feuer und Darlehen als Sauerstoff brannte sich die Hudson’s Bay Company ihren Weg über den nordamerikanischen Kontinent und veränderte ihn für immer. Nebenbei bescherte sie einer Handvoll Männer auf der anderen Seite des Ozeans extremen Reichtum.

Drei Jahre nachdem John Milton das Paradise Lost veröffentlicht hatte, wurde der Company 1670 von König Charles II. ein königlicher Chartervertrag gewährt. Als Gegenleistung für verwertbare Informationen über die Nordwestpassage gewährte der König dieser »Company of Adventurers« exklusive Handels- und Mineralienrechte für das Einzugsgebiet der Hudson’s Bay, dem fünf Millionen Quadratkilometer großen Teil eines Kontinents, den keiner dieser Männer je gesehen hatte.[3] Die Region war attraktiv, weil man wusste, dass sie reich an pelztragenden Säugetieren war, und der Biber, den man in Europa ausgerottet hatte, blieb für die Herstellung von Hüten immer noch sehr gefragt. Dieser Handel war so lukrativ und für die neue boreale Wirtschaft so wichtig, dass Biberfelle zur Währungseinheit wurden. Als Peter Pond, britischer Loyalist, Soldat und angeblich zweifacher Mörder aus Connecticut, 1778 in der Athabasca-Region eintraf – und zwar, soweit bekannt, als erster Europäer –, war dieser »Pelzstandard« fest etabliert. Ein Biograf beschrieb den knallharten Unternehmer und kommerziellen Entdecker als »Faust in der Wildnis«.[4] Pond, der außerhalb des Zuständigkeitsbereichs der Hudson’s Bay Company operierte, war selbst auf der Suche nach einer Nordwestpassage, als er auf Dene-Jäger stieß, die darauf erpicht waren, mit Biberfellen zu handeln, die sich als die besten in ganz Kanada erwiesen. Seitdem ist dort nichts mehr so, wie es einmal war. Nach Ponds Ankunft wurde der Biber, zusammen mit so ziemlich jedem anderen Tier, dem ein Pelz wuchs, tonnenweise aus Nord-Alberta verfrachtet.*

Es ist schwer vorstellbar, wie viele tote Tiere in den Boomjahren des Pelzhandels die kanadischen Handelsposten passierten, aber der legendäre Entdecker, Seefahrer und Pelzhändler Alexander Mackenzie führte darüber akribisch Buch. Mackenzie, ein Schotte von den Hebriden, war zusammen mit Peter Pond Partner in der North West Company, die den Handel in der Region dominierte, bevor sie von der Hudson’s Bay Company geschluckt wurde. Im Jahr 1798 meldete Mackenzie die schwindelerregende Jahresausbeute von 106 000 Biberfellen, 32 000 Marderfellen, 6 000 Luchsen, 3 800 Wölfen, 2 100 Bären und 500 Waldbisons (neben vielen anderen Arten).**

Diese Zahlen sind umso erstaunlicher, wenn man bedenkt, dass jedes Tier einzeln erlegt, eingesammelt und gehäutet werden musste, bevor es zu Fuß oder mit dem Kanu zum nächsten Handelsposten transportiert wurde, der bis zu hundert Meilen vom Dorf des Jägers oder dem Tötungsort entfernt war. Und das war nur der Anfang der Reise: Die Athabasca-Region ist so abgelegen, dass in jenen ersten Tagen für einen kompletten Handelskreislauf drei Jahre benötigt wurden – mit dem Kanu von der Athabasca-Region ostwärts über den Kontinent zum Hafen in Montreal und dann mit dem Schiff nach England und zurück mit der entsprechenden Ladung an Handelsgütern, wieder mit dem Kanu, auf Wasserwegen, die die Hälfte des Jahres zugefroren und die andere Hälfte tödlich kalt und schnell waren. So lange das alles dauerte – die Logistik, die Planung und der brachiale Optimismus des Athabasca-Pelzhandels waren zur damaligen Zeit und gemessen an damaliger Technologie nicht weniger ehrgeizig und effektiv als jede globale Unternehmung heute.

Als Lieferwagen dienten damals Kanus aus Birkenrinde, und so zerbrechlich sie auch waren, konnten sie es, was die Last betraf, mit einem UPS-Truck aufnehmen. Ein bedeutsamer Unterschied zwischen den Vereinigten Staaten und Kanada besteht darin, dass man Kanada, von den Rockies einmal abgesehen, mit dem Kanu durchqueren kann. Doch auf den Reisen durch das verschlungene Netz von Flüssen und Seen, die gelegentlich nötig waren, musste die Last teilweise meilenweit über steiles und rutschiges Gelände transportiert werden (im Jahr 1800 umfasste die übliche Last eines Mannes auf dem Weg nach Osten zwei zu Ballen gebundene 90-Pounds-Pelzsäcke plus seine persönliche Ausrüstung) und dann wieder zurück, bis die gesamte Ladung zusammen mit dem Kanu transportiert worden war. Diese Lasten, die so manchen gestandenen Möbelpacker in Verlegenheit bringen würden, wurden barfuß oder in nassen Mokassins getragen, also ohne nennenswerte Bodenhaftung.

Zwischen Flüssen, Seen, bei Regen und Schnee durchquerten diese Männer eine amphibische Welt, in der chronische Feuchtigkeit als Lebensbedingung galt. Man kann sich kaum vorstellen, was diese Männer an Erkältungen, Fäulnis und Ausschlag ertrugen, ganz zu schweigen von Moskitos und Stechfliegen. Diese voyageure