Die dritte Inkarnation - Hans Neuendorf - E-Book

Die dritte Inkarnation E-Book

Hans Neuendorf

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Beschreibung

Der 24-jährige Student Mathias Ruge ist ein Mörder ohne wahrnehmbares Motiv und damit nicht nur der Gesellschaft des Planeten Reide, sondern auch sich selbst ein Rätsel. Das »Institut für psychologische Sonderstudien« nimmt sich seiner an. Doch statt eines Tatmotivs finden die Wissenschaftler in Ruge die Reinkarnation eines gewissen Friedhelm Meiers, der in einer parallelen Welt auf dem Planeten Erde gelebt hat. Experimentell bringen sie Ruge mit dem jungen Arbeiter Koslowski zusammen. Zwischen beiden entwickelt sich eine Freundschaft mit starken erotischen Konsequenzen. Es verschlägt sie auf einen irrwitzigen Trip durch Raum und Zeit, der sie nicht nur durch mehrere parallele Welten, sondern Ruge tief in sein inneres Ich navigiert. Es beginnt eine mitreißende Suche nach der Vergangenheit des Friedhelm Meiers und parallel nach den Ursachen von Friedhelms bedrückender Traurigkeit. Der fantasievolle und spannende Roman umspielt Themenkomplexe wie Reinkarnation, Ephebophilie, Identitätssuche und unersättlichen Lebenshunger. Er vereint Elemente von Science-Fiction und Politthriller zu einem packenden Abenteuer. Und im Mittelpunkt der Geschehnisse steht die Liebe der beiden jungen Männer, die durch rätselhafte Machtkämpfe zerstört werden könnte.

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H. Neuendorf

Die dritte Inkarnation

Band I

Roman

Engelsdorfer Verlag Leipzig 2023

„Ich will mit dem gehen, den ich liebe

Ich will mit dem gehen, den ich liebe.

Ich will nicht ausrechnen, was es kostet.

Ich will nicht nachdenken, ob es gut ist.

Ich will nicht wissen, ob er mich liebt.

Ich will mit ihm gehen, den ich liebe.“

Bertolt Brecht

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.

ZWEITE ÜBERARBEITETE AUFLAGE

Copyright (2023) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Korrektorat: Sibylle Schütz

Lektorat & Presse- und Öffentlichkeitsarbeit

http://schuetz-pr.de

Titelbild © Renat Chismatulin [Adobe Stock]

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH, Rudolstadt

www.engelsdorfer-verlag.de

Inhalt

Teil I

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

Teil II

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

17

18

19

Teil III

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

Teil I

1

Die Zellentür wurde zu einem ungewöhnlichen Zeitpunkt geöffnet, an einem Samstagvormittag.

Zwei dem Gefangenen unbekannte Beamte erschienen.

»Hallo, Ruge, kommen Sie mit.« Die Stimmen klangen barsch, aber nicht unfreundlich.

Der Betroffene legte das Physiklehrbuch zur Seite.

»Wohin?«, fragte er.

»Zum Direktor.«

»Heute?«

»Ja!«

Sie legten ihm Handschellen an und führten ihn durch Klagenburg, das war der Spitzname des Gefängnisses von Mittenstadt/ Republik Marken.

Im Vorzimmer musste der Gefangene warten. Er war neugierig, aber nicht übermäßig, denn er hatte sich im Gefängnisalltag nichts zuschulden kommen lassen, und der Direktor galt als penibler, aber auch sehr korrekter Mann.

Als man ihn endlich in das Chefzimmer hineinbrachte, unterzeichnete der Direktor gerade noch einige Papiere. Er war ein typischer höherer Beamter um die fünfzig; mit straffem, sehr gepflegtem Äußeren, leicht korpulent, mit schnellen dominanten Augen, die sofort alles wahrzunehmen und zu analysieren schienen. Er galt als jemand, der seinem Amt gewachsen war. Man sagte, dass er keine Skandale liebte und Probleme gern im Vorfeld bereinigte.

»Nehmen Sie Herrn Ruge die Handschellen ab«, befahl er seinen Untergebenen.

»Setzen Sie sich«, wandte er sich dann dem Gefangenen zu, wies ihm einen Sessel an und kam hinter dem Schreibtisch hervor.

»Möchten Sie einen Kaffee?«

»Ja, gern.«

»Sie können auch rauchen. In der Dose dort sind Zigaretten.«

Die Vorzimmerdame brachte auf einem Tablett zwei Tassen Kaffee.

Ruge wusste nicht, was er von der Freundlichkeit halten sollte.

»Sie sind mir immer noch ein Rätsel«, bemerkte der Direktor.

»Ich mir selbst auch«, federte Ruge ab.

Es war sogar die Wahrheit. Er begriff nämlich noch immer nicht, weshalb er im Stadtpark den unbekannten Mann angegriffen und so lange auf ihn eingetreten hatte, bis der sein Leben ausgehaucht hatte.

›Student beträgt sich wie eine Bestie‹, hatten die Zeitungen geschrieben. Polizei und Gericht hatten sein Motiv wissen wollen. Dass er keines gehabt hatte, hatte man ihm nicht glauben wollen. Allerdings hatte auch das Gericht keines gefunden. Mathias Ruge war ein junger Mann ohne jede kriminelle Auffälligkeit gewesen. Nach der Tat war er nicht fortgelaufen, hatte das Erscheinen der Polizei abgewartet, sich widerstandslos festnehmen lassen. Die Frage, ob er den Toten gekannt hätte, hatte er mit aller ihm zur Verfügung stehenden Kraft verneint.

»Sie wollen natürlich den Jagdschein«, hatte der Staatsanwalt empört gerufen, »aber diese Rechnung geht nicht auf!« Das Gericht hatte es ähnlich gesehen. Dass eine Tat für Außenstehende nicht nachvollziehbar sei, lasse als solches den Schluss auf eine Störung der Geistestätigkeit nicht zu, zumal die psychiatrischen Sachverständigen keinerlei geistige Defekte festgestellt hätten. Sogar Ruge hatte für diese Auffassung Verständnis gezeigt. Ohnehin verbrachte er den Rest seines Lebens lieber im Gefängnis als in einer Heilanstalt.

Das, was ihn selbst am meisten irritierte, war seine eigene Gleichgültigkeit, diese fast vollständige Emotionslosigkeit, mit der er auf das ganze Geschehen reagiert hatte. Und mit der er auch den Gefängnisalltag ertrug.

Man behandelte ihn distanziert, aber insgesamt gut. Er selbst blieb stets sachlich, strahlte in den Augen der anderen eine in sich gekehrte Überlegenheit aus. Damit war er eben nicht nur sich, sondern auch allen anderen ein Rätsel.

»Nun«, ergriff der Direktor wieder das Wort, »Vielleicht würde es auch Ihnen helfen, wenn Sie reden würden. Und ich gebe unumwunden zu, dass Ihr Fall mich auch persönlich stark interessiert. Gerade die lebenslang Inhaftierten sind eine Problemgruppe. Sie haben alle nicht viel zu verlieren. Das ist auch für das Personal eine wenig glückliche Situation. Ich habe lieber Häftlinge, die noch eine Perspektive haben. Denken Sie noch einmal über das Ganze nach. Sie haben eine lebenslange Freiheitsstrafe, und das bedeutet, dass Sie durch Schweigen Ihre Position nicht verbessern können.«

»Ich kann Ihnen leider nicht helfen«, erwiderte Ruge höflich. »Ich bedanke mich aber für den Kaffee und die Zigarette.«

»Langsam, junger Mann, wir sind noch nicht fertig. Der Grund, weshalb Sie hier sind, ist ein anderer.«

Ruge horchte auf.

»Sie können mir vielleicht doch helfen«, sagte der Direktor und griff zu einer Akte.

»Ich Ihnen?« Sein Erstaunen war nicht gespielt.

»Ja. Diese Akte ist nicht die Ihre. Sie enthält einen Problemfall. Und dieses Problem ist auch mein Problem.«

»Ich verstehe nicht.«

»Sie genießen wie die meisten Lebenslänglichen ein Privileg. Sie haben eine Einzelzelle. Dass nicht jeder Ihrer Kollegen dieses Privileg würdigt, ist eine andere Sache. Bei Ihnen hatte ich bisher allerdings den Eindruck, dass Ihnen eine gewisse Privatsphäre nicht ungelegen ist.«

»So ist es«, erwiderte Ruge. Die Einsamkeit in der Zelle war schlimm. Andererseits arbeitete er tagsüber mit anderen Gefangenen in einer Werkstatt zusammen und nahm auch an den üblichen gemeinschaftlichen Aktivitäten teil. Da blieb er dann im Übrigen lieber für sich. Auch hatte er bisher nur eine Handvoll anderer Häftlinge kennengelernt, mit denen eine Zelle zu teilen er sich vorstellen konnte.

Jetzt allerdings wollte man ihm jemanden auf die Zelle legen. Das hatte der Direktor zwar noch nicht ausgesprochen, aber Ruge spürte es. Nur warum ließ man ihn kommen? Man konnte das anordnen. Niemand hatte Anspruch auf eine Einzelzelle. Es war nur eine anstaltsinterne Gepflogenheit, lebenslang Inhaftierten eine solche zuzuteilen.

Der Direktor schien die Gedanken zu lesen.

»Ich werde Ihnen keinen Zellengenossen aufzwingen. Wenn Sie ablehnen, ist die Angelegenheit für Sie erledigt.«

»Ist etwas Besonderes an der Sache?«

»In der Tat. Derjenige, um den es geht, hat einen Selbstmordversuch unternommen und ist in buchstäblich letzter Minute gerettet worden.«

Ruge verstand. Man befürchtete eine Wiederholung des Versuchs und negative Publizität. Ausbrüche, auch in Form des Selbstmordes, schadeten dem Ansehen der Anstalt. Und deshalb sollte er irgendeines Bruders Hüter werden, Wachhund spielen, das Psychodrama über sich ergehen lassen, dem Unheilskandidaten Trost spenden und Unsinn ausreden.

»Womit soll ich ihn trösten?«, fragte Ruge. »Ich brauche selbst Trost.«

»Er ist in der gleichen Position wie Sie. Nur Sie verfügen vielleicht über Worte, die den jungen Mann erreichen.«

Der Direktor bemerkte das kurze Zucken im Gesicht seines Gegenübers und deutete es richtig. Schließlich kannte er nicht dessen großes, wohl aber dessen kleines Geheimnis, denn die Kriminalbeamten hatten einen taktvollen, aber nichtsdestoweniger eindeutigen Aktenvermerk gemacht.

»Eine Woche«, erwiderte Ruge, »um meinen guten Willen zu zeigen. Wenn ich mit ihm nicht zurechtkomme, möchte ich Sie bitten, das Experiment nach einer Woche zu beenden.«

»Sie denken konstruktiv. Schade, dass Sie eingesperrt sind.«

»Das finde ich auch«, meinte Ruge säuerlich und sorgte sich um den Ablauf der nächsten Woche. Dann würde er wissen, was schlimmer war: Einsamkeit allein oder Einsamkeit zu zweit. Wahrscheinlich das letztere. Aber es wäre unklug gewesen, das Ansinnen abzulehnen. Er sollte hier lebenslang bleiben – etwas, was er sich nur sehr abstrakt vorstellen konnte – und da war es sinnvoll, sich ein paar Sympathien aufzubauen. Und der Wunsch des Direktors entsprang nachvollziehbarer Besorgnis, hatte keinen schikanösen Hintergrund.

»Gut«, endete dieser, »dann stellen wir Ihnen im Laufe des Tages ein zweites Bett in die Zelle. Sollten Sie nach einer Woche mit Ihrem neuen Kameraden zusammenbleiben wollen, erhalten Sie zusammen eine größere Zelle. Sollte ein ernsthaftes Problem entstehen, können Sie sich jederzeit bei mir melden lassen. Sie erhalten sofort einen Termin!«

Nach diesen Worten stand er auf und gab dem Gefangenen die Hand. Trotz seines Stoizismus war Ruge verwirrt. Dass der Direktor einem Häftling förmlich die Hand gab, war eine Seltenheit.

Auf dem Rückweg fiel ihm ein, was er vergessen hatte zu fragen, zum Beispiel, wie der Junge hieß, und vor allem, weshalb er verurteilt worden war. Doch dass er nichts wusste, war auch ein Vorteil: Er ging ohne Vorurteile an die Sache heran. Doch warum wurde gerade ihm der Auftrag erteilt? Und hatte der Direktor die Wendung, dass es sich um einen jungen Mann handele, nicht ziemlich merkwürdig betont?

Wurde hier eine Falle aufgebaut? Diese ganze Freundlichkeit, dieses augenzwinkernde Entgegenkommen! Ihm einen jungen Kerl auf die Zelle zu legen, obwohl man verdammt genau wusste, dass er gleichgeschlechtliche Neigungen hatte. Dieser Bursche würde sicher große Probleme haben. Doch man hätte ihn auch mit jemand anderem zusammenlegen können, nicht mit einer so undurchsichtigen Figur, wie Ruge es in den Augen der Obrigkeit war. Erwartete man, dass er dem Mithäftling erzählen würde, was er bisher niemandem anvertraut hatte? Wenn der Direktor auf diese Idee gekommen war, dann war sie nicht abwegig. Natürlich redeten Häftlinge über ihre Fälle, vor allem, wenn sie Kameradschaft schlossen. Worüber sollten sie auch sonst reden? An den langen Abenden, in den schlaflosen Nächten? Doch warum interessierte man sich noch stets für sein Tatmotiv? Der Fall war abgeschlossen. Er, Mathias Ruge, war nur noch eine Nummer, jemand, der verwahrt wurde, weil die Gesellschaft die Todesstrafe ablehnte. Eigentlich war er tot. Ein Niemand war tot. So war das. Oder nicht? Nun, wie dem auch wäre, die Rechnung würde nicht aufgehen.

Denn er konnte auch einem Mithäftling, der vielleicht sogar ein guter Kamerad werden würde, nicht mehr sagen, als er selbst wusste. Trotzdem war er merkwürdig beunruhigt.

2

Der junge Kerl, der drei Stunden später in die Zelle gebracht wurde, war ein Bündel Elend. Als Ruge ihn sah, verwarf er auf der Stelle alle tiefschürfenden Überlegungen, die er im Hinblick auf den Vorgang angestellt hatte. Wenn die Anstaltsleitung den Burschen nicht krepieren lassen wollte, hatte sie in der Tat ein Problem. Und Ruge war etwa gleichaltrig und galt als eine Art ruhender Pol, weshalb er dem Direktor wohl als geeigneter Zellengenosse erschienen sein musste.

Kurz zuvor hatte man die Zelle durchsucht. Jeder Gegenstand, der auch nur halbwegs geeignet war, sich damit zu verletzen, war mitgenommen worden. »Sie kriegen das Zeug später wieder«, hatte der Beamte gesagt.

Der Bursche stand unsicher auf den Beinen. Beide Unterarme waren verbunden. Das Gesicht war totenbleich. Die Schultern hingen kraftlos nach vom. Den Augen fehlte jeder Glanz.

»Er hat sich die Pulsadern aufgeschnitten und viel Blut verloren«, erläuterte der Wachhabende. Und zu dem anderen sagte er: »Koslowski, der Ruge ist in Ordnung. Mit dem können Sie reden. Lassen Sie in Zukunft den Unsinn. Das Leben geht weiter. Auch für Sie!«

Der Angesprochene erwiderte nichts, stand willenlos herum.

»Das ist Ihr Bett«, sagte der Beamte, und Koslowski ließ sich drauffallen, starrte die Decke an.

»Du kannst Mathias zu mir sagen«, meinte Ruge, als die Wachleute gegangen waren. »Und wie heißt du?«

»Klaus-Michael.«

»Das ist mir zu lang. Wie willst du es haben: Klaus oder Michael?«

»Micha, das ist in Ordnung.«

»Also hör mir zu, Micha. Mit mir kannst du auskommen. Aber mache mir keine Schwierigkeiten.«

»Nein.«

Die Zelle wurde nochmals aufgeschlossen. Einer der Anstaltsärzte und der Anstaltspsychologe erschienen. Der hinter ihnen stehende Beamte trug einen Karton mit Obst. Arzt und Psychologe sahen sich um, stellten einige Kunststoffflaschen und Medikamentenschachteln auf den Tisch.

Sie wandten sich an Ruge: »Das sind Vitaminpräparate und allgemeine Stärkungsmittel. Bitte sorgen Sie dafür, dass er das Zeug nimmt. Außerdem bekommen Sie vorläufig Extrarationen Obst auf die Zelle. Es ist so reichlich bemessen, dass auch Sie sich davon bedienen können. Bei einem Zwischenfall klingeln Sie sofort.«

»Ja«, erwiderte Ruge einsilbig. Ein relativ moderner Strafvollzug in einem relativ modernen Staat hatte eben seine positiven Seiten.

Man wollte absolut keine Leichen. Es gab natürlich auch andere Seiten. Das Gefängnisleben war noch steriler als die Gesellschaft insgesamt. Früher hatte in Gefängnissen wohl so etwas wie knisternde Spannung geherrscht, die manchmal höllisch gewesen sein mochte. Aber menschliche Vitalität erhielt sich auf Dauer nur in einem gewissen Spannungsfeld, weshalb sich Ruge manchmal klammheimlich in eines der altmodischen Gefängnisse vergangener Jahrhunderte wünschte. Das waren wahrscheinlich noch echte kleine Welten für sich gewesen, mit größeren Mängeln, größeren Elementarbedürfnissen ihrer Insassen, aber dementsprechend auch größeren Möglichkeiten, eine eigene Rolle zu kreieren. In Klagenburg waren Gefangene unartige Kinder, einem ständigen Wechselbad von Strenge und Entgegenkommen ausgesetzt, Objekte psychologischer Analysen.

Vor allem Ruge, der kein Kind war, sondern einen frei und unabhängig funktionierenden Geist besaß und eine unabhängigkeitssüchtige Psyche, litt darunter, weshalb er sich so weit wie irgend möglich in sich selbst zurückgezogen hatte und sich seine eigene kleine wissenschaftliche und literarische Welt aufzubauen trachtete.

Und die war zunächst einmal nachhaltig gestört. Aber er verstand, dass nicht jede Störung negativ sein musste. Klaus-Michael Koslowski mochte alle möglichen Arten und Unarten haben, doch pädagogische Allüren hatte dieser Unterklassenjunge bestimmt nicht. Eher musste Ruge wohl selbst aufpassen, dass er mit Koslowski nicht allzu pädagogisch umging. Gerade ein Volksjunge würde dagegen ziemlich allergisch sein.

Koslowski lag noch immer auf der Pritsche und starrte die Decke an.

Ruge überlegte, ob er ihm ein Gespräch aufdrängen sollte, nahm sich dann aber wieder sein Physiklehrbuch und begann zu lesen.

Auf der einen Seite war das Schweigen unheimlich, auf der anderen lag eine merkwürdige Spannung im Raum.

So kaputt, wie Koslowski war – ein Niemand war er nicht. Er war sehr präsent, und Ruge spürte es mit jeder Faser. Vielleicht würde er ihn in einigen Tagen nicht mehr sehen, nicht mehr hören, nicht mehr riechen können. Man vernahm öfter, dass Gefangene allergische Zustände bekamen, wenn sie mit ihrem Zellengenossen nicht mehr zurechtkamen, dessen Lebensäußerungen auf kleinem Raum nicht mehr ertrugen. Für den Augenblick allerdings konstatierte er, dass er über die Anwesenheit des anderen froh war, auch wenn der Elendshaufen bisher nur wortlos vor sich hinstarrte.

Nach einiger Zeit blickte er auf die Uhr, sagte dann zu dem gekrümmten Haufen auf dem Bett: »Nimm jetzt deine Medizin!« Der andere gab keine Antwort.

»He, hast du das Sprechen verlernt?«

»Ich will nicht«, erwiderte Koslowski leise.

»Mann, eine Leiche auf Urlaub sieht besser aus als du. Also tu, was deine Mama sagt.«

»Na schön.«

Ruge stand auf und gab dem anderen eine Flasche ans Bett. Der setzte sie an den Mund und trank.

Ruge zog sie wieder fort. »Kerl, du brauchst auch nicht alles auf einmal auszusaufen. Gut, dass das Zeug ungefährlich ist.«

»Ich bin verrückt, ich weiß es.«

»Quatsch! Du bist ziemlich normal. Du spielst nur verrückt. Aber verstehe, dass ich das gleiche Problem habe. Ich kann mich auch nicht durchhängen lassen.«

»Entschuldige.«

»Keine Ursache. Du solltest nur verstehen, dass sie dich nicht so einfach entwischen lassen. Wenn es auf diese Art, wie sie es jetzt probieren, nicht funktioniert, kommst du wieder in eine Isolierzelle der Haftkrankenanstalt Und dort binden sie dich wieder fest, so gut, dass du dich nicht mal am Hintern kratzen kannst. Und all das Zeug hier, das flößen sie dir dann eben mit Gewalt ein. Was bringt dir das? Das ist doch tausendmal schrecklicher, als hier relativ bequem herumzusitzen. Am Ende wirst du dann nämlich wirklich verrückt.«

Koslowski sagte nichts, schien nachzudenken.

»Wahrscheinlich hast du recht«, meinte er schließlich.

»Ich habe recht«, sagte Ruge nachdrücklich.

»Also gut, ich spiele den braven Jungen.«

»Hört sich schon besser an.«

»Aber nicht gern. Den habe ich nämlich zu lange gespielt.«

»Was hast du überhaupt angestellt?«

»Ich habe meine Freundin getötet«, sagte Koslowski nach einigem Zögern.

»Willst du darüber reden?«

»Nein. Vielleicht irgendwann einmal.«

»Ist gut.«

»Und warum bist du hier?«

»Ich habe einen Spaziergänger im Stadtpark getötet.«

»Warum?«

»Einfach so. Ich weiß nicht warum.«

»Du willst also auch nicht reden.«

»Ich kann nicht, weil ich nichts weiß.«

»Macht nichts. Du kannst es auch für dich behalten.«

Es war inzwischen sechs Uhr abends, und das Essen wurde gebracht. Koslowski wollte nicht essen, aber auf Ruges Drängen aß er dann doch.

Der begann vorsichtig optimistisch zu werden, dass er den anderen würde beeinflussen können. Ein günstiger Ausgang des Dramas würde ihnen beiden zum Vorteil gereichen.

Er begann, Koslowski genauer zu taxieren. In der Welt draußen war dieser wahrscheinlich eine graue Maus gewesen, ein durchschnittlicher Arbeiterjunge, wie es viele gab. Er war einen Kopf kleiner als der hochgeschossene Ruge, hatte einen starken, wenn auch nicht überproportionierten Körperbau, einen ovalen, trotzdem kräftigen Kopf und dunkelblonde, leicht wellige Haare. Nase und Mund waren ebenfalls kräftig, die Ohren ziemlich groß. Die rehbraunen Augen hatten etwas Vertrauenerweckendes. Aber natürlich war der Körper abgemagert, die Gesichtswangen eingefallen, die Augen redeten nicht mehr. Doch Ruge konnte sich ohne Weiteres eine Vorstellung davon machen, wie der andere unter normalen Lebensumständen wirkte. Keine Erscheinung und Ausstrahlung, die automatisch viele Blicke auf sich zog, wohl aber ein gut gebauter junger Mann mit einer insgesamt sympathischen Art, mit dem ein Mädchen sich durchaus sehen lassen konnte! Kein sogenannter irrer Typ, aber ein angenehmer, solider Partner, den kein Mädchen verstecken musste! Wahrscheinlich durchschnittlich im durchaus guten Sinne und vor allem in jeder Beziehung sehr normal! Das Einzige, was an Koslowski wahrscheinlich nicht normal war, waren seine gegenwärtigen Verhältnisse und seine Zukunftsaussichten. Für diese Gegenwart und diese Zukunft war er wohl schlichtweg nicht konstruiert. Der Gedanke veranlasste Ruge, darüber nachzudenken, ob seine eigene Konstruktion besser sei. Er fand keine Antwort. Bis hier und heute hatte sie sich jedenfalls als widerstandsfähiger erwiesen. Aber wahrscheinlich ließ es sich auch besser mit dem Gedanken leben, einen Unbekannten aus unbekannten Gründen getötet zu haben als jemand Bekannten aus bekannten Gründen.

Ruge beschloss, dem neuen Kameraden zu helfen, soweit seine eigene bescheuerte Lage dies gestattete. Sein gegenwärtiges Leben bekam damit wieder einen gewissen Sinn. Bedingung war natürlich, dass Koslowski ihm das eigene Leben nicht unerträglich machte und hilfreiche Bemühungen überhaupt zuließ.

Es kam ein kleines Gespräch in Gang, Dinge aus dem täglichen Leben in Klagenburg. Die anderen Welten, die große da draußen und die ebenso große in ihnen, berührten sie nicht. Koslowski wirkte jetzt aber ein wenig entspannter. Ziemlich früh am Abend schlug die Erschöpfung bei ihm zu, und er schlief ein.

Ruge beobachtete ihn noch eine Weile, las noch etwas und legte sich dann ebenfalls schlafen. Doch es entging ihm nicht, dass der diensthabende Beamte die Situation regelmäßig kontrollierte.

Auch der Sonntag verlief problemlos. Ruge besuchte den Anstaltsgottesdienst, fragte Koslowski, ob er mitkomme. Der wehrte ab, worauf Ruge ihm sagte, er müsse jede Gelegenheit zur Abwechslung nützen, auch wenn ihn eine Sache weniger interessiere. Er kam daraufhin mit, starrte während der Ansprache teilnahmslos vor sich hin. Über die Predigt hatte er später keine Meinung, hatte überhaupt nicht zugehört.

Die folgenden Tage waren normale Werktage, an denen Ruge tagsüber nicht in der Zelle war. Man hatte ihm sogenannte intelligente Arbeit, den Zusammenbau von Elektronikteilen, zugewiesen. Vieles war für ihn längst Routine, dennoch musste er aufpassen und sich konzentrieren, was den Geist von Grübeleien abhielt.

Auch Koslowski wurde zur Arbeit geschickt, wohl weniger, weil man von ihm bereits sichtbare Leistung erwartete, sondern mehr, um ihn zu beschäftigen und während Ruges Abwesenheit unter Aufsicht zu haben. Man gab ihm zunächst sogenannte Idiotenarbeit, er musste die Seiten von Kindermalbüchern sortieren. Ruge sah ihn nicht, weil er sich in einem anderen Arbeitssaal aufhielt. Ihm war das auch recht. Koslowski war ihm wahrlich nicht unsympathisch, aber es war natürlich auch nicht gut, vierundzwanzig Stunden am Tag zusammenzuhängen. Und so konnte er sich tagsüber auf den Abend freuen. Noch immer redeten sie, wenn sie überhaupt redeten, nur banales Zeug, aber das in sehr freundlichem Ton. Es war eben noch eine Phase gegenseitigen Abtastens. Und hierbei konnten sie sich schließlich alle Zeit nehmen, eine Formulierung, die wahrscheinlich eine der Untertreibungen des Jahrhunderts war. Wenn Koslowski in irgendeiner Aufwallung der Gefühle nicht doch noch eine Gelegenheit fand, sich umzubringen, und sie beide ansonsten redlich miteinander auskamen, würde die Anstaltsleitung sie wahrscheinlich zusammen alt werden lassen, eine Idee, die für Ruge so aberwitzig war, dass er sie zwar denken, aber niemals akzeptieren konnte. Dies hatte allerdings nichts mit Vorbehalten gegen den neuen Kameraden zu tun, sondern mit seiner tiefen Überzeugung, dass sich sein Schicksal noch einmal wenden musste. Er war zu jung, um für den Rest des Lebens in der Versenkung zu verschwinden.

»Willst du hier noch einmal raus?«, fragte Koslowski eines Abends ohne besonderen Anlass, und Ruge antwortete mit einer kurzen Gegenfrage: »Wer will das nicht?«

Aber von diesem Moment an wurde Koslowski gesprächiger und zugänglicher, erzählte auch persönliche Dinge, fragte nach Persönlichem, mied aber noch alles allzu Persönliche. Dennoch kamen sie jeden Tag besser miteinander aus. Koslowski begann auch, sich stets mehr zu erholen. Schließlich erzählte er seinen ersten Witz, einen ziemlich blöden, aber Ruge freute sich dennoch, achtete nicht auf die Pointe, sondern auf die Stimme des anderen. Klaus-Michael hatte eine eindringliche, leicht gutturale Stimme, aber noch stets einen jungenhaften Tonfall, obwohl er bereits zweiundzwanzig Jahre alt war. Ruge ließ sich so sehr von der Stimme wegtragen, dass er die Pointe verpasste und zu lachen vergaß, was Klaus-Michael veranlasste, die nächsten fünf Minuten zu schmollen. Und Schmollen konnte er hervorragend. Ruge bemerkte, dass ihm der andere jeden Tag mehr bedeutete. Auch umgekehrt schien es so zu sein. Zunächst wohl nur aus Langeweile, aber dann stets aufgeweckter, begann sich Koslowski auch für Ruges Fachwissen zu interessieren; und dem Studenten der Naturwissenschaften machte es Spaß, dem Fabrikarbeiter Koslowski theoretische Grundlagen der Physik, der Chemie und der Biologie zu erklären.

Das Unglück passierte am Sonnabend, genau eine Woche, nachdem das Schicksal sie zusammengeführt hatte.

Wie viele junge Kerle hatte auch Koslowski eine als solche amüsante Eigenschaft. Fast stets, wenn sie sich abends schlafen gelegt hatten, begann er kurz nach dem Gute-Nacht-Wunsch zu reden, je nach Müdigkeit und Thema mal kürzer, mal länger.

So auch heute.

»Mathias«, meldete er sich leise und vorsichtig, nachdem er vor fünf Minuten ›Gute Nacht‹ gesagt hatte.

»Ja.«

»Mathias, der Alte von Zelle 117, weißt du, wen ich meine?«

»Ja, den alten Schulz.«

»Du, der ist bestimmt schwul. Im Arbeitssaal probiert der dauernd, mich anzumachen.«

»An so etwas musst du dich hier gewöhnen. Ignoriere es.«

»Ist wahrscheinlich das Beste. Weißt du, was ich glaube? In fünfzig Jahren sind wir beide auch schwul.«

Ruge war schon schläfrig, dachte in diesem Moment nicht mehr allzu gut nach. Und irgendein kleiner Tiger musste ihn auch reiten. Jedenfalls gab er zurück: »Du schon, ich nicht.«

»Wieso du nicht?«

»Weil ich es längst bin«, knurrte Ruge. Es folgte Stille.

Auf die Stille folgte Totenstille.

»Das war ein Scherz, nicht wahr?«, fragte Koslowski nach einer Weile.

»Überhaupt nicht«, sagte Ruge ruhig. Er begriff, dass er wahrscheinlich einen großen Fehler gemacht hatte, aber die Bemerkung war ihm nun einmal herausgerutscht, und er würde sich jetzt nicht selbst verleugnen.

Wieder lag unheimliche Stille im Raum, eine bis in die Hände zu spürende feindselige Spannung.

»Mist«, rief Koslowski dann.

»Warum?«

»Weil ich jetzt wieder in eine andere Zelle muss. Dabei war es echt gut mit dir zusammen.«

»Du bist ein Trottel«, entgegnete Ruge. Auch diese Bemerkung war wahrscheinlich unangebracht, aber was für eine würde überhaupt richtig sein?

»Ich bin nun mal nicht schwul und will es auch nicht werden«, entgegnete Koslowski in ziemlich brüskem Ton.

»Dann lass es doch bleiben. Morgen ist Sonntag, da verlegen sie nicht. Aber am Montag kannst du dich verlegen lassen. Je schneller, desto besser.«

»Ja, das mache ich.«

Nach dieser Ankündigung herrschte erneut Funkstille. Am liebsten hätte Ruge geheult, doch er konnte nicht mehr heulen. Das Leben war grausam. Er mochte den anderen. Das Zusammensein mit ihm machte das graue Dasein spannender und fröhlicher. Er hatte sich nicht mehr so einsam, noch nicht einmal mehr so schrecklich eingesperrt gefühlt. Aber das Leben wollte ihm nun einmal keinen Freund und Kameraden jener Art, wie er sie mochte, geben. Er hatte das zu akzeptieren. Und unter den gegebenen Umständen war es am besten, Koslowski verließ ihn so bald wie möglich. Je mehr er sich an ihn gewöhnte und sich zwangsläufig auf ihn fixierte, desto unerträglicher und fürchterlicher würde die Trennung werden. Operieren! – So schnell und so gründlich wie möglich! Es wäre gut, man würde den anderen gleich in einen anderen Flügel verlegen, damit er ihn auch nicht mehr sah. Doch die Vorstellung, ohne den Schwachkopf weiterleben zu müssen, ließ Ruge auch verkrampfen. Die Situation hatte eben zwei messerscharfe Seiten, und er wusste im Augenblick nicht, welche schlimmer war.

Nach einer Weile fragte Koslowski überflüssigerweise: »Bist du jetzt beleidigt?«

»Was dachtest du denn?«, fragte Ruge zurück.

»Mann, du musst das nicht persönlich nehmen.«

»Halt deine Klappe!«, rief Ruge, denn er wollte keine Diskussion. Was zwischen ihnen stand, war eine Barriere und keine gewöhnliche Meinungsverschiedenheit, die man bereden konnte, um dann einen Kompromiss zu schließen.

»Ich habe echt nichts gegen dich persönlich. Und du kannst ja auch nichts dafür«, glaubte Koslowski besänftigen zu müssen.

»Behalt dein Toleranzgeschwätz für dich«, sagte Ruge, der bemerkte, dass er immer erbitterter wurde, kühl.

»Wie du meinst«, antwortete Koslowski und drehte sich zur Seite.

»Ich wollte dir ja nur noch etwas Nettes sagen, weil du so anständig zu mir gewesen bist.«

»Vergiss es.«

»Vergessen tue ich es nicht.« Und nach einer weiteren Pause begann Koslowski nochmals zu reden, aber es war mehr ein Herumdrucksen: »Ich meine, ich denke, wenn du, wenn du … na, wenn du mich nicht anfasst, dass ich dann ja vielleicht auch bleiben kann. Ich meine, wenn du mir das versprichst …«

Obwohl der andere also, auf seine hilflose Art deutlich, nach einem Entgegenkommen suchte, explodierte Ruge:

»Ich verspreche dir überhaupt nichts. Doch wenn es dich beruhigt: Ich stehe überhaupt nicht auf dich. Du bist gar nicht mein Typ. Und wenn du Montag noch hier bist, packe ich dich mit einem Regenschirm, und zwar von hinten. Aber anfassen werde ich dich nicht!«

»Du hast ja gar keinen Regenschirm«, blaffte Koslowski zurück.

»Das ist genau das Problem, du Schlaukopf. Aber irgendwie kriege ich einen.«

»Du tust so überlegen«, keuchte Koslowski, »dabei bist du auch nur ein armer Hund.«

»Ich bin ein richtiger schwuler Verbrecher«, rief Ruge, dem des anderen Mitleid gut tat und zugleich an den Rand der Raserei trieb, »aber du, du bist nichts anderes als einer dieser blöden normalen Weißwurstknaben, die durchdrehen und ihre Freundin killen, wenn die auf ihrem nicht vorhandenen Selbstbewusstsein herumtrampelt.«

Trotz oder gerade in seiner Wut war Ruge aufmerksam und schnell. Als Koslowski mit einem unterdrückten Schrei aus dem Bett sprang, um ihn anzugreifen, knipste er fast im selben Moment das Licht an und sprang ebenfalls aus dem Bett. In der Mitte der Zelle standen sie sich bebend Auge in Auge gegenüber.

»Wage es nicht«, knurrte Ruge.

Koslowski zitterte, musste aber einsehen, dass er physisch keine Chance hatte, weil sein Allgemeinzustand noch immer ziemlich schwach war.

Ruge, Verzweiflung und Ohnmacht des anderen wahrnehmend, drehte sich demonstrativ um, stützte seinen Kopf gegen die Zellenwand.

»Es tut mir leid, ich bin zu weit gegangen«, erklärte er leise. »Leg dich jetzt wieder hin.«

Koslowski befolgte die Aufforderung wortlos, und auch Ruge ging wieder in sein Bett zurück, knipste das Licht wieder aus.

»Gute Nacht«, sagte er, um Freundlichkeit bemüht.

Koslowski antwortete zunächst nicht, aber nach einer Weile sagte er ebenfalls: »Gute Nacht.«

Von einer solchen aber konnte keine Rede sein. Ruge schlief nicht und merkte, dass auch Koslowski wach blieb.

3

Der nächste Morgen war noch schrecklicher. Keiner redete.

Koslowski machte Katzenwäsche, während er sich sonst – reinlich wie er war – stets gründlichst von oben bis unten wusch.

»Du kannst dich ruhig ausziehen«, knurrte Ruge endlich. »Ich weiß längst, wie du aussiehst. Du benimmst dich echt hirnverbrannt.«

Koslowski reagierte nicht.

»He, sprichst du nicht mehr mit mir?«

»Doch, aber ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich weiß es wirklich nicht.«

»Na, wenn du es nicht weißt, weiß ich es auch nicht«, reagierte Ruge, Resignation in der Stimme. Sein Verstand wollte, dass Koslowski so schnell wie möglich wieder aus seinem Leben verschwand, aber das war die Oberfläche. Und dieser Verstand bekam stets mehr Mühe, ihn von der Richtigkeit der Entwicklung zu überzeugen. War es nicht doch besser, auf das Kompromissangebot einzugehen? In der Sache gab es sowieso keine Meinungsverschiedenheit. Koslowski wollte das Versprechen, sexuell nicht angefasst zu werden. Das konnte er haben. Ruge hätte sich ihm sowieso nicht aufgedrängt, schon gar nicht mit Gewalt. Dafür war er viel zu stolz. Aber es war genau derselbe Stolz, der ihn hinderte, das Versprechen zu geben. Es war eine Zumutung, tastete den Kern seines Selbstverständnisses an.

Und so war er an diesem Morgen wieder einmal in einer Lebenssituation, in der er nicht weiterwusste, das Gefühl hatte, dass alles, was er tat und alles, was er nicht tat, verkehrt war. Und schlimmer noch: Auf die eine oder andere Art verkehrt sein musste!

Jedenfalls war er heilfroh, als die Zellentür aufgeschlossen wurde, und der diensttuende Beamte wissen wollte, ob Interesse am Gottesdienstbesuch bestünde.

Ruge nickte, fragte dann Koslowski: »Kommst du mit?«

»Nein«, antwortete dieser.

So, dass der Beamte das Gesagte nicht verstehen konnte, brummte Ruge ihm ins Ohr: »In fünfzig Jahren bist du nicht nur schwul, sondern auch fromm.«

»Niemals«, trumpfte Koslowski auf.

»Und ob«, entgegnete Ruge, »und zwar auch ohne meine hilfreiche Unterstützung.«

»Ich komme hier wieder raus«, flüsterte Koslowski zurück, während der Beamte sich vor der geöffneten Zellentür mit einem Kollegen unterhielt.

»Alles Gute dabei und Gottes Segen«, murmelte Ruge. Er meinte es sogar ernst, aber ein spöttischer Unterton lag natürlich dennoch in der Antwort.

»Weißt du, was du bist«, rief Koslowski, »ein verdammt gemeiner Schuft!«

»Und du bist ein verdammt gemeiner Trottel«, rief Ruge zurück, »aber das habe ich dir schon mal gesagt.«

»Was hat er denn?«, fragte der Beamte Ruge auf dem Gang. »Ist er wieder depressiv?«

»Nein, das Lebblebie ist wütend.«

»Na, wenn er wütend ist, bringt er sich jedenfalls nicht um«, sagte der Beamte trocken. »Übrigens, Ruge, was ist ein Lebblebie?«

»Das ist ein Ausdruck aus einem Fantasieroman, toll geschriebenes Ding. Aber das muss ich Ihnen erklären, wenn mehr Zeit ist.«

»In Ordnung«, antwortete der Beamte.

Den Gottesdienst nahm Ruge kaum in sich auf, die Worte des Geistlichen rauschten an ihm vorbei. Eigentlich war er in der Zelle, bei Micha. Der musste sich doch auch grämen! Auch Heteroburschen, so doof sie meist auch sonst waren, waren schließlich Knülche aus Fleisch und Blut!

Als er zurückkam, lag der bewusste Heterobursche angekleidet auf dem Bett und las.

»Ich habe mir eines von deinen Büchern genommen«, meinte er, »du hast doch nichts dagegen?«

»Nein, natürlich nicht«, erwiderte Ruge und hätte fast wieder ›Trottel‹ hinzugefügt, schluckte die gutgemeinte Beschimpfung aber gerade noch rechtzeitig hinunter. »Übrigens, ich habe dem Schulz gesagt, dass er dich in Ruhe zu lassen hat.«

»Danke«, entgegnete Koslowski und las weiter.

Ruge setzte sich und betrachtete den Alterskameraden. Der war so vertieft, dass er es nicht bemerkte oder nicht bemerken wollte.

Eigentlich war er ein verdammt hübscher Kerl, vielleicht nicht der Allerhübscheste, doch wenn man ihn mit Augen der Zuneigung betrachtete, konnte man sicher verrückt nach ihm werden. Und er hatte sich in der vergangenen Woche deutlich erholt. Körper und Gesicht wirkten wieder straffer. Und der Streit hatte ihm auch ein wenig Farbe ins Gesicht getrieben und etwas Kampflust in die Augen. Das Leben hatte ihn wieder.

Ruge durfte sich auf die Schulter klopfen, denn das war nicht zuletzt sein Verdienst. Nur konnte er keine Belohnung erwarten. Aber je mehr er über die Angelegenheit nachdachte, umso verständlicher wurde ihm Koslowskis Reaktion. Der war, hundertmal mehr als er selbst, ein Produkt dieser Welt, dieses Volkes, dieser Zeit, dieser Gesellschaft. Und diese Gesellschaft tolerierte Homosexualität, betonte dies auch bei jeder Gelegenheit. Ansonsten aber herrschte hinsichtlich des Phänomens Achselzucken und innerliche Distanz. Die Schwulen, ach ja, die waren nun mal so, wie sie waren. Und genau damit waren sie für Ruge in der Sache gefährlichere Gegner als alle wirklichen Feinde, jedenfalls dann, wenn er einen Jungen wie Klaus-Michael für sich einnehmen wollte.

In dessen Vorstellungswelt waren Schwule Tunten oder Lederfetischisten, denn diese beiden Gruppen bestimmten das Bild in der Öffentlichkeit. Beider Gruppen Selbstrepräsentation stieß ihn aber ab. Niemals würde Koslowski sich in ihnen spiegeln wollen.

Manchmal kam Ruge die Idee, die Toleranz sei eine besonders raffinierte Waffe der Feinde, um die Schwulen vorführen zu können und die alleinige Normalität des Kodes der Asymmetrie, also der Beziehungen unterschiedlicher Geschlechter, zu befestigen und zu unterstreichen. Aber die Schwulen führten sich natürlich selbst vor und ließen in Jungen wie Klaus-Michael die sicher ebenfalls vorhandene Pflanze gleichgeschlechtlicher Anziehung nicht an die Oberfläche kommen.

Für letzteres gab es allerdings noch einen zweiten Grund: die Kultur der Modeme.

Gleichberechtigung, oder was darunter verstanden wurde, Koedukation auf allen Ebenen und in allen Lebensaltern, hatten eine Mischgesellschaft entstehen lassen, in der die Lautesten und Aufdringlichsten das allgemeine Klima beherrschten. Oberflächlichkeit war Trumpf geworden. Für Subtilität und Zwischentöne war nur noch wenig Raum. Männliche Annäherung, vor allem wenn Gefühl im Spiel war, vollzog sich aber immer zögernd, vorsichtig, indirekt, subtil. In der Vergangenheit hatten junge Männer für Derartiges einige natürliche Freiräume besessen, die selbstverständlich nicht zu diesem Zweck geschaffen worden waren, aber genau diese Funktion erfüllt hatten. Heutzutage gab es jedoch keinen öffentlichen Bereich mehr, in dem junge Männer auf natürliche Weise, vor allem auch über Klassen- und Berufsschranken hinweg, ausschließlich miteinander zu tun hatten, um einen Prozess der komplizierten gegenseitigen Annäherung vollziehen zu können. Als letzte ausschließlich jungmännliche Bastion hatte die Marine des Staates Marken vor drei Jahren buchstäblich die Segel streichen und ihre Ausbildungssegelschiffe der sogenannten geschlechtsneutralen Ausbildung öffnen müssen. Die Folge des Ganzen war, dass Jungen bereits im Alter von vierzehn, fünfzehn Jahren ihre feste, meist gleichaltrige Freundin hatten, ein menschliches Korsett, aus dem viele nicht mehr herauskamen. Ruge war der Überzeugung, dass der vor ihm liegende Koslowski ein solches Korsett mit Gewalt aufgesprengt hatte, eine Vermutung, die er durch dessen heftige Reaktion in der vergangenen Nacht bestätigt sah.

Gleichgeschlechtliche Emotionalität wurde jedenfalls durch die gesellschaftliche Wirklichkeit viel nachhaltiger im Keime erstickt, als Verbote und Verfolgung dies jemals hätten tun können. Unter diesen Umständen war der Mantel der Toleranz gegenüber dem Phänomen der gleichgeschlechtlichen Liebe leicht zu tragen, denn die meisten Homosexuellen befestigten und stärkten letztlich die sogenannte Normalität und bedrohten sie nicht.

Nein, Ruge hatte keine Affinität zu dieser Welt dort draußen, auch war sein Freiheitshunger tausendmal größer als der der meisten Insassen von Klagenburg, eine Gegebenheit, die er intelligent zu verbergen wusste.

Koslowski las noch. Soviel Leseeifer hätte Ruge ihm nie zugetraut. Aber der gute Junge musste die Zeit natürlich überbrücken. Wenn er nicht reden wollte, blieb ihm kaum eine andere Wahl als zu lesen. Sich schlafend zu stellen, wäre dumm und durchsichtig gewesen.

Mit großer Unruhe bemerkte Ruge, dass er zum ersten Mal richtig geil wurde. Michas elender Zustand hatte dieses Elementarempfinden bisher nicht entstehen lassen. Aber jetzt war es da. Und leider richtete es sich nicht nach Gesichtspunkten der Sinnhaftigkeit und Zweckmäßigkeit.

»Mist«, murmelte Ruge vor sich hin, und Koslowski sah auf.

»Was ist denn?«

»Selbstgespräche.«

»Jetzt schon? Was machst du in fünfzig Jahren?«

»Hängen«, antwortete Ruge. »Bis dahin habe ich nämlich einen Lustmord an dir begangen.«

Ihre Augen trafen sich.

»Ich will nicht mehr sterben«, antwortete Koslowski.

»Dann bekommst du morgen eine andere Zelle und ich einen Orden für soziale Verdienste.«

Eine Weile schaute der Zellenkamerad ihn an, ohne etwas zu erwidern. Dann meinte er: »Du bist auch ein Trottel.«

Sie konnten die Diskussion, die vielleicht doch noch zu irgendeinem guten Ende geführt hätte, nicht fortsetzen, denn sie wurden abgeholt. An den Sonntagnachmittagen war Freizeit – Sport, Film, Spiel – der große Tag der Woche.

Ruge wurde von Mitgefangenen angesprochen, unterhielt sich, spielte Karten. Erst gegen Abend sah er Koslowski wieder. Den abgebrochenen Gesprächsfaden nahmen sie nicht wieder auf. Micha bat, ihn Schach zu lehren, und Ruge tat es. So verlief der wahrscheinlich letzte gemeinsame Abend in sachlicher Atmosphäre.

Artig sagte Micha später ›Gute Nacht‹. Dann kam der Montag.

Ruge wurde von Wehmut beherrscht, doch gelang es ihm, die Empfindung im Laufe der Arbeitsstunden in Gefühllosigkeit umzuwandeln.

Nachmittags erschienen Beamte der Direktionsabteilung.

»Mathias Ruge, wer ist das?«, riefen sie in den Arbeitssaal Er meldete sich.

»Der Direktor will Sie sprechen. Kommen Sie mit!« Er ließ die Arbeit liegen und folgte ihnen.

Jetzt würde er zu hören bekommen, dass er seine Schuldigkeit getan habe und Koslowski verlegt werden würde. Immerhin war es korrekt, dass der Direktor ihm eine Gelegenheit zur Stellungnahme gab.

Auch heute musste Ruge warten, bis er vorgelassen wurde. Irgendeine Besprechung zog sich in die Länge.

Dann aber stand er erneut im Zimmer des obersten Chefs. Wieder wurde ihm ein Sessel angeboten, bekam er Kaffee mit Milch und Zucker.

»Sie haben dem Koslowski gut auf die Beine geholfen. Ich habe mich nicht in Ihnen getäuscht«, eröffnete der Direktor das Spiel mit einer Belobigung. Und dann sagte er: »Ich werde euch zusammenlassen und eine etwas größere Zelle anweisen.«

Der Direktor wusste also noch nichts!

»Ich bin mir nicht sicher, ob Micha, ich meine Koslowski, mit mir zusammenbleiben will«, warf Ruge vorsichtig ein.

»Natürlich will er. Ich habe ihn mir heute Morgen vorführen lassen und ausdrücklich gefragt. Die Angelegenheit ist gegessen. Wir werden auch die besondere nächtliche Überwachung einstellen. Koslowski tickt wieder normal.«

»Ja, ja«, erwiderte Ruge verwirrt.

»Aber deswegen habe ich Sie nicht kommen lassen«, fuhr der Direktor fort. »Es geht um Sie. Es wird Sie vielleicht wundem, aber man interessiert sich noch immer für Ihren Fall. Sie werden noch einmal psychiatrisch untersucht. In den nächsten Tagen kommen zwei Wissenschaftler aus der Hauptstadt, vom Regierungsinstitut für psychologische Sonderstudien.«

Ruge war überrascht. »Aber ich habe schon ein halbes Dutzend Psychiater zur Verzweiflung gebracht. Und mein Fall ist abgeschlossen.«

»Arbeiten Sie trotzdem voll und ganz mit. Wenn diese neuen Leute einen Erklärungsansatz finden, haben Sie wieder eine Chance. Das wären dann neue Gesichtspunkte, und Sie könnten einen zweiten Prozess bekommen. Und vielleicht sieht das Gericht dann doch mildernde Umstände, und Sie kommen auf diese Weise vom ›Lebenslang‹ herunter, erhalten nur zehn oder fünfzehn Jahre. Auch ein solches Urteil ist noch eine verdammt harte Sache, aber Sie hätten wieder eine Perspektive!«

Ruge nickte, konnte sich aber keinen Reim auf den Vorgang machen. »Unter dem Namen ›Institut für psychologische Sonderstudien‹ kann ich mir nichts vorstellen.«

»Niemand kann sich etwas darunter vorstellen.«

»Warum heißt es dann so?«

»Wahrscheinlich, damit sich niemand etwas darunter vorstellen kann.«

»Wissen Sie Näheres?«

»Nein«, lautete die knappe Antwort, doch Ruge hatte das Gefühl, dass es eine Lüge war.

Und dann sagte der Direktor: »Ich lasse Sie jetzt zurückbringen. In den nächsten Tagen hören Sie mehr. Ach ja, noch zu Ihrer Information: Es ist veranlasst, dass der Koslowski ebenfalls noch einmal untersucht wird.«

Hellwach kam Ruge wieder zu seinem Arbeitsplatz. Inzwischen war eine kurze Pause gewesen. Man hatte ihm einen Becher Tee aufgehoben, doch er trank nicht, griff nach dem Stück gefalteten Papier, welches unter dem Becher lag.

»Dein Zellenkollege war in der Pause hier«, erklärte sein Arbeitsplatznachbar, »er hat dich gesucht.«

Ruge faltete den Zettel auseinander und las: »Es tut mir leid. Entschuldige!«

Am liebsten hätte er einen Freudensprung gemacht. Dem Koslowski, dem verdammten Kerl, tat wahrscheinlich gar nichts leid, aber er wollte, dass sie zusammenblieben. Aus welchem Grund auch immer!

4

Als Ruge in die Zelle zurückgebracht wurde, war Micha schon da, lächelte vorsichtig, Ruge sah ihn aufmunternd an. Die Chemie stimmte wieder.

Natürlich blieben Punkte, die sie sauber ausdiskutieren mussten, doch hatte er beschlossen, das Ganze aus einem zeitlichen Abstand zu tun. Eine sexuelle Annäherung würde er auf jeden Fall unterlassen, auch wenn ihm dies an manchen Tagen große Disziplin abverlangen würde. Aber unabhängig davon, dass Aufdringlichkeit ohnehin nicht seine Natur war, fand er das Risiko zu hoch. Möglicherweise würde er den Kameraden dann doch noch verlieren. Kein