Die dritte Sünde - Eva-Ruth Landys - E-Book
SONDERANGEBOT

Die dritte Sünde E-Book

Eva-Ruth Landys

0,0
2,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 2,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

England 1838: Die Krönung der jungen Victoria steht bevor. Auch Isobel de Burgh, wohlbehütete und egoistische Tochter des Herrn von Whitefell, soll daran teilnehmen. Vor allem, um sich im Rahmen der überbordenden Feierlichkeiten in London einen geeigneten, möglichst adeligen Gatten zu angeln. Doch dann kommt alles ganz anders. Mr Havisham, der reiche Geschäftsfreund ihres plötzlich verarmten Vaters, bekundet deutliches Interesse an ihr. Isobel ist verärgert und enttäuscht. Weiß Lady Craven, die weltgewandte und leichtlebige Freundin ihrer verstorbenen Mutter, vielleicht Rat? Und was hat Havisham mit dem überraschenden Tod David de Burghs, des rechtmäßigen Erben Whitefells, zu tun? Währenddessen zeigt sich auf Whitefell Cathy - Tochter des Landverwesers und Isobels langjährige ungleiche Spielgefährtin wider Willen - erleichtert, endlich von ihrer ungeliebten Herrin befreit zu sein. Doch die kleine Freude währt nicht lang. Isobel kehrt zurück als Verlobte Havishams und erzwingt Cathys Dienste erneut. Cathy wird Isobels Zofe - nicht zuletzt, um deren intime Eskapaden zu decken. Es gibt da nämlich den ausgesprochen verführerischen jungen Stallmeister Aaron Stutter auf Whitefell, der nicht nur Isobels erotische Fantasien beflügelt. Doch Aaron hat ein schreckliches Geheimnis - und er liebt die scheue Cathy. Eine verhängnisvolle Ménage à trois beginnt, die geradewegs in eine Katastrophe führt ...

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 795

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Eva-Ruth Landys

Die dritte Sünde

Roman

Bookspot Verlag

Impressum

Die dritte Sünde

ist der erste Band eines auf drei Teile angelegten,

spannend-erotischen Gesellschaftsromans aus dem

victorianischen England.

Es folgen:

Stadt der Schuld

Wege nach Eden

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht der mechanischen, elektronischen oder fotografischen Vervielfältigung, der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, des Nachdrucks in Zeitschriften oder Zeitungen, des öffentlichen Vortrags, der Verfilmung oder Dramatisierung, der Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen, oder Video, auch einzelner Text- und Bildteile.

Alle Akteure dieses Romans sind fiktiv, Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig und sind von der Autorin nicht beabsichtigt.

Copyright © 2012 by Edition Carat, ein Imprint von Bookspot Verlag GmbH

1. Auflage

Lektorat: Eva Weigl

Satz/Layout: Martina Stolzmann

Covergestaltung: Nele Schütz Design, München,

unter Verwendung eines Motivs von Thinkstock

E-Book: Mirjam Hecht

Druck: CPI – Clausen & Bosse, Leck

Made in Germany

ISBN 978-3-937357-82-9

www.bookspot.de

Widmung

Für Brigitta

Zitate

Wohl brach sie die Ehe, doch brach erst die Ehe sie.

Zarathustra über die Ehebrecherin

Die Ehe ist die Prostitution der Frau zum Zwecke der Versorgung.

Clara Zetkin (Ausgang des 19. Jahrhunderts)

Die sieben Todsünden

Hochmut

Geiz

Wollust

Zorn

Völlerei

Neid

Faulheit

Whitefell House, Wiltshire, Frühjahr 1833

Kapitel 1

»Du kannst schließlich nichts dafür, dass du so schrecklich aussiehst!« Das blonde, zwölfjährige Mädchen winkte ungeduldig mit der Hand. Was für ein begriffsstutziges, dummes Ding war dieses schmutzige Mädchen doch nur! Verstand sie denn nicht, dass sie mit ihr kommen sollte? Doch die Kleine zögerte weiterhin, zu schüchtern, auch nur den Blick zu heben. »Ich zeige dir auch meine schönste Puppe«, lockte Isobel listig. Sie würde das Mädchen schon noch dazu bringen, ihr zu folgen. Schließlich bekam sie fast immer ihren Willen. Das wäre ja gelacht!

»Aber sie werden mich nicht hineinlassen!«

Immerhin hatte sie nun endlich den Mund aufgemacht.

»Unsinn! Wenn ich sage, du darfst hereinkommen, dann darfst du hereinkommen. Schließlich bin ich Isobel de Burgh.« Isobel reckte selbstbewusst das Kinn.

»Ich weiß!«, die Kleine wagte nun einen vorsichtigen Blick auf die beeindruckende, in ein mit Spitzen und Schleifen versetztes weißes Kleid gewandete Gestalt des Mädchens vor ihr. »Ich habe dich schon öfter gesehen, wenn du draußen im Garten warst.«

»Hast du mich etwa beobachtet?«, fragte Isobel mit gespielter Empörung. Insgeheim schmeichelte ihr der Gedanke, von den Landarbeiterkindern neidisch bewundert zu werden. Die Kleine sank förmlich in sich zusammen vor Scham. Offensichtlich hatte sie sie tatsächlich heimlich beobachtet. Schuldbewusst betrachtete das schmächtige Mädchen intensiv die Spitzen seiner schlammbespritzten Holzpantinen.

»Du brauchst dich nicht zu schämen. Die anderen Kinder hier auf dem Gut machen das auch«, tröstete Isobel sie generös. »Aber nun komm endlich!«

Eingeschüchtert setzte sich das Kind in Bewegung und trottete folgsam hinter Isobel her.

»Wie heißt du eigentlich?«, fragte Isobel neugierig. Sie hatte das Mädchen noch nie auf dem Gut gesehen. Vielleicht war sie die Tochter des kürzlich neu eingestellten Feldpflegers ihres Vaters. Der alte Rapkin hatte sich im Winter zur Ruhe gesetzt und ihrem Vater den Mann als fleißig und vertrauenswürdig empfohlen. So war dieser Neue, Thomson hieß er wohl, erinnerte sich Isobel, aus dem Munde ihres Vaters gehört zu haben, mit Sack und Pack in das Haus vom alten Rapkin eingezogen, das eine dreiviertel Meile vom Herrenhaus entfernt auf den Besitzungen ihres Vaters stand.

»Kathleen«, wisperte das schmutzige, unansehnliche Geschöpf, »aber daheim nennen mich alle Cathy.«

»Und warum bist du so furchtbar schmutzig, Cathy?«, fragte Isobel nun mit leichtem Spott in der Stimme. »Hast du keine Mama, die dir sagt, dass du dich waschen sollst?«

Cathy senkte einmal mehr schuldbewusst den Blick. »Nein«, stotterte sie, »meine Mama ist im Himmel. Sie ist vor vier Jahren gestorben, als unser Billie auf die Welt kam.«

»Oh, das tut mir leid! Meine Mama ist auch schon lange tot«, meinte Isobel leichthin. Sie konnte sich an ihre Mutter, die wohl sehr schön gewesen sein musste, wenn sie den Erzählungen von Mrs Branagh Glauben schenken konnte, nicht erinnern. Sie war ein Jahr nach ihrer Geburt an einer Lungenentzündung gestorben. Isobels Vater, der ehrenwerte Mr Francis de Burgh, hatte daraufhin nicht erneut geheiratet. Ihre Mutter war bereits seine zweite Frau gewesen. Auch seine erste Frau war vorzeitig gestorben. Aus dieser Ehe war ein Sohn hervorgegangen, inzwischen erwachsen und Offizier bei der East-India-Trading-Company. Daniel war lange nicht mehr zu Hause gewesen. Er verstand sich nicht gut mit seinem Vater, der zwar kein herrisches Wesen hatte, aber zuweilen doch recht dickköpfig sein konnte. Nur ihr gegenüber zeigte sich der Vater ungewöhnlich nachgiebig und las ihr fast jeden Wunsch von den Augen ab. Ein Umstand, den Isobel durchaus für ihre Zwecke zu nutzen wusste.

Inzwischen hatten die beiden Kinder die weitläufigen Gartenanlagen des Herrenhauses durchquert. Cathy blickte unsicher zu den Erkern und Türmchen des wuchtigen Gebäudes auf, das aus weißem Kalkstein erbaut in der Abendsonne des noch kühlen Frühlingstages aufleuchtete. Das Haus wirkte, obwohl sie nun schon Zeit gehabt hatte, sich an seinen Anblick zu gewöhnen, immer noch wie ein Märchenschloss auf sie. Und nun sollte sie es betreten? Sie wagte kaum zu hoffen, dass ihr dieser geheime und ebenso ungeheuerliche Wunsch erfüllt werden sollte. Sicher würde man sie davonjagen. Warum hatte sie sich auch nicht noch gesäubert, als sie beschlossen hatte, wieder einmal einen Blick auf das schöne Mädchen zu werfen, das fast täglich um die gleiche Zeit in den Parkanlagen auftauchte? Ihr Vater hatte ihr ärgerlich nachgerufen, als sie sich von der Feldarbeit davonstahl. Es hatte am Morgen heftig geregnet und so war der Acker mit den Feldfrüchten, die für das Herrenhaus mit seinen vielen Bediensteten angebaut wurden und dessen Bestellung dem Vater oblag, schlammig und glitschig gewesen. Mehrmals war sie ausgerutscht und hingefallen. Nicht zuletzt deshalb, weil der vierjährige Billie immer wieder fortlief, um irgendeiner kindischen Grille, die ihm in den Kopf kam, zu folgen und sie gezwungen war, ihm nachzulaufen. Schließlich hatte sie sein Bein mit einem Strick am nächstbesten Baum festgebunden. Der Kleine hatte geschrien und geweint und ohne Erfolg versucht, den festen Knoten zu lösen, aber sie hatte sich nicht erweichen lassen. Die Arbeit musste getan werden und Billie war einfach noch zu klein und unvorsichtig, um allein herumstreifen zu können. Doch dann war sie die Plackerei und Billies fortwährendes Greinen endlich leid gewesen. Sollte sich doch Mary, ihre neunjährige Schwester, einmal um den Bruder kümmern. Alles hing immer an ihr! Seit dem Tod ihrer Mutter hatte sie die Pflichten der Hausfrau vollständig übernehmen müssen. Es war anfangs sehr hart für sie gewesen. Der Vater war ein wortkarger Mann, seit Mutters Tod geradezu verschlossen, dem kaum einmal ein Lob über die Lippen ging, geschweige denn ein Rat oder tröstende Worte. Wie selbstverständlich erwartete er von ihr, dass sie der Aufgabe der Versorgung des Hausstandes in vollem Umfang gerecht werden konnte – und das, seit sie acht Jahre alt war. Aber was sollte sie darüber groß klagen? Das war eben ihr Schicksal. Außerdem sorgte der Vater selbst so gut er konnte für seine Kinder, schlug sie selten und betrank sich nicht, wie so viele andere Landarbeiter, die sie kannte. Sie gab sich im Gegenzug alle Mühe ihren Aufgaben nachzukommen, obwohl sie früher mit vielem überfordert gewesen war. Waschen, putzen, kochen, die Versorgung des Viehs und die Sorge für die kleinen Geschwister waren eine harte Arbeit für ein knochiges, kleines Mädchen. Vielleicht war sie auch deshalb so dürr und klein geblieben, überlegte sie, scheu die aufrechte, gertenschlanke Gestalt von Isobel de Burgh betrachtend. Wie sollte man aber wachsen, wenn einen ständig schwere Wäschekörbe und andere Lasten niederdrückten?

War es denn so falsch, wenn sie sich einmal ein kleines Vergnügen gönnte? Und ein unsägliches Vergnügen war es für sie, das schöne, blonde Mädchen in seinen weißen Kleidern zu beobachten, wenn es im Park draußen spielte. Isobel de Burgh sah in der Tat aus wie eine Märchenprinzessin. Ihr Haar war sorgsam zu zierlichen Locken gelegt und mit Bändern und Kämmen kunstvoll hochgesteckt worden. Die blonde Pracht umrahmte ein fein geschnittenes Gesicht mit einer etwas vorwitzigen kleinen Nase und einem Mund mit vollen Lippen. Ihre Haut war golden und ebenmäßig, ganz anders als die eher blasse und entsetzlich sommersprossige Haut von Cathy, deren Gesicht, Beine und Hände von der Arbeit und Billies Wutausbrüchen, die ihn in letzter Zeit immer wieder plagten, zerkratzt und rau waren. Wo Isobels Augen von einem hellen, durchscheinenden Blau waren, schienen die von Cathy, obwohl ebenfalls blau, eher dunkel, fast violett. Auch Cathys Haar konnte keinen Vergleich mit den engelhaften Locken Isobels aushalten, stellte Cathy betrübt fest. Es hatte eine eher unspektakulär haselnussbraune Farbe mit einem Stich ins Rötliche, der sich mit den Jahren immer mehr verstärkte, und fiel in formlosen Naturwellen über ihren Rücken. Ein schwaches Erbe ihrer Mutter, die flammend rotes, wild gelocktes Haar gehabt hatte. Am schlimmsten fand Cathy jedoch ihr spitzes Gesicht mit den hohen Wangenknochen, das durch Überarbeitung und die eher karge Ernährung ausgemergelt wirkte. Kein Wunder, dass Isobel gesagt hatte, sie sähe schrecklich aus! Es musste wirklich stimmen. Das Ganze wurde betrüblicherweise auch nicht verbessert durch ihr grobes, abgetragenes Kleid aus Wollstoff, der sie ständig kratzte und ihre Haut reizte, aber sie hatte für diese Jahreszeit nichts anderes. Außerdem war sie im letzten Winter noch ein Stück gewachsen. Der Vater hatte ihr mit Ärger in der Stimme beschieden, er habe jetzt kein Geld, um neue Kleidung zu kaufen. Wenn sie etwas brauche, müsse sie sich eines der noch vorhandenen Kleidungsstücke ihrer Mutter umnähen und kürzen. Sie hatte es sich vorgenommen, aber dann war das Angebot, die Stelle als Landarbeiter auf dem Gut Whitefell anzutreten, an den Vater herangetragen worden. Dieser hatte ohne zu überlegen zugegriffen. Versprach die Stelle doch ein, wenn auch bescheidenes, so aber doch regelmäßiges Einkommen. Auch eine bessere Wohnung als die winzige Kate, in der sie als Pächter eines zu kleinen Stückchen Ackers in der Grafschaft Wiltshire im Hinterland von Marlborough bisher gewohnt hatten. Es war ein wahrer Segen. Und so hatten der Umzug und alle Arbeit, die damit einherging, bisher verhindert, dass sie sich um neue Kleider hätte kümmern können. Das musste noch warten. Mit ihrer geringen Habe hatten sie sich auf den Weg nach Whitefell gemacht und nun lebten sie hier in der Nähe dieses märchenhaften Hauses und der nicht minder märchenhaften Wesen, die darin ein- und ausgingen.

Die Haushälterin Mrs Branagh, welche die Nebenpforte, die zu den Parkanlagen führte, auf Isobels energisches Läuten hin öffnete, schaute allerdings alles andere als märchenhaft drein, als sie das völlig verdreckte Kind im Schlepptau ihrer jungen Herrin erblickte. Was hatte sich Miss Isobel nun wieder in den Kopf gesetzt? Sie konnte doch unmöglich dieses schmutzige, überaus gewöhnliche Landarbeiterkind mit ins Haus nehmen wollen! Doch der vielsagende Seufzer der Haushälterin blieb natürlich unbeachtet. Isobel de Burgh duldete keinen Widerspruch. »Das ist Cathy. Sie darf mich heute besuchen«, sagte die Zwölfjährige in selbstbewusstem Tonfall. Er war Mrs Branagh nur zu vertraut. Hier konnte nichts verboten, allenfalls verhandelt werden. »Miss Isobel, soll sich Cathy nicht erst säubern, bevor sie das Haus betritt? Mr de Burgh könnte ärgerlich werden und ich will gar nicht wissen, was Miss Hunter dazu sagen wird.«

»Ach, Miss Hunter, diese Meckerziege«, gab Isobel ungnädig zurück. »Sie wird ohnehin etwas zu nörgeln finden, wie immer!«

»Oft hat sie doch auch recht«, meinte Mrs Branagh, auf Einsicht hoffend.

»Hat sie nicht!« Isobels blaue Augen blitzten gefährlich.

Mrs Branagh ruderte augenblicklich zurück. »Ich mache Ihnen einen Vorschlag, Miss Isobel. Ich werde Cathy in die Waschküche führen und dort kann sie sich säubern. Es ist noch Seifenlauge vom Waschtag übrig. Vielleicht hat sie Glück und das Wasser ist sogar noch warm. Sobald sie fertig ist, kann sie zu Ihnen heraufkommen.«

»Nun gut!« Isobel nahm das Angebot der Haushälterin hoheitsvoll entgegen. Dann strahlten ihre Augen unternehmungslustig. »Ich werde in der Zwischenzeit mit Ruby meinen Kleiderschrank durchforsten. Sicher finde ich ein Kleid, das mir längst zu klein ist. Das dürfte Cathy passen! Und dann können wir schön spielen«, fügte sie an die in ängstlicher Ehrfurcht erstarrte Cathy gewandt hinzu. »Also beeil dich!«

Isobel, die Tochter des Hausherrn, lief davon, um ihren verwegenen Plan in die Tat umzusetzen. Natürlich war ihr klar, dass ihre ältliche Gouvernante, Miss Hunter, einen furchtbaren Aufstand machen würde, wenn sie erfuhr, dass Isobel es gewagt hatte, ein Feldarbeiterkind mit ins Haus zu bringen. Das war außerhalb jeder Vorstellung der auf Anstand und Sitte bedachten Miss Hunter. Und es war genau das, was Isobel daran reizte, das Mädchen mit in ihr Reich zu nehmen. Es bereitete ihr eine diebische Freude, Miss Hunter zur Weißglut zu treiben. Diese wurde schon lange nicht mehr mit ihr fertig. Isobel tat, was sie wollte. Eine Miss Hunter hatte ihr nichts zu sagen und noch weniger zu befehlen. Und wenn sich die Gouvernante auch mindestens jeden dritten Tag bei Isobels Vater über deren Ungezogenheit beschwerte, so wusste Isobel doch, dass ihr seitens ihres Vaters keinerlei Gefahr drohte. Sie war sich sicher, dass er sie auf jeden Fall in Schutz nehmen und verteidigen würde, auch, wenn die Anwürfe Miss Hunters zugegebenermaßen noch so berechtigt waren. Das kleine, schmutzige Arbeiterkind im Haus und gar in den Privaträumen der Herrschaftsfamilie würde einen neuen Nagel am Sarg der Gouvernante bedeuten, an dem Isobel nun schon seit Jahren unermüdlich schuftete. Sie stürzte in ihr Zimmer, wo das Dienstmädchen Ruby – wie jeden Abend – damit beschäftigt war, die achtlos herumliegenden Kleidungsstücke, Spielsachen und Bücher aufzusammeln, die Isobel mit genau der gleichen Regelmäßigkeit am nächsten Tag wieder auf dem Fußboden zu verteilen gedachte.

»Ruby, lass das jetzt! Ich brauche deine Hilfe!« Isobel hatte bereits den wuchtigen Kleiderschrank aufgerissen und begann wie eine Furie darin herumzuwühlen. Die stoffgewordenen Beweise besten schneiderischen Könnens flogen achtlos hinter ihr auf den Boden. »Ich brauche unbedingt ein Kleid von letztem Frühling oder Sommer. Du hast sie doch nicht etwa weggeworfen?!« Ihr drohendes Gesicht tauchte aus dem Schrank auf.

»Nein, selbstverständlich nicht, Miss Isobel. Das würde ich nie wagen. Aber ich habe sie auf Anweisung von Miss Hunter auf den Speicher gebracht, damit Sie wieder Platz im Schrank haben für Ihre neuen Kleider.«

»Na dann! Worauf wartest du noch? Hole sie herunter!«, herrschte Isobel die Magd an, die sich daraufhin eiligst auf den Weg machte.

Kapitel 2

Cathy folgte der Haushälterin, die sie noch einmal mit einem tadelnden Seufzer gemustert hatte, die Treppe hinunter an den Wirtschaftsräumen vorbei in die Waschküche, die im hinteren Bereich des Hauses lag. Der kalte, zugige Raum war mit rohen Steinplatten ausgelegt, wurde aber durch die großen Fenster und die zweigeteilte Tür, die zum Gerätehof hin geöffnet war, ausreichend erhellt.

»Zieh dich aus, Mädchen«, befahl Mrs Branagh ohne Umschweife und wies mit der Hand auf einen der fünf großen Holzbottiche, die in einer Reihe auf dem Boden standen. In jedem lehnte ein Waschbrett aus Holz, weitaus größer als das, das Cathy zu Hause ihr Eigen nannte. Es mussten sicher jeweils zwei Wäscherinnen daran arbeiten. Das Mädchen staunte über die Ausmaße der Waschküche, die ihr eher wie ein Waschpalast vorkam. Von so etwas konnte sie nur träumen. Aber es war ihr durchaus verständlich, dass ein so vornehmes Haus wie Whitefell natürlich viel saubere Wäsche benötigte. Davon zeugten auch die zahllosen Wäscheleinen draußen auf dem Gerätehof. Dieser war bis auf einen breiten Zufahrtsweg mit einer dichten Hecke umgeben, um den erhebenden Eindruck, den Besucher von Whitefell bekommen sollten, nicht zu stören.

»Erst wäscht du diesen unansehnlichen Fetzen, den du dein Kleid nennst, dann dich selbst und dann deine Pantinen, hast du mich verstanden?«, sagte Mrs Branagh streng. »Dann wirst du den Bottich ausschöpfen und säubern. Und beeil dich gefälligst! Miss Isobel wartet nicht gerne.«

Cathy nickte verschüchtert. Die Haushälterin drückte ihr einen Schwamm in die Hand, musterte sie noch einmal mit hochgezogenen Brauen und verließ dann den Raum. Cathy zitterte in der Kälte. Schon jetzt schlugen ihr die Zähne aufeinander. Hoffentlich war die Lauge nicht schon eiskalt!

Zu ihrem Leidwesen war sie es. Aber sie musste auch sonst meistens mit kaltem Wasser auskommen und so biss sie die Zähne zusammen und tat, was man von ihr erwartete. Augenblicklich biss die Lauge in die vielen Abschürfungen und Kratzer. Am liebsten wäre sie wieder herausgesprungen, aber sie wagte nicht, sich der Anweisung zu verweigern. Also ertrug sie den Schmerz tapfer und reinigte, nachdem sie sich wieder in ein sauberes menschliches Wesen verwandelt hatte, auch ihre abgetragenen Holzpantinen. Dann zog sie sich zitternd das nasse Gewand wieder über, nachdem sie es mit kräftigem Griff ausgewrungen hatte. Was hätte sie auch sonst anziehen sollen, nackt konnte sie wohl kaum zu Isobel de Burgh kommen. Daraufhin begann sie mit flinken Händen, den Bottich mit einem kleinen Eimer auszuschöpfen. Sie spülte gerade noch einmal mit frischem Wasser aus der bereitstehenden Wassertonne1 nach, als die Tür aufging und eine Dienstmagd, gefolgt von der missbilligend dreinblickenden Mrs Branagh, eintrat.

Die Dienstmagd hielt ihr mit mürrischem Gesicht ein bauschiges Kleid aus blauem Batist hin. Cathy wagte nicht es zu berühren, geschweige denn es anzuziehen. »Nun mach schon!«, drängte Mrs Branagh ungeduldig. »Miss Isobel wird nicht ewig warten! Ruby, du bringst dieses Geschöpf«, sie rümpfte die Nase ein wenig, als sie einen erneuten Blick auf Cathy warf, die sich inzwischen ihre nassen Lumpen vom Leib gerissen hatte und nun hastig in das blaue Schneiderwunder hineinschlüpfte, »dann hoch zu Miss Isobel.« Dann machte sie auf dem Absatz kehrt, nicht ohne Abfälliges über die verrückten Flausen der jungen Herrin vor sich hin zu murmeln.

Auch Ruby wirkte nicht gerade freundlich. Hatte ihr dieses nichtswürdige Ding von einem Landarbeiterkind doch noch mehr Arbeit aufgehalst, als sie sowieso schon zu bewältigen hatte – und das war bestimmt nicht wenig. Allein den Kleiderschrank wieder in Ordnung zu bringen, würde mindestens noch eine weitere Stunde Arbeit in Miss Isobels Zimmer bedeuten. Sie wartete ungeduldig ab, bis das Mädchen wieder in seine Pantinen geschlüpft war und zerrte es dann hinter sich her. Es war ohnehin eine lächerliche Farce. Das blaue Kleid passte zwar in der Länge, schlotterte der spindeldürren Cathy aber um die schmalen Hüften. Ruby hielt noch einmal inne, um mit der beigefügten weißen Schleife um die Taille wenigstens etwas Halt in das Kleidungsstück zu bringen. Abschätzig schnalzte sie mit der Zunge. Nun, so konnte man es wenigstens lassen. Hoffentlich würde Miss Isobel den lächerlichen Anblick akzeptieren und nicht von ihr verlangen, noch mehr Kleider vom Dachboden zu holen. Dann führte sie Cathy die Treppe hinauf wieder am Wirtschaftstrakt vorbei und betrat dann die große Halle im Erdgeschoss. Cathy blieb augenblicklich der Mund offen stehen. Sie hätte sich nie träumen lassen, dass solche Pracht möglich war.

Die Eingangshalle war riesig. Eine zweiflügelig geschwungene Treppe aus poliertem Holz führte hinauf in die oberen Etagen von Whitefell. An beiden Wänden des Treppenaufgangs blickten ernst wirkende Herrschaften von dunkel gewordenen Gemälden mindestens ebenso streng auf sie hinab wie vorher Mrs Branagh. Der Blick des Mädchens wanderte nach oben und saugte sich fasziniert an dem erstaunlichen Deckengemälde fest. So etwas hatte sie noch nie gesehen! Eine verwirrende Anzahl wohlgestalteter Menschen drängte sich um einen Wagen, auf dem ein Engel oder ein Held zu fahren schien. Strahlendes Licht umspielte die in goldene Tücher gewandete und mit einem Lorbeerkranz bekrönte Figur. Ob diese Hallendecke vielleicht in Wirklichkeit ein Tor zum Himmel war?, überlegte Cathy ehrfürchtig. Da befahl Ruby: »Zieh dir die Pantinen aus! Ich möchte nicht, dass du mit diesen groben Dingern hier herauflärmst. So weit kommt es noch!«

Voller Scham streifte Cathy die Schuhe ab und bückte sich, um sie in die Hand zu nehmen. Da erweckte eine halb geöffnete Tür auf der Westseite der Halle ihre Neugier. Der breite Spalt gewährte Einblick in einen hellen, lichtdurchfluteten Saal. Ein Ausruf des Staunens entfuhr ihr. Wenn die Decke das Tor zum Himmel war, so musste dies der Thronsaal Gottes selbst sein. Nie zuvor hatte sie etwas Prächtigeres gesehen. Nicht einmal die Kirche in Marlborough war so schön, und diese war doch wahrhaftig das Schönste, was man sich vorstellen konnte.

»Das gefällt dir wohl!«, sagte Ruby mit einem zufriedenen Lächeln, als ob es sich bei dem Saal um ihren persönlichen Besitz handelte. »Whitefell ist überall in Wiltshire berühmt für diesen Festsaal, das kannst du mir glauben, auch wenn er wenig genutzt wurde in den letzten Jahren. Als Master Daniel noch hier wohnte, gab es so wunderbare Bälle! Schade, dass er nicht hier ist und immer noch in diesem schrecklichen Bombay aushalten muss. Doch wenn Miss Isobel gesellschaftlich eingeführt sein wird, werden hier rauschende Feste gefeiert werden, das verspreche ich dir.«

Cathy hatte im Grunde nichts von dem, was Ruby ihr mitteilte, verstanden. Was um alles in der Welt war nur Bombay? Sie hatte dieses Wort noch nie gehört. Noch weniger konnte sie mit der Verheißung rauschender Feste etwas anfangen. Das Wasser eines Baches konnte rauschen, aber ein Fest? Das überstieg ihr Verständnis.

Diese vielen geheimnisvollen Fragen ließen ihre dunkelblauen Augen rund werden, aber Ruby ging nicht weiter darauf ein. Sie hatte wirklich nicht den ganzen Tag Zeit für diesen Unsinn! »Nun komm schon!«, raunzte sie das Mädchen einmal mehr an und stieg vor ihr die Treppe hinauf in das erste Obergeschoss, wo Miss Isobel beschlossen hatte, ihren ungewöhnlichen Gast zu empfangen.

Cathy kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Whitefell war wirklich ein Märchenschloss. Es musste direkt aus der Sagenwelt stammen, denn wie sonst konnte man sich diese prächtigen Flure und hohen, verzierten Türen erklären? Hinter jeder dieser Türen warteten sicher neue Wunder. Selbst die Wände der Flure waren mit kostbaren Stoffen bespannt, die offenbar nur dazu dienten, die herrlichen Gemälde noch besser hervorzuheben, auf denen Jagdszenen oder andere herrschaftliche Häuser in beeindruckenden Farben dargestellt waren.

Schließlich hielt ihre unwirsche Führerin vor einer zweiflügeligen Tür am Ende des langen Ganges, klopfte an und öffnete leise, als von innen ein helles »Ich lasse bitten« ertönte. Dann schob sie Cathy, die mit den Pantinen in der Hand und klopfendem Herzen dastand, ohne Gnade in den hohen Raum.

»Ah, da bist du ja endlich! Gefällt dir das Kleid?« Isobel de Burgh kam auf Cathy zu. Sie hatte sich ebenfalls umgezogen und trug nun ein Kleid aus üppiger, roter Seide, das einen Blick auf die zarten Schultern des schönen Mädchens gewährte. Cathy staunte mit offenem Mund. Gewiss, das war ein besonders prächtiges Kleid für ein Kind, selbst für die Tochter des Herrn von Whitefell. Doch Miss de Burgh war mit derselben Gewissheit ein ganz besonderes Mädchen, dem auch besondere Kleider zur Verfügung standen. So musste es sein. Sie war fast schon eine Dame. Aus dem verwendeten Stoff hätte man sicher drei Kleider nähen können, dachte Cathy verwundert, bekam aber keine Zeit, sich weiteren Überlegungen hinzugeben.

»Wir werden hier gemeinsam den Tee einnehmen«, meinte Isobel bestimmt. »Ich habe zwar schon vorher Tee gehabt, aber so macht man es, wenn Besuch da ist.« Cathy nickte folgsam. Sie hatte keine Ahnung, wovon Isobel de Burgh da sprach. Isobel kam näher, machte einen zierlichen Knicks und sagte dann mit einer seltsam verstellten Stimme: »Ich bin erfreut, Sie hier begrüßen zu dürfen, Lady Kathleen.«

Als Cathy nicht reagierte, zog sie unwillig die Augenbrauen zusammen. »Du musst das jetzt auch machen!«, zischte sie. Cathy brachte eine unbeholfene Bewegung zustande, die dem formvollendeten Hofknicks Isobels nicht im Entferntesten ähnelte. »Ich begrüße Sie auch, Miss Isobel«, versuchte sie ihr Glück. Vielleicht war das ja die richtige Antwort? Isobel war nicht ganz zufrieden. »Du musst Lady de Burgh sagen!«

»Lady de Burgh!«, wiederholte Cathy sofort folgsam. Isobel schien für den Moment besänftigt. »Bitte, setzen Sie sich doch, meine Liebe.« Sie wies mit der Hand auf eine Nische des hellen Raumes, in der ein kleiner, lackierter Tisch und vier passende zierliche Stühle warteten.

Sicher ist das in einem der vielen Erker, die man von außen sieht, überlegte Cathy. Die Sitzgruppe war wirklich entzückend und wurde durch das letzte rötliche Licht der untergehenden Sonne in ein warmes Gold getaucht. Auf dem Tisch standen bereits eine Teekanne und zwei niedliche, zerbrechliche Porzellangedecke mit etwas Gebäck bereit. Vorsichtig setzte sich Cathy auf die äußerste Kante eines der Stühle, fluchtbereit wie ein Reh, während Isobel ganz in der Rolle der Gastgeberin aufging und mit übertriebener Geziertheit etwas Tee in die Tassen goss, woraufhin sie eine mit vornehmen Bewegungen zum Mund führte. Cathy tat es ihr nach. Offenbar erwartete Miss Isobel – oder Lady de Burgh, wie sie genannt zu werden wünschte –, dass sie die Rolle eines herrschaftlichen Gastes einnahm. Ängstlich bemühte sich das Mädchen darum, dieser fremden Rolle gerecht zu werden, was ihr gewiss nicht annähernd gelang, aber immerhin doch so weit, dass die Illusion für Isobel zufriedenstellend zu sein schien.

Isobel erkundigte sich nach irgendwelchen imaginären Verwandten und Bekannten, allesamt Lords und Ladys mit höchst eindrucksvollen Namen, legte dabei ihrer Spielgefährtin aber so geschickt die Worte in den Mund, dass diese im Grunde nur zu nicken brauchte, um das Gespräch in Gang zu halten. Schließlich, es war schon längst dunkel geworden, wagte Cathy einzuwenden, dass sie nun bald nach Hause müsse. Ihr Vater würde sicherlich erbost sein über ihr langes Ausbleiben.

Isobel verzog schmollend den Mund: »Aber wir spielen doch gerade so schön und du hast auch noch gar nichts vom Haus gesehen. Ich will dir wenigstens noch meine Zimmer zeigen.«

Cathy rutschte unruhig auf der Stuhlkante hin und her. Eine Tracht Prügel war ihr jetzt schon sicher. Es war höchste Zeit, dass sie nach Hause ging, aber sie fand keine Möglichkeit, gegen Isobel aufzubegehren. Isobel griff indessen nach einem der brennenden Kerzenleuchter, die ein livrierter Bediensteter in der Zwischenzeit diskret entzündet hatte, und winkte Cathy, ihr zu folgen. Sie verließen den Ecksalon und traten hinaus auf den weitläufigen Flur, der ebenfalls durch überall präsenten Kerzenschein erleuchtet wurde. Das ganze riesige Haus war in eine geheimnisvolle Atmosphäre getaucht, die nicht ohne Wirkung auf Cathy blieb. Ehrfurchtsvoll wagte sie kaum zu atmen, während sie barfuß und mit leise zögernden Schritten Isobel de Burgh in deren Gemächer folgte. Ihre Pantinen hatte sie im Salon vergessen.

Unterwegs begegneten ihnen Diener, die eilig, aber mit der notwendigen Gemessenheit, ihren jeweiligen Aufgaben nachgingen. Cathy spürte manchen erstaunten Blick auf ihrer schmächtigen Gestalt ruhen und zog sich noch mehr in sich zurück, aber niemand richtete ein Wort an sie. Es fühlte sich seltsam und unwirklich an, fast wie in einem Traum. Dann hatten sie die oberste Etage des Haupthauses erreicht.

»Hier«, sagte Isobel plötzlich. Ihre helle Stimme durchbrach schrill und ein wenig zu laut die eigenartig samtene Stille und zerriss den Zauber, der sich über Cathys Gemüt gelegt hatte. »Hier sind meine Räume. Komm, ich zeige dir meine Spielsachen!« In diesem Augenblick wurde auf der anderen Seite des langen Flures eine der Türen energisch aufgerissen. Eine altjüngferliche Person mit ergrautem und zum strengen Knoten hochgebundenem Haar, dessen verbliebene Dürftigkeit nur unzureichend mit einem kostbaren Spitzenhäubchen kaschiert wurde, trat mit kaum beherrschtem Zorn auf den Gang hinaus. »Miss de Burgh, ich habe Sie bereits gesucht! Wo haben Sie sich während der letzten drei Stunden aufgehalten? Offensichtlich nicht über Ihren Büchern, wie ich es angewiesen hatte. Und wer ist dieses jämmerliche Geschöpf da an Ihrer Seite? Sollte es etwa, was ich nicht zu glauben wage, aber leider befürchten muss, tatsächlich um ein Kind der Landarbeiter handeln?«

»Und wenn schon!« Isobels Augen blitzten herausfordernd. Cathy hatte den deutlichen Eindruck, dass Isobel den Konflikt keineswegs fürchtete, sondern geradezu erfreut den Fehdehandschuh aufnahm, der ihr von Miss Hunter, denn um sie musste es sich wohl handeln, hingeworfen worden war. Es war ihr mehr als unangenehm, dass sie der Gegenstand der Auseinandersetzung war. Vermutlich würde das schlecht für sie ausgehen. Ach, wäre sie doch heute nur auf dem Feld geblieben bei ihrer Arbeit!

»Es hat mir gefallen, sie zu mir einzuladen. Und das ist ganz allein meine Sache!« Isobel reckte angriffslustig das Kinn. Miss Hunter kam drohend näher. »Das ist es definitiv nicht, Miss de Burgh! Ihr Vater hat mir ausdrücklich die Aufgabe übertragen, Ihren Umgang zu überwachen und zu regeln. Wie können Sie es wagen, sich mit einer solchen Kreatur …?« Miss Hunter sah sich wohl außerstande, den Satz zu vollenden. Zu groß war ihre Empörung. Ein angewiderter Blick aus stechenden Augen streifte Cathy, die augenblicklich zu Boden sah. Als »Kreatur« bezeichnet zu werden, traf sie mehr, als sie sich einzugestehen wagte. Sie kannte das Wort aus den Predigten von Pfarrer Browning, der diese Vokabel gern, aber nur in Verbindung mit den Begriffen »Schlangen und Otterngezücht« verwendete. Offenbar meinte Miss Hunter, sie sei ein weiteres Beispiel der verabscheuungswürdigen Wesen, die laut Pfarrer Browning direkt der Hölle zu entsteigen pflegten. Am liebsten wäre sie im Boden versunken.

Gegen die auf ihre Rechte pochende Gouvernante kam Isobel indes nicht an. Wütend entblößte sie ihre perlweißen Zähne. »Das werden wir noch sehen, Miss Hunter! Ich werde sogleich mit meinem Vater sprechen.«

»Ihr Vater ist heute nicht im Hause, Miss de Burgh. Wären Sie Ihren Pflichten nachgekommen, wie ich es von Ihnen verlangt habe, hätte ich Sie davon in Kenntnis gesetzt, dass Mr de Burgh heute Abend einen Termin in Salisbury wahrnimmt und die Nacht im Hause eines Freundes zu verbringen gedenkt. So werden Sie sich wohl fügen müssen! Gehen Sie jetzt auf Ihr Zimmer, Miss de Burgh!« Die letzten Worte hatte Miss Hunter mit einer so drohenden Betonung versehen, dass Cathy fürchtete, es müsse gleich zu Handgreiflichkeiten kommen, aber nichts dergleichen geschah. Die beiden Kontrahentinnen maßen sich noch einige zerdehnte Sekunden lang mit eisigem Blick, dann aber senkte Isobel die Lider, öffnete wortlos die Tür zu ihren Räumen und ließ Cathy mit der wutentbrannten Frau allein auf dem Flur zurück.

Cathy erschauerte. Was würde als Nächstes passieren? Sie konnte es sich kaum ausmalen. Doch das war auch gar nicht notwendig. Kaum hatte sich die Tür hinter Isobel geschlossen, griff Miss Hunter mit einer erstaunlichen Kraft nach Cathys Haaren und zerrte rücksichtslos daran. Cathy schoss umgehend Wasser in die Augen.

»Und du …, du …«, schnaubte die erboste Gouvernante, »sollte ich dich hier noch einmal sehen, werde ich dafür sorgen, dass du und deine verrottete Brut vom Gut verschwinden! Was hast du überhaupt an? Das ist doch ein Kleid von Miss de Burgh! Wie kannst du es wagen? Zieh das sofort aus!«

Cathy, starr vor Angst und Schmerz, begann hilflos am Kragen des blauen Kleides zu nesteln. Aber sie konnte doch nicht nackt durch Whitefell laufen! Dann würden sie ja alle Diener sehen! Die verzweifelte Panik in den Augen des Kindes brachte die zornbebende Frau wieder etwas zur Besinnung.

»Du hast doch sicher Kleider angehabt, als du herkamst. Wo sind sie?«, zischte sie und unterstrich ihre Frage mit einem weiteren schmerzhaft kräftigen Ruck an Cathys Haaren.

»Waschküche«, wisperte Cathy kaum hörbar.

»Was? Antworte gefälligst so, dass man dich verstehen kann.«

»Waschküche«, versuchte es Cathy noch einmal etwas lauter. Diesmal war sie offenbar verstanden worden.

»Dann mach, dass du dorthin kommst, zieh das Kleid aus und verschwinde augenblicklich von hier! Du kannst froh sein, wenn Mr de Burgh euch nicht entlässt. Wir werden sehen.« Mit dieser Drohung bugsierte Miss Hunter das Mädchen mit mehreren Knüffen ihrer knochigen Fäuste zum Treppenabsatz und warf sie fast hinunter. Cathy beeilte sich, dem Zorngericht zu entfliehen.

Bebend und verstört fand sie schließlich den Weg zurück zur Waschküche im Nebenflügel, die nur noch durch das trübe, von sanften Regenschleiern verdeckte Mondlicht erhellt wurde. An der Küche, in dem sich eine beträchtliche Anzahl des Gesindes zur späten Abendmahlzeit nach getaner Arbeit aufhielt, hatte sie sich vorsichtig und ungesehen vorbeigeschlichen. Mit fliegenden Fingern wand sie sich aus dem viel zu großen Kleid Isobel de Burghs und zog sich wieder ihren immer noch feuchten Kittel über, der eiskalt und klamm über den Rand des Waschzubers gebreitet lag. Es kümmerte sie nicht. Nur weg von hier! Sie öffnete die Tür zum Gerätehof und rannte hinaus in die regenkalte Nacht.

1 Fließendes Wasser war auf dem Land selbst in den großen Herrenhäusern bis Ende des 19. Jahrhunderts nicht üblich. Alles Wasser musste in Eimern und Bottichen herbeigeschleppt werden, wurde warmes Wasser benötigt, musste man es in Kesseln erwärmen. Im Haus für den alltäglichen hygienischen Bedarf war das die Aufgabe der Hausmägde, beim wöchentlichen Waschtag wurden gerne Kräfte von außerhalb beauftragt.

Kapitel 3

Ihre nackten Füße rutschten auf der von der Nässe aufgeweichten, schlammigen Erde des Feldweges, der zu ihrer Behausung führte. Der Regen hatte noch zugenommen und durchnässte sie bis auf die Knochen. Dazu kam ein unangenehm kalter Wind, der an ihren triefenden Fetzen zerrte. Aber all das spürte Cathy kaum. Ihr Herz pochte von der Anstrengung des schnellen Laufs, aber mehr noch von der beißenden Angst, die sie erfasst hatte. Ach, wenn sie doch nicht mit ins Herrenhaus gegangen wäre! Was, wenn die Drohung der Gouvernante wahr werden sollte und ihr Vater entlassen werden würde? Wo sollten sie dann nur hin? Was würde aus ihnen werden? Und vor allem, wie sollte sie das ihrem Vater begreiflich machen? Sie konnte doch nichts dafür! Wie hätte sie sich Isobel de Burgh widersetzen sollen? Doch da meldete sich eine andere schuldbewusste Stimme in ihrem Kopf. Warum nur war sie von der Arbeit weggelaufen? Hätte sie ihre Pflicht getan, wäre das alles nie passiert! Das war nun die Strafe für ihren Eigensinn! Schauer der Furcht durchrannen sie. Vielleicht hatte Miss Hunter sogar recht damit gehabt, als sie sie mit einem Höchstmaß an Verachtung als »Kreatur« bezeichnet hatte.

Cathy musste nun ein Waldstück passieren, durch das der Weg nach Hause führte. Der Pfad ging ein kurzes Stück steil bergan. Rechter Hand, in Richtung der Felder, war der Wald sogar mit einigen Felswänden durchzogen, wo sie schon mit Mary und Billie herumgeklettert war in der wenigen freien Zeit, die sie erübrigen konnte. Jetzt drohten die nackten Felsen in der Dunkelheit wie geifernde schwarze Münder. Cathy erschauerte einmal mehr und beschleunigte ihren Schritt. Wenn sie sich beeilte, konnte sie es bald geschafft haben. Und wenn der Vater sie dann schlagen würde, hätte sie es auch verdient.

Einige Zeit später erreichte sie endlich das kleine Anwesen, das man ihnen als Unterkunft zugewiesen hatte. Die Wohnkate war aus schiefergrauen Feldsteinen und Holz erbaut und bestand im Wesentlichen aus einem größeren Wohnraum mit einem Steinkamin, der gleichzeitig als Kochstelle diente und einer kleinen abgeteilten Kammer, in der der Vater schlief. Um das Haus herum gruppierten sich in dem von einem niedrigen und zusätzlich mit Dornenhecken bewachsenen Erdwall umgebenen Rund ein paar windschiefe Schuppen, in denen das Vieh – es waren genau vier Schafe, zwei Ziegen für die Milch, ein Schwein und zwölf weiße Hühner – untergebracht war, in einem größeren die Geräte, die der Vater zusammen mit seinen beiden Mitarbeitern benutzte, um die Felder, die zur Versorgung des Herrenhauses benötigt wurden, zu bewirtschaften. Selbstverständlich wurde dabei auch die Mitarbeit der Familienangehörigen der Feldarbeiter erwartet, sonst wäre die Arbeit nicht zu schaffen gewesen. Der Überschuss der Ernte wurde in geringem Anteil unter den Arbeitern verteilt, der größere Anteil aber auf dem Markt in Salisbury feilgeboten. Der Erlös wurde natürlich Mrs Branagh ausgehändigt. Insgesamt hatten sie großes Glück gehabt mit der Anstellung des Vaters auf Whitefell. Und das sollte nun alles wegen ihres dummen Eigensinns gefährdet sein? Cathy schluckte die Panik, die sie erneut überrollte, tapfer hinunter. Sie musste sich den berechtigten Vorwürfen des Vaters stellen und ihm auch beichten, was vorgefallen war.

Als sie das Torgatter öffnete, bemerkte sie, dass die Tür zum Wohnhaus weit offen stand. Der Raum war hell erleuchtet und erregte Stimmen drangen heraus. Was war da nur los? Man hatte hoffentlich nicht nach ihr gesucht. Mit klopfendem Herzen trat sie ein. Die beiden Feldknechte Marcus und Jamie sowie der Wildhüter von Whitefell, Mr Finley, standen mit nassen Kleidern und verschlammten Stiefeln in der Stube. Der Wildhüter redete gerade beruhigend auf den Vater ein, der an der einfachen Bettstatt der Kinder saß, in der diese für gewöhnlich alle zusammen schliefen. Mary kauerte verschüchtert in einer Ecke des Raumes und betrachtete die Szenerie mit großen Augen.

Wo war Billie? Ein schrecklicher Verdacht keimte in Cathy auf. War mit Billie etwas geschehen, während sie im Herrenhaus gewesen war? Die Befürchtung wurde zur grausamen Gewissheit. Der Vater, der das Geräusch ihrer Füße auf dem Boden gehört hatte, richtete sich auf und gab damit den Blick auf Billie frei, dessen kleiner Körper reglos auf dem Bett lag. Über Billies bleiche Stirn zog sich ein dünnes Rinnsal von getrocknetem Blut und der rechte Arm war unterhalb der Schulter in einem unnatürlich verdrehten Winkel abgespreizt. Er musste gefallen sein. Cathys Mund öffnete sich von allein und ein ersticktesWimmern kam heraus, ohne dass sie es zurückhalten konnte.

Da kam der Vater drohend auf sie zu. So hatte sie ihn noch nie gesehen. Seine Augen waren fremd und dunkel vor Zorn und sein Gesicht wutverzerrt. »Wo warst du?«, keuchte er mit einer Stimme, die kurz davor stand, sich in einem gewaltigen Gebrüll Luft zu verschaffen. Cathy bemühte sich um eine Antwort, aber nichts kam heraus. Ihr Mund klappte hilflos auf und zu, kämpfte mit den Worten, aber ihre Stimme wollte ihr einfach nicht gehorchen. Da packte der Vater sie grob am Arm und zerrte sie auf den Hof hinaus. Dann schleuderte er sie auf den aufgeweichten Boden, sodass sie erneut über und über mit Schlamm bedeckt war. Starr vor Entsetzen sah Cathy, wie er den Ledergurt mit der großen Messingschnalle von seinem Hosenbund löste und ausholte. Der erste Schlag traf sie mit ungehinderter Wucht an der Hüfte. Die scharfkantige Schnalle hinterließ eine Kerbe in der Haut des Kindes, die sich bald mit Blut füllte, doch schon gingen weitere Hiebe auf das im Dreck kauernde Wesen nieder. Die Schreie des Mädchens wurden übertönt von der sich überschlagenden, zornbebenden Stimme des Vaters. »Wie konntest du Billie allein lassen? Du bist schuld! Nichtswürdige Kreatur!«

Wieder dieses Wort! Es war das Einzige, was der von den zahllosen Treffern der Schnalle halb betäubten Cathy noch bewusst wurde. Irgendwann spürte sie, wie sich ihr Verstand von ihrem Körper löste. Eine dumpfe Stille umfing sie in all dem Geschrei und den Schmerzen, die wie Wogen über sie hereinbrachen.

»Hör auf, Wycliff! Du schlägst das arme Ding ja tot!« John Finley war dem erbosten Feldpfleger in den Arm gefallen und hinderte den außer sich geratenen, verzweifelten Mann daran, seiner Tochter den Garaus zu machen. Der brach weinend neben dem Mädchen, das nahezu bewusstlos mit dem Gesicht nach unten im Schlamm lag, zusammen. »Geh wieder hinein und kümmere dich um deinen Jungen! Ich werde die Sauerei hier in Ordnung bringen«, sagte der Wildhüter bestimmt. Es war nicht das erste Mal, dass er Männer erlebte, die die Fassung verloren. Seine ruhige Stimme tat schließlich ihre Wirkung. Wycliff Thomson, der Feldpfleger von Whitefell, erhob sich und schwankte zurück ins Haus zu seinem schwer verletzten Jungen. Finley sah dem Mann nach, bis dieser im Haus verschwunden war, dann kniete er sich hin, schob sanft den Arm unter das immer noch reglose und benommene Wesen und richtete es auf. Das Mädchen weinte nicht, sondern starrte nur teilnahmslos vor sich hin. Er hätte früher eingreifen sollen! Wycliff hatte seine älteste Tochter wirklich fast totgeschlagen. Er würde ihm deshalb später noch einmal ins Gewissen reden. »Cathy?«, sagte er freundlich, »so heißt du doch, nicht wahr? Dein Vater hat es nicht so gemeint. Er ist ganz verzweifelt, weil Billie von den Felsen im Wald gestürzt ist. Ich glaube, sein Arm ist gebrochen. Das ist sehr schlimm! Dein Vater hat sich so schreckliche Sorgen gemacht. Du hättest nicht fortlaufen dürfen.« Statt einer Antwort beugte sich das Mädchen mit einem Mal nach vorne und erbrach sich, heftige Krämpfe schüttelten es. Dann begann es zu zittern wie Espenlaub.

»Ich wollte nicht …«, stammelte es. »Es tut mir alles so leid! Ich wollte Billie nicht im Stich lassen. Ich wollte doch nur das schöne Mädchen anschauen.«

»Isobel de Burgh«, sekundierte der Wildhüter.

Cathy nickte stumm und brach dann in Tränen aus: »Und dann hat sie mich gesehen und wollte unbedingt, dass ich mit ihr gehe …«, die Worte, die vorher nicht hatten kommen wollen, würgte sie nun heraus, als müsste sie sich ein weiteres Mal übergeben, »und ich musste dann mit ins Haus … und alle waren böse auf mich … aber Miss Isobel wollte unbedingt, dass ich ein Kleid von ihr anziehe und mit ihr spiele … und dann kam Miss Hunter und hat mich so sehr an den Haaren gezogen … und jetzt will sie dafür sorgen, dass wir hinausgeworfen werden.« Ihr Weinen ging in ein atemloses, panisches Schluchzen über.

»Ah!« Der Wildhüter kannte die junge Miss de Burgh und ihren eisenharten Willen nur zu gut. Wenn er auf Whitefell mit dem Herrn sprach, hatte er es oft genug erlebt, wie das junge Mädchen dem vernarrten Vater auf der Nase herumgetanzt war. Dass sich ein Kind wie Cathy einer Isobel de Burgh nicht widersetzen konnte, war ihm nur zu verständlich. Und Miss Hunter, das alte Reptil, war wirklich eine Hexe. Statt ihre Erziehungskünste dort anzubringen, wo sie bitter notwendig waren, hatte sie stattdessen das schuldlose Kind gequält und zu Tode geängstigt. Sicher hätte das Mädchen seinen Pflichten nachkommen sollen, aber das hatte es wirklich nicht verdient. Er würde in dieser Sache versuchen, mit Mr de Burgh zu sprechen, der ihm sehr vertraute. Begütigend strich er Cathy über das nasse, schlamm- und blutverschmierte Haar. »Du musst dich deswegen nicht sorgen, Cathy! Das wird schon nicht passieren. So viel Macht hat Miss Hunter nicht, auch wenn sie sie gerne hätte. Du stehst jetzt besser auf und legst dich in den Stall ins Stroh zu den Schafen. Da wirst du es warm genug haben heute Nacht. Ich glaube, es ist keine gute Idee, wenn du deinem Vater heute noch einmal unter die Augen kommst.«

Er half dem Mädchen, wieder auf die Füße zu kommen und sah ihm kopfschüttelnd nach, als das Kind in Richtung Stall taumelte. Er verspürte großes Mitleid mit dem armen, misshandelten Ding. Ohnehin sollte er sich jetzt auf den Weg ins Dorf machen und Martha Pole, die Kräuterfrau und Hebamme, wegen Billie holen. Da würde er sie gleich bitten, auch nach dem geschundenen Mädchen zu sehen.

Martha Pole war die einzige Helferin, die bei Unfällen und Krankheiten von der einfachen Bevölkerung zu Rate gezogen werden konnte. Die Dienste eines Arztes konnten sich die ärmeren Schichten einfach nicht leisten. So war man auf das weitgehend überlieferte Wissen der Frau über Kräuter, Tinkturen und erste Hilfe bei Unfällen angewiesen. Außerdem war sie auch zuständig für Geburten. Aber Martha Pole war eine verständige und sehr heilkundige Frau, fast besser als der studierte, feine Arzt, der sich vor Jahren in der Nähe von Wilton niedergelassen hatte. Sicherlich würde sie Rat bei Billies Verletzungen wissen, obwohl der Wildhüter befürchtete, dass das Kind einen bleibenden Schaden zurückbehalten würde.

Der besorgte Vater war ihm auf der Suche nach seinem Sohn begegnet. Thomson hatte ihm berichtet, dass sich Billie von seinem Strick losgemacht und unbemerkt – wohl in dem Wunsch Cathy nachzulaufen – verschwunden war. Schließlich hatten sie ihn gemeinsam nach mehrstündiger Suche bewusstlos am Fuße der gefährlichen Felsen im Wald gefunden und so schnell es ging nach Hause geschafft. Es sah wirklich schlecht aus für den kleinen Billie. Sein Vater würde sich eine teure, langwierige Behandlung nicht leisten können und was sollte dann aus dem Jungen werden? John Finley seufzte tief. Das Schicksal war manchmal hart. Aber was sollte man machen, außer es zu akzeptieren, wie es war? Mit einem unwilligen Schnauben rückte er die braune Lederkappe auf dem mächtigen Kopf mit den früh ergrauten drahtigen Locken zurecht, zog die Schultern nach oben, raffte seine Joppe gegen den Regen zusammen und machte sich auf den Weg ins drei Meilen entfernte Dorf.

Kapitel 4

Martha Pole erhob sich schimpfend von der Ofenbank, auf der sie sich noch ein Nickerchen gegönnt hatte nach dem Abendessen. Sie hätte es sich ja denken können, dass ausgerechnet in dieser windigen und inzwischen sehr regnerischen Nacht noch jemand etwas von ihr wollte. Doch eine Geburt konnte es nicht sein. Sie wusste genau, dass die vier schwangeren Frauen in der Umgebung noch nicht so weit waren, besuchte sie diese doch regelmäßig. Das sah sie als ihre Pflicht an. Zu viele Frauen erlagen den Strapazen der Geburt, und wenn es eine Chance gab, das eine oder andere Problem wie Überlastung und schlechte Ernährung schon im Vorfeld zu beheben, dann wollte sie diese nutzen. Aber wahrscheinlich lag jemand im Fieber oder hatte Bauchkrämpfe oder ähnliches. Dann wurden die Menschen schnell ängstlich und baten bei ihr um Hilfe.

Auf das zweite kräftige Pochen hin öffnete sie die niedrige Holztür und entdeckte zu ihrem größten Erstaunen John Finley, den Wildhüter von Whitefell, auf ihrer Eingangsschwelle. Er war nass wie ein streunender Köter und machte einen ebenso jämmerlichen Eindruck.

»John? Was führt dich denn noch hierher? Ist bei euch jemand krank? Doch nicht wieder deine Ellie, die hatte sich von ihrem schlimmen Husten im Winter doch gut erholt, meine ich?«

John Finley nieste kräftig, bevor er antwortete. »Nein, ich komme nicht um meinetwillen. Es hat einen Unfall gegeben auf Whitefell. Der kleine Sohn des neuen Feldpflegers Wycliff Thomson. Du kennst ihn bestimmt. Thomson kommt mit seinen Kindern in den Gottesdienst hier ins Dorf.« Martha nickte, zog den durchnässten Mann in ihrer praktischen Art in den einzigen Wohnraum ihrer Behausung und verfrachtete ihn auf die Ofenbank. Noch bevor er weiter berichten konnte, hatte er schon einen Becher mit Kräutertee, den sie rasch zubereitet hatte, in der Hand. Es war wichtig, dass der Mann nicht krank wurde. Wer sollte sonst seine Familie ernähren?

»Der Vater von dem kleinen Rotschopf?« Martha musste ihr hervorragendes Gedächtnis nicht allzu lange um ein genaues Bild der kleinen Familie bemühen. Selbstverständlich war ihr das neue Gemeindemitglied sofort aufgefallen. Ein von der Arbeit und vielleicht auch anderen Lasten schon frühzeitig gealterter Mann mit drei Kindern: Ein Mädchen von etwa zwölf Jahren und apartem Äußeren. Das Mädchen ahnte es selbst wohl nicht, aber in ihm schlummerte eine wilde Schönheit, die sich jetzt noch in seiner mageren Statur verbarg. Ein weiteres Mädchen von wohl acht oder neun Jahren, das alles und jeden mit großen dunklen und auch misstrauischen Augen begutachtete und ein ungezogener kleiner Bursche mit einem roten Wuschelkopf, dem das älteste Mädchen, was ihm offensichtlich nur unzureichend gelang, die Mutter zu ersetzen hatte. »Was ist passiert? Berichte es mir genau, damit ich weiß, was ich mitnehmen muss, und dann hilfst du mir, meine alte Bertha einzuspannen. Du kannst dann mit mir auf meiner Kutsche zurückfahren.«

Diese Kutsche war ein – wenn auch nicht ganz uneigennütziges – Geschenk der dankbaren Dorfgemeinschaft gewesen für ihre Dienste und Martha Pole war bis heute mächtig stolz darauf. Welche alleinstehende, einfache Frau konnte schon eine richtige, wenn auch schlichte Kutsche ihr Eigen nennen? Alle hatten dazu beigetragen: Der Wagenbauer hatte ein altes, ausrangiertes Kutschenmodell mit einer Ladepritsche, das vorher der Kolonialwarenhändler in Wilton genutzt hatte, wieder repariert und ausgebessert, die Bauern der Umgebung hatten unter Anleitung des vorigen Pfarrers (der neue war ein eitler und bigotter Narr, den sie nicht ausstehen konnte) zusammengelegt, damit ein kräftiges braves Kutschpferd erstanden werden konnte, und der Schmied, der ihr besonderen Dank zu schulden glaubte, da sie seiner Frau bei der äußerst schwierigen Zwillingsgeburt vor zwölf Jahren hilfreich zur Seite gestanden hatte, beschlug dieses regelmäßig. So war sie in der Lage, recht schnell zu den Kranken zu gelangen. Bezahlt wurde sie mit Naturalien, Gefälligkeiten und manchmal auch mit etwas Geld. Bisweilen verzichtete sie auch auf eine Entlohnung, wenn der betreffende Patient gerade nichts erübrigen konnte. Sie betrachtete so etwas als ihre menschliche Pflicht. Jedenfalls hatte sie ihr Auskommen und, was ihr noch wichtiger war, ihre Freiheit und den Respekt der Bevölkerung.

Dieser Respekt war es auch, der John Finley keinen Augenblick zögern ließ, ihr das Vorgefallene so präzise wie möglich zu berichten, daraufhin hastig seinen Tee zu leeren – er hätte es nie gewagt, diesen auszuschlagen, auch wenn er scheußlich nach bitteren Kräutern schmeckte – und dann in den Stall zu eilen, um das Kutschpferd Bertha einzuspannen. Martha packte derweil ihre notwendigen Utensilien zusammen. Die schwellungslindernde Beinwellsalbe, die Schienhölzer und Binden würde sie wohl für den kleinen Billie brauchen. Wenn es stimmte, was Finley ihr berichtet hatte, so war sie dennoch besorgt, dem Jungen nicht wirklich helfen zu können. Ein komplizierter Bruch blieb nicht ohne Folgen. Wenn der Junge auch nicht sterben würde, so würde er wahrscheinlich lange Zeit Schmerzen haben, und mit hoher Wahrscheinlichkeit würde der Arm schief wieder zusammenwachsen und letztlich verkümmern. Das war – einfach ausgedrückt – eine Katastrophe! Der Junge würde nur bedingt zur Arbeit taugen und seiner Familie auf der Tasche liegen, wenn er nicht gar als Bettler endete. Für die Tochter, die der Vater, so hatte Finley berichtet, in seinem Zorn wohl halb tot geschlagen hatte, packte sie eine Tinktur vom Sud der Akelei und vom Acker-Schachtelhalm ein. Doch sie befürchtete ernsthaft, dass sie die eigentlichen Wunden, die diese Tragödie der bemitleidenswerten Familie zugefügt hatte, nicht würde heilen können.

Kapitel 5

»Wycliff Thomson, hör auf zu jammern und hilf mir lieber.« Die resolute Stimme der Frau ließ den tränenüberströmten Mann zusammenfahren. Eben war sie in die Stube hereingeplatzt, hatte Mary aus der Ecke hochgescheucht und angewiesen, Wasser im Kessel auf dem Feuer aufzusetzen. Nun beugte sie sich über den immer noch bewusstlosen Billie und strich ihm mit einer sanften, mütterlichen Geste die wilde Lockenpracht aus dem Gesicht. Kritisch besah sie sich die nicht allzu große Platzwunde am Haaransatz. Dann kramte sie die Tinktur und einige gut verpackte saubere Baumwolltücher aus ihrem Korb, reinigte die Wunde und machte mit geschickten, schnellen Bewegungen einen Kopfverband. »Er hat sich böse den Kopf angeschlagen, aber ich glaube, er kommt bald zu sich. Es ist aber ganz gut, dass er noch nicht bei sich ist, so kann ich versuchen, die gebrochenen Knochen einzurichten, ohne dass er vor Schmerzen vergeht«, teilte sie dem Mann mit, ohne ihn anzusehen. Ihre ganze Aufmerksamkeit war auf Billie gerichtet. Sie zeigte dem Vater, wie er den Jungen halten musste, und kniete sich dann hin, zog zunächst vorsichtig, dann immer stärker an der Hand des Kindes und griff gleichzeitig an die stark geschwollene Schulter. Billie jammerte in seiner Ohnmacht auf, seine Lider flackerten. Sie hielt inne und führte dann dieselbe Prozedur noch einmal durch. Diesmal fing der Junge an zu greinen. Tatsächlich kam er langsam zu sich. »Mehr kann ich nicht tun«, meinte Martha bedauernd. »Der Bruch ist zu verschwollen. Ich komme einfach nicht mehr richtig heran. Und wenn es abgeschwollen ist, kann ich es nicht mehr einrichten. Doch wir wollen das Beste hoffen.« Sie strich seufzend die dicke Paste aus zermahlenen schwärzlichen Beinwellwurzeln großflächig auf die verletzte Schulter und den Oberarm. Dann legte sie geschickt eine mit Baumwollbinden gepolsterte kleine Schiene an und fixierte den Arm darauf mit weiteren Binden in abgewinkelter Stellung am schmalen Oberkörper des Knaben. Schließlich kramte sie ein Päckchen mit getrockneten Rindenstücken aus ihrem Korb und überreichte es dem Vater des Jungen. »Wenn er aufwacht und Schmerzen hat, machst du ihm einen Tee aus diesen Rindenstückchen, aber nimm nicht zu viel davon. Es ist Weidenrinde, die wird ihm den Schmerz etwas nehmen. Die Verbände lässt du dran, auch wenn er klagt und sie entfernen will. Ich werde übermorgen noch einmal nach euch sehen.« Sie richtete sich auf und sah Thomson strafend an: »Und nun muss ich mich noch um deine Cathy kümmern. Hast du nicht schon genug Sorgen, Wycliff Thomson? Musstest du auch noch deine Tochter verprügeln?«

»Sie hat sich nicht um ihn gekümmert und ist ihrem Vergnügen nachgegangen, das gottlose Ding. Wäre sie bei ihm geblieben, wäre das nicht passiert.«

»Glaubst du nicht, dass sie es bitter bereut, auch ohne dass du sie dafür beinahe totschlägst?«

Eigentlich hatte Martha erwartet, dass der Mann nun Reue zeigte, aber sein Gesicht verhärtete sich.

»Was geht’s dich an, Weib? Es ist meine Sache, was ich mit meinen Kindern tue. Sie hat es mehr als verdient.«

»Ja, das ist es wohl … deine Sache«, sagte Martha gedehnt. Hier war heute nichts auszurichten. Das Mädchen tat ihr jetzt schon leid. Hoffentlich würde ihr die Familie die Schuld am Unglück Billies nicht bis ans Ende ihrer Tage vorhalten. Diese Möglichkeit bestand immerhin. Armes Ding! Ohne Gruß verließ sie den verbitterten und gebrochenen Mann, um im Stall nach Cathy zu sehen. Den Kessel mit dem heißen Wasser nahm sie mit.

***

Sie fand das Mädchen in einer Nische in der Einfriedung der Schafe liegend. Es hatte sich an eines der Tiere gekuschelt und war in einen unruhigen, durch Stöhnen unterbrochenen Schlaf gefallen. Mit einem schnellen Blick sah sie, was das Kind hatte erdulden müssen. Ärgerlich schnalzte sie mit der Zunge. War der Mann wahnsinnig geworden? Der gesamte Rücken und Teile der Oberschenkel des Mädchens waren voller Wunden, die von der Gürtelschnalle herrührten, wie Finley ihr berichtet hatte.

An den Stellen, die sie sehen konnte, da sie nicht von der mit blutigen Flecken getränkten Kleidung bedeckt waren, hatten sich außerdem große Blutergüsse gebildet, die teilweise ineinander übergingen. Auch der Hinterkopf des Mädchens war nicht verschont geblieben. Im üppigen rotbraunen Haar klebte getrocknetes Blut. Wenigstens hatte die Schnalle das noch unreife, aber die spätere Schönheit bereits ankündigende Gesicht des Mädchens nicht getroffen. Hoffentlich würden nicht allzu viele Narben bleiben. Bestimmt aber würde sie hier etliche Salbentöpfe benötigen. Sie beugte sich zu dem Kind hinunter und schob das dünne Wollkleidchen nach oben. Der magere Mädchenkörper erschauerte in der plötzlichen Kälte, als auch das Schaf sich gestört erhob und mit einem empörten Blöken zur anderen Seite des Verschlags drängte. »Hab keine Angst, Mädchen«, sagte sie sanft, als Cathy, die mit einem leisen Schrei erwacht war, sich furchtsam noch tiefer in die mit Stroh gefüllte Nische zurückzog, in die sie sich verkrochen hatte, »ich tu dir nichts. Ich will dir nur helfen. Komm, lass mich mal sehen.« Zuerst zögerte das Mädchen noch, aber das freundliche Gesicht, das sich Martha bemühte aufzusetzen, beruhigte das Kind wohl endlich. Folgsam zog sie das Kleid aus und Martha entfuhr ein fassungsloses Japsen. Es war weitaus schlimmer, als sie gedacht hatte. Beinahe der ganze Rücken des Kindes war blaurot von Blutergüssen bis hinunter zur rechten Hüfte. Sie zählte ein gutes Dutzend blutige Wunden, etliche davon so tief, dass es sicher kräftige Narben geben würde. Da das Kind bäuchlings im Schlamm gelegen hatte, als der Vater es schlug, war hauptsächlich die Rückseite des Körpers betroffen. Sie brachte das Mädchen dazu, sich wieder ins Stroh zu legen, befeuchtete die sauberen Baumwolltücher, die sie mitgebracht hatte, mit dem inzwischen lauwarm gewordenen abgekochten Wasser und reinigte zunächst die Wunden gründlich, dann gab sie etwas von der Tinktur aus Akelei und frischem Acker-Schachtelhalm darauf und verband dann die tiefsten Wunden. Sie hoffte, dass sich die Verletzungen nicht entzündeten, denn das konnte zu einer Blutvergiftung führen. Aber sie vertraute den Heilkräften der bewährten Tinktur. Größere Sorge bereitete ihr der seelische Zustand des Mädchens. Cathy wirkte völlig verstört. Die Kleine tat ihr herzlich leid. Aber was konnte sie tun, außer ihr mit ihren Kenntnissen in Kräuterkunde zu helfen? Sie hatte viele tragische Geschichten und schlimme Familienverhältnisse erlebt in all den Jahren, die Thomsons bildeten da keine Ausnahme. Sie hoffte, dass sich alles mit der Zeit wieder einrenken und Wycliff Thomson so vernünftig sein würde, seiner Tochter den Unfall seines Sohnes zu vergeben. Wie hätte sich Cathy auch gegen die Tochter von Mr de Burgh zur Wehr setzen sollen? Das war undenkbar. Ebenso gut hätte sie versuchen können, die Wasser des Wylye2 mit bloßen Händen aufzuhalten. Ein völlig sinnloses Unterfangen. Und dass der kleine Billie verunglückt war, war wirklich tragisch, aber eben Schicksal. So unruhige Kinder wie dieser kleine Kerl wurden oft nicht alt, das hatte sie schon zu oft erlebt. Wer sollte sich auch ständig um sie kümmern? Es gab einfach immer viel zu viel zu tun für die ländliche Bevölkerung. Die Kinder wurden oft sich selbst überlassen, und die Umwelt barg eben viele Gefahren. Man konnte die Kinder nicht vor allem bewahren und so blieb nur die Hoffnung, dass ihnen nichts geschah.

Cathy weigerte sich strikt, in das Wohnhaus zurückzukehren, nachdem ihre Wunden versorgt worden waren. Ängstlich schüttelte sie immer wieder den Kopf, als Martha sie dazu bewegen wollte. Vielleicht war es auch besser so. Ihr Vater hatte so Gelegenheit, sich bis zum nächsten Morgen eines Besseren zu besinnen, dachte Martha, strich dem Mädchen noch einmal beruhigend über den Kopf und verließ dann den kleinen Hof. Übermorgen, wenn die Wunden sich nicht entzündet hatten, würde sie Cathy etwas von ihrer allseits gerühmten Wundsalbe mitbringen, damit wenigstens der Rücken, wenn auch nicht die Seele des Mädchens, bald heilen konnte.

2Fluss bei Wilton, Südengland

Kapitel 6

»Mr de Burgh, Wycliff Thomson ist ein sehr fleißiger und zuverlässiger Mann. Er hat sich, seit er hier bei Ihnen angestellt ist, sehr bewährt. Die Felder sind in einem hervorragenden Zustand und selbst Marcus und Jamie arbeiten mehr als früher.« John Finley bemühte sich mit allen Kräften, den Herrn von Whitefell positiv für seinen Angestellten einzunehmen. Es war eine Woche seit dem tragischen Unfall vergangen und er wusste nicht, ob Miss Hunter schon ihren Giftstachel ausgefahren hatte, um den Thomsons zu schaden. Das Weib war wirklich die Pest. Finley konnte nicht verstehen, warum Mr de Burgh seine Tochter einer solchermaßen missgünstigen und verbitterten Frau überließ. Aber sie sollte ja hervorragende Referenzen besitzen, war sie zuvor doch in der Familie des Earls of Branford3 in Wilton beschäftigt gewesen, dort aber entlassen worden, nachdem die Kinder des Earls schließlich alle gesellschaftlich eingeführt worden waren. Da zwischen den de Burghs und der Familie des Earls of Branford eine engere Verwandtschaft bestand, hatte es wohl eine gewisse Verpflichtung gegeben, die altgediente Gouvernante zu übernehmen. Wie auch immer, das war nicht seine Angelegenheit. Ihm ging es darum, die Familie Thomson vor den möglichen Folgen des verhängnisvollen Besuchs Cathys auf Whitefell zu bewahren.

Mr de Burgh nickte denn auch zu Finleys Erleichterung gutmütig. Er war kein schlechter Herr, ein meist freundlicher, wenn auch etwas störrischer Mann von achtundfünfzig Jahren, der sich manchmal zu Leichtsinn hinreißen ließ. Er schien nicht immer genau zu überlegen, welche Folgen seine immerhin nicht unwichtigen Entscheidungen haben konnten. Nur so war es wohl auch zu verstehen, dass er seine einzige Tochter so unvernünftig verwöhnte. Sicher, Isobel de Burgh war zumindest äußerlich ein recht hübsches Mädchen, das später sicher reihenweise den infrage kommenden Galanen den Kopf verdrehen würde, aber sie hatte einen außerordentlich herrischen Charakter, der Finley entschieden missfiel. Dieser Charakter in Kombination mit ihrer unbestreitbar vorhandenen Intelligenz war eine gefährliche Mischung. Zum Glück würde sie nicht Herrin auf Whitefell werden, sondern ihr Bruder Daniel, der nun schon seit sechs Jahren bei der East-India-Company in Bombay als leitender Offizier Dienst tat. Master Daniel de Burgh, dem er selbst das Jagen beigebracht hatte, war ein besonnener junger Mann, der sich der Bürde und Verantwortung, die er als Herr über Whitefell übernehmen würde, mehr als sein eigener Vater bewusst war. Das war letztlich wohl auch der Grund für das Zerwürfnis der beiden. Daniel hatte versucht, seinen Vater von einigen riskanten Spekulationsgeschäften abzubringen, was ihm aber nicht gelungen war. Nachdem Mr de Burgh dann wider Erwarten erfolgreich gewesen war mit seinen Börsengeschäften, hatte er seinen Sohn fortgesetzt und triumphierend als Narr und Feigling geschmäht, was Master Daniel dazu veranlasst hatte, bis auf Weiteres seiner Heimat den Rücken zu kehren. Den Vater schien es nicht weiter zu betrüben. Seine Zuneigung galt wohl ausschließlich seiner Tochter, zu deren Charakterbildung das nicht eben beitrug.

»Ja, ich bin auch recht zufrieden mit Thomson«, meinte nun Mr de Burgh nach einer kleinen Pause, in der er intensiv die Lichtung, die sie in diesen frühen Morgenstunden zum Pirschgang auserkoren hatten, nach möglichem Wild ausgespäht hatte. »Miss Hunter wollte mir neulich das Gegenteil weismachen. Ich möchte wissen, was sie das angeht. Sie soll sich um meine Isobel kümmern und sonst am besten um ihre eigenen Angelegenheiten. Die Felder sind tatsächlich in einem besseren Zustand als unter dem alten Rapkin. Was will ich mehr? Der Mann ist fleißig und tut seine Arbeit, ohne zu murren.« Finley atmete erleichtert aus. Seine Intervention kam offensichtlich zu spät, war aber Gott sei Dank wohl sowieso überflüssig gewesen. Das Problem, so es denn je eines gewesen war, hatte sich von allein gelöst. Einzig die Sorge um den kleinen Burschen musste die Thomsons nun noch plagen, und das war sicher Sorge genug. Doch da wurde Finley abgelenkt. Ein Rudel Rotwild hatte die Lichtung betreten und es war seine Aufgabe, seinem nicht immer ganz treffsicheren Herrn zu einem guten Schuss zu verhelfen.

***