Die Frauen der Familie Mann - Hildegard Möller - E-Book

Die Frauen der Familie Mann E-Book

Hildegard Möller

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Beschreibung

Begabte, außergewöhnliche Charaktere waren sie alle, die Frauen um Thomas Mann. Sie konkurrierten um die Liebe und Anerkennung des »Zauberers« und kämpften doch zeitlebens darum, einen eigenen Lebensentwurf zu verwirklichen. Einfühlsam und mit dem Blick auf bisher unbekannte Details erzählt Hildegard Möller die bewegende Geschichte der Frauen im Hause Mann. »Möller ist ein Buch gelungen, das gerade durch die zum Teil minutiöse Einsicht in die Familiengeschichte ungemein fasziniert.« 3sat

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Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe

3. Auflage Juli 2010

ISBN 978-3-492-95785-4

© 2004 Piper Verlag GmbH, München

Umschlaggestaltung: semper smile, München nach einem Entwurf von Büro Hamburg

Umschlagabbildung: Keystone, Zürich (Katia, Erika und Elisabeth Mann) und Literaturarchiv Monacensia, München (Monika Mann)

Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck

Einleitung

Klaus Mann schrieb in seinem Tagebuch: »Was für eine sonderbare FAMILIE sind wir! Man wird später Bücher über UNS – nicht nur über einzelne von uns – schreiben.«1 Auch der britische Diplomat und Schriftsteller Harold Nicolson hatte 1939 einen Artikel mit der Überschrift »This amazing family« veröffentlicht, in dem er Erikas Buch School for Barbarians für den Londoner »Daily Telegraph« besprach. Seit Jahrzehnten ist über die Familie Mann und ihre einzelnen Mitglieder viel geschrieben worden. Aber es gibt keine Familiendarstellung, die sich den Beziehungen der Frauen untereinander widmet und den Einfluß schildert, den Mutter und Großmutter hatten. Konnten Katia und die drei Töchter sich den beherrschenden Ansprüchen des künstlerischen Haushalts, in dem sich alles um den Dichter und seine verletzliche Kreativität drehte, entziehen? Konnten sie eigene Lebensentwürfe verwirklichen? Über Katia Mann sind 2003 zwei Biographien erschienen, über Erika, die älteste Tochter, existiert seit 1996 eine Biographie, über die Jüngste, Elisabeth, seit 2001, über Monika wissen wir vieles aus ihren eigenen Erinnerungen und dem Briefwechsel der Geschwister mit der Mutter.

Standen sie nicht alle früher oder später in einem Konkurrenzverhältnis zueinander? Waren nicht alle in gleicher Weise von dem Wunsch beherrscht, die Liebe, Aufmerksamkeit und Beachtung des großen und berühmten Vaters zu erringen? Sind diese Frauen für den Biographen und den literarisch Interessierten nur von Belang, weil sie die Töchter Thomas Manns waren? Was haben sie geleistet? Welche Bedeutung hatte es für die verschiedenen Lebensläufe der weiblichen Mitglieder der Familie Mann, im Schatten des genialen Dichters zu stehen? Fühlten auch sie sich vom »Fluch des Schreibens« betroffen? Empfanden sie gar die Notwendigkeit, es ihm auf seinem ureigensten Gebiet gleichzutun? Die Lebensläufe der verschiedenen Generationen, insbesondere der Töchter, sind ein Abbild der Zeitgeschichte, zeigen aber zugleich individuelle Schwierigkeiten, ein eigenständiges Leben zu führen.

Der Versuch, eine Familiengeschichte der Manns unter diesen Fragen darzustellen, muß Katia Mann, die Ehefrau und Mutter, in den Mittelpunkt rücken, war sie es doch, die die achtköpfige Familie, wie verstreut sie auch immer wieder war, zusammenhielt, die in Kriegszeiten für Nahrung, Kleidung und Heizung sorgte, nach zahlreichen Umzügen in Deutschland und im Exil immer wieder die Verhältnisse schuf, die der Dichter zum Schreiben benötigte, die ein gastliches großbürgerliches Haus führte, die ihrem sensiblen Mann den Rücken für sein literarisches Werk freihielt, ihm als Gesprächspartnerin und erste Zuhörerin, als Organisatorin und Sekretärin zur Seite stand, die ihm fünfzig Jahre lang in allen Lebenslagen treu blieb und die für ihre ebenso ungewöhnlichen wie schwierigen Kinder und Enkel stets Verständnis und Zeit aufbrachte.

Schon 1953 schrieb Erika Mann zum 70. Geburtstag über ihre Mutter, diese habe von vornherein beschlossen, »› im Übrigen sonst nicht bekannt‹ und nur in aller Stille äußerst wirksam zu sein. Nie hat sie das geringste ›von sich hergemacht‹; immer ist sie zurückgetreten, auch hinter der eigenen Leistung; und für sich selbst hat sie überhaupt nichts gewollt, – weder in der Öffentlichkeit noch sonst. Füge ich hinzu, das Wohlergehen der Ihren und die Gewißheit, ihr Bestes getan zu haben, so oft von draußen ihre Hilfsbereitschaft aufgerufen wurde, sei alles, woran ihr wirklich liege, so sage ich die Wahrheit und gebe gleichzeitig ein, wenn nicht falsches, so doch bedenklich irreführendes Bild. Denn das ›Mielein‹ (wie Kinder, Enkel und Freunde sie nennen) ist das genaue Gegenteil des ›wertvollen Menschen‹ und wandelnden Edelmuts, die man kennt. Blitzgescheit, schnell von Witz und Verstand, ist sie ›gut‹, wie die Neger braun sind, – auf die natürlichste, selbstverständlichste Art von der Welt. Eine belebte Landschaft mit vielfach wechselnder Beleuchtung, spiegelt ihre Miene – ein zeitlos kindliches Gesicht – all ihre Gedanken, und die leichte Kunst des Lügens hat sie nie erlernt.«2 Ist dies vielleicht ein zu schöngefärbtes Bild? Dagegen spricht, daß bekanntlich die eigenen Kinder die kritischsten Beobachter ihrer Eltern sind und daß es immer wieder Spannungen zwischen Erika und ihrer Mutter gab.

Leider gibt es von Katia Mann keine eigenen Veröffentlichungen. Ihren Ungeschriebenen Memoiren, die aus Gesprächen mit ihrem jüngsten Sohn Michael Mann und Elisabeth Plessen hervorgegangen sind, stellte sie die Bemerkung voran: »Ich habe tatsächlich mein ganzes, allzu langes Leben immer im strikt Privaten gehalten. Nie bin ich hervorgetreten, ich fand, das ziemte sich nicht. Ich sollte immer meine Erinnerungen schreiben. Dazu sage ich: in dieser Familie muß es einen Menschen geben, der nicht schreibt. Daß ich mich jetzt auf dieses Interview einlasse, ist ausschließlich meiner Schwäche und Gutmütigkeit zuzuschreiben.« Über Katias Kindheit und Jugend gewinnt man wichtige Einsichten durch diese Erinnerungen und durch die Briefe ihrer Mutter Hedwig Pringsheim, deren Kinderbüchlein und Tagebuch. Über die Verlobungszeit Katia Manns erfährt man Aufschlußreiches durch die Exzerpte aus Briefen Thomas Manns an seine Braut, die er für den Roman Königliche Hoheit anfertigte. Leider sind die Originale und Katias Antworten in den Kriegswirren verlorengegangen.

Nach der Heirat war Katia mehrfach in Sanatorien und berichtete ihrem Mann auch schriftlich über die dortigen Ereignisse, die ja bekanntlich in den Zauberberg eingegangen sind; bedauerlicherweise sind auch diese Briefe verschwunden. Über ihre ersten vier Kinder hat Katia Mann – ihrer Mutter folgend – in deren frühen Lebensjahren jeweils ein Büchlein angelegt, in dem sie die Kinder charakterisiert, erste Aussprüche notiert oder Anekdoten erzählt. Nach dem Ersten Weltkrieg und der Geburt der beiden Jüngsten hatte sie wohl weder Zeit noch Interesse für weitere Aufzeichnungen. Das Heranwachsen der älteren Kinder mit ihren vielfältigen Problemen nahm sie vermutlich mehr in Anspruch als der wachsende Ruhm Thomas Manns und der stets von Besuchern frequentierte, große Hausstand.

Nach ihrer Auswanderung hatten Thomas und Katia Mann kaum noch Grund, schriftlich miteinander zu verkehren, waren sie doch in diesen Jahrzehnten kaum je getrennt. Allerdings häuften sich nun Briefe an die Kinder, insbesondere an die beiden Großen, die über alles Wichtige informiert werden mußten. Nun hatte Katia auch die Zeit, ihren Mann auf seinen Reisen zu begleiten, oft gemeinsam mit der ältesten Tochter Erika. Sie erledigte die Korrespondenz für Thomas Mann und trat selbständig als Briefschreiberin hervor: Nicht nur die Briefe an ihre Kinder, soweit sie erhalten sind, sondern auch ihre Korrespondenz mit Freunden und Verlegern, ihr Einsatz für andere Menschen, die aus dem nationalsozialistischen Deutschland geflüchtet waren oder in Not gerieten, zeugen von ihrer Selbstlosigkeit und ihrem humanitären Engagement. Diese Briefe liegen verstreut in den verschiedenen Archiven in München, Marbach, Zürich und Bern. Die Erinnerungen der Kinder und die Tagebücher Thomas Manns geben ebenfalls Aufschluß über das Familienleben. Welche Bedeutung die Familie für den großen deutschen Schriftsteller hatte, muß also aus vielen Quellen erschlossen werden. Aber was es für die Töchter bedeutete, einer berühmten Schriftstellerfamilie anzugehören und sie auch in der Öffentlichkeit vertreten zu müssen, wird erst aus deren autobiographischen Texten und Briefen deutlich.

Erika, die Lieblingstochter Thomas Manns, hinterließ viele Zeugnisse ihres Lebens. Sie scheiterte aber an einer geplanten Autobiographie ebenso wie an der Verwirklichung eines eigenen Lebensentwurfes. Auch das Projekt einer Biographie ihres Vaters vermochte sie nicht zu realisieren. Lediglich ein kurzer Rückblick auf sein letztes Lebensjahr entstand nach seinem Tod. Erikas enge Zusammenarbeit mit ihrem Vater in dessen späten Jahren führte häufig zu Spannungen mit der Mutter. Monika, die Mittlere, war die ungeliebte Tochter der Manns. Auch sie versuchte schriftstellerisch tätig zu werden, fand aber damit in der Familie, insbesondere bei ihrer Schwester Erika und bei der Mutter, keinerlei Anerkennung. Allein Elisabeth, der Jüngsten, gelang es, beruflich und familiär einen eigenen Lebensweg zu beschreiten und auch ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen. Auch begann sie, allerdings erst spät, Bücher zu schreiben. Aber der Neid ihrer Schwestern auf Elisabeths Glück und ihren Erfolg, ja, sogar auf ihre Kinder, vergiftete zeitweise ihre Beziehungen. Die drei Söhne Thomas und Katia Manns, Klaus, Golo und Michael, die jeweils sehr eng mit ihren Schwestern aufwuchsen, spielten selbstverständlich ebenfalls eine große Rolle in der Familie. In dieser Darstellung werden sie jedoch nur in zweiter Linie erwähnt. Es geht mir vor allem darum zu schildern, in welchem Konkurrenzverhältnis die Töchter und ihre Mutter standen, um die Gunst des zentralen Gestirns in dieser Konstellation, des »Zauberers«, wie er in der Familie genannt wurde, zu erlangen und das große Werk zu befördern.

Das Ansehen in der Familie war weitgehend von der Öffentlichkeitswirksamkeit der Frauen abhängig. Katia lebte und wirkte zwar mehr oder weniger im Schatten des Dichters, stand aber doch unmittelbar in seinem Ruhmesglanz und hatte hinreichend viele praktische Aufgaben, um ihre Identität nicht zu verlieren. Die Töchter konnten mit dem Vater nicht direkt konkurrieren und mußten also eigene Gebiete finden, auf denen sie sich intellektuell oder künstlerisch beweisen konnten. Aber den strengen Normen Thomas Manns unterwarfen sich nur zwei seiner Töchter. Alle schwankten innerhalb des vom Vater oft thematisierten Gegensatzes zwischen Bürger- und Künstlertum, zwischen Bohème und Seßhaftigkeit. Das Familienleben offenbarte in mancherlei Hinsicht den Widerspruch zwischen inneren Spannungen und der beschönigenden öffentlichen Selbstdarstellung, auf die sich die Familie glänzend verstand.

Erst nachträglich kam immer stärker ans Licht, wie die Kinder unter der schöpferischen Übermacht des Vaters litten, während sie zugleich ganz auf ihn fixiert waren. Und in sich widersprüchlich bleibt die Kritik, die später etwa Golo und Monika übten, und die Anziehungskraft, die ihr Elternhaus dennoch zeitlebens auf sie ausübte. Über tausende, ja zehntausende Kilometer, über Weltmeere hinweg, ging diese Familienhaftung nicht verloren. Immer wurde der briefliche, aber auch der persönliche Kontakt aufrechterhalten. Die große Anziehungskraft der Eltern und zugleich die Tendenz zur Loslösung von ihnen charakterisieren das Leben aller Mann-Kinder. Die Viten der Frauen dieser Familie stellen ein faszinierendes Stück deutscher Kulturgeschichte dar, die von der bürgerlich behüteten Welt Deutschlands vor dem Ersten Weltkrieg über die aufgewühlte, turbulente Zwischenkriegszeit, die Auflösung aller Ordnungen während der nationalsozialistischen Diktatur, über das Exil bis in die Nachkriegszeit nach 1945 reicht: Der Versuch, eine eigene Aufgabe zu finden, gelang Erika teilweise, Monika kaum, Elisabeth aber sehr wohl. Das vom Vater verhätschelte »Kindchen« blieb eher optimistisch und lebenszugewandt.

EINS

Das »Urmiemchen«

Hedwig Dohm im Alter

Hedwig Dohm

Die Großmutter Katia Manns war die berühmte Frauenrechtlerin und Schriftstellerin Hedwig Dohm. Sie stammte aus dem jüdischen Bürgertum Berlins. Vor ihrer Heirat hieß sie Marianne Adelaide Hedwig Schleh. Ihre Vorfahren hießen Schlesinger, aber schon ihr Vater, der Tabakfabrikant Gustav Adolf Gotthold Schlesinger, war 1817 vom jüdischen zum protestantischen Glauben übergetreten und hatte 1851 seinen Namen in Schleh abgeändert. Die Familie Schleh hatte achtzehn Kinder, zehn Söhne und acht Töchter, von denen Hedwig das elfte war. Sie wurde am 20. September 1831 in Berlin geboren.

Ihre Kindheit verlief nicht glücklich. Die Mutter scheint weder bemerkt zu haben, wie hübsch noch wie intelligent sie war. Sie zog Hedwig, deren geistige Fähigkeiten brachlagen, ständig zur Hausarbeit heran. Nach Beendigung der Mädchenschule, die ihr ohnehin nicht viel geboten hatte, war nichts weiter für sie vorgesehen, als einen Teppich mit Rosenbuketts zu besticken und auf einen Mann zu warten. Heimlich aber las sie alles, was sie in die Hände bekam. In den Zeiten der Revolution von 1848 stahl sie sich in demokratische Versammlungen, um sich dort politische Reden anzuhören. Als ihre Eltern Hedwig schließlich den Besuch des Lehrerinnen-Seminars gestatteten, war das offenbar eine enttäuschende Erfahrung. Sie brach die Ausbildung ab und heiratete 1853 den viel älteren Friedrich Wilhelm Ernst Dohm. Seit 1849 war er Redakteur der politisch-satirischen Wochenschrift »Kladderadatsch«1. Zudem war er Präsident des Wagner-Vereins und gehörte mit seinem Kreis zur liberalen Bismarck-Opposition. Dohm galt als wortgewandt und schlagfertig. Auch seine Familie, ebenfalls jüdisch, war 1827 zum protestantischen Glauben übergetreten. Das Ehepaar hatte zwar wenig Geld, pflegte aber gesellschaftlich prominenten Umgang. Hedwig und Ernst Dohm hatten fünf Kinder, vier Töchter und einen Sohn, der sehr jung starb.

In ihrem Roman Schicksale einer Seele (1899) schildert Hedwig Dohm ihre Kindheit und ihre Ehe mit Ernst Dohm, der seine Frau für geistig unbedarft hielt und sie offenbar schon in der Hochzeitsnacht betrog. In den siebziger Jahren, im Alter von vierzig Jahren, als ihre Kinder herangewachsen waren, schrieb sie Romane und Theaterstücke. Sie wurden um die Jahrhundertwende viel gelesen, sind heute jedoch vergessen. Berühmt wurde Hedwig Dohm jedoch vor allem mit ihren feministischen Büchern wie Der Jesuitismus im Hausstande (1873), Die wissenschaftliche Emancipation der Frau (1874) oder Der Frauen Natur und Recht (1876). Hier forderte sie das Frauenstimmrecht und das Recht auf Bildung und Ausbildung und prangerte die mangelnde sexuelle Aufklärung junger Frauen an. Hedwig Dohm zählt zu den frühen Theoretikerinnen des radikalen Feminismus. Im Hause Dohm in Berlin verkehrten zu unterschiedlichen Zeiten berühmte Politiker, Literaten und Künstler wie Wilhelm von Humboldt, Ferdinand Lassalle, Fanny Lewald, Varnhagen von Ense und viele andere mehr. Es waren wohl dieser gesellschaftliche Umgang und die Gespräche mit den berühmten Zeitgenossen, die Hedwigs Selbstbewußtsein stärkten. Jetzt wagte sie es, ihre Ideen umzusetzen und zu veröffentlichen. Der bekannten Frauenrechtlerin gelang es jedoch nicht, ihre fortschrittlichen Ideen im eigenen Leben zu praktizieren; es blieb bei der Theorie. Um so mehr mag sie gehofft haben, daß ihren Töchtern dies gelingen möge. Aber auch ihre Tochter Hedwig, die spätere Schwiegermutter Thomas Manns, gab ihre Karriere für Mann und Kinder auf, ähnlich wie die Enkelin.

Katias Großmutter, das »Urmiemchen« der Familie Mann, war eine außergewöhnliche Persönlichkeit, die sowohl Thomas Mann als auch Klaus Mann würdigten, Thomas in »Little Grandma« (1942), Klaus in seinem autobiographischen Roman Der Wendepunkt: »Der Salon der Frau Hedwig Dohm gehörte zu den angeregtesten intellektuellen Treffpunkten des alten Berlin. Franz Liszt, mit dem die alte Dame übrigens eine auffallende Ähnlichkeit hatte, war einer der regelmäßigen Besucher.«2 Thomas Mann, der ihre Enkelin geheiratet hatte, schrieb mit »Little Grandma«3 mehr als zwanzig Jahre nach ihrem Tod – sie starb am 4. Juni 1919 in Berlin – ein »Memorandum«, das ein rührendes Porträt der alten Dame darstellt. Weil Thomas Mann als werdender Vater die unvorsichtige Bemerkung gemacht hatte, ein Mädchen sei doch keine »recht ernsthafte Angelegenheit«, beschimpfte sie ihn bei aller sonstigen Milde als »verdammter alter Anti-Feminist und Strindbergianer« und verzieh ihm ihr Leben lang diesen Ausspruch nicht. In seinem »Little Grandma« schilderte er nun – leider viel zu spät – ihre Schönheit, ihre Bescheidenheit und ihre Technikbegeisterung. »Dann verwitwete Little Grandma. Sie lebte nicht mehr an der Seite eines angesehenen Gatten, sie war nur noch sie selbst. Aber eine Frau von Persönlichkeit wird unter diesen Umständen oft erst recht, was sie ist. Little Grandma hatte nicht nur ihrem Haushalt vorgestanden, ihre vier Töchter, von denen keine so klein, aber auch eine nur, die in München, annähernd so schön war wie sie, aufgezogen und befriedigend verheiratet, sie war auch für ihr Teil immer geistig tätig und produktiv gewesen. Sie schrieb Romane – nun, die waren nicht gerade sehr wichtig, obgleich sie als Dokumente aus dem Berliner und Münchner Gesellschaftsleben gewiß ihren Wert behalten werden. Aber erstens war es damals bei uns, anders als in den angelsächsischen Ländern, etwas Außergewöhnliches und Imponierend-Halbanstößiges, im bürgerlichen Sinne ›Unweibliches‹, daß eine Frau überhaupt Bücher schrieb; und zweitens war Little Grandma ja eine Kämpferin und Ruferin im Streit, welche die Freiheit und Selbständigkeit des Weibes, die sie als Novellistin praktisch betätigte, auch als Journalistin, mit Artikeln, die sie für die liberale Presse und für Frauenzeitschriften verfaßte, theoretisch-gesellschaftskritisch verfocht und sogar in Versammlungen auftrat. Ihre märchenhafte Person reichte dabei kaum über das Rednerpult hinaus; aber die Hauptsache war, daß ihre Augen darüber hinausblickten, und die machten mehr Eindruck als ihre Worte.«

Thomas Mann würdigt also das »Miemchen«, wie sie in der Familie genannt wurde, mit der gewohnten Prise Ironie. Die Beziehungen zu dem jungen Paar Katia Pringsheim und Thomas Mann dürften allerdings nicht sehr eng gewesen sein, da sie in Berlin lebte und sich außer gelegentlichen Besuchen wenig Kontakt ergab. Als angesichts der Errungenschaften für Frauen wie Gymnasialbildung und Wahlrecht, die es nun – nach dem Ersten Weltkrieg – endlich gab und für die sie immer gekämpft hatte, ihre Tochter Hedwig Pringsheim sie kurz vor ihrem Tode fragte: »Freust du dich denn nicht, Mutter?«, schüttelte sie wehmütig ihren alten, schönen, lieben Kopf: »Zu spät, zu spät.«4 Aber sie konnte noch erleben, daß, wenn auch nicht ihre Töchter, so doch ihre Enkelinnen sich der neuen Freiheiten erfreuen durften. Hatten nun die fortschrittlichen Ideen der Großmutter irgendeinen Einfluß auf ihre älteste Tochter Hedwig, auf ihre Enkelin Katia und auf die Urenkelinnen, oder verliefen deren Schicksale nach altbekanntem Muster?

ZWEI

Die Schauspielerin

Hedwig Pringsheim als junge Frau.

Hedwig Pringsheim

Ihre Tochter Hedwig, die spätere Schwiegermutter Thomas Manns, die in der Familie »Fink« oder »Offi« genannt wurde, kam 1855 in Berlin zur Welt. Sie ergriff die Schauspielerlaufbahn, also einen wahrhaft unbürgerlichen Beruf. Seit frühester Jugend hatte sie eine Leidenschaft für das Memorieren und Deklamieren von langen Gedichten, sie war ungewöhnlich hübsch und hatte eine gute Stimme. Als aber eine befreundete Schauspielerin versprach, sie zur Hofschauspielerin bei der Theatergruppe des Herzogs Georg II. von Sachsen-Meiningen zu machen, regte sich der Widerstand des Vaters. Ernst Dohm erfüllte »die Vorstellung, seinen Liebling in diesen Sündenpfuhl zu schicken«, mit Grausen.1 Auch die Mutter mag um den guten Ruf ihrer Tochter gefürchtet haben. Aber die Bedenken der Eltern wurden schließlich nach Hedwigs eigener Aussage durch die Aussicht auf eine Gage zerstreut, die bei 1500 Mark jährlich beginnen, sich von Jahr zu Jahr steigern und bei Gastspielen sogar verdoppeln sollte.

Die Theatergruppe, genannt die »Meininger«, war damals berühmt und stand unter der persönlichen Leitung des Herzogs Georg II. Sie führte in den siebziger und achtziger Jahren mit großem Erfolg eine Vielzahl klassischer Stücke in vielen europäischen Städten auf. Hedwig hatte jedoch die Schauspielerei nie gelernt. Sie litt an Lampenfieber und an den Machtkämpfen unter den Kolleginnen. Vielleicht war auch ihre natürliche Begabung nicht allzu groß. So kam es, daß sie bereit war, ein Angebot gänzlich anderer Art anzunehmen, nämlich den Heiratsantrag des gerade als Mathematiker habilitierten Alfred Pringsheim, der sie mit dreiundzwanzig Jahren »von der Bühne weg« heiratete und somit ihre Schauspielerkarriere jäh beendete. Hedwig hatte selbst keine allzu hohe Meinung von ihrem schauspielerischen Talent. Später erzählte sie in einem Feuilleton, unter anderem sei sie in der Rolle der Julia steckengeblieben und habe sich mit der ersten Heldin und Liebhaberin zerstritten. Daraufhin habe sie nach anderthalbjähriger Schauspieltätigkeit ihr Entlassungsgesuch eingereicht. Alfred Pringsheim kam also als Retter in der Not, und er hatte einiges zu bieten.

Der Name Pringsheim taucht 1794 erstmals auf.2 Alle Pringsheims sind Nachfahren des Bernstädter Juden Mendel (Menachem) b. Chaim Pringsheim. Ein Urenkel dieses ersten Pringsheim war Rudolf Pringsheim (1821–1906), Katia Manns Großvater väterlicherseits. Rudolf Pringsheim wurde 1821 in Oels in Schlesien geboren und lebte später in Ohlau. Er besaß große Kohlengruben und war zunächst Bahnspediteur. Durch den Bau von Schmalspurbahnen für den Güter- und Personenverkehr trug er zur Erschließung Oberschlesiens bei. Er leitete sein Unternehmen mit außerordentlichem Geschick. 1844, im Alter von 23 Jahren, schloß er mit der Oberschlesischen Schmalspurbahn einen Pachtvertrag, demzufolge er »den Transport von Produkten des Bergbaus und des Hüttenbetriebes zu bewirken hatte«. Im Unterschied zu anderen Unternehmern spekulierte er jedoch nicht, verlor also auf diese Weise kein Geld, sondern konnte seinen Reichtum ständig mehren. So kam es auch, daß er nach der Verlegung seines Wohnsitzes nach Berlin in den Jahren 1872–74 ein prachtvolles Palais in der Wilhelmstraße 67 bauen konnte, das Anton von Werner und Karl von Piloty entworfen und ausgestattet hatten und das eine Straßenfront von 30 Metern Länge aufwies. Wenn das Haus auch protzig wirkte und für das damalige Berlin ein »sensationelles Ereignis« darstellte, so blieb der Hausherr doch ein kultivierter und bescheidener Mensch.

Als Rudolf Pringsheim 1906 fünfundachtzigjährig in Berlin starb, hinterließ er seinen Kindern Alfred und dessen Schwester Martha ein riesiges Vermögen, dessen genauer Wert allerdings nicht zu ermitteln ist. Allein von der Oberschlesischen Schmalspurbahn erhielt der Pächter Rudolf Pringsheim jedoch im Jahre 1904, als die Bahn verstaatlicht wurde, als Ablösung des Pachtvertrags eine Summe von 3270000 Mark. Seinem Sohn Alfred ermöglichte er, 1889/90 ein zwar bescheideneres, aber ebenfalls prachtvolles Palais in der Arcisstraße 12 in München, auf dem Gelände der späteren »Führerbauten« und der heutigen Hochschule für Musik und Theater, zu erbauen. Seit 1886 war Alfred Pringsheim zunächst als außerordentlicher, seit 1901 als ordentlicher Professor für Mathematik tätig. Schon vor seiner Berufung zum Ordinarius wurde er 1889 zum Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften gewählt. Seine wissenschaftlichen Werke umfaßten eine Anzahl von Aufsätzen über die arithmetischen Grundlagen der Funktionenlehre, die in den Mathematischen Annalen und Sitzungsberichten der Münchener Akademie veröffentlicht wurden, sowie ein zweibändiges Werk Vorlesungen über Zahlen- und Funktionenlehre, das in mehreren Teilen 1916 bis 1932 erschien.3

Alfred Pringsheim zählte zu den ganz Reichen, nicht nur in München. Sein Vermögen im Jahr 1914 wurde im Jahrbuch des Vermögens und Einkommens der Millionäre in Bayern mit 13 Millionen Mark bei einem Jahreseinkommen von 800000 Mark angegeben. Da das Jahresgehalt eines ordentlichen Professors damals zwischen 5000 und 10000 Mark ohne Hörgelder lag, wird erkennbar, daß sein Vermögen vom Vater ererbt sein mußte. Soweit war es zwar noch nicht, als Hedwig Dohm und Alfred Pringsheim sich Ende 1877 verlobten und im nächsten Jahr heirateten, aber an Geld mangelte es nie. Zunächst zog das Paar in eine repräsentative Wohnung in der Münchener Arcisstraße. Erst 1889 war das Renaissance-Palais fertiggestellt, und Alfred mußte noch etliche Jahre warten, bis er zum ordentlichen Professor ernannt wurde. Seine Frau wurde oft wegen ihrer Schönheit und Klugheit gerühmt, das Pringsheimsche Haus wurde bald zu einem Mittelpunkt des Münchner Kultur-, Geistes- und Gesellschaftslebens, in dem Hedwig mit ihren Fähigkeiten brillieren konnte. Alfred hatte offenbar sein Geld gut angelegt, denn auch er konnte später seiner jüngsten Tochter Katia zu einem angemessenen Wohnsitz in München verhelfen. Im übrigen ermöglichte ihm sein Vermögen, eine weltberühmte Kunstsammlung anzulegen, die ihm trotz Krieg und Inflation eines Tages das Leben retten sollte.

Dr. Alfred Pringsheim und Hedwig, geb. Dohm, heirateten am 23. Oktober 1878 in Berlin. Die ersten drei Kinder kamen jedoch in München zur Welt: 1879 Erik, 1881 Peter und 1882 Heinz. Am 24. Juli 1883 schließlich konnte der stolze Vater bekanntgeben, daß seine Frau Hedwig glücklich von Zwillingen entbunden worden sei, Klaus und Katharina Hedwig. Zunächst wurde das kleine Mädchen Käte, Kati oder Katja genannt.

Daß bei der bevorstehenden Geburt Zwillinge zur Welt kommen würden, hatte niemand erwartet. Die Familie hielt sich gerade für die Sommerfrische in Feldafing am Starnberger See auf, als die Wehen einsetzten. »Meine Mutter erwartete das vierte Kind, und als es dann kam, auch noch zu früh, waren es zwei, mein Zwillingsbruder und, ganz unerwartet, ich. Niemand war da außer der Bauersfrau, und es gab ja kein Telefon. Da sagte sie: Jessas! Es kommt noch eins! Das war dann ich. Als mein Vater an dem Tag nach Hause kam, wurde er von der Bauersfrau aufgeregt empfangen: Herr Doktor! Herr Doktor! Zwillinge san ankommen! Ihn rührte fast der Schlag.«4 So schilderte Katia Mann ihre eigene Geburt, wie sie sie schon hundertmal gehört hatte, erzählt von ihrer eigenen Mutter Hedwig Pringsheim. Die Zwillinge wurden am 6. Juli 1885 protestantisch getauft. Vater Alfred hat seinen jüdischen Glauben formal nie abgelegt. Obwohl ihm aus Karrieregründen nahegelegt wurde, sich taufen zu lassen, lehnte er dies stets ab und wurde 1901 dennoch Ordinarius an der Ludwig-Maximilians-Universität in München, wo er mit seinem Scharfsinn und schlagfertigen Witz Eindruck machte.

Hedwig Pringsheim hatte von ihrer Mutter ein gewisses schriftstellerisches Talent geerbt, wie man aus ihren frischen, lebendigen Briefen und Feuilletons sehen kann. Sie hatte durchaus eine spitze Zunge, aber es mangelte ihr auch nicht an Selbstironie. Sie hatte die Fähigkeit, Personen und Ereignisse plastisch und knapp zu charakterisieren, eine Eigenschaft, die auch Tochter Katia erbte. Offenbar war sie zufrieden mit ihren Aufgaben als Mutter und bedauerte es nicht, die Schauspielerei aufgegeben zu haben. Sie hatte ja ihren Münchner Salon und ihre Kinder, allerdings mußte auch sie – wie ihre Mutter – in Kauf nehmen, daß Alfred stets wechselnde »Flammen« hatte. Das Familienleben scheint jedoch, trotz des gelegentlichen Jähzorns des Vaters, harmonisch gewesen zu sein. Mit Alfreds Musikalität konnte sie zwar nicht mithalten, aber sie besaß genügend Selbstbewußtsein, um damit leben zu können. Jedenfalls wurde über alles gesprochen, und auch vor den Kindern gab es keine Tabus, wie die Aufzeichnungen des »Kinderbüchleins« erkennen lassen, das Hedwig Pringsheim führte. Darin schildert sie die geistige und körperliche Entwicklung der Kinder, ihre Aussprüche, das Familienleben in einem großbürgerlich-künstlerischen Hause.

Die Kindererziehung war für die damalige Zeit äußerst liberal. Es gab ein reichhaltiges Bildungsangebot, aber niemand wurde zu etwas gezwungen. Die Kinder durften ihre Meinung frei äußern und auch Themen erörtern, die üblicherweise tabu waren: Hedwig notierte Gespräche über das Kinderkriegen, über Juden und Christen und sogar über die Geliebte des Vaters. Die Kinder wurden auch nicht vom Umgang mit den berühmten Künstlern und Gelehrten, die das Haus frequentierten, ausgeschlossen.

Im Hause Pringsheim in München wurden glänzende Soireen, Diners, Tees, musikalische Abende und Dichterlesungen, aber auch Bälle gegeben, die mit denen der Bernsteins, deren Salon ebenso berühmt war, konkurrierten. Man lebte, wie Inge und Walter Jens formulierten, »im faszinierenden Ambiente der jüdischen Kulturbourgeoisie«5, in der man Geld hatte, aber Geist zeigen mußte, sonst wäre man nicht zugelassen worden. Der junge Thomas Mann hatte zwar kein Geld, aber als Sohn eines Lübecker Senators eine Herkunft, die er durchaus ins Feld führen konnte. Und er hatte, als er sich entschloß, der einzigen Tochter des Hauses Pringsheim den Hof zu machen, bereits mehrere Novellen und den berühmten Roman Buddenbrooks. Verfall einer Familie (1901) veröffentlicht. Zwar war Alfred Pringsheim nicht sonderlich an Literatur interessiert, aber seine Frau Hedwig und wohl auch die Tochter Katia hatten das Buch gelesen.

DREI

Katia

Katia Mann in ihrem sechzigsten Lebensjahr.

Kindheit und Jugend

Die kleine Katia wuchs zusammen mit ihren vier Brüdern in dem Palais der Pringsheims in der Arcisstraße 12 in München auf. Sie wurde nicht anders behandelt als ihre Brüder, ja, viele zählten sie sogar zu den »Pringsheim-Buben«. Zunächst erhielten die Kinder Privatunterricht, ihr Lehrer Bengelmann brachte ihnen das Grundschulpensum bei und bereitete sie für die Aufnahmeprüfung am Gymnasium vor. Katia lernte leicht und nahm früh einen Teil des Stoffes auf, in dem die größeren Geschwister unterrichtet wurden. Besonders Erik, immerhin vier Jahre älter als seine Schwester, freute sich über jede Lateinvokabel, die sie behielt. Der Unterricht durch ihren Privatlehrer wurde jäh beendet, als Bengelmann bei einem Ausflug mit den Kindern an den Tegernsee beim Baden ertrank. Schülein, der neue Lehrer, unterrichtete Katia und ihren Zwillingsbruder Klaus im gesamten Lehrstoff bis zum neunten Schuljahr. Als Klaus die Aufnahmeprüfung für das Gymnasium ablegte, mußte Katia allerdings zurückstehen, denn es gab damals noch kein Mädchengymnasium in München. Zu Klaus hatte Katia eine besonders enge Verbindung, denn er war der schwächere der Zwillinge und kränkelte leicht. Das veranlaßte die vierjährige Katia zu der Äußerung: »Wo wir beide als Menschen gekommen sind, da hat man sich geirrt und gemeint, ich bin’s Mädel, aber ich bin der Bub!« So hat es jedenfalls ihre Mutter im »Kinderbüchlein« notiert, auch das schlechte Gewissen, das Katia deswegen hatte. Auch hatte sie kein Interesse an Spielzeug für Mädchen, sondern eiferte ihren Brüdern nach, die sie vergötterten. Von frühester Kindheit an wollte sie sich durchaus mit den älteren Brüdern messen.

Vielleicht war es der Wunsch der Großmutter, daß Katia wie ihre Brüder die Reifeprüfung ablegen sollte. Sie wurde zunächst von einem Studenten unterrichtet, der die vier Buben bei den Hausaufgaben beaufsichtigte, dann von verschiedenen Gymnasialprofessoren in alten Sprachen, Deutsch, Mathematik und Geschichte. Im letzten Jahr schließlich las sie das Neue Testament auf Griechisch. Im Alter von siebzehn Jahren legte Katia als Externe zusammen mit dem Zwillingsbruder das Abitur an dem renommierten Münchner Wilhelms-Gymnasium ab, das mehrere Mann-Kinder später ebenfalls frequentierten.1

In dem luxuriösen und musisch interessierten Haus war alles vorhanden, was die Kinder zum Lernen brauchten: Es gab – neben dem großen gemeinsamen Schlafzimmer für die Söhne und dem Schlafzimmer der Tochter – ein Spielzimmer voller Schränke und Regale mit Spielzeug und zum Garten hin ein Studierzimmer, in dem jedes Kind ein eigenes Schreibpult und Bücherborde besaß. Dort stand auch ein kleiner Flügel für die jüngsten Söhne, die das musikalische Talent vom Vater geerbt hatten. Dieses Kinderreich war über eine separate Treppe zu erreichen.

Die Salons im Untergeschoß waren im Renaissance-Stil ausgeschmückt, mit vergoldeten Kassettendecken, Holz- und Marmorschnitzereien, Seidentapeten und Gobelins, erlesenen Möbeln und Gemälden sowie der berühmten Majolika-Sammlung und den Silberschmiedearbeiten, von denen später noch die Rede sein wird. Diese Vorliebe Alfred Pringsheims für den Stil der Renaissance war gegen Ende des 19. Jahrhunderts in den besseren Kreisen sehr en vogue. Die Pringsheims waren reich genug, echte Gobelins, Statuen, Silberarbeiten und Fayencen zu sammeln. Berühmte Künstler hatten die Villa ausgestattet: Um die Wände des Musik- und Ballsaales, mit dem Salon durch eine breite Schiebetür verbunden, lief ein Fries von Hans Thoma, der eine paradiesische Ideallandschaft darstellte. Die Pringsheims verfügten aber auch als einer der ersten Haushalte Münchens über Telefon und eine eigene Elektrizitätsversorgung.

Katias Mutter hatte das oben erwähnte kleine Büchlein angelegt, das die Jahre 1881 bis 1898 umfaßt. Darin sammelte sie Aussprüche der Kinder und Anekdoten aus dem Familienleben. Unter dem Datum des 3. Juni 1891 heißt es dort: »Thoma hat die Saal-Bilder abgeliefert, Kati sitzt bewundernd auf der Stufe: ›Kann Herr Thoma nicht eigentlich besser malen als Herr Lenbach? Was ist schwerer, blos nach’m Kopf malen oder anders malen? Ist Herr Thoma eigentlich ein Bayer?‹ ›Nein.‹ ›Schade, denn das tät Bayern so ehren.‹«2

Die Eltern waren stolz auf ihre fünf hübschen Kinder und ließen sie von den besten Malern der Zeit porträtieren. Überliefert ist das bekannte Gemälde Friedrich August von Kaulbachs, das die Kinder als Pierrots – Katia links als Pierrette – zeigt und von 1888 stammt, als Katia fünf Jahre alt war, und das Thomas Mann schon als Schüler in einer Zeitung gesehen und aufgehoben hatte, ohne damals zu wissen, wen es darstellte. Ein Jugendporträt der vierzehnjährigen Katia von Franz von Lenbach zeigt bereits ihre Schönheit, ihre auffallend großen dunklen Augen, die Thomas Mann später so bewunderte. Dieses Bild hing zunächst im Salon der Mutter, später im Haus der Familie Mann in Kilchberg am Zürichsee.

Zu den großen Gesellschaften der Pringsheims gehörte auch die sonntägliche »Theegesellschaft« im Salon der Mutter. Obwohl der Vater – im Gegensatz zur Mutter – keine literarischen Neigungen hatte, kamen sowohl Literaten als auch Musiker, Maler und Schauspieler ins Haus. Katia nennt in ihren Ungeschriebenen Memoiren »Richard Strauss … [den Komponisten Max von] Schillings, Fritz August Kaulbach, Lenbach, Stuck und viele andere aus Münchens gesellschaftlich-künstlerischen Kreisen«. Da Alfred Pringsheim Mathematikprofessor war, kamen aber auch Wissenschaftler und Universitätskollegen. Als begeisterter Wagnerianer hatte er sogenannte Patronatsscheine für den Bau des Schauspielhauses in Bayreuth gekauft und auch seinen Vater, Rudolf Pringsheim, dazu überredet. Sein größter Stolz waren zwei Briefe Wagners an ihn. Das persönliche Verhältnis zu Wagner verscherzte sich Alfred Pringsheim aber 1876 bei den Proben für den »Ring«, weil er sich mit einem Mann duellierte, der sich abschätzig über Wagner geäußert hatte. Der jähzornige Pringsheim hatte daraufhin seinem Widersacher einen Bierkrug auf den Schädel geschlagen. Seitdem trug er den Spottnamen »Schoppenhauer«. Die Wagners wollten keine Skandale und ließen Pringsheim fallen.3 Bei den musikalischen Veranstaltungen im Hause Pringsheim wurde dennoch weiterhin im eigenen Musiksaal Wagner gespielt und gesungen, dazu wurden professionelle Opernsänger eingeladen, darunter auch die Primadonna Milka Ternina. Katias offenherzige Art brachte manchmal die Erwachsenen in Verlegenheit. Als Achtjährige beobachtete sie, wie ihr Vater der Sängerin den Hof machte – ihre Mutter berichtet darüber: »Wir sitzen am Theetisch, und ich meine, Alfred, der noch fehlt, trinke gewiß bei Milka Thee. Darauf Kati: ›Der Fey [Spitzname des Vaters] spielt Milka überhaupt sehr den Hof, er wird sie wohl heiraten wollen, auf ein Jahr, bis sie ein Kind hat, dann wird er wiederkommen und sich mit dem Kind protzen, als wenn’s gescheiter wäre als wir fünf, aber dann jagen wir Milka mit dem Kind fort.‹ Das erzähle ich Alfred, der Kati fragt, wie er denn Hof spiele? ›Ja‹, sagt Kati, ›du gehst halt immer Theetrinken zu ihr und gibst ihr den Arm und applaudirst im Theater und machst den Frankfurter und schenkst ihr Konzertbillets, die sie nicht einmal annimmt, du bist wie ein Witwer, der eine andere will …!‹«4 Diese Passage zeugt nicht nur von Katias guter Beobachtungsgabe, sondern auch von der Offenheit, mit der im Hause Pringsheim von der Geliebten des Vaters gesprochen wurde. Offensichtlich hat die Mutter dieses Verhältnis geduldet. Die Worte der Achtjährigen spiegeln allerdings eine gewisse Eifersucht.

Trotz der Affären des Vaters scheint die Ehe der Pringsheims glücklich gewesen zu sein. Hedwig berichtet über ihren Mann zärtlich: »Der furchtbar süße kleine Mann ist ein rechter Mummelgreis geworden, aber gesund dabei, frisch und immer verliebt. So Männer haben’s gut, die dürfen ja immer …«, später wird er zum »munteren Greislein«.5 In späteren Jahren versuchte auch Hedwig sich schriftstellerisch zu betätigen. So schrieb sie einen öffentlichen Nachruf auf ihre Mutter, die Frauenrechtlerin, und weitere meist autobiographische Artikel, die im Unterhaltungsblatt der »Vossischen Zeitung« 1929/30 erschienen. Sie wußte ein kultiviertes und gesellschaftlich-künstlerisches Haus zu führen und nahm lebhaften Anteil an allen literarischen, musikalischen und politischen Ereignissen. Sie war sportlich, nahm Turnstunden und bestieg als eine der ersten Damen im München des 19. Jahrhunderts ein Fahrrad. Sie radelte mit ihrem Mann und den älteren Söhnen durch halb Europa, in Hosen, versteht sich. Die Zwillinge durften allerdings auf diese anstrengenden Touren noch nicht mit und wurden zu Verwandten geschickt.

Mit elf Jahren besuchte Katia zum ersten Mal die »Meistersinger« und war so begeistert, daß sie bedauerte, als die Oper, die bekanntlich viereinhalb Stunden dauert, zu Ende war. Mit Wagnerscher Musik aufgewachsen, glaubte sie, Wagner sei das Herrlichste überhaupt. In der Wagner-Verehrung war sich offenbar die ganze Familie einig.

Nachdem Katia die Reifeprüfung mit »glänzendem Ergebnis« abgelegt hatte, sollte sie auf Wunsch des Vaters Naturwissenschaften studieren: bei dem berühmten Wilhelm Conrad Röntgen Experimentalphysik, bei ihm selbst Mathematik, also Infinitesimal-, Integral- und Differentialrechnung sowie Funktionstheorie. Aber sie nahm das Studium eigentlich nur dem Vater zuliebe auf, wie sie in ihren Ungeschriebenen Memoiren bekannte.

»Aber ich bin noch immer der Meinung, daß ich für diese Fächer keine besondere Veranlagung hatte. Einer meiner Brüder, Peter, der zweitälteste, studierte auch Physik. Er ist ein sehr guter Physiker geworden. Ich war gar nicht dafür prädestiniert, und Röntgen hielt auch gar nichts von mir. Beim Experimentieren passierte mir einmal etwas sehr Mißliches. Ich warf einen Apparat hin. Das hat Röntgen mir sehr übelgenommen. Ich hätte es wahrscheinlich in diesem Fach nie zu etwas gebracht, und auch für Mathematik fand ich mich gar nicht sehr begabt. Ich hätte es auch da nicht sehr weit gebracht. Es war eigentlich mehr so töchterliche Anhänglichkeit. Ich hab’s auch alles vergessen.«6 Belegt hatte sie auch andere Fächer, die wohl ihren Neigungen näherlagen, wie Kunstgeschichte, Philosophie und Russisch. Manche der Vorlesungen besuchte Katia sogar zusammen mit ihrer Mutter.

Trotz ihres Desinteresses an Mathematik und Physik gefiel ihr doch das Leben als Studentin, zusammen mit den Brüdern auch der Besuch im Tennisklub. Es gab zahlreiche Bewerber um ihre Hand – unter ihnen auch Alfred Kerr, der bekannte Schriftsteller und Kritiker –, aber sie nahm keinen ernst. Überhaupt wollte sie gar nicht so schnell von zu Hause weg. Sie war zwanzig, hatte »vier oder sechs« Semester studiert und fühlte sich wohl in ihrer Haut. Erik, Katias Lieblingsbruder, verschwand nach einem Jurastudium und turbulenten Jahren als Spieler und Frauenheld nach Argentinien und damit aus Katias Gesichtskreis. 1909 kam er auf mysteriöse Weise ums Leben. In ihren Ungeschriebenen Memoiren erwähnt Katia diesen schmerzlichen Verlust nicht, ebensowenig wie den späteren ihres Sohnes Klaus. Ihre anderen Brüder ergriffen teils naturwissenschaftliche, teils musische Berufe: Peter (1881–1963) wurde Physiker, Heinz (1882–1974) Archäologe, Musikschriftsteller und Komponist; Klaus, Katias Zwillingsbruder (1883–1972), wurde Dirigent, Komponist und Opernregisseur. Von diesen drei Brüdern wird noch die Rede sein.

Verliebt (?), verlobt, verheiratet

Katia war Thomas Mann, dessen Roman Buddenbrooks damals bereits ein triumphaler Erfolg war und der auch mit seinem Novellenband Tristan (1903) von sich reden machte, schon mehrfach von weitem aufgefallen. Sie war häufig bei Musikaufführungen in Begleitung ihrer Brüder zu sehen, so im Kaim-Saal, einem Münchener Konzertsaal, für den Vater Pringsheim gleich fünf Abonnements genommen hatte. Dort hatte Thomas Mann, der wußte, wer sie war, sie mit dem Opernglas beobachtet. Sie kannte ihn noch nicht. Als Studentin fuhr sie bei schlechtem Wetter zweimal täglich mit der Trambahn von der Arcisstraße zur Universität, dieselbe Trambahn, die Thomas Mann häufig von Schwabing in die Stadt nahm. Obwohl bereits verschiedentlich zitiert, sei auch hier das »Trambahnerlebnis« erzählt, weil es ein Licht auf Katias Charakter wirft. Sie schreibt in ihren Ungeschriebenen Memoiren:

»An einer bestimmten Stelle, Ecke Schelling-/Türkenstraße, mußte ich aussteigen und ging dann zu Fuß, mit der Mappe unterm Arm. Als ich aussteigen wollte, kam der Kontrolleur und sagte: Ihr Billet! Ich sag: Ich steig hier grad aus. Ihr Billet muß i ham! Ich sag: Ich sag Ihnen doch, daß ich aussteige. Ich hab’s eben weggeworfen, weil ich hier aussteige. Ich muß das Billet –. Ihr Billet, hab ich gesagt! Jetzt lassen Sie mich schon in Ruh! sagte ich und sprang wütend hinunter. Da rief er mir nach: Mach, daß d’ weiterkimmst, du Furie!«7

Thomas Mann war von dieser Episode so beeindruckt, daß er Katia unbedingt kennenlernen wollte. Aber er konnte die junge Frau nicht direkt ansprechen, das galt damals als unziemlich. Also mußte er vorgestellt werden. Thomas Mann wandte sich schließlich an das Ehepaar Bernstein. Elsa Bernstein war eine bekannte Schriftstellerin, die unter dem Pseudonym Ernst Rosmer publizierte, Justizrat Max Bernstein ein bekannter Rechtsanwalt und Strafverteidiger, nebenbei auch Theaterkritiker der »Münchner Neuesten Nachrichten«. Ganz offenbar kannte Thomas Mann Frau Bernstein bereits gut genug, um sich an sie mit der Bitte um eine gemeinsame Einladung wenden zu können. Katia zufolge lud Elsa Bernstein, »die unsere Bekanntschaft eifrig begünstigte und offenbar gern ehestiftete – ich will nicht den stärkeren Ausdruck gebrauchen«, die beiden zum Abendessen ein und plazierte sie mit Absicht nebeneinander. Dieser ersten Einladung folgten weitere.

Kurz zuvor war Thomas Mann zur Antrittsvisite bei den Pringsheims erschienen, bei der er Katia nur flüchtig begrüßte. Wenig später lud Frau Pringsheim ihn zum Tee ein, er brachte ihr ein Buch zurück, das er sich ausgeliehen hatte. Die Mutter rief Katia dazu, und sie plauderten eine Stunde zu dritt. Schon wurde eine Einladung zum Mittagessen in Aussicht gestellt. In einem Brief vom 27. Februar 1904 berichtete Thomas Mann dem Bruder Heinrich über seine neuen gesellschaftlichen Kontakte:

»Es ist eine neue und erregte Zeit für mich, zu stiller Arbeit wenig geeignet. Buddenbrooks haben das 18. Tausend, und auch die Novellen stehen nun vor dem 3ten. Ich muß mich erst in die neue Rolle als berühmter Mann einleben; es erhitzt doch sehr … Ich bin gesellschaftlich eingeführt, bei Bernsteins, bei Pringsheims. Pringsheims sind ein Erlebnis, das mich ausfüllt. Tiergarten8 mit echter Kultur. Der Vater Universitätsprofessor mit goldener Cigarettendose, die Mutter eine Lenbach-Schönheit, der jüngste Sohn Musiker, seine Zwillingsschwester Katja (sie heißt Katja9) ein Wunder, etwas unbeschreiblich Seltenes und Kostbares, ein Geschöpf, das durch sein bloßes Dasein die kulturelle Thätigkeit von 15 Schriftstellern oder 30 Malern aufwiegt … Dies spricht der Rausch, aber es ist diesmal einer, der, wenn ich in ihm handle, unermeßliche Folgen der verschiedensten Art haben kann. Eines Tages fand ich mich in dem italienischen Renaissance-Salon mit den Gobelins, den Lenbachs, der Thürumrahmung aus giallo antico und nahm eine Einladung zum großen Hausball entgegen. Er war am nächsten Abend. 150 Leute, Litteratur und Kunst. Im Tanzsaal ein unsäglich schöner Fries von Hans Thoma. Ich hatte Frau Justizrath Bernstein … zu Tisch. Zum ersten Mal seit den 18 Auflagen war ich in großer Gesellschaft und hatte in der anstrengendsten Weise zu repräsentiren … Ich habe im Grunde ein gewisses fürstliches Talent zum Repräsentiren, wenn ich einigermaßen frisch bin … An diesem Abend lernte ich die Tochter des Hauses kennen, nachdem ich sie früher nur gesehen, oft, lange und unersättlich gesehen und sie nur einmal bei der Antrittsvisite flüchtig begrüßt hatte … Frau Prof. Pr. besucht jetzt auf 14 Tage ihre Familie in Berlin. Nach ihrer Rückkehr wird wohl die Diner-Einladung kommen. Katja hoffe ich vorher bei Bernsteins zu treffen.«10

Thomas Mann hat in der Novelle Beim Propheten (1904) seiner zukünftigen Schwiegermutter »harmlos« gehuldigt, »zur Sicherheit und noch in der Werbe- und Wartezeit«: »Plötzlich kam noch die reiche Dame an, die aus Liebhaberei solche Veranstaltungen zu besuchen pflegte. Sie war in ihrem seidenen Coupé aus der Stadt, aus ihrem prachtvollen Hause mit den Gobelins und den Türumrahmungen aus Giallo antico hierhergekommen, war alle Treppen heraufgestiegen und kam zur Tür herein, schön, duftend, luxuriös, in einem blauen Tuchkleid mit gelber Stickerei, den Pariser Hut auf dem rotbraunen Haar, und lächelte mit ihren Tizian-Augen. Sie kam aus Neugier, aus Langerweile, aus Lust an Gegensätzen, aus gutem Willen zu allem, was ein bißchen außerordentlich war, aus liebenswürdiger Extravaganz, begrüßte Daniels Schwester und den Novellisten, der in ihrem Hause verkehrte, und setzte sich auf die Bank vor der Fensternische zwischen die Erotikerin und den Philosophen mit dem Äußern eines Känguruhs, als ob das in der Ordnung sei.«11 Katias Zwillingsbruder Klaus erwiderte Thomas’ Antrittsbesuch und überreichte die Karte seines Vaters, »der leider zu beschäftigt war, um mich selbst aufzusuchen«, wie Thomas Mann vermerkte. Klaus bewies fortan seine Sympathie für den Dichter und gab ihm und seiner Schwester verschiedentlich Gelegenheit, unter vier Augen zu sprechen. Die anderen Brüder Katias nannten den hartnäckigen Bewerber allerdings den »leberleidenden Rittmeister«, wohl weil er auf sie etwas kränklich wirkte. Die Mutter dagegen hatte offenbar einen guten Eindruck von ihm. Vater Alfred Pringsheim war zwar »nicht sehr begeistert«, überwand aber seine Zweifel. »Wirklich gegen die Heirat war niemand«, erinnert sich Katia in ihren Ungeschriebenen Memoiren, auch nicht die Großmutter Dohm. Das »Urmiemchen« war lediglich etwas enttäuscht, daß die Enkelin nicht zu Ende studieren und promovieren wollte, was ihren Maximen entsprochen hätte.

Thomas Mann hat seine Katia mehrfach literarisch geschildert, zuerst in Königliche Hoheit, wo sie die wunderschöne, aber etwas schnippische Tochter eines amerikanischen Milliardärs verkörpert, Imma Spoelmann. »Miss Imma kam zu Fuß und allein von rechts auf dem Bürgersteig daher. Beide Hände in ihrem großen, mappenartigen Muff, dessen lang hinabhängende Decke mit Schwänzchen besetzt war, hielt sie mit einem Unterarm ihr Kollegienheft an sich gedrückt. Sie trug eine lange Jacke aus glänzendem Schwarzfuchspelz und eine Mütze aus dem gleichen Rauchwerk auf ihrem dunklen, fremdartigen Köpfchen.« Sie hat »unverhältnismäßig große braunschwarze Augen«, sie besitzt ein »perlblasses Gesichtchen«, kindliche Schultern und Arme, insbesondere die Augen werden immer wieder erwähnt, sie sprechen eine »eindringliche, hinreißend fließende Sprache«12. Kein Zweifel, das ist Katia, wie wir sie von ihren Jugendphotos kennen. Imma setzt ihren Gesprächspartner Klaus Heinrich »matt im Handumdrehen mit der lustigen Übermacht ihrer Zunge«13. Offenbar hatte Katia die gleiche Freude am geistreichen Wort wie ihr Vater, sie bestritt aber später, schnippisch gewesen zu sein. Allerdings sind im Roman die Verhältnisse auf eine höhere, »königliche« Ebene transponiert; statt der Ausritte zu Pferd, bei denen Imma dem Prinzen Klaus Heinrich davonreitet, gab es in der Realität Ausflüge mit dem Fahrrad, wobei Katia Thomas davonfuhr. Und »die lustige Übermacht ihrer Zunge« sollte sie in ihrem Leben noch viele Male beweisen.

Seit dem Kennenlernen der beiden im Februar 1904 bis zu ihrer Verlobung vergingen nur einige Monate, die Thomas Mann aber ungeheuer lang vorkamen. In sein Notizbuch schrieb er: »Sonnabend d. 9. April Ausspr. mit K. P.«, am »Montag, den 16. Mai: Zweite große Aussprache mit K. P., seit Donnerstag d. 19. Mai begann die Wartezeit.« Entweder hatte er ihr ein Ultimatum gestellt, oder sie hatte ihm versprochen, ihm nach einer gewissen Bedenkzeit eine Antwort zu geben. Sie war nämlich »nicht so sehr enthusiasmiert«, hatte »einige Widerstände, dachte nicht daran, so früh zu heiraten«14. Aber Thomas Mann hatte sich die Heirat mit Katia in den Kopf gesetzt und ihr, während sie auf Reisen nach Bad Kissingen und an die Ostsee war, leidenschaftliche Briefe geschrieben, die sie beeindruckten und die sie »nicht ganz so schön beantwortete«15. Dennoch fiel ihr die Entscheidung schwer. Wenn die Angelegenheit zur Sprache kam, sah sie ihn an »wie ein gehetztes Reh«. Thomas Mann, irritiert über ihre quälende Unentschlossenheit, befragte sogar einen Arzt, der ihm bestätigte, daß dieses Verhalten etwas notorisch Krankhaftes sei, und ihm riet, viel diplomatischer und zurückhaltender vorzugehen.16

Leider sind Katias damalige Briefe verlorengegangen. Die Briefe Thomas Manns existieren nur in Form von Exzerpten, die er von seinen eigenen Briefen an Katia für die Verwendung in Königliche Hoheit machte – ein frühes Beispiel dafür, wie Thomas Mann Persönliches in Literatur verwandelte und wie Katia ihn dabei unterstützte. Zu diesem Zweck hatte Katia ihm nämlich die Briefe zurückgegeben, wir können also den Inhalt ihrer Briefe nur aus seinen Antworten erschließen. Aus der Zeit ihres Ostsee-Aufenthalts sind Auszüge von etwa einem Dutzend Briefe erhalten: »Katja, liebe, geliebte kleine Katja, nie war ich mehr erfüllt von Ihnen, als in diesen Tagen! Ich glaube, den seltsamen und unbestimmten Klang Ihrer Stimme zu hören, den dunklen Glanz Ihrer Augen, die perlenartige Blässe Ihres süßen, klugen, wechselvollen Gesichts unter dem schwarzen Haar vor mir zu sehen,– und eine brennende Bewunderung ergreift mich, eine Zärtlichkeit schwillt in mir auf, für die es kein Zeichen und Gleichnis giebt. Und Sie? Und Sie?«17

Ihre Antworten, auf duftendem Papier, versetzten ihn in helles Entzücken: »… ahnen Sie eigentlich, was für ein Gralswunder und Zeichen des Heils dieser kleine, ein wenig kindlich bekritzelte Bogen für mich gewesen war? … Ein Sturm des Entzückens! Und dann, als Reaktion, ein beinahe träges Ruhen im Glück …« Er versuchte weiter, sie von den eigenen Vorzügen und den Vorteilen einer Ehe mit ihm zu überzeugen: »Aber Sie müssen selbständig genug sein, dabei im Sinne zu behalten, daß ich, nach Herkunft und persönlichem Werth, durchaus berechtigt bin, auf Sie zu hoffen; dürfen, was für ein Gesicht ich auch machen möge, niemals vergessen, daß Sie schlechterdings nicht hinabsteigen, schlechterdings keinen Gnadenakt vollziehen werden, wenn Sie eines Tages vor aller Welt die Hand ergreifen werden, die ich Ihnen so bittend entgegenstrecke.« Und schließlich der eigentliche Heiratsantrag in einem Brief vom Juni 1904: »Eine Heilung von dem Repräsentativ-Künstlichen, das mir anhaftet, von dem Mangel an harmlosem Vertrauen in mein persönlich-menschliches Theil ist mir durch Eines möglich: durch das Glück; durch Sie meine kluge, süße, gütige, geliebte kleine Königin! … Was ich von Ihnen erbitte, erhoffe, ersehne, ist Vertrauen, ist das zweifellose Zumirhalten selbst einer Welt, selbst mirselbst gegenüber, ist etwas wie Glaube, kurz – ist Liebe … Diese Bitte und Sehnsucht … Seien Sie meine Bejahung, meine Rechtfertigung, meine Vollendung, meine Erlöserin, meine – Frau! Und lassen Sie sich niemals von jener ›Unbeholfenheit oder so etwas‹ verwirren! Lachen Sie mich aus und sich selbst, wenn ich Ihnen ein solches Gefühl erwecke und halten Sie zu mir!«18

Offenbar traute sich Katia zunächst nicht zu, diesen Ansprüchen genügen zu können, aber schließlich, nach der Rückkehr aus dem Urlaub, gab sie ihr Zögern auf. Als er sie im September in ihrem Elternhaus in der Arcisstraße besuchte, fragte er sie, ob sie ihm ihre Bücher zeigen wolle. Sie stimmte zu, allein mit ihm nach oben in ihr Studierzimmer zu gehen, und dort, so erinnert sie sich Jahrzehnte später, »fiel er über mich her«. Thomas Mann erinnert in dem Roman Königliche Hoheit nur mit einem Satz an diese Situation: »… daß Sie mir – unsterbliche Redensart – Ihre Bücher zeigten«.

Am 3. Oktober 1904 verlobten sich die beiden, sogleich teilte er dies seinem Freund Kurt Martens mit. Auch alle anderen Verwandten und Freunde erfuhren sofort von der Verlobung durch die Anzeige der Eltern Pringsheim bzw. durch Thomas Mann selbst. Im November fand eine gemeinsame Reise nach Berlin statt, wo Thomas Mann eine Lesung im Verein für Kunst aus seinem Renaissance-Stück Fiorenza hielt. Das Honorar für die Lesung betrug hundert Mark, die er aber erst anmahnen mußte. In diesem Zusammenhang findet sich ein erstes Zeichen für Katias Einfluß in finanziellen Dingen. Er zeigte ihr seinen Briefentwurf: »Ich muß mit Befremden feststellen, daß Sie das mir geschuldete Honorar von hundert Mark noch immer nicht eingezahlt haben; ich muß nun dringend bitten, daß das jetzt geschieht. Das ist bei mir nicht Sache der Geldgier, sondern des Ehrgeizes, denn ich bin überzeugt, daß Wolzogen sofort sein Honorar bekommen hat.« Worauf Katia antwortete: »Wie kannst du denn so etwas schreiben? Dann werden sie dir antworten: Beruhigen Sie sich, Wolzogen hat es auch nicht bekommen. Also, du mußt schreiben: Ich bestehe darauf, daß Sie es bezahlen. Aber das mit Wolzogen würde ich weglassen.«19

Auf dieser Reise begleitete auch ihre Mutter Hedwig das junge Paar. Sie wollte die Gelegenheit nutzen, Thomas Mann der Familie vorzustellen. Sie besuchten Katias Onkel Hermann Rosenberg, den Direktor der Berliner Bankgesellschaft, der ebenfalls sehr reich war und ein schönes Haus im Berliner Tiergarten besaß. Beim Diner in dessen Haus war auch Maximilian Harden zugegen, der berühmte Publizist und Begründer der Wochenzeitschrift »Die Zukunft«. Er war mit Katias Mutter befreundet, kannte sie seit seinen eigenen Anfängen als Schauspieler und hatte bereits im Salon der Großmutter verkehrt. Hedwig Pringsheim galt als eine der glühendsten Verehrerinnen Hardens. Katias Erinnerungen zufolge besuchten sie auf dieser Reise auch ihre Großeltern väterlicherseits. Sie fragten gleich: »Na, Tommy, was wünschst du dir denn? Und er antwortete: Ach Gott, ich habe eigentlich keine sehr gute Uhr. Da sagten sie: Es wird sofort zum ersten Uhren- und Juwelierladen von Berlin geschickt, und von dort kam eine choix prachtvoller Golduhren. Er hat dann eine Glashütter Golduhr bekommen, die wir heute noch haben und die nie gereinigt werden mußte«, so Katia in ihren Ungeschriebenen Memoiren. Katias Familie nahm also offenbar den Bräutigam mit großem Wohlwollen auf.

Dennoch gab es in der Familie auch Vorbehalte, vor allem bei den Müttern. So schrieb Hedwig Pringsheim am 29. Oktober 1904 an den fernen Freund Harden: »Warum darf ich nicht grenzenlos verstimmt sein? Ich bins doch aber. Körperlich müde und abgehetzt, im Gemüte unzufrieden und im Geiste schwach, verbraucht, fix und fertig. Ich glaube nicht, daß der neue Stand der Schwiegermutter grade so aufreibende Wirkung hat, wenigstens nicht der allein. Der üble Sommer, die vielen Aufregungen mit Katia, die Abhetzerei jetzt mit Wonungsuchen und Ausstattung – es kommt wol alles zusammen …«20 Diese Klage richtete sich jedoch nicht nur gegen den Schwiegersohn, sondern vor allem gegen die mit der Hochzeit zusammenhängenden Umstände.

Auch Julia Mann, die Mutter des Bräutigams, war nicht ohne Bedenken; sie schrieb ihrem Sohn Heinrich am 4. Januar 1905: »Ach, Heinrich, ich war ja nie mit dieser Wahl einverstanden; wenn auch Katia in meiner Anwesenheit sehr lieb mit mir ist …« Sie war vor allem verstimmt, weil keine kirchliche Trauung stattfinden sollte. Dies hätten die Braut und ihr religionsloser Vater bestimmt, aber Thomas hätte ihrer Meinung nach sagen müssen: »Nein, so lieb wie ich Katia habe, der Tradition und dem Sinne meiner Eltern und Voreltern will ich treu bleiben u. verlange eine kirchliche Trauung!« Man erwarte von Thomas »zuviel Rücksichten« … »Das viele Geld macht doch kalt und anspruchsvoll …«21

Thomas schrieb an Heinrich über die Verlobungszeit: »Nie habe ich das Glück für etwas Leichtes und Heiteres gehalten, sondern stets für etwas so Ernstes, Schweres und Strenges wie das Leben selbst – und vielleicht meine ich das Leben selbst. Ich habe es mir nicht ›gewonnen‹, es ist mir nicht ›zugefallen‹, – ich habe mich ihm unterzogen: aus einer Art Pflichtgefühl, einer Art von Moral, einem mir eingeborenen Imperativ … Es gilt andauernd, sich menschlich stramm zu halten, und oft genug läuft das ganze ›Glück‹ auf ein Zähne zusammenbeißen hinaus. Die letzte Hälfte der Werbezeit – nichts als eine große seelische Strapaze. Die Verlobung – auch kein Spaß, Du wirst das glauben. Die absorbirenden Bemühungen, mich in die neue Familie einzuleben, einzupassen (soweit es geht). Gesellschaftliche Verpflichtungen, hundert neue Menschen, sich zeigen, sich benehmen.«22

Am 11. Februar 1905 fand die Hochzeit im engsten Familienkreis statt. Von der Familie Mann fehlten Heinrich, der in Florenz weilte, und Carla, die ein Engagement als Schauspielerin hatte. Beide schickten aber ein Hochzeitsgeschenk, ein weißes Kaffeeservice mit Kleeblattschmuck. Die Trauung fand im Münchner Standesamt am Marienplatz statt, Trauzeugen waren Vater Pringsheim und Schwager Löhr. Anschließend wurde ein festliches Diner in der Arcisstraße gegeben, mit den Eltern und den Brüdern Katias, der Mutter Thomas Manns und ihrem jüngsten Sohn Viktor, sowie einigen weiteren Verwandten und Freunden. Es war also insgesamt ein im Vergleich zum sonstigen Lebensstil der Pringsheims eher kleines Fest mit nur fünfzehn Personen.

Über die Hochzeitsfeier berichtete Julia Mann ihrem Sohn Heinrich wenige Tage später, am 16. Februar 1905. Nach einer eingehenden Schilderung der Räumlichkeiten bei Pringsheims und des Hochzeitskleids aus weißem Crêpe de Chine mit Spitzen, aber ohne Schleier – Katia hatte einmal gesagt, mit Schleier käme ihr die Braut wie ein Opfertier vor –, schildert sie die »herrlich geschmückte« Festtafel. »Ich saß natürl. neben dem Professor, den ich, selbst nicht sehr heiter, immer in möglichst guter Laune erhielt; er seinerseits hielt soviel als möglich Katias Hand in der seinen. Rechts von mir der Zwillingsbruder Klaus, Komponist, dem der Abschied von K. natürlich recht nahe geht; ein Abschied ja eigtl. bloß illusorisch, da K. in München bleibtu.soviel sie kann u.mag zu ihnen und sie wiederum zu ihr gehen können; auch glaube ich, daß K. immer dieselbe bleiben und in derselben haustöchterlichen Weise, ganz ihnen gehörend, fortleben wird – Tommy aber leicht verübeln wird, wenn er sich auch einmal nach Mutter und Geschwistern sehnt. – Na, dies ist ja schon eine kurze Auslassung dessen, was ich empfinde, Heinrich … Dann erhob sich Tommy: ›Verehrte Gesellschaft, erschrecken Sie nicht, ich will mich kurz fassen, bitte Sie nur, zuzuhören: Mumme, Pumme, Miemchen, Fink und Fey – hoch!‹ Dies fand großen Beifall mit Heiterkeit … Katia ist ruhig, äußerlich kühl – hoffentlich nicht auch innerlich …«23 Thomas Mann hatte sich also seine Hochzeitsrede einfach gemacht, vor allem Vertraulichkeit suggerierend, indem er alle neuen Verwandten mit ihren Spitznamen hochleben ließ.

Die Hochzeitsreise ging in die Schweiz, nach Zürich und Luzern. Das junge Paar residierte herrschaftlich im feudalen Hotel »Baur au Lac«. Am 18. Februar 1905 schrieb Thomas an seinen Bruder Heinrich, daß er »zur Zeit mit Katia auf größtem Fuße lebe, mit ›Lunch‹ und ›Diner‹ und abends Smoking und Livree-Kellnern, die vor einem her laufen und die Thüren öffnen. Übrigens keine Glücksrenommistereien! Ich habe … nicht immer einen guten Magen und darum auch nicht immer ein gutes Gewissen bei diesem Schlaraffenleben und sehne mich nicht selten nach ein bischen mehr Klosterfrieden und … Geistigkeit.«24 Die Hochzeitsreise dauerte freilich nicht lange, denn schon nach kaum vierzehn Tagen kehrten die beiden zurück. Sie hatten im übrigen die Gelegenheit genutzt, um verschiedene Ärzte aufzusuchen: Katia ließ sich von einer Ärztin untersuchen, die ihr riet, wegen ihrer Zartheit in den nächsten drei oder vier Jahren noch keine Kinder zu bekommen, und Thomas hatte in seinem Notizbuch die Adressen eines Hypnotiseurs, eines Psychiaters und eines Spezialisten für Nervenleiden in Zürich vermerkt. Ob er diese auch aufgesucht hat, ist allerdings nicht mit letzter Sicherheit auszumachen. Da er ein Hypochonder war, kann einer dieser Besuche auch seiner »Constipation« oder seinem Magen gegolten haben, die Thomas-Mann-Forschung vermutet aber eher sexuelle Probleme. Jedenfalls waren beide jungen Leute auf diesem Gebiet unerfahren. Wenn auch Thomas Mann während der Verlobungszeit Katia vieles erzählt haben mag, so wird er sie kaum über seine homoerotischen Neigungen informiert haben. In sein Notizbuch schrieb er: »Völlig darf ich mich ihr ja doch nicht mittheilen. Meinem Gram, meinen Qualen ist sie nicht gewachsen. Aber ohne diese Kluft würde ich sie wohl weniger lieben. Ich liebe nicht, was gleich mir ist oder was mich auch nur versteht.«25

Inzwischen hatten die Eltern Pringsheim eine Wohnung mit sieben Zimmern mit Bad und »zwei Wasserclosets« in Schwabing, Franz Josephstraße 2, im dritten Stock, eingerichtet. Thomas Mann blieben aus seiner Junggesellenwohnung in der Ainmillerstraße nur drei »Empire-Fauteuils«, die dem Geschmack des kunstliebenden Schwiegervaters standhielten. Die Möbel stammten vom renommierten Antiquitätenhändler Bernheimer, und im Salon stand ein neuer Stutzflügel, an dem Thomas Mann gern Wagner improvisierte. Auch ein Telefon wurde installiert, damit, wie Julia Mann vermutete, der Vater seine Tochter jeden Morgen anrufen und sich nach ihrem Wohlergehen erkundigen konnte. Offenbar war dem jungen Paar von Katias Eltern auch ein monatlicher Zuschuß versprochen worden. Über die Höhe von Katias Mitgift wird vom Bräutigam nichts vermerkt.26 Die Wohnung lag nur eine gute halbe Stunde von der Pringsheimschen Wohnung entfernt, so daß Katia täglich zu ihren Eltern gehen konnte, was sie anfangs auch tat. Das Arbeitszimmer Thomas Manns enthielt die Bibliothek, die er von nun an systematisch ergänzte. Auch Katia bekam einen eigenen Schreibtisch. In dieser Wohnung lebte die Familie fast sechs Jahre lang, bis 1910. Schon am 14. März 1905 saß Thomas Mann wieder an der Arbeit, schrieb an seinem Aufsatz zum 100. Todestag Schillers für den »Simplicissimus« und unterzog sich seinem »strengen Glück«. Die Studie über Schillers heroisches Leben nannte er Schwere Stunde.

Kindersegen

Wer aber in diesem Jahr eine schwere Stunde erlebte, war Katia. Denn genau neun Monate nach der Hochzeit, am 9. November 1905, kam das erste Kind zur Welt. Zur Enttäuschung beider Eltern handelte es sich um ein Mädchen. Die Geburt fand zu Hause statt. Offenbar hatte der Hausarzt, Hofrat Stieler, zu spät eingegriffen. Die Geburt war »wider Erwarten ganz schrecklich schwer«, berichtet Thomas seinem Bruder Heinrich, »und meine arme Katja hat so grausam leiden müssen, daß es ein Gräuel war und kaum auszustehen. Ich werde den Tag all meiner übrigen Lebtage nicht vergessen. Ich hatte einen Begriff vom Leben und einen vom Tode; aber was das ist: die Geburt, das wußte ich noch nicht. Nun weiß ich, daß es eine ebenso tiefe Angelegenheit ist, wie die beiden anderen. Gleich danach war dann alles Idyll und Frieden (das Gegenstück zum Frieden nach dem Todeskampf), und das Kind an der Brust der Mutter zu sehen, die selbst noch wie ein holdes Kind wirkte, war ein Anblick, der die Foltergräuel der Geburt (die im Ganzen fast vierzig Stunden gedauert hatte) nachträglich verklärte und heilig sprach. Die Kleine, die auf Wunsch der Mutter Erika heißen soll, verspricht, sehr hübsch zu werden. Momentweise glaube ich, ein klein bischen Judenthum durchblicken zu sehen, was mich jedesmal sehr heiter stimmt.«27 Ähnlich lautende Briefe gingen an Kurt Martens und die Schriftstellerin Ida Boy-Ed, seine alte Freundin aus Lübecker Zeiten.

Während der Schwangerschaft Katias hatten die Manns eine zweite Reise nach Berlin unternommen. Die Großmutter fragte Thomas, was er sich denn wünsche, Mädchen oder Junge, und er hatte geantwortet: »Natürlich einen Jungen. Ein Mädchen ist doch nichts Ernsthaftes«, was bei der Frauenrechtlerin verständlicherweise helle Entrüstung hervorrief.28 An Heinrich schrieb Thomas über seine Enttäuschung: »Ich empfinde einen Sohn als poesievoller, mehr als Fortsetzung und Wiederbeginn meinerselbst unter neuen Bedingungen. Oder so. Nun, es braucht ja nicht auszubleiben. Und vielleicht bringt mich die Tochter innerlich in ein näheres Verhältnis zum ›anderen‹ Geschlecht, von dem ich eigentlich, obgleich nun Ehemann, noch immer nichts weiß.«29 Wenig später schreibt er seinem Bruder, daß Katia wieder auf sei, das Kind selbst nähre und daß er morgens, wenn er das Kind schreien höre und Arbeitslust verspüre, ein durchdringendes Glücksgefühl empfinde wie seit zwanzig Jahren nicht. Er war damals dreißig Jahre alt.

Aber ebenso wichtig wie der Bericht über Frau und Kind war ihm die Novelle Wälsungenblut, deren Manuskript er Heinrich mit der Bitte um Hilfe schickte. Er erwartete eine Anregung für den Schluß dieser »Judengeschichte«, die schon im Satz war und im Januarheft der »Neuen Rundschau« erscheinen sollte. Der Herausgeber habe den Schluß beanstandet, insbesondere die jüdischen Worte, die dem Durchschnittsleser als »roh« erscheinen könnten, und habe den Autor gebeten, die Sache am Schluß ebenso »discret einzuhüllen« wie den Rest. Heinrich riet ihm offenbar, den Schluß beizubehalten Auf diese Geschichte soll hier näher eingegangen werden, weil sie das Verhältnis zwischen den Pringsheims und dem Schwiegersohn zumindest vorübergehend trübte.

Die Novelle Wälsungenblut schildert eine inzestuöse Beziehung eines Zwillingspaars in einer reichen jüdischen Familie und verarbeitet Wagners Wälsungen-Stoff. Die Zwillinge Siegmund und Sieglinde sind erlesene, verwöhnte und schöne Geschöpfe. Auf Wunsch des Vaters wird Sieglinde mit dem Ministerialbeamten von Beckerath verlobt, den sie aber nicht liebt. Kurz vor der Hochzeit gehen die Geschwister noch einmal in die Wagner-Oper Walküre. Danach, in einem musikalisch gesteigerten Sinnesrausch, geben sie sich der verbotenen Liebe hin. Der Schluß der Novelle lautete: »›Aber Beckerath …‹, sagte sie und suchte ihre Gedanken zu ordnen. ›Beckerath, Gigi … was ist nun mit ihm?‹ … ›Nun‹, sagte er, und einen Augenblick traten die Merkzeichen seiner Art sehr scharf auf seinem Gesichte hervor, ›was wird mit ihm sein? Beganeft [betrogen] haben wir ihn, – den Goy!‹« Thomas Mann hatte seinen Schwiegervater nach diesen jiddischen Worten gefragt, und dieser hatte sie ihm mitgeteilt, ohne zu wissen, wozu er sie benötigte. Seiner Schwiegermutter und seinem Schwager Klaus hatte er den Text vorgelesen; beide hatten keinen Anstoß an der Geschichte genommen. Sie fanden »das heikle Thema darin künstlerisch auf so hohem Niveau, dabei so behutsam und dezent behandelt, daß gegen seine Veröffentlichung nun wirklich kein Bedenken bestünde«30.