Malerinnen und Musen des »Blauen Reiters« - Hildegard Möller - E-Book

Malerinnen und Musen des »Blauen Reiters« E-Book

Hildegard Möller

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Beschreibung

Ihre Namen kennt jeder, ihre Bilder erzielen Höchstpreise – doch wer waren die Künstler der Gruppe »Der Blaue Reiter«? Hildegard Möller stellt die Frauen in den Mittelpunkt: Gabriele Münter, Marianne von Werefkin, Elisabeth Macke. Sie erzählt von leidenschaftlichen Liebesbeziehungen und der Sehnsucht nach freiem künstlerischen Leben. Aber auch davon, wie sehr die Frauen zugunsten ihrer Männer zurücksteckten.

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Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe

1. Auflage Mai 2012

ISBN 978-3-492-95619-2

© 2009 Piper Verlag GmbH, München

Umschlaggestaltung: semper smile, München

Umschlagmotiv: akg-images (Bild oben), VG Bild-Kunst (Bild unten)

Datenkonvertierung: CPI – Clausen & Bosse, Leck

Einleitung

Der »Blaue Reiter« – seit fast hundert Jahren übt dieser magische Name auf Kunstinteressierte eine große Faszination aus. Dabei ist dies nur eine von vielen Künstlergruppen, die am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Deutschland entstanden. Bereits 1889 begann sich in Worpswede eine Künstlerkolonie zu bilden, der Fritz Mackensen, Otto Modersohn, Paula Modersohn-Becker und andere angehörten. Die Dachauer Künstlergruppe gab es schon länger; sie wurde 1897 durch eine Gruppe »Neu-Dachau« abgelöst. 1899 entstand »Die Scholle«, eine Ausstellungsgemeinschaft Münchner Maler, der Erich und Fritz Erler, Leo Putz und andere angehörten, die vor allem Landschaftsbilder im Jugendstil malten. Bekannter war die 1905 in Dresden entstandene »Brücke«, zu der Expressionisten wie Ernst Ludwig Kirchner, Erich Heckel, Karl Schmidt-Rottluff und später noch weitere Maler zählten. Damals gärte es in der deutschen Kunstszene, denn viele Künstler waren unzufrieden mit den Kunstakademien, die auf das Traditionelle ausgerichtet waren und neuen Entwicklungen gegenüber verständnislos blieben. Ein neues Jahrhundert kündigte sich an, und wie so oft bei einer Zeitenwende waren auch die Künste im Aufbruch.

Überall in den größeren Städten bildeten sich Gruppen und Grüppchen, die eine neue Richtung vertraten und »Sezessionen« oder neue Künstlervereinigungen bildeten. Besonders der Münchner Stadtteil Schwabing entwickelte sich zu einem Eldorado der Avantgarde. Die Schwabinger Boheme mit ihren Faschingsbällen, Atelierfesten, esoterischen Zirkeln und florierenden Kabaretts zog damals viele bildende Künstler, Musiker, Dichter und Tänzer aus dem In- und Ausland an, darunter auch viele Russen, die der künstlerischen Enge des zaristischen Russland entkommen wollten und von der Münchner Bevölkerung als »Schlawiner« – eine Verballhornung von »Slawen« – bezeichnet wurden. Auch manchen jungen Frauen, die musisch begabt waren, gelang es, ihren Eltern eine künstlerische Ausbildung abzutrotzen. Da den Frauen damals das Studium an den Akademien noch verschlossen war, entstanden viele private Damenkurse. Die Künstlerinnen wurden abfällig »Malweiber« genannt. Man nahm ihre künstlerischen Bestrebungen nicht ernst und glaubte, sie warteten nur auf einen Ehemann. Die gesellschaftlichen Regeln waren damals selbst in höheren Kreisen noch sehr einengend. Frauen aus guter Familie wie Gabriele Münter und Maria Marc mussten noch im Alter von dreißig Jahren ihren Familien Rechenschaft über ihre Einkommens- und Lebensverhältnisse ablegen.

Obwohl es in der bayerischen Residenzstadt starke konservative Kräfte gab, herrschten andererseits traditionell auch eine große Liberalität und Aufgeschlossenheit. Nicht nur die berühmten Malerfürsten mit ihren großartigen Villen wie Kaulbach, Stuck und Lenbach prägten das künstlerische Leben der Stadt. Die sogenannte Boheme, die sich in und um München ansiedelte und eine ganz neue Kunstrichtung schuf, setzte ganz eigene Akzente.

Eine der bekanntesten Gruppen, die sich dezidiert von der etablierten Malerei absetzte und eine eigene Künstlervereinigung bildete, war der »Blaue Reiter«, dessen farbenprächtige Bilder heute millionenfach reproduziert werden. Zunächst jedoch stieß diese Art der Malerei vielfach auf Unverständnis. Die neue Malerei empörte das Publikum, man glaubte, es mit »Irrsinnigen« oder mit »schamlosen Bluffern« zu tun zu haben. Faszinierend ist zu verfolgen, wie sich die Revolution in der Malerei in Ursprung und Wirkung konstituierte: in der bayerischen Hauptstadt und in ihrem ländlichen Umland, zugleich aber auch in transnationalen Beziehungen und Einflüssen.

Die avantgardistischen jungen Künstler suchten intellektuellen Austausch und die künstlerische Auseinandersetzung. So entstanden immer neue Zeitschriften, Kabaretts, Malschulen und Kunstgalerien, die sich den neuen Strömungen widmeten. München übte neben Paris und Wien geradezu einen Sog auf die zeitgenössische Kunstszene aus. An die Impressionisten hatte man sich hier bereits gewöhnt, als der Jugendstil Mode wurde. Dieser war stark mit dem Kunsthandwerk verknüpft und strebte eine engere Verbindung zwischen Kunst und Alltag an. Auch die Künstler des »Blauen Reiters« waren vom Jugendstil oder der »Art Nouveau« beeinflusst, wobei den »Malweibern« häufig die Ausführung der von den Männern gezeichneten Entwürfe oblag. Die berühmte Zeitschrift Die Jugend erschien seit 1896 in München und verbreitete diesen Stil mit seiner floralen oder geometrischen Linienführung, der bald alle Bereiche der angewandten Kunst wie Architektur, Möbeldesign, Mode, Grafik und Buchkunst prägte; ähnliche Strömungen lassen sich auch im Tanz, in der Musik und der Dichtung nachweisen.

Jeder kennt den »Blauen Reiter« – aber wer stand hinter dem einprägsamen Namen dieser Künstlergruppe, wer waren die Protagonisten, die 1912 im Piper Verlag ihre Programmschrift veröffentlicht hatten, wie lebten sie, was wollten sie? Welche Beziehungen hatten sie untereinander, und welche Rolle spielten die Frauen in Leben und Werk der Maler? Als Herausgeber des Almanachs hatten Franz Marc und Wassily Kandinsky gezeichnet. Sie nannten sich »die Redaktion«, aber der Kreis um die beiden war größer und fluktuierte. Viele Künstler auf der Suche nach neuen Wegen schlossen sich ihnen an, manche auch nur vorübergehend. Die Lebensgefährtinnen der beiden Herausgeber, Gabriele Münter und Maria Marc, waren Malerinnen ebenso wie Marianne von Werefkin, die Lebensgefährtin von Alexej Jawlensky. August Macke und seine Frau Elisabeth, Paul Klee und seine Frau Lily waren Paare, bei denen nur die Männer malten, die Frauen aber außerordentlich musisch begabt bzw. Musikerin waren und ihre Männer stets unterstützten und künstlerisch anregten.

Ziel der Künstler des »Blauen Reiters« und seiner Vorgängerorganisationen in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg war es, eine neue »geistige Kunst« zu schaffen, die auch Musik, Volkskunst und »primitive Kunst« einbeziehen sollte. Damit wurde die Künstlergruppe zu einem Ausgangspunkt für die Entwicklung des Expressionismus und der Abstraktion in der Malerei. Kandinsky schuf bereits 1910 sein erstes abstraktes Aquarell, womöglich weltweit das erste abstrakte Bild überhaupt. Heute ist der Expressionismus aus der Kunstgeschichte nicht mehr wegzudenken. Die farbenfrohen Bilder des »Blauen Reiters« erzielen auf dem internationalen Kunstmarkt Höchstpreise.

In diesem Buch wird – in Form einer kulturgeschichtlichen Gruppenbiografie – den individuellen Künstlerschicksalen nachgegangen, und zwar insbesondere unter dem Aspekt der Liebesbeziehungen und der Paarbildung. Die zentralen Paare – Gabriele Münter und Wassily Kandinsky, Marianne von Werefkin und Alexej Jawlensky, Maria Franck und Franz Marc – standen in wechselvollen, konfliktreichen, spannungsgeladenen Beziehungen zueinander, die freilich durchaus auch längere harmonische Phasen und tiefe Glücksmomente einschlossen. Die Münter, die Werefkin und bis zu einem gewissen Grad auch Maria Franck waren eigenständig arbeitende, talentierte Künstlerinnen, die dann zugunsten des Partners teilweise auf die Realisierung der eigenen Begabung verzichteten. Sie lebten nicht legalisiert in »wilden Ehen«, auch in Dreiecksbeziehungen, und hatten damit eine Lebenssituation, die in der Zeit ungebrochen herrschender Konventionen und bürgerlicher Wertvorstellungen vor dem Ersten Weltkrieg alles andere als unkompliziert war. Immerzu den Schein wahren zu müssen verlangte viel Anstrengung.

Die anderen bekannten Maler des »Blauen Reiters« wie Paul Klee und August Macke führten bürgerliche Ehen. Beide Paare hatten Kinder, während die anderen Malerfrauen zu ihrem Bedauern kinderlos blieben. Denn bei aller Boheme-Attitüde strebten sie doch ein recht bürgerliches Dasein an. Zwar praktizierten sie die freie Liebe – aber stets mit schlechtem Gewissen. Insbesondere Maria Franck und Gabriele Münter litten darunter, nicht verheiratet zu sein und keine Kinder zu haben. Die Frauen waren einerseits ihrer Zeit voraus, andererseits den gesellschaftlichen Konventionen verhaftet. Das betraf sowohl ihr Rollenverständnis in Liebe und Partnerschaft als auch in der Kunst. Für die Rechte der Frauen trat keine öffentlich ein; den Gedanken, dass Frauen weniger schöpferisch seien als Männer, hatten sich fast alle zu eigen gemacht.

Vielfach zogen die Künstlerpaare aufs Land. Die Mieten waren dort niedriger, und man entging eher dem Schwabinger Klatsch. Das wunderschöne Voralpenland, die blauen Berge und das südliche Licht inspirierten die Künstler zu vielen Landschaftsstudien. Außerdem betätigten sich Marc und Kandinsky gern im Garten, und besonders die Marcs malten Blumen und Tiere nach der Natur. Die Künstlerpaare wählten sich ihre Wohnungen und ihr Mobiliar aus, sie verschönerten ihre Häuser und Gärten, sie machten sich Gedanken über ihre Außendarstellung und den Verkauf ihrer Bilder. Sie reisten und lernten die Welt anderer Künstler kennen, sie versuchten, Geld zu verdienen und Besitz und Status zu erlangen. Sie strebten nach einer gewissen Sicherheit im Leben.

Der Erste Weltkrieg machte all diese Planungen und Lebensentwürfe zunichte. Die russischen Künstler mussten Deutschland verlassen, Jawlensky und von Werefkin gingen 1914 in die Schweiz, Kandinsky ging zunächst ebenfalls mit Münter in die Schweiz, dann kehrte er nach Russland zurück. Münter ging allein nach Schweden. Macke fiel, erst siebenundzwanzigjährig, gleich im zweiten Kriegsmonat, Marc 1916 im Alter von 36 Jahren fast zwei Jahre nach Kriegsbeginn. Obwohl die gemeinsamen Aktivitäten der Maler des »Blauen Reiters« mit dem Ersten Weltkrieg endeten, lebten ihre Visionen im »Bauhaus« und in der abstrakten Malerei fort und erlangten weltweiten Ruhm. Maria Marc, Gabriele Münter und Elisabeth Macke aber sorgten – soweit sie konnten – dafür, dass die Werke ihrer Lebensgefährten auch während der nationalsozialistischen Diktatur, als sie als »entartet« eingestuft und verfemt wurden, nicht verloren gingen, und machten sie der Öffentlichkeit zugänglich.

Die Gruppe des »Blauen Reiters« umfasste keinen festen Kreis, sondern die »Redaktion« und eine lockere Freundesgruppe. Die Frauen besorgten die Korrespondenz und schrieben die Texte ihrer Männer ab, besonders Gabriele Münter übernahm viel Schreib- und Organisationstätigkeit. Einige Maler, wie Paul Klee, stießen erst später zum inneren Zirkel oder trennten sich wieder von dem Kreis, wie August Macke. Viele blieben befreundet oder unterstützten die Ziele des »Blauen Reiters«. Manche damals geschlossene Freundschaft sowohl unter den Frauen als auch unter den Männern überdauerte die Zeit zwischen den Kriegen, den Nationalsozialismus, das Exil und bestand teilweise noch nach Ende des Zweiten Weltkriegs weiter.

KAPITEL EINS

Die erste Redaktionssitzung des »Blauen Reiters«

Im Oktober 1911 fand die erste Redaktionssitzung für den Almanach Der Blaue Reiter statt, an der Franz und Maria Marc, August und Elisabeth Macke, August Mackes Vetter Helmuth, Heinrich Campendonk, Gabriele Münter und Wassily Kandinsky teilnahmen. Der Russe hatte nach Murnau am Staffelsee eingeladen, in das hübsche, neu erbaute Haus in der Kottmüllerallee 6, das er mit Gabriele Münter bewohnte. Die Marcs wohnten nicht weit entfernt, in Sindelsdorf, nahe bei Benediktbeuern. August Macke war dort schon seit einiger Zeit zu Besuch. Elisabeth Macke – obwohl sie selbst nicht malte – kam eigens auf Einladung von Maria Franck, der Lebensgefährtin von Marc, aus Bonn angereist und wurde in München von Franz Marc und ihrem Ehemann August freudig empfangen. Am nächsten Tag reisten Marc und die Mackes nach Sindelsdorf, wo die Wirtsleute der Marcs, die Familie Niggl, auch den Gästen ein Zimmer zur Verfügung stellten. Dann ging es gemeinsam nach Murnau zur ersten Sitzung des »Blauen Reiters«. Elisabeth Macke erinnert sich:

»Der Plan, eine Zeitschrift als Organ dieser Richtung zu gründen, war immer näher gerückt und es bedurfte nur der Einladung von Kandinsky, der in Murnau in dem kleinen Landhaus von Gabriele Münter wohnte, um die Sache in Angriff zu nehmen. Wir vier reisten also hin, wurden von Kandinsky in einem großen Haus in der Nähe sehr gut einlogiert, und jetzt wurde der ›Blaue Reiter‹ in langen Sitzungen mit Kunstdebatten, Aufrufen, Vorschlägen für Vorworte usw. geboren. Es waren unvergeßliche Stunden, als jeder der Männer sein Manuskript ausarbeitete, feilte, änderte, wir Frauen es dann getreulich abschrieben. Es kamen Beiträge an von den zur Mitarbeit aufgeforderten Künstlern, Vorschläge zu Reproduktionen. Alles wurde gesichtet, diskutiert, angenommen oder abgelehnt, nicht ohne kleine Streitigkeiten und Reibereien. So fanden wir es damals nicht sehr geschmackvoll, daß Marc und Kandinsky jeder mit seiner Amazone auf dem Plan erschien, während von August keine vollwertige Reproduktion eines Bildes gebracht werden sollte. Trotz allem waren diese Tage ungeheuer anregend, vor allem auch, weil August Kandinskys Schaffen zum ersten Male kennenlernte und sich ein eigenes Urteil darüber bilden konnte. Kandinsky selbst war ein merkwürdig fremder Typ, ungemein anregend für alle Künstler, die in seinen Bann gerieten, er hatte etwas Mystisches, Phantastisches an sich, gepaart mit seltsamem Pathos und einem Hang zu Dogmatik. Seine Kunst war eine Lehre, eine Weltanschauung.«1 So charakterisierte die damals dreiundzwanzigjährige Elisabeth Macke treffend Kandinskys Rolle. Übrigens wurden dann doch zwei Abbildungen Mackes in den Almanach aufgenommen.

Elisabeth Macke erinnert sich auch an die Eigenheiten Gabriele Münters. Kandinsky hatte es sich nicht nehmen lassen, in typisch russischer Gastfreundschaft alle zu bewirten und selbst den Tee einzuschenken, während Gabriele untätig dabeisaß, als ginge sie das alles nichts an. Während Kandinsky an diesem Abend am Harmonium phantasierte und der Rest der Gesellschaft – der knapp zweiundzwanzigjährige Heinrich Campendonk und der zwanzigjährige Helmuth Macke waren noch hinzugestoßen – ausgelassen wurde und vor Lachen kaum an sich halten konnte, zog sich Gabriele Münter zur allgemeinen Überraschung und »sehr zum Leidwesen von Kandinsky, übelwollend in ihre Gemächer zurück, Migräne vorgebend … Durch die seltsamen Überempfindlichkeiten der Münter wurde das Freundesverhältnis bald ernstlich getrübt und zuletzt ganz zerstört.«2

Gabriele Münter war vor allem »überempfindlich«, wenn es um ihren Lebensgefährten Kandinsky ging. Sie konnte es nicht ertragen, wenn man hinter seinem Rücken lachte. Die zierliche, dunkelhaarige Elisabeth Macke nannte Maria Marc und Gabriele Münter »Amazonen«, weil diese Frauen nicht nur Gefährtinnen ihrer Männer waren, sondern selbst malten, ein Anspruch, den Elisabeth offenbar – jedenfalls zu diesem Zeitpunkt – nicht ernst nahm. Kriegerische Amazonen waren jedenfalls beide Frauen nicht.

Wie war es überhaupt zu dieser Redaktionssitzung gekommen, was war in der Kunstszene Münchens geschehen? Die Abspaltung der Künstler des »Blauen Reiters« von der »Neuen Künstlervereinigung München« war nicht die erste. Bereits 1892 hatte es eine Sezession von der Kunstakademie gegeben, die unter anderem unter Führung Franz von Stucks stand – eine Sezession allerdings, die ihrerseits stark durch die akademische Malerei geprägt worden war. Aus ihr ging dann 1913 die »Neue Sezession« hervor. Sezessionen oder Abspaltungen von der herkömmlichen Kunst waren seit dem Ende des 19. Jahrhunderts in allen größeren Städten Deutschlands und Österreichs erfolgt. Überall entwickelten sich neue Kunstzentren, und jedes Mal bedeutete dieser Schritt nicht nur eine Absage an die offizielle Richtung der Akademie, sondern auch Publizität für die eigene Gruppe, die ihren Ansichten Nachdruck verleihen wollte. Aber inzwischen war die Sezession selbst gealtert und hatte »Fett angesetzt«. Es gärte überall in der Kunstszene, und im März 1909 gründeten die beiden Russen Kandinsky und Jawlensky, die bereits seit Jahren in München lebten, die »Neue Künstlervereinigung München«. Franz Marc bezeichnete sie als die »ersten und einzigen wahrhaften Vertreter der neuen Ideen«, wobei er die »Baronin«, Marianne von Werefkin, in deren Schwabinger Salon der Plan gereift war, Gabriele Münter, Alfred Kubin, die beiden Jawlensky-Schüler Adolf Erbslöh und Alexander Kanoldt sowie die beiden Kunstliebhaber Heinrich Schnabel und Oskar Wittenstein, die ebenfalls Gründungsmitglieder der NKVM waren, unterschlug.3 Den Vorsitz übernahm Kandinsky, nachdem Jawlensky, den Werefkin zunächst vorgesehen hatte, sich dazu nicht in der Lage sah.4

Zu den Zielen der neuen Vereinigung gehörten unter anderen die Organisation von Ausstellungen im In- und Ausland, der Verkauf der Bilder und die Öffentlichkeitsarbeit. Bei den Ausstellungen sollte jedes Mitglied das Recht haben, zwei Bilder juryfrei auszustellen, die zusammen das Format von vier Quadratmetern nicht überschreiten durften, eine folgenreiche Bestimmung für Kandinsky. Der Grund für diese Bestimmung war, dass der Maler Charles Palmié seine allzu großen Bilder in der ersten Ausstellung zeigen wollte und der Jurist Kandinsky ihn nur auf diesem Wege in die Schranken weisen konnte.

Kandinsky hatte die Ziele der »Neuen Künstlervereinigung München« formuliert: Sie wurden später weitgehend vom »Blauen Reiter« weiterverfolgt. Internationale Künstler sollten gewonnen werden, nicht nur Maler und Bildhauer, sondern auch Musiker, Dichter, Tänzer und Kunsttheoretiker. Geheimrat Hugo von Tschudi war gerade zum Generaldirektor sämtlicher bayerischer Museen berufen worden und bewirkte, dass die erste Ausstellung der »Neuen Künstlervereinigung München« in den Räumen der Galerie Thannhauser in der vornehmen Theatinerstraße stattfand.

Die Ausstellungen der »Neuen Künstlervereinigung München«

Sie wurde im Dezember 1909 eröffnet. Die Kritiken in der Presse waren niederschmetternd, die Künstler wurden ausgelacht, offenbar war das Publikum für die neue Kunstrichtung noch nicht reif. Die Münchner Neuesten Nachrichten empfanden die Ausstellung als »wilde Parodie«, sogar als »grotesken Karnevalsscherz«5.

Im September 1910 fand die zweite Ausstellung statt. Diesmal waren russische und französische Künstler eingeladen worden, um die internationale Kunstszene zu repräsentieren. Von den 31 Ausstellern kamen elf aus München, Gabriele Münter, Erma Bossi, Adolf Erbslöh, Alexander Kanoldt und Edwin Scharff sowie sechs Russen. Zwei Auswärtige, Alfred Kubin und Adolf Nieder, verstärkten das deutsche Kontingent.6 Auch jetzt war die Reaktion wieder äußerst entmutigend. Die Kritik richtete sich gegen die ausländischen und auswärtigen Künstler als »zugereiste Unruhestifter« und fragte, ob man es mit »schamlosen Bluffern oder unheilbar Irrsinnigen« zu tun habe.7 Das Publikum fand wohl die ganze Veranstaltung ziemlich »unmünchnerisch« und fremdartig. Offenbar fürchtete man eine russisch-französische Umklammerung, eine Überfremdung. Die Münchner Neuesten Nachrichten berichteten von einer »Münchner Vereinigung östlicher Europäer«, die Zeitschrift Die Kunst für Alle sprach noch diffamierender von »west-östliche[n] Apostel[n] einer neuen Kunst«, »einer aus romanischen und slawischen Elementen gemischten Künstlergesellschaft, die obendrein der Münchner Kunsttradition fremd und feindlich gegenübersteht«8. Die Presse war wütend, das »Publikum schimpfte, drohte, spuckte … auf die Bilder … Für uns Aussteller war die Empörung unverständlich … Wir wunderten uns nur, daß in der ›Kunststadt‹ München mit Ausnahme von Tschudi aus keiner Stelle ein Sympathiewort an uns gerichtet wurde«9, beschrieb Kandinsky die Situation später.

Der Einzige, der sich für die neue Richtung begeisterte und die Künstler in Schutz nahm, war ein echter Bayer, Franz Marc. Er war damals noch ein unbekannter Maler, der keinen der ausgestellten Künstler persönlich kannte, aber trotzdem einen Artikel zu ihrer Verteidigung10 schrieb: So kam der Kontakt zwischen dem Russen und dem Bayern zustande. Marc wurde unverzüglich in die »Neue Künstlervereinigung München« aufgenommen. Aber bald gab es hier innere Spannungen, interne Meinungsverschiedenheiten und »unüberbrückbare menschliche und künstlerische Gegensätze«11 zwischen den sich nun herausbildenden Parteien, an deren Spitze Kandinsky und Marc einerseits, Kanoldt und Erbslöh andererseits standen. Bereits im August 1911 war Marc klar, dass es zu weiteren Auseinandersetzungen und zu einer Spaltung der »Neuen Künstlervereinigung München« kommen würde – die Frage war nur, welche Partei bleiben würde.

Am 2. Dezember 1911 fand eine Sitzung der »Neuen Künstlervereinigung München« statt, bei der Kandinskys abstraktes Bild »Composition V« abgelehnt wurde, angeblich weil es das zulässige Format überschritt. Der eigentliche Grund lag aber darin, dass es den Gegnern der abstrakten Malerei in der Jury (Erbslöh und Kanoldt) zu modern war und sie befürchteten, dass es den Erfolg der Ausstellung schmälern würde. Der Vorschrift des zulässigen Formats hatte seit der Auseinandersetzung mit Palmié keiner mehr Beachtung geschenkt. Empört verließen Wassily Kandinsky, Gabriele Münter und der gerade erst in den Vorstand gewählte Marc zusammen mit einigen anderen Mitgliedern die Künstlervereinigung.

Marianne von Werefkin und Alexej Jawlensky, zwei weitere russische Maler in München, blieben bei aller Loyalität gegenüber den Freunden gleichwohl Mitglieder der »Neuen Künstlervereinigung München«. Noch am selben Abend kamen sie jedoch zu Kandinsky in die Ainmillerstraße, um die Lage zu diskutieren. Marianne von Werefkin hoffte noch, die NKVM retten zu können, war sie doch Mitbegründerin gewesen. Aber die anderen waren entschlossen, nun selbst eine eigene Ausstellung zu organisieren. Das musste schnell vonstatten gehen, da die dritte Ausstellung der »Neuen Künstlervereinigung München« bereits im Planungsstadium war. Offenbar war dieser Austritt spontan erfolgt und doch hatte er eine lange Vorgeschichte. Kandinsky schrieb im Nachhinein, sie hätten den »Krach« schon früher gewittert, und Marc hatte ihn ebenfalls vorausgesehen.12

Der junge Reinhard Piper hatte 1904 seinen eigenen Verlag in München gegründet und seinen persönlichen Vorlieben folgend schon früh die Kunst zu einem Schwerpunkt in seinem Programm gemacht. Immer auf der Suche nach unkonventionellen Ideen und neuen Bewegungen stand er dem Vorhaben der jungen Maler wohlwollend gegenüber. Marc und Kandinsky waren ihm aus früherer Zusammenarbeit schon bekannt: Kandinsky durch seine Märchenbilder in Farbholzschnitt, nach Meinung Pipers eher kunstgewerbliche Arbeiten, und durch Beiträge zu Sammelbänden. Marc hatte er im Februar 1910 kennengelernt, als er während der Arbeit an seinem Buch Das Tier in der Kunst auf dessen erster Ausstellung eine Lithografie des Malers erwarb.

Am 10. September 1911 schickte Franz Marc dem jungen Verleger ein provisorisches Inhaltsverzeichnis für die erste Nummer des geplanten Jahrbuchs. Piper antwortete bereits zwei Tage später. Er verlangte von den Herausgebern eine Garantie für die Deckung der Kosten in Höhe von 3000 Mark, denn das verlegerische Risiko erschien ihm hoch. Marc und Kandinsky besaßen zwar nicht genügend Geld, aber sie waren sich ihrer Sache so sicher, dass sie das finanzielle Risiko eingingen. Den größten Teil der Summe, nämlich 2500 Mark, übernahm der Berliner Industrielle und Kunstsammler Bernhard Koehler, ein Onkel Elisabeth Mackes. Die restlichen 500 Mark steuerte Marcs Schwiegervater Franck bei. Aber auch Reinhard Piper hatte ein großes Verdienst an dem revolutionären Erfolg des Almanachs, der schließlich viele Male neu aufgelegt wurde und als die bedeutendste Programmschrift der Kunst des 20. Jahrhunderts gilt (Klaus Lankheit).

Die Ausstellungen des »Blauen Reiters«

Im Dezember 1911, gleich nach dem Austritt aus der »Neuen Künstlervereinigung München«, machten sich Marc, Kandinsky und Münter unverzüglich an die Arbeit, um eine eigene Ausstellung unter dem Namen »Der Blaue Reiter« vorzubereiten. Alle Künstler, die in der Nähe waren und ihre Ansichten teilten, wurden angeschrieben oder aufgesucht, darunter August Macke, Heinrich Campendonk, Jean Bloé Niestlé, die Gebrüder Burljuk, Albert Bloch und der Musiker Arnold Schönberg. Als Veranstalter nannten sie die »Redaktion der Blaue Reiter«, da sie bereits an dem Almanach arbeiteten. Da die Ausstellung international sein sollte, schrieb Gabriele Münter, die fleißig mithalf, auch an Robert Delaunay, der zu Kandinskys Erleichterung zusagte. Bereits am 18. Dezember 1911 wurde die »Erste Ausstellung der Redaktion der Blaue Reiter« in der Galerie Thannhauser eröffnet, direkt neben den Ausstellungsräumen der »Neuen Künstlervereinigung München«. Die Bilder in ihren leuchtenden Farben wurden sehr wirkungsvoll in einfachen Holzrahmen auf schwarzen Grund gehängt. Endlich war nun auch Kandinskys »Composition V« zu sehen, an zentraler Stelle. Gabriele Münter durfte sogar sechs Bilder ausstellen, wohl weil sie zum Gelingen des Unternehmens so viel beigetragen hatte.

Die zweite Ausstellung des »Blauen Reiters« fand im Februar/März 1912 in der Münchner Buchhandlung Goltz in der Brienner Straße statt. Sie lief unter dem Titel »Schwarz-Weiß« und umfasste Druckgrafik, Aquarelle und Grafiken. Auch französische und Schweizer Künstler nahmen daran teil, Russland war mit Volksblättern des 19. Jahrhunderts vertreten, sodass der internationale Charakter erhalten blieb. Die erste Ausstellung des »Blauen Reiters« ging anschließend nach Köln und wurde dort im »Gereonsclub« gezeigt, dann in Berlin in Herwarth Waldens Galerie »Der Sturm«. Die zweite Ausstellung, an der Paul Klee mit siebzehn Zeichnungen, aber auch Maler der Künstlergemeinschaft »Brücke« und des »Schweizer Modernen Bundes« beteiligt waren, stieß auf lebhaftes Interesse; gleichwohl wurde Kandinsky wiederum als »Lausbub« und »Flegel« beschimpft. Die begleitenden Vortragsveranstaltungen über moderne Kunst und die Ausstellung wurden offenbar von einem aufgeschlossenen Publikum besucht. Diese Ausstellungen bedeuteten in Presse und Öffentlichkeit den Durchbruch des »Blauen Reiters«.

Der »Blaue Reiter«, ursprünglich der Name eines Almanachs, bald auch durch Ausstellungen publik gemacht, bezeichnete nie eine feste Gruppe oder Vereinigung. So sollte ein Jahrbuch heißen, das ursprünglich einmal im Jahr erscheinen sollte. Die beiden Herausgeber, Wassily Kandinsky und Franz Marc, wählten die Mitarbeiter aus. Die drei Paare, Wassily Kandinsky und Gabriele Münter, Franz Marc und seine spätere Frau Maria sowie August und Elisabeth Macke, bildeten den Kern des »Blauen Reiters«, um sie herum scharten sich befreundete Künstler. Gabriele Münter übernahm einen Großteil der Schreibarbeit, viele Künstler mussten angeschrieben werden, wobei zunächst noch offen blieb, ob der gewünschte Beitrag auch gedruckt werden würde.

Das Titelbild schuf Kandinsky nach vielen Entwürfen. Zwar hatte er bereits 1903 einen Reiter mit blauem Gewand gemalt, aber es war nicht der »Blaue Reiter«, der als zweifarbiger Holzschnitt die erste Nummer des geplanten Jahrbuchs zieren sollte. Klaus Lankheit, der Kommentator des Bandes, befand: »Wie viele Ableitungen und Assoziationen sich uns auch aufdrängen mögen, wir alle glauben doch unmittelbar zu verstehen, was Kandinsky und Marc dabei meinten. Der Adel der Gesinnung, den der Europäer seit jeher mit der Vorstellung ›Reiter‹ verbindet, und der Gefühlsgehalt der Farbe Blau, die seit der Romantik die Sehnsucht nach geistiger Erfüllung bedeutet, sind die Koordinaten des geschichtlichen Ortes dieser Begegnung … denn die Gestalt des ›Blauen Reiters‹ ist aus den altgeheiligten Figuren eines Ritters St. Georg und St. Martin entwickelt.«14

Tatsächlich ist im Almanach als Frontispiz ein bayerisches Spiegelbild des heiligen Martin abgebildet, und auch eine russische Darstellung des Reiters mit Lanze findet sich in dem Band. Kandinsky hatte den heiligen Georg bereits mehrfach gemalt, wohl auch im Gedenken an den Drachentöter im historischen Stadtwappen Moskaus. Seiner Heimat war und blieb der Maler sehr verbunden. Der Reiter mit der Lanze findet sich aber auch auf apokalyptischen Darstellungen. Das Titelbild des Blauen Reiters, der mit flammendem Eifer gegen das »Ungeistige« in der Welt kämpft, enthält auch diese religiöse Botschaft.

Wie aber kam es nun zu dem Namen? Kandinsky äußerte sich im Nachhinein selbst zur Namensgebung: »Den Namen ›Der Blaue Reiter‹ erfanden wir am Kaffeetisch in der Gartenlaube in Sindelsdorf; beide liebten wir Blau, Marc – Pferde, ich – Reiter. So kam der Name von selbst. Und der märchenhafte Kaffee von Frau Maria Marc mundete uns noch besser.«15 Die Farbe Blau hatte seit der deutschen Romantik einen besonderen Stellenwert in der Kunst, für Marc bedeutete sie das »männliche Prinzip, herb und geistig«, für Kandinsky war das Blau die Farbe des Himmels, es weckt im Menschen »die Sehnsucht nach Reinem und schließlich Übersinnlichem«16.

Der berühmte Band enthielt zahlreiche Artikel und eine verwirrende Vielfalt von zunächst disparat erscheinenden Abbildungen. Der unbefangene Leser von damals wird sich gefragt haben, was all das zu bedeuten habe. Der Anspruch der Künstler wird aber offenbar, wenn man sowohl den internationalen Rahmen des Buches (deutsche, russische und französische Künstler wirkten mit) als auch die epochenübergreifenden Abbildungen von Kunstwerken aus allen Kulturen sowie die alle Disziplinen umfassenden Artikel in einem Zusammenhang sieht. Die Künstler des »Blauen Reiters« strebten eine Kultursynthese an. Kandinsky hielt am Vorabend des Ersten Weltkrieges die Zeit zwischen dem endenden 19. und dem beginnenden 20. Jahrhundert für die »Epoche des großen Geistigen«, und auch Marc spürte, »daß wir heute an der Wende zweier langer Epochen stehen, ähnlich wie die Welt vor anderthalb Jahrtausenden, als es auch eine kunst-religionslose Übergangszeit gab, wo Großes, Altes starb und Neues, Ungeahntes an seine Stelle trat«17. Auffällig ist die Verbindung von Kunst und Religion in Marcs Denkweise, die Kunst sollte die verloren gegangene Religion ersetzen.18

Die eingangs geschilderte Redaktionssitzung war längst nicht die einzige ihrer Art. Zahlreiche Dokumente beweisen, dass zwischen der Idee Kandinskys zu einem Almanach und der Ausführung eine emsige Korrespondenz zwischen dem Verleger, den Redakteuren und den Mitarbeitern begann. Allein das provisorische Inhaltsverzeichnis, das Franz Marc im September 1911 an Reinhard Piper geschickt hatte, zeigt, wie viele Änderungen, Umstellungen und Ersetzungen bis zum Erscheinen vorgenommen wurden. Das Konzept der Herausgeber stand schon fest: Die Malerei sollte in sechs Einzelbeiträgen vorgestellt werden, die Musik in acht Artikeln, die Bühnenkunst in drei Aufsätzen, eine »Chronik« sollte zwei weitere Aufsätze enthalten. Etwa 100 Abbildungen sollten den Band illustrieren. In der dann veröffentlichten Fassung war die Chronik oder der Besprechungsteil ganz weggefallen, die Bühnenkunst wurde in einem Artikel und einem eigenen Bühnenstück von Kandinsky abgehandelt. Die »internationale« Komponente bestand lediglich in den Artikeln eines Franzosen und mehrerer Russen. August Macke – der im Entwurf nicht erwähnt worden war – wurde neu aufgenommen. Über die Musik gab es immerhin drei Beiträge, wobei der Österreicher Arnold Schönberg, der Komponist und zugleich Maler war, einen Aufsatz und zwei Abbildungen beisteuerte. Außer Gabriele Münter, von der zwei Abbildungen aufgenommen wurden, gab es nur eine weitere Frau, die zum Almanach beitrug: Die russische Malerin und Bühnenbildnerin Natalija Gontscharowa war mit einer Bleistiftzeichnung, betitelt »Weinlese«, vertreten. Jawlensky und Werefkin, im provisorischen Inhaltsverzeichnis noch aufgeführt, entfielen. Manche Beiträge gingen nicht rechtzeitig ein, andere verwarf die Redaktion. Die Auswahl unterlag also großen Zufällen, und fehlende Artikel sollten durch die nun über 140 Abbildungen kompensiert werden.

Was die Redakteure sagen wollten, verstanden viele Leser dennoch. Die Herausgeber strebten eine geistige Erneuerung der Kunst an, in der alle Grenzen zwischen den Künsten und den Völkern niedergerissen werden sollten. Ein Beispiel dafür war die Einbeziehung der Musik, sogar mit Notenbeispielen. Die Gemeinsamkeiten zwischen der russischen, der deutschen und der französischen Kunst sollten deutlich werden, aber nicht das Nationale der Kunst, sondern die grenzüberschreitende, von der »Menschheit« geschaffene Kunst. Nach Ansicht der beiden Herausgeber standen die abgebildeten Werke in einer »inneren Verwandtschaft« zueinander, so fremd sie auch äußerlich wirken mochten. Nicht die anerkannten, orthodoxen Formen sollten gezeigt werden, sondern die Werke, die ein inneres Leben aufwiesen.19 Überdies wollten die Künstler des »Blauen Reiters« zu den wahren Wurzeln der Kunst zurück, deshalb bildeten sie auch Kinderzeichnungen neben der Kunst von primitiven Völkern, bayerische sowie russische Volkskunst ab. Die Kunst sollte möglichst ursprünglich und unverbildet sein, also durch Rückbesinnung auf die Wurzeln eine Erneuerung hervorrufen.

In seinem Beitrag »Über die Formfrage« stellte Kandinsky fest: »…nicht das ist das wichtigste, ob die Form persönlich, national, stilvoll ist, ob sie der Hauptbewegung der Zeitgenossen entspricht oder nicht, ob sie mit vielen oder wenigen anderen Formen verwandt ist oder nicht, ob sie ganz einzeln dasteht oder nicht usw. usw., sondern das wichtigste in der Formfrage ist das, ob die Form aus der inneren Notwendigkeit gewachsen ist oder nicht.« Über Kandinskys Begriff der »inneren Notwendigkeit« ist viel geschrieben worden. Der deutsch-russische Komponist Thomas von Hartmann hat diesen Begriff ebenfalls benutzt und »das Wesen des Schönen eines Werkes« als »das Korrespondieren der Ausdrucksmittel mit der inneren Notwendigkeit« definiert.20 Kandinsky selbst verwendete den Begriff häufig, ohne jedoch jemals eine Definition dafür zu geben. In seinem Buch Über das Geistige in der Kunst stellt er innere und äußere Notwendigkeit gegenüber und kommt zu folgendem Schluss: »Der Künstler darf jede Form zum Ausdruck brauchen.«21 Und an anderer Stelle: »Alle Mittel sind heilig, wenn sie innerlich–notwendig sind. Alle Mittel sind sündhaft, wenn sie nicht aus der Quelle der inneren Notwendigkeit stammen«22; und schließlich bezeichnete er die Gesetze der inneren Notwendigkeit als »seelische« Notwendigkeit.23 Schon die Wortwahl »heilig« und »sündhaft« zeugt von seinem religiösen Impetus. Aber die »innere Notwendigkeit« erlaubte auch »eine äußerlich grenzenlose Freiheit« in der Wahl der Ausdrucksmittel und ließ eine Kunst zu, die den Pol der »großen Abstraktion« ebenso umfasste wie den der »großen Realistik«. Mit diesem Prinzip war auch die Vielfalt der Abbildungen im Almanach gerechtfertigt.24

Sein Freund Franz Marc, der ursprünglich Theologie studieren wollte, bezeichnete den Russen in einem Brief vom 13. Juni 1911 an Reinhard Piper als Propheten: »Kandinsky’s Kunst ist ebenso prophetisch wie seine Worte, – die einzige wirklich prophetische in unserem Kreis. Kandinsky ist der eigentliche Mittelpunkt der ganzen Bewegung, – wie kann man seine Stimme nicht hören wollen?«25 Auch hier erkennt man an der biblischen Sprache den Rufer in der Wüste. Die beiden Begründer des »Blauen Reiters« verfügten über ein missionarisches Bewusstsein, Kunst war für sie etwas Heiliges, eine Art Religion. Marc schrieb an Piper, seine Ziele lägen »nicht in der Linie besonderer Tiermalerei. Ich suche einen guten, reinen und lichten Stil, in dem wenigstens ein Teil dessen, was wir moderne Maler zu sagen haben werden, restlos aufgehn kann. Und das wäre vielleicht ein Empfinden für den organischen Rhythmus aller Dinge, ein pantheistisches Sich hineinfühlen in das Zittern und Rinnen des Blutes in der Natur, in den Bäumen, in den Tieren, in der Luft …; das zum ›Bilde‹ machen, mit neuen Bewegungen u. mit Farben, die unseres alten Staffeleibildes spotten … Ich sehe kein glücklicheres Mittel zur ›Animalisierung der Kunst‹ als das Tierbild. Darum greife ich danach.«26

Marc hatte Grund, Kandinsky zu verteidigen, denn der Verleger Reinhard Piper hatte im Juni 1911 einen Beitrag des Russen zu einer Broschüre zunächst abgelehnt, dann aber doch aufgenommen. Der Worpsweder Maler Carl Vinnen hatte in der Erklärung »Ein Protest deutscher Künstler« dagegen Stellung bezogen, dass die Kunsthalle Bremen einen van Gogh angekauft hatte, dann aber seine Kritik auf Museen, Galeristen und die Überschätzung der französischen Malerei insgesamt ausgedehnt; viele konservative Maler schlossen sich an. Eine Erwiderung der Avantgarde musste unbedingt erfolgen. Franz Marc schlug eine Antwort auf diese Protestschrift vor, die unter dem Titel »Im Kampf um die Kunst. Antwort auf den ›Protest deutscher Künstler‹« bei Piper erschien und auch Beiträge von ihm selbst und Kandinsky enthielt.

An Kandinskys Aufsatz übte Piper beißende Kritik: »Wir werden also Ihren Beitrag in dieser Form aufnehmen. Sie haben aber unseren Brief nicht ganz richtig verstanden. Wir meinten, daß Ihre Äußerungen so allgemein gehalten sind, daß sich eigentlich gar nichts Bestimmtes darunter vorstellen läßt, sondern daß Jeder sich damit vorstellen kann, was er Lust hat und so eigentlich mit diesen Ausführungen gar nichts Greifbares gesagt ist. Sie bleiben eben zu sehr in von Anschauungen entleerten Begriffen stecken, bei denen sich sozusagen nichts und alles denken läßt.

Das Einzige, was schließlich als eine feste Meinung sichtbar wird, ist, daß Sie glauben, die Malerei werde die ›höhere Stufe der reinen Kunst‹, auf welcher die Musik schon einige Jahrhunderte steht, jetzt erst erreichen. Wir sind überzeugt, daß diese reine Kunst immer da war, solange es Kunst giebt.« Piper hatte mit seinen zweiunddreißig Jahren ein festes Urteil, offenbar fand er Kandinskys Schreibstil ebenso abstrakt wie dessen Malerei, aber er erkannte trotzdem das Neue an der »Bewegung« und gab nach. Noch in seinen Erinnerungen27 gestand er, dass er von der abstrakten Kunst Kandinskys »nicht gerade begeistert« gewesen sei, »aber es schien mir dankenswert und nützlich, daß einmal jemand auskundschaftete, wie weit man in dieser Richtung kommen konnte«.

Natürlich ärgerte sich Kandinsky über diese Kritik und teilte sie Marc mit, der sich gerade auf seiner »Hochzeitsreise« in London befand. Kandinsky schrieb: »Und um wie ein Schuljunge behandelt zu werden, bin ich eben schon zu alt.« Marc antwortete postwendend und erklärte sich solidarisch mit dem Freund: »Was Sie da über Piper erzählen, hat mich furchtbar geärgert. Dieser Esel! Ich hab ihm sofort geschrieben, mit aller möglichen Deutlichkeit und etwas grob, aber doch so, daß ich hoffe, er druckt Ihren Artikel doch noch. Stolz ihm gegenüber hat gar keinen Sinn. Er ist es gar nicht wert, daß man seinen Entschluß, nicht zu drucken, als eine diskutable Meinungsäußerung behandelt; er ist Setzerlehrling und muß es eben thun.« Das waren von Marcs Seite harsche Worte, verstand er sich doch sonst sehr gut mit Piper, aber in dieser Angelegenheit wollte er Kandinsky unterstützen.28

Aus den Beiträgen Kandinskys und Marcs geht hervor, dass ihre Kunst vor allem durch pantheistisches und metaphysisches Gedankengut geprägt war und zur ungegenständlichen Darstellungsweise tendierte. Kandinsky, der immer abstrakter malte, hatte allerdings stets noch ein kleines, gegenständliches Element in seinen Bildern versteckt. Sein erstes »Abstraktes Aquarell« stammte vermutlich aus dem Jahr 1910. Mehr historische Bedeutung maß er aber seinem ersten abstrakten Ölgemälde »Bild mit Kreis« von 1911 bei.29 In den folgenden Jahren breitete sich die ungegenständliche Malerei in vielen Stilvarianten in der ganzen westlichen und Teilen der östlichen Welt aus. Vorbereitet hatten sie bereits einige Jugendstilmaler sowie die Kubisten. Gabriele Münter blieb stets dem Gegenständlichen verhaftet, auch wenn es ihr gelungen war, »vom Naturabmalen – mehr oder weniger impressionistisch – zum Fühlen eines Inhalts – zum Abstrahieren – zum Geben eines Extrakts« zu kommen, wie sie rückblickend über den Sommer 1908 in Murnau sagte.30

August Macke war stark von der französischen Kunst beeinflusst, unter anderem vom Orphismus Delaunays und vom Kubismus. Er war bestrebt, die Farbe mit ihren »raumbildenden Energien« zum Mittelpunkt seiner Malerei zu machen. Seine Bilder, die er sehr schnell malte – allein während des kurzen Aufenthalts am Tegernsee 1910 schuf er 150 Gemälde –, zeigen seinen flächigen, in leuchtenden Farben gemalten Stil. Er bevorzugte weiterhin Sujets wie Porträts, Stillleben, Landschaften, aber auch elegante städtische Szenen, seine Gegenstände bleiben immer erkennbar. Während seiner Zusammenarbeit mit den Künstlern des »Blauen Reiters« versuchte er sich in mehreren Gemälden deren Malweise anzupassen. Die drei Bilder »Sturm«, »Indianer auf Pferden« und »Indianer« zeigen den Einfluss von Marc bzw. Kandinsky. Doch Macke spürte seine Fremdheit gegenüber dieser Art von Malerei und verfolgte nach dieser Phase der künstlerischen Auseinandersetzung mit den Freunden in Bayern weiterhin unbeirrt seinen eigenen Stil. Ab 1912 betonte er nachdrücklich seine Unabhängigkeit von der Gruppe, obwohl er mit Marc persönlich befreundet blieb.

Maria Marc schließlich malte stets gegenständlich. In der Redaktion hielt sie sich bescheiden im Hintergrund. Ihre Bilder sind Tier-, Blumen-, und Naturstudien, Stillleben und Kinderporträts. Ihre Gemälde strahlen in hellen, sommerlichen Farben und zeugen von ihrer Liebe zur Natur.

Die beiden weiteren Teilnehmer der ersten Redaktionssitzung waren Heinrich Campendonk und Helmuth Macke, beide Anfang zwanzig. Sie waren damals noch »Malerjünglinge« und nahmen nur deshalb teil, weil sie überraschend dazugestoßen waren. Helmuth wohnte eine Zeit lang bei den Mackes am Tegernsee und verbrachte auch einige Wochen bei Franz Marc in Sindelsdorf. Danach bezog er dort zusammen mit Heinrich Campendonk eine Wohnung. Er studierte bei dem Niederländer Thorn Prikker, der in Krefeld Naturstudien und Lithografie unterrichtete. Einige Bilder Helmuth Mackes wurden beispielsweise bei der »Rheinischen Expressionisten-Ausstellung« 1913 in Bonn gezeigt.

Campendonk schien den Malern des »Blauen Reiters« vielversprechend. Er stammte aus Krefeld und hatte die dortige Handwerker- und Kunstgewerbeschule besucht. Auch er studierte bei Thorn Prikker. Dieser erste Lehrer erkannte sein Talent und förderte ihn unermüdlich. Der junge Kunststudent nahm sich zunächst noch die Natur als Vorbild und setzte sich systematisch damit auseinander, bevor er zur Abstraktion gelangte.

So unterschiedlich die Malweisen der Malerinnen und Maler des »Blauen Reiters« auch waren, sie nehmen in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg eine wichtige Stellung ein, unter anderem wegen der internationalen Sichtweise der Kunst, der Einbeziehung der italienischen Futuristen, der Volkskunst sowie der Romantik, ganz zu schweigen von den religiösen Elementen in der Kunst Marcs und Kandinskys. Der Begriff »expressionistisch« ist aber nicht durchgängig auf diese Künstler anzuwenden. Sie unterscheiden sich erheblich von der fünf Jahre zuvor in Dresden gegründeten »Brücke«, deren Maler viel enger zusammenarbeiteten und einen homogeneren Stil entwickelten als die Münchner Gruppe. Die Künstler des »Blauen Reiters« behielten ihre individuelle Ausdrucksweise und sind – bis auf die frühe Zeit in Murnau, in der sie zusammen malten und voneinander lernten – leicht identifizierbar.

Die Maler des »Blauen Reiters« strebten ein Gesamtkunstwerk an, wie es schon seit der Romantik gefordert wurde. Ein Beispiel dafür ist die im Almanach abgedruckte abstrakte Bühnenkomposition Kandinskys, »Der gelbe Klang«, deren musikalischen Teil Thomas von Hartmann übernommen hatte. Schon der Titel des kurzen, experimentellen Stücks deutet auf Synästhesie hin, ein seit der Antike bekanntes literarisches Stilmittel. Die Maler des »Blauen Reiters« haben sich oft und lange mit Farbtheorien auseinandergesetzt und sind der Frage nachgegangen, ob eine Farbe in einer bestimmten Form eine andere Aussagekraft habe als in einer anderen und welche Empfindungen dies im Betrachter auslöse. Konnte Malerei auch musikalischen Gesetzen unterliegen, entsprachen gewisse Farben Tönen oder Halbtönen in der Musik? Schon Goethe hatte 1807 gesagt: »In der Malerei fehle schon längst die Kenntnis des Generalbasses, es fehle an einer aufgestellten, approbierten Theorie, wie es in der Musik der Fall ist.«31

Konnten die Künste eine Synthese bilden? Diesem zentralen Thema widmeten sich mehr oder weniger deutlich alle Beiträge. Man wollte eine neue Kunsttheorie aufstellen, die den Kunstmaterialismus des 19. Jahrhunderts ablösen sollte. Alle Künste sollten eine Einheit bilden. Die Wechselbeziehung zwischen Kunst und Leben, die sie verloren glaubten, sollte erneuert werden. Dass die Künstler an eine weltverbessernde Wirkung der Kunst glaubten, zeugt von ihrem Idealismus, aber auch von ihrer Suche nach einem Religionsersatz, wie aus Marcs Worten von der »kunst-religionslosen Übergangszeit« hervorgeht. Zumindest sollte die Kunst sinnstiftend sein.

Der Almanach Der Blaue Reiter erschien schließlich im Mai 1912, Pläne für einen zweiten Band lagen bereits vor, sogar das Vorwort von Franz Marc war bereits geschrieben. Aber die Herausgeber hatten beschlossen, das Jahrbuch nicht regelmäßig zu veröffentlichen, sondern sich Zeit zu lassen. Es kam nie zur Veröffentlichung des zweiten Bandes. So markiert der einzige erschienene Band Der Blaue Reiter den Aufbruch in eine neue Zeit und eine Zäsur in der Kunstgeschichte.

Franz Marcs programmatische Sätze, mit denen er den Almanach im Verlagskatalog ankündigte, bringen in mitreißender Weise den Elan und den Aufbruchwillen zum Ausdruck, die diese jungen Künstler beflügelten: »Die Kunst geht heute Wege, von denen unsere Väter sich nichts träumen ließen. Man hört die Apokalyptischen Reiter in den Lüften; man fühlt eine künstlerische Spannung über ganz Europa – überall winken neue Künstler sich zu: ein Blick, ein Händedruck genügt, um sich zu verstehen …«32

KAPITEL ZWEI

Gabriele Münter und Wassily Kandinsky

Wassily Kandinsky kam 1896 nach München. Er war promovierter Jurist und Ökonom und hatte eben einen Ruf an die damals russische Universität Dorpat, heute Estland, abgelehnt, weil er nun, im Alter von dreißig Jahren, beschlossen hatte, sein Leben ganz der Kunst zu widmen. Kandinsky entstammte einer wohlhabenden Moskauer Familie, die es ihm ermöglichte, als freier Maler ins Ausland zu gehen. Sein Vater, ein erfolgreicher Kaufmann, stammte aus Ostsibirien, seine Mutter war gebürtige Moskauerin. Sie verkörperte für den Sohn die Stadt Moskau in ihrer von »majestätischer Ruhe und heldenhafter Selbstbeherrschung geflochtene[n] Vereinbarung von Tradition mit echtem Freigeist«1. Von seiner Großmutter mütterlicherseits, einer deutschsprachigen Baltin, hatte er Deutsch gelernt. Nach seinen eigenen Angaben waren Kandinskys Vorfahren von West- nach Ostsibirien verbannt worden. Aber schon sein Vater, der seine Ausbildung in Moskau erhalten hatte, betrachtete diese Stadt als seine Heimat.

Odessa, Moskau, München

Der kleine Wassily wuchs wohlbehütet unter der Aufsicht eines Kindermädchens heran. Die Eltern zogen 1871 mit dem Fünfjährigen wegen des wärmeren Klimas nach Odessa. Bald darauf scheiterte ihre Ehe; sie trennten sich, blieben aber weiterhin freundschaftlich verbunden. Von nun an lebte Wassily bei seinem Vater, wurde aber von seiner Tante Jelisaweta Tichejewa, der Schwester seiner Mutter, erzogen. Die Mutter, die sich ebenfalls regelmäßig um ihren ältesten Sohn kümmerte, heiratete erneut und brachte vier weitere Kinder zur Welt, drei Jungen und ein Mädchen. Wassily unterhielt zu seinen Halbgeschwistern ein herzliches Verhältnis. Die ganze große Familie Kandinsky pflegte immer sehr rege und enge Beziehungen.

Mit zehn Jahren wurde Wassily auf das humanistische Gymnasium in Odessa geschickt, wo er von sich aus an einem Zeichenkurs teilnahm und auch Klavier- und Cellounterricht erhielt. Von seinem mühsam zusammengesparten Taschengeld kaufte er sich schon früh einen Malkasten mit Ölfarben. Der Vater, der in Odessa Direktor einer Teehandelsfirma geworden war, nahm seinen Sohn ab dem dreizehnten Lebensjahr jeden Sommer mit nach Moskau; auch sonst unternahmen die beiden ausgedehnte Reisen, etwa in den Kaukasus und auf die Krim. Als Kandinsky 1885 sein Studium der Jurisprudenz und Nationalökonomie in Moskau aufnahm, fühlte er sich dort bereits heimisch. Als er aus gesundheitlichen Gründen 1889 sein Studium unterbrechen musste, reiste er nach Paris. Schließlich betrieb er ethnografische Studien in entlegenen Gebieten Russlands, über die er zwei Aufsätze publizierte. Daraufhin wurde er zum Mitglied der »Gesellschaft der Freunde der Naturwissenschaften« gewählt und wenig später in die »Juristische Gesellschaft« seiner Universität in Moskau aufgenommen.

Während seines Studiums lebte Kandinsky bei Verwandten. Dort verliebte er sich in Anna Tschemjakina, seine Kusine zweiten Grades, die sieben Jahre älter war als er. 1892, noch während seiner Studienzeit, heirateten die beiden. 1893 wurde Kandinsky mit einer Dissertation über die Gesetzmäßigkeit der Arbeitslöhne im Fachbereich Volkswirtschaft promoviert. Im selben Jahr wurde er zum Attaché der juristischen Fakultät ernannt, was offenbar eine feste Anstellung an der Universität bedeutet hätte.

Aber Kandinsky hatte, nachdem der Grundstein zu einer akademischen Karriere gelegt war, offensichtlich kein Interesse mehr an einer universitären Laufbahn. Stattdessen arbeitete er zwei Jahre lang als künstlerischer Leiter in einer Druckerei. Als er Mitte der Neunzigerjahre in einer Ausstellung französischer impressionistischer Kunst in Moskau Monets Bild »Heuhaufen in der Sonne« (1891) sah, machte das auf ihn einen so umwerfenden Eindruck, dass er beschloss, Maler zu werden. Eigentlich hatte er sich das seit seiner Kindheit gewünscht; nachdem er nun seine Eignung für einen Brotberuf bewiesen hatte, konnte er diesem Wunsch nachgehen. Auch andere Gründe für diesen Bruch scheinen eine Rolle gespielt zu haben: In seinen Rückblicken gibt Kandinsky an, dass »mein früherer Glaube an den heilenden Wert der sozialen Wissenschaft und schließlich an die absolute Richtigkeit der positiven Methode stark geschmolzen war«2. Nun wollte er mit dreißig Jahren heraus aus der kulturellen Enge Russlands und sein künstlerisches Talent erproben. Noch im Dezember 1895 siedelte er mit seiner Frau Anna nach München über.

Die bayrische Hauptstadt galt damals neben Paris als künstlerisches Zentrum. Es gab dort nicht nur die Akademie, sondern seit 1892 auch die »Sezession«, die von Max Liebermann, Lovis Corinth und Franz Stuck begründet worden war. Eine russische Kolonie hatte sich dort bereits angesiedelt; Kandinsky sprach sehr gut Deutsch. Zunächst zog das junge Paar in eine möblierte Wohnung in der Georgenstraße 62 in Schwabing, ein halbes Jahr später in die Giselastraße 28. Gleich zu Beginn des Jahres 1897 schrieb sich Kandinsky in die private Malschule von Anton Ažbe ein, einem jungen Slowenen, dessen Schule als eine der besten galt und in der Villa eines ehemaligen russischen Diplomaten in der Georgenstraße 40 residierte. Ažbes Malklassen wurden von vielen Russen besucht. Auch Frauen besuchten diese Kurse, weil ihnen, wie bereits dargelegt, der Zugang zu den staatlichen Kunstschulen noch verwehrt war. Hier traf Kandinsky auf Marianne von Werefkin und Alexej Jawlensky, die einige Monate vor ihm aus Russland nach München gekommen waren, aber auch auf andere Maler.

Obwohl Ažbe ein guter Pädagoge war, fühlte sich Kandinsky durch diesen Maler, der sich mit impressionistischer Farbtechnik befasste, eingeengt. Dennoch blieb der angehende Künstler zwei Jahre lang bei ihm, denn sein technisches Können war noch nicht ausgereift. Besonders schwer fielen ihm die Anatomiekurse. Das Zeichnen nach Modell – Kopf oder Akt – langweilte ihn, und das Gefühl der Befreiung, das er nach seinem Weggang aus Moskau empfunden hatte, wich bald erneut einem Gefühl der Versklavung; ja, das Aktzeichnen stieß ihn geradezu physisch ab. Aber er hielt durch, obwohl er den Unterricht häufig schwänzte und stattdessen naturalistische Landschaftsbilder oder Studien in Schwabing malte, die ihn aber auch nicht zufriedenstellten. Mehr als die Zeichnung interessierten ihn die Farben, und es kränkte ihn, wenn die Kollegen ihn etwa einen »Koloristen« oder »Landschaftsmaler« nannten. Aber er war sich bewusst, dass er ein zeichnerisches Fundament brauchte, um Maler zu werden.

1898 ging er deshalb zu dem berühmten Münchner Maler Franz Stuck, der ihm riet, ein Jahr lang in der Zeichenklasse der Akademie zu arbeiten. Aber er fiel in der Aufnahmeprüfung durch. Abgelehnt von der Akademie, arbeitete Kandinsky nun ein Jahr lang privat. Offenbar beschäftigte er sich weiterhin mit Landschaftsmalerei, interessierte sich auch für das Mittelalter, das er in Skizzen mittelalterlicher Rüstungen und Zaumzeugs thematisierte. In Russland stellte er seine Bilder sowohl auf den Ausstellungen der »Moskauer Künstlervereinigung« (1900–1908) als auch 1901 auf der Ausstellung der »Vereinigung südrussischer Künstler« in Odessa aus. Kandinsky kehrte immer wieder in seine Heimat zurück, seine Verwurzelung in Russland war stark und prägte seine Malerei noch viele Jahre.

Unzufrieden mit seinem mangelnden technischen Können, wandte er sich im Jahr 1900 erneut an Stuck und wurde diesmal in dessen Malklasse aufgenommen. Viel zu alt fand er sich – er war inzwischen im 35. Lebensjahr – und bemühte sich doch immer noch, den Anweisungen eines berühmten Künstlers zu folgen. Stuck riet ihm, die Farben ganz wegzulassen und nur in Schwarz-Weiß zu malen, um sich auf die Form zu konzentrieren. Wieder fühlte er sich eingeengt. Zu Hause aber malte er bunte russische Volksszenen und märchenhafte Bilder, die noch nichts von seinem späteren Streben zur Abstraktion ahnen lassen. In der Schülergruppe von Franz Stuck traf er viele deutsche und ausländische Maler, darunter den Schweizer Paul Klee, mit dem er sich später anfreundete. Zu dieser Zeit fand er jedoch noch keinen Anschluss in der Klasse. Kandinsky plante aber schon, in München einen Verein zu gründen, der Werke aus sämtlichen Kunstbereichen ausstellen sollte.

Die Künstlergruppe »Phalanx«

Nach dem Jahr bei Franz Stuck beschäftigte sich Kandinsky vorwiegend mit der Organisation einer Ausstellung der 1901 von ihm mitbegründeten Künstlergruppe »Phalanx«, der Maler und Bildhauer angehörten. Zusammen mit dem Mediziner Gustav Freytag, dem Sohn des Kunsthistorikers und Schriftstellers, finanzierte er den Verein und übernahm das Amt des Kassenwarts. Bald rückte er zum Vereinsvorsitzenden auf. Ziel der »Phalanx« sei »der Protest gegen das damalige Jurywesen und gegen gewisse Mißstände bei der Künstlergenossenschaft und Secession«, erklärte Gustav Freytag.3 Außerdem wollte die neue Vereinigung vor allem Werke ausländischer und auswärtiger Künstler, die in München bis dahin kaum bekannt waren, ausstellen. Die erste Ausstellung fand bereits 1901 statt und zeigte Malerei, Grafik, Plastik und Architektur. Kandinsky selbst stellte zehn Studien und sechs kleine Bilder aus, von denen einige verkauft wurden. Insgesamt hatte die »Phalanx« zwölf Ausstellungen, nicht nur in München. Gleichzeitig begann Kandinsky, Artikel über Kunst zu schreiben, zunächst in einer Moskauer Kunstzeitschrift, später auch für die Petersburger Welt der Kunst, in der er die »Korrespondenz aus München« publizierte. Diese enthielt Ausstellungsbesprechungen und Berichte über das Münchner Kunstleben. Die Welt der Kunst wollte in Russland Orientierungspunkte für die dortige Entwicklung liefern und war auf den Gebieten der angewandten und dekorativen Kunst einflussreich. Und auch nach Odessa und Moskau hielt Kandinsky seine Verbindungen aufrecht.

Beflügelt vom Erfolg der »Phalanx«, gründete Kandinsky noch im Winter 1901/1902 eine eigene Malschule unter seinem Namen, die im oberen Stockwerk des Hauses Hohenzollernstraße 6 in Schwabing untergebracht und der Bildhauerschule von Wilhelm Hüsgen und Waldemar Hecker angeschlossen war. Hüsgen und Hecker waren auch als Mitglieder des politischen Kabaretts »Die Elf Scharfrichter« bekannt. Sieben Stunden täglich mussten die Schüler Kandinskys dort nach dem Modell zeichnen oder Stillleben malen; abends hatten sie noch die Möglichkeit, in der Bildhauerklasse zu modellieren. Gustav Freytag unterrichtete die Schüler in Anatomie. Da aber in dieser Malschule auch Frauen zugelassen waren, meldeten sich mehr Frauen als Männer an. Kandinsky unternahm in dieser Zeit viele Reisen in Deutschland und Russland, auf denen seine Frau Anna ihn begleitete. Schließlich bereiteten die beiden ihren endgültigen Umzug nach München vor, diesmal in eine Wohnung in der Friedrichstraße 1. Kandinsky hatte Anfang des Jahres von einem verstorbenen Onkel ein sechsstöckiges Haus mit 24 Wohnungen in Moskau geerbt, was ihn finanziell unabhängig von seinem Vater machte, der ihn allerdings bis dahin großzügig unterstützt hatte.

Ende der Leseprobe