Die Fremde in meinem Haus - JP Delaney - E-Book

Die Fremde in meinem Haus E-Book

JP Delaney

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Beschreibung

Endlich schließt du sie in deine Arme. Endlich eine zweite Chance. Doch du ahnst nicht, wen du in dein Haus lässt ...
Der neue Thriller des internationalen Bestsellerautors!


„Hallo, ich bin Anna. Aber geboren wurde ich als Sky und ich glaube, dass du meine leibliche Mutter bist.“ Diese Nachricht trifft Susie wie ein Schlag in die Magengrube. Tatsächlich hat sie vor 15 Jahren als junge, mittellose Musikerin ihre Tochter zur Adoption freigegeben– und diese Entscheidung seitdem stets bitter bereut. Als Anna dann über ihre strengen Adoptiveltern berichtet, ist Susie überzeugt, dass das Mädchen Hilfe braucht. In der Hoffnung, ihren Fehler aus der Vergangenheit wieder gutzumachen, nimmt sie Anna bei sich auf. Doch das Mädchen verhält sich seltsam und verstrickt sich mehr und mehr in Lügen. Eine nur verständliche Reaktion auf die traumatischen Zustände in ihrer Adoptivfamilie? Oder steckt mehr dahinter? Was sind die wirklichen Gründe für die Adoption vor 15 Jahren? Und wer hütet hier welches Geheimnis?

»Spannend vom Anfang bis zum Ende – ich konnte die Seiten nicht schnell genug umblättern!« Claire Douglas

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Endlich schließt du sie in deine Arme. Endlich eine zweite Chance. Doch du ahnst nicht, wen du in dein Haus lässt …

»Hallo, ich bin Anna. Aber geboren wurde ich als Sky, und ich glaube, dass du meine leibliche Mutter bist.« Diese Nachricht trifft Susie wie ein Schlag in die Magengrube. Tatsächlich hat sie vor fünfzehn Jahren als junge, mittellose Musikerin ihre Tochter zur Adoption freigegeben – und diese Entscheidung seitdem stets bitter bereut. Als Anna dann noch über ihre strengen Adoptiveltern berichtet, ist Susie überzeugt, dass das Mädchen ihre Hilfe braucht. In der Hoffnung, ihren Fehler aus der Vergangenheit wiedergutzumachen, nimmt sie Anna bei sich auf. Doch das Mädchen verhält sich immer seltsamer. Eine nur verständliche Reaktion auf die traumatischen Zustände in ihrer Adoptivfamilie? Oder steckt mehr dahinter? Was geschah wirklich vor fünfzehn Jahren? Und wer hütet hier welches Geheimnis?

»Spannend vom Anfang bis zum Ende – ich konnte die Seiten nicht schnell genug umblättern!« Claire Douglas

JP Delaney wurde mit seinem ersten Thriller »The Girl Before« weltweit zum Star: Der Roman erschien in 45 Ländern und stand an der Spitze der internationalen Bestsellerlisten. Seitdem setzt JP Delaney mit seinen genialen Ideen und rasanten Romanen neue Standards im Thriller-Genre.

www.penguin-verlag.de

JP DELANEY

DIE FREMDE IN MEINEM HAUS

Thriller

Aus dem Englischen von Sibylle Schmidt

Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel My Darling Daughter bei Quercus, London.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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PENGUIN und das Penguin Logo sind Markenzeichen von Penguin Books Limited und werden hier unter Lizenz benutzt.

Copyright © 2022 by JP Delaney

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2023

Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Ulla Mothes

Covergestaltung: www.buerosued.de

Covermotiv: Maria Petkova/Trevillion Images

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-30008-1V001

www.penguin-verlag.de

Für Caradoc: Literaturagent, Freund und Beweis dafür, dass solche Geschichten gut ausgehen können.

1

Gabe

Alles beginnt mit einer Nachricht in den Social Media.

Was an sich nichts Ungewöhnliches ist, Susie bekommt täglich mindestens zwanzig; wenn ein Gig ansteht oder die Band gerade einen neuen Song veröffentlicht hat, oft auch viel mehr. Sie wartet meist, bis sich einige angesammelt haben, und beantwortet dann alle in einem Aufwasch. Hi, danke für deine lieben Worte! Schön, dass euch unsere Musik gefällt …

Aber diese Nachricht muss sich für Susie anfühlen, als reiße jemand die Haut über einer fünfzehn Jahre alten Wunde ab.

Hallo, Susie. Ich heiße Anna Mulcahy, aber mein Geburtsname ist Sky Jukes. Ich bin fünfzehn Jahre alt. Wenn du am 6. März 2007 um etwa fünf Uhr nachmittags in der Klinik St George’s ein Mädchen geboren hast, das später adoptiert wurde – könnten wir uns dann mal treffen? Ich glaube, dass du meine leibliche Mutter bist.

Viele Grüße

Anna

Das wäre an sich schon Schock genug. Aber was Susie dann dazu bringt, kreidebleich und tränenüberströmt in mein Studio zu stürzen und mir stumm ihr iPad hinzuhalten, ist der letzte Satz:

P. S. Ich bin schrecklich unglücklich.

2

Gabe

Susie brachte das Kind mit zwanzig zur Welt, als sie gerade ihre ersten Engagements als Backgroundsängerin bekam. Damals kannten wir uns noch nicht. Die Schwangerschaft, Ergebnis einer flüchtigen Beziehung, war nicht geplant. Jobs für Backing Vocals waren mit langen Tourneen verbunden, ein Baby hätte für Susie bedeutet, ihren geliebten Beruf aufgeben zu müssen. Allerdings wusste sie zu diesem Zeitpunkt noch nichts von ihren Myomen. Heute, nach fünf Fehlgeburten und zahllosen weiteren Versuchen, schwanger zu werden, bereut sie ihre Entscheidung von damals.

Die meisten Menschen denken wahrscheinlich, wer ein Kind zur Adoption freigibt, hat sich das gut überlegt und kann mit den Folgen umgehen. Diese Leute machen sich nicht klar, dass man die Entscheidung lange vor der Geburt des Kindes trifft, während man noch versucht, vernünftig zu sein und alles richtig zu machen. Während man sich einredet, einem kinderlosen Paar einen Herzenswunsch zu erfüllen und dem eigenen Kind ein besseres Leben zu ermöglichen. Während anderes wie die Berufslaufbahn – und ja, auch Partys und das wilde Leben in den Zwanzigern – so viel wichtiger erscheint.

Vielen Menschen ist nicht klar, dass sich eine Adoption auch anfühlen kann, als entscheide man sich für den Tod. Und man fühlt sich verantwortlich dafür, weil man ihn selbst gewollt hat – einen Tod, den man von Jahr zu Jahr mehr bereut, weil man von seinen Fantasien gequält wird. Weil man sich einbildet, das eigene Kind im Supermarkt zu sehen oder beim Einsteigen in einen Bus. Und das kann unter Umständen fast noch qualvoller sein, als wäre das Kind tatsächlich tot.

Ich kenne mich damit aus, weil meine eigene Tochter mit knapp drei Jahren an Leukämie gestorben ist. Das war grauenhaft und unerträglich und bedeutete zugleich das Ende meiner ersten Ehe. Aber es war auch final; daran ließ sich nichts ändern, man konnte nur versuchen, den schmerzhaften Verlust im Laufe der Zeit irgendwie zu bewältigen. Für Susie dagegen war das anstrengendste Gefühl von allen Hoffnung, aber in Kombination mit Verzweiflung. Ständig gingen ihr Fragen durch den Kopf wie: Was macht Sky wohl heute? Hat sie schon das Alphabet erlernt? Kann sie bereits schwimmen? Hat sie ihren ersten Kuss erlebt?

Wenn wir beide gefragt werden, wie wir uns kennengelernt haben, sagen wir oft im Scherz, Susie sei mein Groupie gewesen. Damals war ich … na ja, nicht gerade in aller Munde, aber meine Band Wandering Hand Trouble (blödsinniger Vorschlag der Plattenfirma, heute würde sich keine Band mehr einen Namen geben, der mit sexueller Belästigung zu tun hat) hatte den Übergang von der Boygroup zur Rockband ziemlich mühelos geschafft. Wir planten, im besten Einvernehmen getrennte Wege zu gehen, um es uns mit unserem verdienten Geld gut gehen zu lassen, solange wir noch einigermaßen jung waren. Going, Going, Gone war der Titel unserer Abschiedstour, bei der Susie eine der Backgroundsängerinnen war.

Was wir den Leuten normalerweise nicht erzählen, ist, dass ich Susie eines Tages weinend im Backstage-Bereich vorfand und sie fragte, ob ich ihr helfen könne. Es stellte sich heraus, dass Sky an diesem Tag sechs Jahre alt wurde. Susie offenbarte mir etwas von ihrer Geschichte, ich erzählte von Leah, und wir begannen eine Beziehung. Nicht gerade typischer Rock’n’Roll-Lifestyle.

Aber ein paar Attribute dieser Art gibt es schon in unserem Leben. Wir wohnen in einem wunderschönen Farmhaus am Rande von London, zusammen mit ein paar Pferden und Hühnern und einem Hund namens Sandy, den wir aus dem Tierheim gerettet haben. Innen ist das Haus hell und modern, an den Wänden hängen Werke der jungen britischen Kunstszene. Wir haben sechs Schlafzimmer; als wir uns das Haus zum ersten Mal ansahen, wies der Makler uns darauf hin, wie ideal es für eine große Familie sei, wie viele Kinder hätten wir denn? Bei diesem Thema wissen wir immer beide nicht, wie wir reagieren sollen, und sind deshalb oft schroffer als beabsichtigt. Als ich damals antwortete »keine«, murmelte der Makler hastig, es sei auch bestens für Partys geeignet.

Auf dem Grundstück gibt es eine kleine Scheune, die ich mir zum Studio habe ausbauen lassen; nur für Demo-Tapes allerdings, nicht für die richtigen Aufnahmen. Mittlerweile schreibe ich hauptsächlich Songs für andere. Es kann gut sein, dass ihr von jungen Singer-Songwritern schon Stücke gehört habt, die nicht aus deren Feder, sondern aus meiner stammen.

Dass Susie und ich keine Kinder haben, ist aber wirklich tragisch, vor allem für sie, denn sie sehnt sich danach und wäre garantiert eine wunderbare Mutter. Andererseits haben wir auch noch Zeit, und gegenwärtig hat sie viel Freude daran, endlich mit ihrer eigenen Band Silverlink, die Folkrock spielt, nicht mehr nur in Pubs und kleinen Clubs aufzutreten, sondern als Vorband bei größeren Konzerten. Viel Geld lässt sich damit nicht verdienen – diese Zeiten sind in der Musikbranche ohnehin vorbei –, aber sie liebt dieses Leben. Und mir gefällt es, dass mich bei ihren Auftritten kaum noch jemand erkennt; ich bin einfach nur ihr Partner am Bühnenrand. Für die Band habe ich auch einen Song geschrieben, »Lullaby for Leah«, der bei den Streaming-Portalen ein kleiner Hit wurde. Und mein Herz fließt immer über vor Liebe, wenn ich im Publikum stehe und Susie meine Worte singt und sich in diesem ekstatischen Moment alle Teile meines Lebens zu verbinden scheinen.

Als sie in mein Studio stürzt, ohne vorher durch die Trennscheibe zu schauen, um zu checken, ob ich am Aufnehmen bin, weiß ich sofort, dass etwas Dramatisches passiert sein muss. Mit einer unguten Vorahnung lese ich die Nachricht auf ihrem iPad. Und auch, als ich in Susies Augen eine Mischung aus allerlei Emotionen sehe – Angst, Schock, Sorge, aber auch etwas wie Euphorie, dass dieser Moment tatsächlich gekommen ist –, lässt das vage bedrohliche Gefühl nicht nach. Obwohl wir bislang kinderlos sind, haben wir eine Zufriedenheit erreicht, die ich gern bewahren möchte. Und ich weiß sehr wohl, wie angreifbar sie ist.

3

Susie

Gabes erste Frage war: »Bist du ganz sicher, dass es wirklich sie ist?«

Ich nickte wortlos, meine Kehle war wie zugeschnürt.

»Aber … woher weiß sie das alles? Diese ganzen Details?« Er las die Nachricht noch mal. »Deinen Nachnamen. Den genauen Zeitpunkt ihrer Geburt.«

»Es gibt da dieses … Dokument.« Ich holte tief Luft. »Einen Brief, in den bei der Adoption alles reingeschrieben wird über die Mutter, die Geburt, den Adoptionsvorgang, damit das Kind später über seine Herkunft Bescheid weiß. Diesen Brief bekommen die Kinder, wenn sie alt genug sind, ihn zu verstehen.«

»Aber sie soll doch keinen Kontakt mit dir aufnehmen, oder?«

Ich schüttelte den Kopf. »Die Geburtsurkunde bleibt bis zum achtzehnten Geburtstag versiegelt. Aber ich bin nun mal leicht zu finden, vor allem, falls man ihr gesagt hat, ich sei Sängerin bei einer Band.« Wir sind natürlich auch bei Instagram, Facebook und Twitter, das ist Teil unserer PR-Arbeit.

Gabe runzelte die Stirn. »Dann sollen wir sicher auch nicht darauf reagieren, oder?«

»Also, ich werde das ganz bestimmt nicht ignorieren.« Meine Stimme klang schärfer als beabsichtigt. Aber Gabe, so großherzig er auch ist, erweist sich immer wieder als erstaunlich gesetzestreu, vor allem für einen Rockmusiker. »Und sie scheint ja auch meine Hilfe zu brauchen.«

»Na ja, sie hat dich indirekt um Hilfe gebeten. Was nicht unbedingt das Gleiche sein muss.« Als er meinen Blick bemerkte, fügte er hinzu: »Sie ist in der Pubertät, Susie. Da ist man oft melodramatisch, das war bei mir nicht anders.«

»Aber sie hat mit mir Kontakt aufgenommen, Gabe. Wie du selbst sagst: Das soll nicht passieren, es muss also einen massiven Grund geben. Außerdem …« Ich hielt inne, einen Moment lang zu überwältigt, um weiterzusprechen. Dann sagte ich leise: »Ich habe fünfzehn Jahre lang darauf gewartet. Unter keinen Umständen werde ich diese Chance jetzt versäumen.«

Es war eine sonderbare Trauer, denn sie wurde mit den Jahren stärker statt schwächer.

Am Anfang stand die Verzweiflung, dieses scheußlich schmerzhafte Gefühl, dass mir etwas entrissen wurde, das ich geliebt hatte. Dieser Schmerz ließ im Lauf der Zeit nach, wenn er auch nie vollständig verschwand. Eine Therapeutin sagte mir einmal, dass dieses Verlustgefühl nicht weniger wird, dass wir aber unser Leben darum herum gestalten können, so wie ein Baum um einen Nagel in seiner Rinde weiterwächst. Als meine Karriere als Musikerin Fahrt aufnahm – kein großer Glamour und kein Leben als Star, aber doch kontinuierlich und befriedigend –, empfand ich mein Leben als vollständiger. Und, klar, eine Zeitlang war ich wild drauf, arbeitete viel und feierte viel, was aber vielleicht auch Teil meiner Bewältigungsstrategie war.

Dann lernte ich Gabe kennen, und meine biologische Uhr machte sich bemerkbar. Vielleicht war es auch umgekehrt, und ich hatte unbewusst angefangen, nach einem Mann Ausschau zu halten, mit dem ich eine Familie gründen wollte. Einem Mann, der fürsorglicher und verlässlicher war als die klischeehaft zügellosen Rockmusiker, mit denen ich mich vergnügte, bis ich plötzlich keinen Spaß mehr daran hatte.

Ein Jahr nach unserer Hochzeit beschlossen wir gemeinsam, dass ich die Pille absetzen sollte. Und da ging es mit den Schmerzen los. Bei Myomen ist es offenbar häufiger so, dass die Symptome durch Hormongaben gedämpft werden. Weshalb man sich ausgerechnet dann beim Sex unwohl fühlt, wenn man häufig welchen haben will, um schwanger zu werden.

Als ich mich in Behandlung begab, hatte ich bereits recherchiert und wusste, was mich erwartete. Dennoch wurde das Ganze für mich erst richtig real, als ich es zu hören bekam. Verstärkte Menstruationsbeschwerden. Eingeschränkte Empfängnisfähigkeit. Erhöhte Gefahr von Fehlgeburten. Deshalb entschied ich mich für eine Operation und war selig, als ich drei Monate danach schwanger wurde. Ich kam mir vor, als habe ich dem Schicksal ein Schnippchen geschlagen.

Meine erste Fehlgeburt kam früh – ein jäher Schmerz im unteren Rücken, ich rannte aufs Klo, wo ich einen Fleck in meinem Höschen entdeckte, den ich im ersten verwirrten Moment für meine Regel hielt. Schreckliche Krämpfe, dann ein braunroter Schwall, der an Kaffeesatz erinnerte. Es dauerte ein paar Stunden, aber ich weinte noch Tage später.

Die folgenden Fehlgeburten passierten dann sukzessive zu späteren Zeitpunkten in der Schwangerschaft. Was besonders grausam war, weil ich jedes Mal glaubte, diesmal sei ich über den Berg. Beim zweiten Mal war es in der neunten Woche. Ich rief in der Klinik an, wo man mir sagte, ich solle zu Hause bleiben, es sei denn, die Blutung würde abnorm stark. Die hörten sich an, als hätte ich mir lediglich das Knie aufgeschlagen. Danach brauchte ich Ewigkeiten, bis ich mich wieder auf die Straße wagte. Ich wollte keine Mütter mit Babys sehen. Sogar der kleine Sitz am Einkaufswagen im Supermarkt trieb mir Tränen in die Augen.

Beim dritten Mal sagte man mir beim Ultraschall nach zwölf Wochen: Es tut uns sehr leid, es gibt keinen Herzschlag mehr. Gabe unkontrolliert weinen zu sehen, war fast das Schlimmste dabei. Ich bekam Medikamente zum Einleiten, und nach vier Stunden entsetzlicher Krämpfe verlor ich das Baby in unserem Badezimmer. Es hatte die Farbe und Größe einer Pflaume, war aber vollständig ausgebildet.

Danach hörte ich auf, etwaige Geburtstermine im iPad-Kalender zu vermerken; es deprimierte mich zu sehr, sie löschen zu müssen. Noch schlimmer war es, als einer Monate später plötzlich auf meinem Display auftauchte. Als ich nach sechzehn Wochen eine Ausschabung zur Entfernung von Geweberesten hatte, begann ich mich ebenso vor einer Schwangerschaft zu fürchten, wie ich sie herbeisehnte.

An einem besonders trostlosen Muttertag nach meiner dritten Fehlgeburt begann ich wieder an Sky zu denken. Denn bei allen Problemen und Fehlschlägen sagte ich mir, dass ich doch schließlich bereits Mutter sei – mein Kind war irgendwo draußen in der Welt. Meine Tochter. Und all die angestaute Liebe und Hoffnung auf ein weiteres Kind begann, sich auf sie zu konzentrieren, auf das bezaubernde kleine Wesen, das ich kurz im Arm halten durfte, bevor es seinen neuen Eltern übergeben wurde. (In Großbritannien kann man erst nach sechs Wochen offiziell in eine Adoption einwilligen. Manchmal werden Kinder aber für diese Zeitspanne bei einer Pflegeperson untergebracht.) Ich versuchte mir Sky in ihrer Schuluniform vorzustellen. Welche Sportarten machte sie wohl? Hatte sie rotblonde Haare wie ich, und wenn ja, waren sie lang und glatt wie bei mir in meiner Jugend? Würde sie so rebellisch sein wie ich, oder hatte sie das nicht von mir geerbt? War sie musikalisch?

Und manchmal, wenn ich ein Glas Wein zu viel getrunken hatte, begann ich wie besessen das Internet nach ihr zu durchforsten. Es war zu verlockend, beim Schreiben von Posts – Wow! Unsere neue Single hat schon über fünfhundert Plays! – eine Suche zu starten.

Anfänglich, wenn ich glaubte, sie gefunden zu haben, erzählte ich noch Gabe davon, und eine Zeitlang freute er sich mit mir. Erst als er dann einmal schweigend das Bild eines jungen Mädchens auf meinem iPad betrachtete, wurde mir klar, dass er das alles für Wunschdenken hielt. Was es natürlich auch war. Und von den ganz schlimmen Erlebnissen, die mir heute noch die Schamröte ins Gesicht treiben, wusste er gar nichts – von meinen betrunkenen Nachrichten auf Instagram oder Snapchat, die mit den Worten begannen: Hallo, du kennst mich nicht, aber …

Damit hörte ich auf, nachdem eine Vierzehnjährige meine private Nachricht öffentlich gepostet hatte, mit dem Kommentar: Wie krass gruselig ist das denn wohl?

Natürlich suchte ich nach Mädchen, die Sky hießen. Ich kam nicht auf die Idee, dass die neuen Eltern ihr einen anderen Vornamen gegeben hatten. Denn heutzutage gilt es als identitätsstärkend, den Geburtsnamen beizubehalten, das legt man den Adoptiveltern auch nahe. Bei meinen endlosen Recherchen hatte ich zwar gelesen, dass manche Eltern das umgehen, indem sie stattdessen den zweiten Vornamen des Kindes benutzen. Aber letztlich kommt das wohl eher selten vor.

Als ich nun merkte, dass die Eltern wirklich den Namen meiner Tochter geändert hatten, überlegte ich, was für Menschen das wohl waren. Auf jeden Fall offenbar solche, denen Anna besser gefiel als Sky.

Und genau das hatte Gabe nicht erfasst, als ich ihm die Nachricht zeigte. Ich freute mich nicht nur darüber, dass Sky und ich uns endlich gefunden hatten. Sondern ich hatte die Befürchtung, vor fünfzehn Jahren einen schrecklichen Fehler gemacht zu haben. Meine Entscheidung hatte ein riesiges Loch in meinem Leben hinterlassen, weil ich weggegeben hatte, wonach ich mich jetzt sehnte. Aber zumindest hatte ich mir bislang einreden können, dass ich etwas Gutes für meine Tochter getan hatte – dass Sky in einer liebevollen Familie geborgen aufwachsen konnte und gefördert wurde.

Doch wenn das gar nicht so war? Wenn sie bei Menschen gelandet war, die sie nicht zu schätzen wussten, sie womöglich nicht liebten? In Adoptionsforen war schließlich von so etwas immer wieder die Rede.

Und deshalb kam für mich nichts anderes infrage, als die Nachricht zu beantworten. Ich musste herausfinden, ob es meiner Tochter gut ging, auch wenn ich gegen die Regeln verstieß. Sogar wenn – und das machte mir weitaus mehr Angst, als Gesetze nicht einzuhalten – dabei all meine Geheimnisse, die ich bislang in meiner Ehe verborgen halten konnte, zum Vorschein kommen würden.

4

Anna

Scheiße Scheiße Scheiße.

In dem Moment, in dem ich die Nachricht abschicke, merke ich, dass sie total misslungen ist. In dem P. S. höre ich mich wie die klassische pubertierende Zicke an, wie eine verwöhnte egomanische Heulsuse, die rumjammert, weil sie nicht Love Island gucken darf oder so. Ich hätte mich nicht so jämmerlich anhören sollen, sondern mehr darauf vertrauen, dass Susie mich auf jeden Fall treffen will.

Aber vielleicht will sie das ja gar nicht. Vielleicht hat sie in den fünfzehn Jahren nicht ein einziges Mal an mich gedacht. Vielleicht hat sie eine glückliche Familie, ein paar süße Kinder, von denen sie nirgendwo Bilder postet, um die Kids aus der Öffentlichkeit rauszuhalten. Kann sein, dass ich nur eine knappe Abfuhr kriege, so was wie Danke für deine Nachricht. Ich bin nicht an Kontakt interessiert.

Jedenfalls bin ich ganz sicher, dass sie es ist. Durch den Lebensbrief war es leicht, sie zu finden. Und als ich Bilder von ihrer Band gesehen habe, gab es keinen Zweifel mehr. Wow, sie sieht ja aus wie ich. Und sogar eine viel coolere Version von mir, ehrlich gesagt … die rotblonden Haare stylish geschnitten mit Pony, strahlend weiße Zähne dicht am Mikro, als sie einen hohen Ton singt, Diamant-Nasenpiercing, das im Scheinwerferlicht glitzert. Auf der sonnenbraunen Schulter ein Schmetterlingstattoo, und ich denke: Im Ernst jetzt, das ist meine echte Mum?

Sie ist das absolute Gegenteil von der Frau, die ich jetzt Mum nenne. Susie ist etwa zwanzig Jahre jünger, und vor allem ihr Lächeln macht mich völlig fertig. Auf allen Bildern strahlt sie. Meine Mutter dagegen hat von früh bis spät diesen säuerlichen, missbilligenden Gesichtsausdruck – zumindest mir gegenüber.

Jedenfalls seit ich ihr erzählt habe, was wirklich abgeht mit dem Mann, den ich »Dad« nennen muss.

Susie Jukes. Ich lasse mir den Namen auf der Zunge zergehen. Sie ist verheiratet, hat aber den Namen ihres Mannes nicht angenommen. Der sieht noch cooler aus als sie – Gabriel Thompson, der sich aber »Gabe« nennt. Wenn man ihn googelt, kriegt man seitenweise Titel von Songs, die er geschrieben hat, und Schwärmereien über ihn. Sind zwar etwa zwanzig Jahre alt, aber trotzdem.

Werden die mit mir reden?

Werden sie mir glauben?

Werden sie mich vielleicht sogar lieben?

Erwarte nicht zu viel. Dass du geschrieben hast, ist schon ein Riesenschritt.

Außerdem hat sie zurzeit viel zu tun, morgen treten sie im Roundhouse auf. Als Vorband zwar, aber bei ihrem letzten Gig in Camden waren sie noch in einem kleinen Pub. Ich weiß alles über ihre Musik, ich hab den ganzen Feed gelesen, bis zu den Anfängen von Silverlink vor zwei Jahren.

Ich würde das Konzert ja gern anklicken – 371 Personen sind interessiert –, aber dann wird das Monster es sehen. Der besteht nämlich darauf, dass Mum und er in den Social Media mit mir befreundet sind. Zu deiner Sicherheit, Anna. Damit wir sehen können, ob du irgendwie gefährdet bist.

Aber das ist natürlich nur eine Ausrede. In Wirklichkeit will der verhindern, dass ich irgendwo was über die Familie ausplaudere.

Wie er mit dem Lebensbrief umgegangen ist, war auch typisch. Auf der ersten Seite hatte die Sozialarbeiterin geschrieben: Wann du ihn dann bekommen wirst, liegt bei deinen Eltern, aber ich vermute, wenn du etwa zwölf bist. Einige Teile könnten belastend für dich sein. Deshalb schlage ich vor, dass du den Brief deinen Eltern zeigst, wenn du ihn gelesen hast, damit ihr gemeinsam darübersprechen könnt.

Zwölf? Sie hatte wohl nicht geglaubt, dass der noch drei Jahre länger wartet, dann in mein Zimmer gestapft kommt – er klopft inzwischen zumindest an, wartet aber nicht auf Antwort – und den Brief aufs Bett wirft, wo ich gerade meine Hausaufgaben mache.

Ich schaute auf die Blätter. »Was ist das?«

»Ein Brief. Von der Sozialarbeiterin, die du zum Zeitpunkt der Adoption hattest.«

Es war nur ein Stapel gefalteter Blätter ohne Umschlag. »Du hast ihn gelesen«, sagte ich.

»Ja, ich habe ihn durchgesehen. Um sicherzugehen, dass nichts darin dir schaden könnte.« Sein Blick war kalt. »Aber es stand nichts drin, was ich nicht schon gewusst hätte.«

»Warum hast du ihn mir nicht früher gegeben?«

»Ich fand es bislang nicht angebracht.« Was so viel hieß wie: Ich wollte die absolute Kontrolle haben.

»Und?«, fragte er ungeduldig, als ich die Blätter nicht anrührte. »Willst du ihn nicht lesen?«

»Doch, klar.«

Ich wartete darauf, dass er abhaute, er wartete, dass ich den Brief las. Demonstrativ steckte ich meine Kopfhörer in die Ohren und beschäftigte mich wieder mit den Hausaufgaben.

Er zuckte mit den Schultern. »Dann lass dir Zeit.«

Die Bemerkung war völlig überflüssig, aber er musste wie immer das letzte Wort haben. Aus dem Augenwinkel beobachtete ich, wie er rausging, achtete darauf, keinerlei Gefühle zu zeigen, bis er verschwunden war. Aber ich war schon total aufgeregt.

Vielleicht kann ich den Brief benutzen, um sie zu finden. Vielleicht kann sie mir helfen.

5

Gabe

Ich schlage Susie die Methode »Erst mal drüber schlafen« vor: eine Antwort schreiben, die aber erst am nächsten Tag abschicken. Bei diesem heiklen Thema sollte man nicht voreilig handeln.

Zu meinem Erstaunen willigt sie ein. Sie beantwortet Annas Nachricht, speichert sie als Entwurf ab, und wir besprechen sie gemeinsam.

Liebe Anna,

es ist möglich, dass ich tatsächlich deine leibliche Mutter bin. Ich würde dich sehr gern treffen, vorausgesetzt, dass deine Eltern damit einverstanden sind. Es gibt so viel zu erzählen. Aber fühl dich bitte von meiner Seite aus nicht gedrängt.

Viele Grüße

Susie

Ich habe relativ viel zu diesem Text beigetragen. Liebe Anna: ausgeschlossen, sie mit dem Namen Sky anzusprechen, der seit fünfzehn Jahren nicht benutzt wurde. Vorausgesetzt, dass deine Eltern damit einverstanden sind: Wir hatten erörtert, ob das Wort »Adoptiveltern« richtiger wäre. Aber dann hatten wir in Adoptionsforen gelesen, dass das nicht nur als beleidigend gilt, sondern auch nicht mit der Rechtslage übereinstimmt: Die neuen Eltern haben nach der Adoption sämtliche elterlichen Rechte und Pflichten. Und da Anna erst fünfzehn ist, müssen wir uns der Zustimmung der Eltern versichern. Susie schien das nicht wichtig zu finden, nahm es aber in den Text auf. Ich vermute, weil sie selbst schon früh in ihrer Jugend entschieden hat, was sie ihren Eltern erzählt und was nicht, findet sie das bei ihrer Tochter auch okay.

Der Ton der Nachricht war ebenfalls mein Vorschlag: eher sachlich als emotional, weil Letzteres das Mädchen überfordern könnte. Also Viele Grüße und nicht Alles Liebe, was Susie sonst immer schreibt.

Dann fängt Susie an, fieberhaft das Internet zu durchforsten. Als Erstes schaut sie sich Annas Profil auf Facebook an, wo die Nachricht geschrieben wurde, aber es verrät seltsamerweise so gut wie gar nichts. Alles ist auf Privat gestellt, es gibt kein Foto, und sogar der Name besteht nur aus ihren Initialen, AM.

»Bitte sag mir, dass das kein furchtbarer Betrug ist.« Susie schaut mich ängstlich an, als sie mir die Seite zeigt.

»Vielleicht sehen die Facebook-Profile von Jugendlichen heutzutage so aus. Sind die nicht ohnehin inzwischen eher auf TikTok oder Discord?« Wie haben es häufig mit Scams zu tun – nicht zu vermeiden, wenn man eine öffentliche Person ist –, aber dieser Account wirkt auf mich eher wie meine eigene private Facebook-Seite in der Zeit, als wir noch mit der Band auftraten. Ich hatte damals einen Account, der nur zugänglich für Familie und Freunde war, streng getrennt von dem für die Band.

»Vielleicht hat sie einen zweiten«, sage ich.

Susie gibt Annas Namen in die Suchleiste ein und sagt im nächsten Moment: »Das könnte sie sein. Ja … oh mein Gott, schau mal, Gabe …«

Sie dreht das iPad zu mir. Auch hier ist alles auf Privat gestellt bis auf den Namen und das Profilbild: ein junges Mädchen, das bei einer Party eine Wunderkerze schwenkt. Das Mädchen trägt eine Beanie, die ihren Kopf bedeckt, aber die langen rotblonden Haare fallen ihr über die Schultern, und es gibt ohnehin keinerlei Zweifel: die grünen Augen, die Wangenknochen – Anna sieht aus wie eine jüngere Version meiner Frau.

»Sie ist wunderhübsch, oder?«, sagt Susie schließlich.

Ich nicke. »Hat gute Gene von dir mitbekommen.«

»Das ist auch das Einzige«, erwidert Susie, klingt aber nicht bitter, sondern ergriffen.

»Warum hat sie wohl diesen Fake-Account benutzt, um dir zu schreiben?«

»Keine Ahnung.« Susie bleibt einen Moment stumm und fügt dann hinzu: »Vielleicht wollte sie sichergehen, dass niemand von ihrer Nachricht an mich weiß. Was immer auch das Motiv sein mag – sie will, dass unser Kontakt geheim bleibt.«

Am nächsten Morgen braucht Susie eine ganze Weile, bis sie sich überwinden kann, die Nachricht zu senden. »Geschafft«, sagt sie schließlich und starrt auf ihr iPad. »Aber bestimmt wird sie nicht schnell antworten. Sie ist ja sicher in der Schule, oder?« Es hört sich an, als müsse Susie sich selbst zur Geduld ermahnen.

Nach dem Lunch laden wir das Equipment für den Gig ins Auto und fahren zum Roundhouse. Susie ist sehr still während der Fahrt. Das kommt vor Auftritten häufig vor, weil sie ihre Stimme schonen will, aber heute fühlt sich das Schweigen anders an. Ich selbst bin auch nicht gesprächig, weil ich darüber nachdenke, wie sich der Kontakt mit Anna entwickeln wird und was er für uns bedeutet.

Als wir durch Chalk Farm fahren, sagt Susie unvermittelt: »Bitte halt mal an, Gabe.«

Ich fahre an den Straßenrand und schaue Susie an. Tränen rinnen ihr über die Wangen. »Was ist los?«, frage ich beunruhigt.

Sie zeigt auf ein junges Pärchen an der Straße. Der Vater trägt sein Baby mit einem Wickeltuch auf der Brust. Das Kind ist schon alt genug, um in die Welt zu spähen, und seine winzige Strickmütze ist verrutscht. Die Mutter zieht sie zurecht, und das Baby strahlt sie fröhlich an.

»Entschuldige«, murmelt Susie tränenerstickt. »Manchmal tut es einfach so scheußlich weh.«

»Ich weiß.« Im Lauf der Jahre habe ich gelernt, dass ich wirklich nur das sagen kann. Nichts anderes macht es erträglicher, nichts anderes gibt Susie Hoffnung. Ich kann einfach nur für sie da sein und ihr vermitteln, dass ich weiß, was sie durchmacht. Außerdem, ich mache es ja selbst auch durch. Bei den ersten Fehlgeburten habe ich geweint wie ein Kind. Und inzwischen ist es so, dass wir beide diese Situation kaum noch ertragen können. Trauer ist so anstrengend. Und es erneut zu versuchen, ist auch irrsinnig anstrengend. Susie lässt sich wenig anmerken, was sie als Bühnenmensch auch gewohnt ist. Aber ich spüre, wie viel Kraft es sie kostet.

Behutsam sage ich: »Suze … wäre es möglich, dass ein Treffen mit Anna etwas verschlimmert? Also dass die ganze Fertilitätsthematik noch schmerzhafter für dich wird, wenn du deine Tochter siehst und dir klar wird, dass du ihre Kindheit nicht miterlebt hast?«

Fertilitätsthematik … wir benutzen selbst nur sachliche medizinische Begriffe, nicht einmal Wörter wie Kinderwunsch oder – Gott behüte! – Unfruchtbarkeit, was eine unsensible Krankenschwester einmal sagte und was für uns wie die Strafe einer zornigen Göttin klang.

»Ja«, sagt Susie leise. »Das wäre schon möglich. Aber wir müssen es trotzdem durchziehen. Für sie.«

Ich bin dankbar, dass Susie »wir« sagt.

Große Banner hängen am Roundhouse, der Name von Silverlink steht unter dem der Hauptband. Wir fahren zum Hintereingang, laden das Equipment aus und fangen mit dem Aufbau an. Nach und nach trudelt der Rest der Band ein, und sie machen Soundcheck. Viel Geld verdient Silverlink nicht an diesem Abend – sogar bei mittelgroßen Veranstaltungsorten wie diesem beläuft sich die Gage nur auf ein paar hundert Pfund, von denen der größte Teil an Promoter und Agentur geht. Aber dieses Konzert ist wichtig fürs Renommee der Band, auch wenn nur ein Drittel der Halle gefüllt ist, als Silverlink auf die Bühne kommen und mit Applaus begrüßt werden.

Beim dritten Song, »Red Rusty Mountain«, kommt Susie plötzlich ins Stocken. Im ersten Moment denke ich, dass sie den Text vergessen hat, aber sie ist ein Top-Profi, so was würde ihr nie passieren. Dann merke ich, dass sie wie gebannt ins Publikum starrt. Ich stehe seitlich an der Bühne mit der Gitarre für den nächsten Song, kann deshalb nicht erkennen, was los ist.

Als ich einen Schritt vortrete, sehe ich es.

Anna steht ganz vorn. Sie sieht noch hübscher aus als auf ihrem Profilbild – der Pony kürzer, die rotblonden Haare mit einem Stoffhaargummi zurückgebunden, wie Susie es eine Zeitlang auch machte. Und Anna sieht der früheren Susie zum Verwechseln ähnlich.

Einen Augenblick lang starren die beiden sich an, als hätten sie die Welt um sich her vergessen. Dann setzt das Schlagzeug ein, Susie singt weiter, als sei nichts gewesen. Besorgt behalte ich sie ein paar Sekunden im Auge. Als ich wieder ins Publikum schaue, ist Anna verschwunden.

6

Anna

Hi, Susie,

tut mir echt leid, dass ich so überraschend bei deinem Konzert aufgetaucht bin. Ich wollte dich einfach mal sehen und dachte, dass du mich wegen des Scheinwerferlichts nicht erkennen könntest! Hab mich sofort nach hinten verzogen, um dich nicht mehr abzulenken.

Tut mir auch total leid, dass ich nicht bis zum Ende bleiben und dann mit dir sprechen konnte. Die Wahrheit ist: Meine Eltern wussten nichts davon, dass ich bei dem Konzert war. Sie hätten mir niemals die Erlaubnis gegeben, alleine auszugehen, und schon gar nicht zu einem Auftritt von dir. Wäre ich länger geblieben, wären sie dahintergekommen, wo ich war.

Wenn du mich immer noch treffen möchtest – wie wäre morgen um drei? An der Varley Parade in Colindale gibt es ein Café, Bustos. Ich habe aber leider nur eine halbe Stunde Zeit.

Anna x

7

Susie

Es wunderte mich nicht, dass sie in London lebte. Colindale gehörte zu Barnet, wo ich damals gewohnt hatte, und das dortige Jugendamt hatte die Adoption organisiert. Ich war auch nicht überrascht, dass sie heimlich zu meinem Auftritt gekommen war. Diese Eltern schienen mir ganz klar der Grund dafür zu sein, dass sie unglücklich war.

So deutete ich die Nachricht, aber Gabe sah das etwas anders. »Es war mitten in der Woche«, gab er zu bedenken. »Ich denke, die meisten Eltern würden eine Fünfzehnjährige nicht in ein Konzert gehen lassen, wenn am nächsten Tag Schule ist. Und schon gar nicht alleine.«

»Aber es hört sich so merkwürdig an, findet du nicht?«, wandte ich ein. »›Die Erlaubnis gegeben‹? Das klingt total autoritär, finde ich. Und wie hätten denn die Eltern herausfinden sollen, wo sie war? Da stimmt doch auch was nicht.«

»Vielleicht liest du da zu viel hinein«, sagte Gabe vorsichtig. »Willst du sie also wirklich treffen?«

»Aber sicher.« Ich sah ihn eindringlich an. »Als ich sie da im Publikum entdeckt habe, Gabe – das war wie ein elektrischer Schlag. Als kämen wir nach all den Jahren in Berührung. Ich könnte gar nicht mehr zurück, selbst wenn ich es wollte.«

Er nickte. »Ja, okay. Verstehe ich.«

Ich griff nach meinem iPad, zögerte jedoch. Es war so ein gigantischer Schritt. »Aber ich habe schon Angst«, gestand ich. »Wenn ich sie jetzt gar nicht mag? Oder sie mich nicht?«

Gabe drückte mir beruhigend die Schulter. »Du musst einfach auf dein Bauchgefühl vertrauen. Das wird schon, denke ich.«

Aber er sah trotzdem besorgt aus.

8

Anna

Ich habe genau vierzig Minuten. Das Monster glaubt, ich sei in der Theater-AG, weiß aber nicht, dass die abgesagt wurde, weil die Lehrerin krank ist und es keine Vertretung gibt. Theater ist für ihn ohnehin kein vernünftiges Schulfach.

Weil ich so ein Gefühl habe, dass Susie bestimmt früher da sein wird, beeile ich mich. Und als ich durchs Fenster spähe, sehe ich sie ganz hinten in der Ecke sitzen, an dem Tisch, den ich auch ausgesucht hätte.

Und ihn. Sie hat ihren Mann mitgebracht. Das bringt mich einen Moment lang aus dem Tritt. Was hat der denn hier zu suchen?

Aber dann wird mir klar, dass das eigentlich ganz gut ist. Wenn ich etwas erreichen will, ist es besser, wenn die beiden sich einig sind.

Außerdem, sage ich mir, sind schließlich nicht alle Ehemänner wie das Monster.

»Hi, Susie«, sage ich nervös, als ich vor den beiden stehe. »Und du musst Gabe sein.«

Sie springt auf, und es gibt einen etwas peinlichen Moment, in dem wir beide nicht wissen, ob wir uns umarmen oder die Hand geben sollen. Dann drücken wir uns irgendwie beide Hände, was sich gut anfühlt. Es kommt mir vor, als wolle Susie mir zeigen, dass sie nervös ist, sich aber auch wünscht, dass wir das loswerden und eine andere Ebene finden.

Oh Mann, sie ist echt wunderschön.

Gabe und ich geben uns höflich die Hand, ihn finde ich auch sympathisch. Er lächelt freundlich, und dabei zeigen sich kleine Fältchen in den Augenwinkeln. Bethany aus meiner Schule meint, daran merkt man, ob ein Mann eine Schönheits-OP hatte. Aber bei ihm kann das nicht sein, er wirkt noch so jungenhaft. Und ist auch so einfühlsam, dass er auf mein Erstaunen reagiert.

»Ich hoffe, es macht dir nichts aus, dass ich mitgekommen bin«, sagt er. »Wenn es dir lieber ist, kann ich euch beide auch alleine lassen.«

»Ich habe Gabe gebeten mitzukommen«, erklärt Susie. »Weil ich, ehrlich gesagt, nicht wusste, wie ich klarkommen werde. Und ich weiß es immer noch nicht …« Sie klingt benommen, aber irgendwie glücklich, und es dauert einen Moment, bis mir klar wird: Ich bin der Grund dafür. Das ist ein fantastisches Gefühl.

Deshalb sage ich, dass ich es toll finde, Gabe kennenzulernen. Und es ist auch praktisch, weil er unsere Bestellungen aufnimmt – Tee für mich, Cappuccino für die beiden – und zum Tresen geht, während Susie und ich versuchen, unsere Nervosität loszuwerden.

Gabe stellt sich in der langen Schlange am Tresen an, und ich denke, dass selbst der coolste Junge in meiner Schule bestimmt sonst was gäbe für diese Jeans und diese Sneakers.

Zuerst sagen Susie und ich nur so was wie »wow« und »wir sehen uns so ähnlich« und »wo wohnst du?«. Aber dann reden wir auch über Details wie meine Großeltern – ihre Eltern sind geschieden, beide haben wieder geheiratet und leben im Ausland. Sie scheint kein enges Verhältnis zu ihnen zu haben. Dann frage ich, ob ich Halbgeschwister habe, aber ich habe keine. Ihr Nein hört sich irgendwie wehmütig an. Sie will wissen, ob ich wie sie Linkshänderin bin. Bin ich nicht, aber unsere Hände sind total ähnlich, mit kurzen Fingern und hypermobilem Daumen. Als Gabe mit den Getränken zurückkommt, lacht Susie glücklich, und mir fällt auf, dass wir auch das gleiche Lachen haben, so eine Art trötendes Schnauben. Henry sagt immer, es hört sich an wie Schweinegrunzen. Aber ich finde, es klingt froh und ausgelassen und frei.

Wir plaudern ein bisschen, dann fragt Gabe: »Wissen deine Eltern, dass du hier bist, Anna?« Und mir wird plötzlich klar, dass er wahrscheinlich für die Formulierung vorausgesetzt, deine Eltern sind einverstanden in der Nachricht verantwortlich ist.

Wenn Susie alleine gekommen wäre, hätte ich ihr vielleicht alles erzählt. Aber das wäre womöglich ein Riesenfehler gewesen. Ich muss davon ausgehen, dass das Monster alles erfährt, was ich ihnen sage. Dem Adoptivkind glaubt ohnehin keiner, diese Erfahrung habe ich schon.

Aber ich muss diesen sympathischen, intelligenten, aufgeschlossenen Menschen auch irgendwie klarmachen, dass er ein Monster ist.

Ich schaue auf meinen Tee, den ich nicht trinken werde, und überlege. Es steht zu viel auf dem Spiel.

»Meine Eltern sind der Grund, warum ich hier bin«, sage ich schließlich. »Wegen ihnen bin ich so verzweifelt.«

9

Gabe

Und dann kommt alles raus, erst etwas zögerlich, dann immer schneller. Ihre Eltern sind streng religiös, gehören irgendeiner speziellen irischen Kirche an. Vor jedem Essen wird ein Dankgebet gesprochen, und wenn Anna es vergisst, wird ihr das Essen weggenommen. Der leibliche Sohn, Henry, bekommt immer vor Anna Nachschlag, weil er größer und in der Schwimmmannschaft ist. Letzte Woche hat der Vater zu Anna gesagt, sie könne sich glücklich schätzen, dass sie bei ihnen und nicht im Kinderheim gelandet ist.

»Ich will aber deshalb gar nicht jammern«, sagt Anna. »Wollte euch nur die Umstände erklären.« Sie zeigt uns ihr Handy. Auf dem Display ist das Symbol einer Sanduhr zu sehen und die Worte: Diese Funktion bleibt bis 20.00 ausgeschaltet.

»Überwachungsapp für Eltern«, erklärt Anna sachlich. »Vor acht Uhr abends komme ich nicht ins Internet. Und sie können damit meinen Aufenthaltsort ausfindig machen, meine Nachrichten lesen und alle Websites blockieren, gegen die sie was haben. Ich kenne Zwölfjährige, die so was auf ihrem Handy haben müssen, aber ich bin fünfzehn! Zum Glück hab ich eine Freundin, die sich damit auskennt und mir gezeigt hat, wie ich es umgehen kann. Ach ja, und wenn ich kein Guthaben mehr habe oder der Akku leer ist, muss ich sofort nach Hause, sonst kriege ich nach der Schule eine Woche Hausarrest.«

Susie wirft mir einen gequälten Blick zu, und ich weiß sofort, was sie denkt: So ein Leben wollte ich nicht für sie.

Anna entgeht der Blick auch nicht. »Denk bitte nicht, dass ich dir irgendwas vorwerfe«, sagt sie hastig. »Es ist kein Problem für mich, dass du mich zur Adoption freigegeben hast. Ich hätte ja auch eine Traumfamilie bekommen können. Hab einfach Pech gehabt.«

Susie sieht aus, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen, und ich sage ruhig: »Weißt du, Anna, ich habe aber den Eindruck, dass du trotz aller Umstände eine stabile und fähige junge Frau bist. Das ist doch eine tolle Leistung.«

Sie wirft mir einen Seitenblick zu. »Danke.«

Ein längeres Schweigen entsteht, und schließlich sage ich: »Ich würde dich gern fragen, was du dir von dem Kontakt mit uns erhoffst. Es ist natürlich sehr schön, dich kennenzulernen … aber du sagst, du bist wegen deiner Eltern hier. Gibt es etwas Bestimmtes, bei dem wir dir helfen können?«

»Na ja, ich will vor allem mehr herausfinden, wer ich eigentlich bin. Und vielleicht eine Beziehung zu meiner leiblichen Mutter aufbauen.« Anna sieht Susie an. »Natürlich nur, wenn du das auch willst. Es wäre so toll, jemanden zu haben, mit dem ich über alles Mögliche reden kann.«

»Aber ja!«, sagt Susie. »Das fände ich wunderbar.«

Anna zögert. »Es gibt da allerdings noch was. Was ziemlich Spezielles.«

»Und was ist das?«, frage ich.

»Meine Schule.« Anna schaut uns ernsthaft an, und ihre klaren grünen Augen gleichen denen von Susie so sehr, dass ich mich zwingen muss, nicht liebevoll zu lächeln. »Sie haben mich an einer extrem strengen Schule untergebracht, Northall. Ich möchte so gern in der nächsten Klasse an einer Schule sein, wo ich Darstellende Künste als Fach nehmen kann. Meine Leidenschaft ist Musik, vor allem Gesang. Aber ich darf das alles nicht, und es ist ein Herzenswunsch von mir.«

Susie erwidert nichts, sondern legt nur ihre Hand auf die von Anna. Für Susie ist Musik lebenswichtig und die Vorstellung, dass sie einem verboten wird, sicher unerträglich.

»Was meinst du denn mit ›ich darf das alles nicht‹ …?«, hake ich nach.

»Ich darf Musik nicht als Fach in der Schule nehmen, bekomme auch keinen privaten Unterricht und soll mich sogar als Hobby nicht damit beschäftigen«, antwortet sie tonlos. »Weil mich das ablenkt, sagen sie. Und weil es Henry bei den Hausaufgaben stört, wenn ich irgendein Instrument übe. Ich dachte, ich könnte ja mit YouTube lernen, habe mein Taschengeld gespart und mir eine Gitarre gekauft. Die haben sie mir weggenommen.«

»Oh«, sage ich schockiert. »Das ist natürlich echt blöd … aber ich weiß jetzt nicht, wie wir da helfen könnten …«

»Ihr seid doch beide Profimusiker«, erwidert Anna. »Vielleicht könntet ihr mal mit meinen Eltern reden? Ihr seid ja immerhin ein Beispiel dafür, dass man von Musik leben kann. Dass Musik nicht nur Ablenkung von Jura oder Steuerrecht oder irgendetwas ist, was ich deren Meinung nach studieren soll.«

»Also …« Ich will gerade erklären, dass man mit Musik heutzutage kein Geld mehr verdienen kann, aber Susie ist schneller.

»Aber natürlich, Anna, wir freuen uns, wenn wir etwas für dich tun können. Das machen wir sehr gerne für dich.«

Auf der Heimfahrt ist Susie so still, als sei sie noch nicht bereit, in die reale Welt zurückzukehren; als sei sie komplett versunken in Erinnerungen an Anna.

Ich schweige auch, will Susie nicht aus ihren Gedanken reißen.

»Also«, sagt sie schließlich, »wie war dein Eindruck?«

»Von Anna? Ich finde sie … toll. Wirklich angenehm.«

Die Antwort ist aufrichtig. Meine Befürchtungen, dass Anna sich dramatisch aufführen und Susie Vorwürfe machen könnte, haben sich zum Glück nicht bewahrheitet. Trotz allem, was Anna uns über ihr Elternhaus erzählt hat, wirkt sie auf mich sympathisch, vernünftig und bodenständig. Ihr trockener Humor und ihre Selbstironie ließen ihre Geschichten umso glaubwürdiger wirken.

Und wenn ich das schon so empfinde, wird mir klar, sind Susies Gefühle bestimmt noch tausendmal intensiver.

»Schön, dass du sie magst.« Susies Stimme klingt immer noch seltsam entfernt. »Und ich bin so froh, dass sie sich an uns gewendet hat … dass ich wirklich etwas für sie tun kann.«

Ich zögere einen Moment mit der Antwort. Dass wir ihre Eltern überreden sollen, ihr eine Musikausbildung zu erlauben, finde ich problematisch. »Wenn die Eltern sich darauf einlassen … die sind vielleicht nicht so begeistert, wenn sich zwei Fremde in ihre Erziehungsmethoden einmischen.«

»Ich bin ja wohl kaum eine Fremde!«, erwidert Susie vehement.

»Natürlich nicht. Aber wer weiß, ob die das so sehen.« Wir sind bei uns angekommen, und ich parke den Wagen vor dem Haus.

»Es stimmt doch, was Anna sagt: Wir könnten einen anderen Blickwinkel beitragen«, wendet Susie ein. »So wie wenn man sich von einem Mentor Beratung für die Berufswahl geben lässt. Sie könnte ein bisschen praktische Erfahrung sammeln, in einem Studio zum Beispiel. Dagegen können die doch nichts haben. Und wir haben so viele Kontakte.«

Im Haus setzt Susie sich als Erstes an die Kücheninsel und greift nach ihrem iPad. »Ich schau mir diese Schule mal an … echt, kannst du dir vorstellen, dass jemand deine gesamten Internet-Aktivitäten überwacht? Diese Mulcahys müssen doch der reinste Albtraum sein … hier, ich hab die Schule.«

Ich schaue Susie über die Schulter. Die Northall Academy verkündet auf ihrer Website, ihr Ziel sei es, das volle Potenzial ihrer Schülerinnen und Schüler zur Geltung zu bringen.

Und die Schule hat eine staatliche Exzellenzauszeichnung bekommen.

»Das bedeutet erst mal rein gar nichts«, sagt Susie, als ich sie darauf hinweise. Sie selbst war – nachdem sie bei diversen traditionellen Bildungseinrichtungen rausgeflogen war – auf einer der berühmtesten liberalen Schulen des Landes, Jordans, gewesen. Dort wurden Lehrer mit Vornamen angesprochen, der Unterricht war freiwillig, und die Regeln wurden von der Schülerschaft selbst festgelegt. Susie fühlte sich sehr wohl dort, aber ich habe schon länger den Verdacht, dass sie deshalb Gesetze und Regeln – von Tempolimit bis Zollerklärung – lediglich für Angebote hält.

»Ich schau mal, ob ich in den Elternforen was dazu finde«, fügt Susie hinzu.

Sie scrollt einige Beiträge durch, hört dann auf und starrt mich mit großen Augen an.

»Was ist?«

»Das ist so ein Nulltoleranz-Ort. Unpopuläre Schule, die von einem neuen Direktor umgestaltet wurde. Hier ist viel die Rede von einem Verhaltenskodex, den der fordert. Hör dir das mal an: Ich lasse im Unterricht nicht die Schultern hängen. Ich sitze aufrecht, um den anderen Respekt zu bezeugen. Ich halte Augenkontakt mit den Lehrkräften, wenn sie sprechen. Wenn ich etwas fallen lasse, hebe ich es erst auf Anweisung der Lehrkräfte auf. Ich drehe mich nicht um, wenn ich hinter mir Geräusche höre. In den Pausen rede ich auf den Fluren nur, wenn ich von Lehrkräften angesprochen werde. Dann lächle ich und antworte mit einem fröhlichen ›Guten Tag, Sir!‹ oder ›Guten Morgen, Miss!‹. Ich bin nicht in größeren Gruppen unterwegs, höchstens zu zweit. Das klingt ja entsetzlich!«

»Aber Exzellenzrating.«

»Das ist auf keinen Fall das Richtige für Anna«, sagt Susie entschieden. »Für mich wäre das auch die falsche Schule gewesen. Und was, bitte schön, sagt das über die aus, wenn sie Anna auf so eine Schule schicken?«

»Dass sie großen Wert legen auf eine gute Schulbildung?«

Aus Susies Blick schließe ich, dass ich mich aus ihrer Sicht gerade nicht unterstützend genug verhalte. »Schau, ich widerspreche dir nicht«, füge ich hinzu. »Ich denke nur, wir sollten hier mit großer Vorsicht handeln. Diese Leute denken sonst vielleicht, wir tauchen da einfach so auf und kritisieren ihren Erziehungsstil.«

»Und genau das tun wir auch. Warum sollen wir die nicht damit konfrontieren?«

»Weil sie uns dann womöglich sagen, wir sollten abhauen, und dann kannst du gar keinen Kontakt mehr zu Anna haben. Wenn du das taktvoll angehst, sind sie vielleicht sogar dankbar für Hinweise. Schließlich möchte man doch als Elternteil nicht hören, dass das eigene Kind unglücklich ist. Ich denke, wir sollten deutlich machen, dass wir nicht die Autorität der Mulcahys untergraben wollen. Sondern dass wir engagierte Menschen sind, die ihnen nur mitteilen möchten, warum Anna Kontakt zu uns aufgenommen hat.«

Susie runzelt die Stirn. »Aber damit verpetzen wir sie doch.«

»Ich halte das einfach für erfolgversprechender, als mit Vorwürfen anzutreten.«

Susie schweigt einen Moment. »Du hast wahrscheinlich recht«, räumt sie dann ein. »Es ist einfach nur … nach so langer Zeit … das Bedürfnis, sie zu beschützen …«

»Ich verstehe dich«, sage ich mitfühlend.

Sie holt tief Luft. »Okay. Gehen wir’s an.«

Susie holt die Serviette heraus, auf der Anna die Nummer ihres Vaters notiert hat, und schreibt eine Nachricht auf dem Handy.

»Entschuldigen Sie bitte, dass wir uns so überraschend bei Ihnen melden«, liest sie dann vor. »Ich bin Susie Jukes, Annas leibliche Mutter. Anna hat sich mit einem Anliegen bei uns gemeldet, und wir würden Sie gerne treffen, um es zu besprechen.«

Ich nicke. »Ja, finde ich gut.«

Sie hat die Nachricht kaum abgeschickt, als das Handy klingelt.

»Großer Gott«, sagt Susie mit Blick aufs Handy. »Die Nummer von eben. Das nenne ich mal schnell …« Sie zögert einen Moment, meldet sich dann. »Hallo?«

Ich höre eine Männerstimme, verstehe aber nichts, bekomme nur Susies Reaktion mit. »Das war nicht …«, »Augenblick mal, also …«, »Ich finde, Sie sind …« Dann, zunehmend aufgebrachter: »Nein, jetzt hören Sie mir mal zu …«

Dann wird das Gespräch abrupt beendet, und sie starrt mich verstört an.

»Das war Ian Mulcahy. Er sagte, wir hätten keinerlei Recht, mit ihr zu sprechen, bevor sie achtzehn ist, und wenn wir das noch mal machen, geht er zur Polizei. Dann hat er aufgelegt.«

»Großer Gott.« Ich bin auch schockiert. »Aber … vielleicht ist das sehr verletzend für diese Leute. Dass sie dich gesucht hat … fühlen sich wahrscheinlich zurückgewiesen …«

»Würdest du bitte mal aufhören, dich auf deren Seite zu stellen?« Dann: »Tut mir leid. Aber so war es nicht, ehrlich. Der Mann klang grauenhaft. Wie ein wütender kleiner Feldwebel, der seine Autorität bedroht sieht. Der glaubt, er kann sich mit Aufplustern und Herumschreien durchsetzen.«

»Das Thema Schule kam also gar nicht zur Sprache.«

Susie schüttelt den Kopf. »Aber weißt du …«, sagt sie langsam. »Ich glaube, es geht in Wirklichkeit gar nicht um Schulen oder Musikunterricht oder Software auf dem Handy. Ich habe das Gefühl, dass da irgendetwas anderes vor sich geht … etwas viel Schlimmeres. Etwas, das Anna uns noch nicht anvertrauen möchte.«

»Was meinst du damit?«

»Ich kann es nicht genauer sagen. Aber der war so abwehrend. Als hätte er etwas zu verbergen. Wenn es nun das Schlimmste überhaupt ist? Wenn …« Sie schlägt die Hände vors Gesicht, bringt die Worte nicht über die Lippen. »Oh Gott, Gabe – was habe ich nur getan