Die Geschichte eines einfachen Mannes - Timon Karl Kaleyta - E-Book

Die Geschichte eines einfachen Mannes E-Book

Timon Karl Kaleyta

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Beschreibung

Aus dem Leben eines Taugenichts Unser Erzähler ist vom Glück geküsst. Er, der Junge aus einfachem Hause, spürt, dass das Schicksal Großes mit ihm vorhat. Erst als Helmut Kohl 1998 die Wahl verliert, zeigt seine Zuversicht Risse. Wird nun alles schlechter? Nach dem Abitur macht er sich voller Euphorie und dennoch maximal besorgt auf die Reise nach ganz oben. Um ein Haar erlebt er mit seiner Band den großen Erfolg, beginnt beinahe eine steile akademische Karriere, fast findet er das Glück in der Liebe und tänzelt dabei ständig am Abgrund. Doch wenn man ihm glauben will – und nichts wünscht er sich mehr –, wird am Ende alles gut für ihn. Timon Karl Kaleyta erzählt von einem, der auszieht, um die Welt für sich zu gewinnen. Irisierend, funkelnd, schöner als der schöne Schein! "Pausenlos gelacht und immerzu gelitten - ich kann Timon Karl Kaleyta fühlen." - Christian Ulmen "Timon Karl Kaleyta ist ein so überragend guter Liedtexter - muss der jetzt wirklich auch noch ein Buch schreiben? Ich meine: JA!"- Benjamin von Stuckrad-Barre "Ein erstaunliches Buch! Mit schelmischer Selbstironie und Leichtherzigkeit gelingt Kaleyta eine anmutige Frechheit über unsere Klassengesellschaft." - Samira El Ouassil "So wie Kaleyta davon erzählt, wie es immer nur so gut wie und fast und beinahe und dann doch eben nicht so richtig abging mit seiner Karriere, klingt die Geschichte wie eine exemplarische Universalgeschichte. Man wünscht sich unter jede seiner Wahrheiten einen Beat." - Peter Richter, SZ

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Das Motto entstammt dem Roman »Rot und Schwarz« von Stendhal in der Übersetzung von Rudolf Lewy, bearbeitet von Elisabeth Schneider.

 

© Piper Verlag GmbH, München 2021

Covergestaltung: Cornelia Niere

Covermotiv: Rinus Van de Velde, ohne Titel, 2020, Buntstift auf Papier – nach dem Foto »Inflatable Jesus« (Tilman Ezra Mühlenberg) von Danja Mathari, 2018. Mit freundlicher Genehmigung des Künstlers und der KÖNIG GALERIE, Berlin/London

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Inhalt

Cover & Impressum

Motto

Zitat

KAPITEL I

KAPITEL II

KAPITEL III

KAPITEL IV

KAPITEL V

KAPITEL VI

KAPITEL VII

KAPITEL VIII

KAPITEL IX

 

Für meine geliebte Frau und meine Eltern

 

»Aber dann war es aus für seine Phantasie mit der Karriere, aus mit der Zukunft: Das war der Tod. Hier die Einzelheiten von einem seiner traurigen Tage.«

Stendhal »Rot und Schwarz«

KAPITEL I

Wie alles begann

Zu Tode betrübt und von allen Göttern verlassen fuhr ich am Morgen des 28. September 1998 wieder in die Schule. Kalt war es draußen, noch dunkel und windig, und ich saß, tief in mich zusammengesunken, von meinem jungen Leben so bitter enttäuscht, ganz vorn im dahinfahrenden Bus und ließ meine Stirn gegen die beschlagene Scheibe fallen. Wie konnte es nur so weit kommen, fragte ich mich. Und wie würde es jetzt für uns alle nur weitergehen?

Ich starrte hinaus ins Nichts, in die herbstliche, regnerische Tristesse einer Ruhrgebietsvorstadt, die mir nunmehr bleiern und menschenfeindlich erschien, und ahnte bereits, wie dieser Tag für mich weitergehen würde – sie würden mich zum Gespött der Schule machen, so viel war sicher. Und obwohl der Dieselmotor des Omnibusses fast gewalttätig laut unter meinen Füßen grollte, sodass ich von den Gesprächen der mir größtenteils unbekannten Menschen nichts mithören konnte, fühlte es sich schon in dieser frühen Stunde des Tages so an, als würden sie alle mich anstarren, ihre Nasen über mich rümpfen und mich verlachen.

 

Die Schüler aller Klassen rannten wie wild geworden über die Gänge und den Hof, die Treppenhäuser hoch und runter, hin und her und wedelten dabei mit ihren SPD-Fähnchen. Das ganze Gymnasium hatte sich nach den vergangenen Wochen und Monaten endgültig in eine rot-weiße Trutzburg verwandelt, trunken in bis dato nicht gekannter Glückseligkeit, und ich versuchte, mir bloß so unbemerkt wie möglich meinen Weg zum Klassenzimmer zu bahnen. Von dem Moment an, da sie mich erblickt hatten, schütteten sie ihre Häme über mir aus, über mir, dem Unverbesserlichen, Ewiggestrigen, dem einzigen Menschen an dieser Schule, vielleicht in der ganzen Stadt, der bis zum Schluss an einen letzten großen Sieg von Helmut Kohl geglaubt hatte, der seinen historischen Fehler bis zur allerletzten Sekunde nicht hatte einsehen wollen, der vermutlich noch nicht einmal jetzt verstand, wie falsch er gelegen hatte.

»Wir haben es dir doch gesagt!«, rief da eine eigentlich so hübsche und liebe Mitschülerin, die ich lange Zeit heimlich begehrt hatte, in meine Richtung.

»Siehst du es endlich ein? Du stehst auf der falschen Seite der Geschichte!«, brüllte eine weniger schöne.

»Das Spiel ist aus«, kreischte mir ein hagerer Junge entgegen, den ich noch nie zuvor gesehen hatte.

Ihre Stunde war gekommen, jetzt war der Moment, mit dem Finger auf mich zu zeigen und mir ihren Triumph erbarmungslos unter die Nase zu reiben.

Ich verstand ihre Motivation, ich hätte es vermutlich nicht anders gemacht, und doch schmerzte mich jedes einzelne ihrer Worte sehr.

 

Nachdem ich die ersten Anfeindungen des Tages überstanden hatte, geriet gleich die erste Stunde zu einer einzigen Farce. Eigentlich stand der Leistungskurs Geschichte auf meinem Plan, doch anstatt gemäß Lehrplan zu unterrichten, warf Herr Junge, der Referendar, der uns seit ein paar Monaten zugeteilt war, den Unterrichtsstoff über den Haufen und ließ, nachdem er wie elektrisiert ins Klassenzimmer gestürmt war und seine Ledertasche aufs Pult geknallt hatte, den Emotionen freien Lauf. Er nutzte die Gelegenheit und hämmerte uns noch einmal ein, was dieses Wahlergebnis für unser Land bedeutete, um welche Ausnahmesituation, um welchen Epochenumbruch es sich dabei handelte.

»Sie müssen verstehen«, überschlug er sich beinahe und raufte sich die Haare, »sechzehn Jahre Helmut Kohl … sechzehn lange Jahre. Ein stranguliertes Land, eine gelähmte Gesellschaft, eine verkümmerte Politik … Das alles hat jetzt endlich ein Ende!«

 

Auch Herr Junge wusste indes von meinem einsamen Widerstand, auch er hatte natürlich mitbekommen, wie ich mit Beginn des Wahlkampfes, als man bereits Allerschlimmstes befürchten musste, auf meinem Etui so sichtbar wie möglich und explizit vor den Augen meiner Mitschüler einen kreisrunden Ansteckpin angebracht hatte, auf dem die Fahne der Bundesrepublik vor blauem Hintergrund im Wind wehte – und neben einem kleinen CDU-Logo war darauf in großen Lettern zu lesen: Ich bin für Kohl!

Ich weiß nicht, wo ich diesen Werbeartikel eigentlich aufgetrieben hatte, doch ich erinnere mich ganz genau, wie ich den fast zehn Zentimeter breiten Anstecker ein paar Wochen vor der Wahl kurz vor Ende der großen Pause an die Oberseite des Mäppchens heftete, wie ich ihn am Stoff meines Hemdes demonstrativ polierte, als handele es sich dabei um eine edle Brosche oder eine seltene Münze, und wie ich im Anschluss prüfend auf die nun spiegelglatte Oberfläche pustete, die unter den flackernden Neonröhren des Klassenzimmers regelrecht aufzuleuchten schien.

Es erfüllte mich mit einer enormen Genugtuung, dabei den Schrecken in den Augen meiner Klassenkameraden zu sehen, die aufflammende Angst, sie könnten entgegen aller Wahrscheinlichkeit doch noch einmal die Wahl verlieren. Ich genoss diesen Moment so gut es nur ging, faltete die Hände, tat, als würde ich über irgendetwas nachdenken, das Helmut Kohl zuletzt gesagt hatte, und setzte dabei ein Gesicht auf, als läge mir das Schicksal unseres Landes sehr viel ernsthafter am Herzen als all den blinden Erneuerern um mich herum.

 

Ich schämte mich jedenfalls nicht, für meine Überzeugungen einzustehen, ich wollte, dass jeder in der Schule von meiner Widerständigkeit erfuhr. Auch Herrn Junges Aufmerksamkeit hatte ich immer wieder auf meinen Pin lenken können, und so blinzelte er mir bei seinem flammenden Vortrag, den er – wie ich heute denke – gewiss wochenlang für den wahrscheinlichen Fall der Fälle vorbereitet und eingeübt hatte, nun unmissverständlich zu, ganz so, als wartete er nur darauf, dass auch ich endlich einknickte, vielleicht besser noch, dass ich aufstehen und mich in aller Demut zu meinem Irrtum bekennen würde. Doch anstatt ihm diesen Wunsch zu erfüllen, versank ich bloß immer noch tiefer in meiner Schulbank, war immer weniger imstande zuzuhören und fiel immer ungebremster in die Verzweiflung hinein. Was würde unter diesen Umständen wohl aus mir und meinem bisherigen Leben werden? Jetzt, da schon der erste Tag nach der Niederlage zu einer solchen Demütigung geraten war? Waren meine glücklichen, sorgenfreien Tage gezählt? Es fühlte sich sehr danach an. Nur, wie hatte es so weit kommen können?

*

Mein Leben bis zu diesem Tag, ich kann es nicht anders sagen, erinnere ich als eine einzige, nie endende Aneinanderreihung schöner und allerschönster Momente. Daheim mangelte es mir an nichts, nie litt ich Hunger oder anderes Leid, nie erfuhr ich auch nur irgendein erwähnenswertes Unrecht. Nein, jeder Tag kam im Grunde einer Verbesserung und nochmaligen Verbesserung des Vortages gleich, und hätte ich wählen müssen, kein Schicksal der Welt wäre mir lieber gewesen als mein eigenes.

Vom ersten mir in Erinnerung verbliebenen Moment empfand ich mein Leben als einen einzigen Segen, und das, obgleich meine Eltern nicht etwa Anwälte oder höhere Beamte, gar Diplomaten oder Unternehmer waren, für die Geld keine Rolle spielte, ganz im Gegenteil. Sie waren zwei einfache, unerbittlich für unser familiäres Auskommen schuftende Fabrikarbeiter, die tagein, tagaus von der schweren Arbeit erschöpft und von oben bis unten mit Ruß und Öl verschmiert nach Hause kamen, um es mir, ihrem einzigen Kind, nie auch nur am Allergeringsten mangeln zu lassen.

Große Teile dieser Kindheit und Jugend verbrachte ich in der Natur. In einem der Wäldchen nahe unserem bescheidenen Reihenhaus, in den schier unendlichen Kornfeldern des Bauern Müller, die gleich hinter unserem Haus begannen und jeden Sommer wie ein goldenes Meer unter meinem Fenster im Wind hin- und herwogten. In jeder freien Minute tobte ich mit meinen Schulfreunden in diesen Feldern herum, bis meine Mutter mich kurz vor Sonnenuntergang wieder in ihre Arme zurückrief – und dann saßen wir drei gemeinsam beim Abendbrot, das meine Mutter so liebevoll zubereitete, machten Scherze über die Ereignisse des Tages und lachten.

Und wenn ich nicht gerade frei wie ein Vogel durch die Natur streifte und mich dabei im Spiel und in Tagträumereien verlor, dann war es mir ein fast noch größeres Glück, meinem Vater, der ein meisterhafter Handwerker war, bei den kleineren und größeren Arbeiten im Haus zuzusehen und ihm im Rahmen meiner Möglichkeiten zur Hand zu gehen. Wenn er im Keller an seiner Werkbank Entzweigegangenes reparierte, als wäre nichts weiter dabei, wenn er nach der Arbeit oder an den Wochenenden in unserem Häuschen noch einen Raum tapezierte, Fliesen und Teppiche verlegte, Wände anstrich, Leitungen erneuerte und so fort. Mit staunenden Augen folgte ich ihm, wie er all diese Zaubereien aus dem Handgelenk schüttelte, und stellte mir vor, wie auch ich eines fernen Tages über dieselben Fähigkeiten verfügen würde.

Meine Eltern, die sich alle Aufgaben, so gut es eben ging, teilten, die genau wie ich in all den Jahren ohne Zweifel nicht glücklicher hätten sein können, erzogen mich dabei mit nichts als Sanftmut, Zuspruch und Verständnis, ganz gleich, was ich auch anstellte. Und das, obwohl sie selbst schwere Kindheiten hatten durchleben müssen, Kindheiten voller Entbehrungen, geprägt von eiserner Strenge, Zucht und Armut, die ihnen beiden den Besuch einer höheren Schule von Anfang an verunmöglicht hatten.

 

Kurzum, ich hatte, wie ich gar nicht entschieden genug betonen kann, ein ganz und gar unverschämtes Glück. Und zu diesem Glück in der Familie gesellte sich – als hätte es das Schicksal nicht schon gut genug mit mir gemeint – noch ein weiteres, das mir viel höhere Mächte hatten zukommen lassen: So war ich bereits in der Grundschule ein fast schon zu hübscher Knabe, mit feinen Gesichtszügen, leuchtenden Augen und zarten Gliedern, was zwangsläufig dazu führte, dass die Mädchen aus meiner Klasse mir beinahe wöchentlich heimlich kleine Geschenke in die Schultasche steckten, wenn sie nicht gar noch einen Schritt weiter gingen und persönlich bei uns zu Hause vorbeikamen, wo meine erstaunten Eltern diese Präsente für mich entgegennahmen, während ich mich verschämt in mein Kinderzimmer einschloss.

Ich war darüber hinaus ein ausgezeichneter, mit enormem Talent gesegneter Sportler. So ausgezeichnet, dass ich in der dritten Klasse für eine an dieser Schule bei den Bundesjugendspielen noch nie zuvor errungene Höchstleistung vom Rektor höchstpersönlich und vor allen anderen Schülern mit einer individuell angefertigten Urkunde in Form einer übergroßen, gerahmten, mir handschriftlich gewidmeten Fotografie unseres Schulgebäudes geehrt wurde. Und blicke ich heute zurück, so empfinde ich fast schon eine gewisse Scham gegenüber all jenen geplagten Seelen, die von Fortuna nicht so liebevoll geküsst worden sind wie ich.

Man könnte sagen, dass ich seit früher Kindheit nicht den leisesten Zweifel an einer ganz besonderen mir zugefallenen Befähigung hatte, ja, dass ich ganz fest davon ausging, dass das Schicksal Großes für mich vorgesehen hatte. Und da mir auch das Lernen keinerlei Schwierigkeiten bereitete und ich ohne große Anstrengung nur die besten Noten erhielt, war es kein Wunder, dass die mir so zugeneigte Grundschullehrerin bei meiner Entlassung ein paar aufrichtige Tränen weinte und meinen sich ungläubig die Augen reibenden Eltern noch einmal ins Gewissen sprach, mich auch tatsächlich auf das Gymnasium zu entsenden und künftig all meine Talente mit Hingabe zu fördern. Ja, auch sie sagte mir eine glänzende Zukunft voraus, auf dass sie einen Teil meines kommenden Erfolgs sich selbst auf die Fahnen würde schreiben dürfen.

 

Wenn es überhaupt eine Sache gab, nach der ich mich insgeheim sehnte, dann war es, so einfältig und undankbar das auch klingen mag, eines fernen Tages die nächsthöhere Stufe des Wohlstands zu erreichen. Es war ein Verlangen, von dem ich meine Eltern nie wissen ließ, das ich ausschließlich mit mir selbst auszumachen hatte: Schon früh nämlich schaute ich auf zu den Reicheren und Besserverdienenden, zu ihren großen Autos und stattlichen Villen, nicht mit Neid oder Missgunst, sondern mit sehnsüchtigem Interesse und wohlwollender Bewunderung. Ich empfand den Wohlstand des Bürgertums, das ich zwar damals noch nicht als solches hätte benennen können, das mir jedoch aus der direkten Anschauung meiner oft gut situierten Freunde auf dem Gymnasium bald bestens bekannt war, nicht etwa als unverdient, als etwas, das sie anderen weggenommen hatten. Nein, ich empfand ihn als etwas, das letztlich jeder sich aneignen konnte, wenn er nur hart genug dafür arbeitete oder – wie ich – mit genügend Talent und Glück beschenkt war.

Ab der Oberstufe ließ ich aus dieser Selbstgewissheit heraus die Zügel ein wenig schleifen. Nicht allzu sehr natürlich, nicht so, dass es hätte gefährlich werden können, ganz und gar nicht, sondern gerade so, dass ich zwar nicht mehr die allerbesten Noten schrieb, aber immer noch ohne Probleme gut durch die Jahre kam, sodass auch meine Mutter, die – den Worten meiner Grundschullehrerin Folge leistend – sehr auf mein schulisches Fortkommen achtete, zu keiner Zeit in Sorge geraten wäre.

Ich machte mir schlicht und ergreifend keine Gedanken um meine Zukunft, so mühelos war mir alles stets zugeflogen, so leicht war mir alles gefallen, so nahtlos hatte sich alles immer ineinander gefügt.

 

Da also mein Leben bis dato erschütterungsfrei verlaufen war, interessierte ich mich bis zu meinem achtzehnten Lebensjahr für Politik auch nur insofern, als sie dafür sorgte, dass einfach alles beim Alten blieb. Genauer gesagt bestand meine einzige Sorge darin, dass sich auch nur das Geringste zum Schlechteren verändern könnte. Und so sollte man es mir nachsehen, wie ich finde, dass ich damals – anderthalb Jahre vor dem Abitur – bei der Bundestagswahl 1998 gerade nicht auf einen Umsturz, sondern auf eine fünfte Amtszeit von Helmut Kohl gesetzt hatte und all meine Hoffnung und Anstrengung darauf verwandte, dass es noch ein letztes Mal für ihn reichte.

Die Wochen vor der Wahl kamen für mich daher einem regelrechten Spießrutenlauf gleich. Niemand, nicht ein einziger meiner Mitschüler, hatte sich mit mir auf die Seite Kohls geschlagen, obwohl es uns unter ihm doch allen zweifelsfrei gut ging. Obwohl wir alle doch sehr viel mehr zu verlieren denn zu gewinnen hatten. Sie aber fieberten, und das machte mich schier wahnsinnig, auf etwas Neues hin, wollten Erneuerung, koste es, was es wolle. Die vergleichsweise wenigen Klassenkameraden aus einfachen Familien taten ohnehin, was ihre Eltern ihnen sagten, waren, wie alle bescheidenen Menschen im Ruhrgebiet, ohne darüber nachzudenken, Sozialdemokraten und konnten ihr nun heraufziehendes Glück einer Kanzlerschaft kaum fassen. Die Kinder aus besserem Hause hingegen nutzten ihre historische Chance, um ein erstes und letztes Mal gegen ihre Eltern aufzubegehren.

Ich war also mit meiner Agenda allein auf weiter Flur und kämpfte mit meiner unverhohlenen Unterstützung für Kohl einen aussichtslosen, mir nichts als Unverständnis und Häme, bisweilen auch Beschimpfungen und Ablehnung einbringenden Kampf. Nicht nur gegen meine Mitschüler, nein, natürlich auch gegen den gesamten Lehrkörper. Denn auch unter den Lehrern fand sich damals kein Einziger, der vor der Wahl nicht für die Sozialdemokratie, für Erneuerung und Umsturz geworben hätte, ganz so, als hätte ihr aufdringliches Engagement noch irgendjemanden bekehren müssen. Bei mir allerdings bissen sie auf Granit. So sicher war ich mir meiner Sache, so sehr empfand ich den Neuanfang mit einem mir unbekannten, unberechenbaren Mann als das falsche Signal, als unnötiges Risiko für das ganze Land, ja, als brandgefährliche Erschütterung der mir bekannten Welt. Doch es half alles nichts. Helmut Kohl hatte die Wahl verloren, und so ereignete sich die erste große Erschütterung meines Lebens am 27. September des Jahres 1998.

*

Ich ließ den Rest dieses schrecklichen Schultages einfach über mich ergehen – letztlich waren die Schmähungen nicht mehr als die Geister, die ich selbst gerufen hatte. Und als meine Mitschüler nach Unterrichtsende vollgepumpt mit Enthusiasmus aus der Schule hinausströmten, hinein in eine Welt, von der sie sich nun so viel erhofften, blieb ich stur sitzen. Ich wollte allein sein mit meiner verletzten Seele, ließ meinen Kopf auf den Tisch fallen, atmete schwer aus und versuchte, mich irgendwie von den Strapazen zu erholen.

Ich muss dabei kurzzeitig eingeschlafen sein, da legte sich mir mit einem Mal ganz zart, als wollte sie mich nicht erschrecken, eine Hand auf die linke Schulter. Es war Herr Junge, der wohl gespürt hatte, dass ich hier irgendwo in meine Trauer versunken herumsitzen würde.

»Na, mein Lieber«, sagte er.

Ich fuhr hoch und drehte mich zu ihm hin. Mir war etwas Speichel aus dem Mundwinkel gelaufen und auf den Hemdsärmel getropft, während ich schlief, und nun wischte ich mir hastig mit dem Handrücken über Mund und Wange.

»Herr … Herr Junge«, antwortete ich, denn natürlich war mir unangenehm, dass er mich in all meiner Hilflosigkeit antraf.

»Was machen Sie denn noch hier?«, fragte er aufrichtig besorgt, und ich muss hinzufügen, dass ich persönlich nicht das Geringste gegen den in jeder Hinsicht fairen Herrn Junge einzuwenden hatte – bis auf seine politische Naivität natürlich.

»Alles in Ordnung?«

Ich zögerte mit einer Antwort, ich wusste überhaupt nicht, wo ich hätte anfangen sollen.

»Ich … Ich wollte nur noch ein bisschen für mich sein«, stotterte ich.

Herr Junge entdeckte die Federmappe, die vor mir auf der Schulbank lag und an der noch immer, wohl aus Trotz, mein CDU-Pin leuchtete. Plötzlich war er mir sehr unangenehm, und ich bedeckte ihn, als hätte Herr Junge ihn nicht längst schon gesehen, mit derselben Hand, mit der ich mir einen Augenblick zuvor noch den Mund abgeputzt hatte.

»Ach, bemühen Sie sich nicht«, sagte er. »Ich mache Ihnen keinen Vorwurf, jetzt nicht mehr.«

Ich beschaute mir noch einmal nachdenklich den Anstecker, dann löste ich die Nadel aus dem Kunstleder und schloss die Spange wieder. Ich wog ihn in der Hand und machte dabei einen kritischen Gesichtsausdruck.

»Er wiegt fast gar nichts«, sagte ich vor mich hin. »Leicht wie eine Feder.«

»Er ist aus einfachem Blech«, sagte Herr Junge. »Er hat keinerlei Wert.«

»Vermutlich haben Sie recht. Er ist nichts mehr wert …«

Erst jetzt nahm er seine Hand von meiner Schulter.

»Wissen Sie was«, sagte er, »ich mag Sie. Wirklich. Sie sind ein wunderbarer junger Mann.«

Ich sah ihn fragend an.

»Wie meinen Sie das, Herr Junge?«

Der Referendar dachte nach.

»Da steckt so etwas Ungezügeltes in Ihnen, ich weiß es nicht so recht zu bestimmen. Irgendetwas unterscheidet Sie von den anderen hier … Das habe ich gleich gespürt, wenn ich so ehrlich sein darf.«

»Etwas, das mich unterscheidet? Sie meinen den Anstecker?«

»Nein, nein«, sagte Herr Junge entschieden. »Es ist mehr als das. Der Pin ist nur eine Jugendsünde, den habe ich von Anfang an nicht ernst genommen.«

Er stieß ein heiteres Kichern aus.

»Ach so …«, sagte ich. »Und glauben Sie wirklich, dass sich jetzt alles ändert, wie die Leute sagen?«

Herr Junge setzte gerade zu einer Antwort an, da klopfte es am Türrahmen, und der Hausmeister schlurfte herein, dessen Namen ich nicht kannte, dessen Namen vermutlich niemand von uns Schülern kannte, obwohl wir ihn jeden Tag mit seinem klappernden Schlüsselbund durch das Gemäuer huschen sahen.

»Ich mach hier bald zu«, sagte er ausdruckslos.

Ich schaute ihn ein paar Momente lang an, er sah unglücklich aus, noch unglücklicher als sonst. Hatte seine Trauer etwa denselben Grund wie die meine? Hatte vielleicht auch er, ohne es mit jemandem teilen zu können, seine geschundenen Daumen für eine fünfte Amtszeit von Helmut Kohl gedrückt? Hatte er gar am Vortag für Kohl abgestimmt, was das Schicksal mir verwehrt hatte, da meine Volljährigkeit, als hätte eine böse Macht ihr Spiel mit mir treiben wollen, erst ein paar Tage später erreicht sein würde?

»Na, dann wollen wir mal los, oder?«, unterbrach Herr Junge meine Überlegungen und gab mir einen sanften Stoß in die Seite.

Ich nahm meine Schultasche, und gemeinsam schlenderten wir aus dem Klassenzimmer hinaus, den langen Flur hinab und traten vor das Gebäude.

 

»Kommen Sie, ich fahre Sie nach Hause, Sie haben es heute schon schwer genug gehabt«, sagte der Referendar in leicht scherzendem Ton.

Er deutete auf die gegenüberliegende Seite der viel befahrenen zweispurigen Straße, die unser Schulgebäude vom Rest des dazugehörigen Schulzentrums abtrennte. Auf der einen, der schönen, Seite lag unser Gymnasium mit einer angeschlossenen Stadtbücherei, hellen Klassenräumen, gepflegten Backsteinfassaden und einem herrlich begrünten Schulhof mit allen Möglichkeiten der Pausenunterhaltung – auf der anderen Seite lagen, in meiner Erinnerung in undurchdringlichen Smog gehüllt, düster, grau und lebensfeindlich, die Gebäude der Real-, Haupt- und Sonderschule.

»Mein Auto steht drüben hinter der Sporthalle, heute Morgen war alles besetzt, wir müssen ein wenig laufen.«

Ich erschrak. »Bei … bei der Sporthalle, Herr Junge?«

Überrascht nahm er meine Angst wahr.

»Aber was stimmt denn nicht damit?«, fragte er.

Ich zögerte, denn eine Antwort darauf war nicht einfach.

Noch gar nicht erwähnt habe ich nämlich bisher, dass meine so leidenschaftliche Unterstützung für Helmut Kohl nicht ausschließlich unbestimmter Natur war. Ich war nicht nur von der diffusen Angst getrieben, dass alles sich irgendwie würde verändern können, das war lediglich mein Bauchgefühl. Nein, es gab auch einen ganz konkreten Grund, einen handfesten, und ich fürchte, der Vollständigkeit halber muss ich auch davon berichten.

Wie gesagt trennte lediglich eine zweispurige Straße die Welt meines Gymnasiums von der aller übrigen Schulen, und wäre es in jener Zeit nach mir gegangen, dann hätte diese Straße durchaus noch etwas breiter und viel befahrener sein können, man hätte von mir aus auch auf jeglichen Fußgängerübergang verzichten können. Ja, man hätte sogar eine hohe Mauer an ihrer statt hochziehen können, denn meine Angst vor der anderen Straßenseite war, um nur das Mindeste zu sagen, allgegenwärtig.

Von dort drüben nämlich drohte tägliche Gefahr. Wie aus einer verstoßenen, vergessenen Sphäre kamen die Schüler der anderen Schulen regelmäßig in unsere schöne, heile Welt herüber. Wie die Untoten betraten sie mit ihren gewaltbereiten Körpern unser Schulgebäude, um uns immer wieder aufs Neue aufzusuchen, Gewalt anzudrohen und anzutun, uns zu bestehlen und zu erniedrigen. Sie hatten es auf unsere so wehrlosen Körper abgesehen, die ihnen nichts als Unterwerfung entgegenzusetzen hatten. Sie machten uns verständlich, dass sie, zumindest solange wir alle noch zur Schule gingen, am längeren Hebel saßen.

Im besten Fall konnte man unter ihrem Radar hindurchtauchen, indem man ständig auf der Hut war, ihnen frühzeitig aus dem Weg ging, den Blick senkte, ihnen nicht in die Augen sah und vor allen Dingen auch sonst nie durch unnötige, unbedachte Aktionen auf sich aufmerksam machte. Denn war man erst einmal aufgefallen, stand man gar unter besonderer Beobachtung, und das konnte schnell passieren, verschärfte sich die Gefahr immens, sprang aus der Welt der Schule in die der Freizeit über, auf die öffentlichen Orte, auf das Schwimmbad und so weiter, wo man ihnen jederzeit über den Weg laufen konnte, und ich sah in all den Jahren mehr als eine Handvoll Nasen brechen, vernahm dabei dieses dumpfe Knacksen und sah sodann Bäche fassungsloser Tränen über gymnasiale Gesichter rinnen.

Helmut Kohl aber war in erster Linie ein Vertreter von uns Gymnasiasten – so viel hatte ich verstanden. Kohl wollte uns schützen vor dem Zugriff von außen. Er stand ganz eindeutig auf meiner Seite, wohingegen Kohls Widersacher nicht das Geringste von der realen Welt mit ihren real existierenden Problemen kapierten. Sie wollten eine Welt, in der es zwischen den sanften Seelen wie mir und den gnadenlosen Schlägern nicht einmal mehr eine Straße als Hindernis gab. Sie wollten, dass es überhaupt keine unterschiedlichen Schulen mehr gab, dass alle auf eine Schule gingen – und das schien mir die denkbar größte Katastrophe für Leib und Leben zu sein. Die Sozialdemokraten konnten, das war mir vollkommen klar, dafür nur einen einzigen Grund haben – pure Menschenfeindlichkeit.

Und wenn ich eingangs gesagt habe, dass mein Leben bis zur Wahlnacht 1998 glückseliger und angstfreier nicht hätte sein können, so war das – zumindest in diesem Punkt – ein kleines bisschen gelogen. Denn in all den Jahren auf dem Gymnasium verging kein einziger Tag, an dem ich nicht Angst vor der gegenüberliegenden Straßenseite gehabt hätte. Und manchmal, wie um mich selbst ein bisschen ins Gruseln zu versetzen, steigerte ich mich regelrecht in die Vorstellung hinein, ich würde aus irgendeinem Grund vom Gymnasium geworfen und müsste fortan gegenüber zur Schule gehen, verdammt bis in alle Ewigkeit – und wie man sich selbst manchmal beim Ausmalen düsterster Szenarien durchaus einer gewissen Lust nicht erwehren kann, so erging es mir auch mit dieser Vorstellung: Ich genoss sie mit schauriger Leidenschaft, wohl wissend, dass mir dieses Los erspart bleiben würde, war ich doch dafür letztendlich ein zu guter Schüler.

All das aber konnte ich meinem Lehrer in diesem Moment unmöglich erklären, also antwortete ich auf seine Frage mit einem Kopfschütteln.

 

Zum Glück passierte uns diesmal nichts auf dem Weg über die Straße, und auch auf dem Hof der Haupt-, Real- und Sonderschule kam es zu keiner einzigen gefährlichen Begegnung – vermutlich waren auch hier die Schüler nach Schulschluss in großer Vorfreude auf eine bessere Zukunft aus der Schule geeilt, um diesen besonderen Tag in aller Freude mit ihren Familien zu begehen. Ich stieg in Herrn Junges Ford Fiesta, schnallte mich an, wir fuhren los.

»Ich erzähle Ihnen jetzt ein Geheimnis«, sagte Herr Junge nach ein paar Minuten, da er das Auto in Richtung meines Elternhauses lenkte, wohin ich ihm den Weg anzeigte. »Ich glaube nicht, dass sich für uns etwas ändert, beziehungsweise für Sie. Alles wird beim Alten bleiben, ich bin mir da sogar ausgesprochen sicher.« Er machte eine Pause. »Das ist doch Ihre größte Sorge, richtig?«

»Aber«, sagte ich, »vorhin vor der Klasse haben Sie doch was ganz anderes behauptet. Da haben Sie uns alle eingeschworen, und Sie haben über mich gelacht … Und jetzt sagen Sie mir, dass Sie selbst gar nicht daran glauben? Haben Sie uns in Wahrheit nur was vorgespielt?«

Der junge Referendar kicherte in sich hinein.

»Ach, wissen Sie«, seufzte er, »mit der Wahrheit ist es so eine Sache …«

Ich schaute ungläubig zu ihm rüber, während er um eine Ecke bog und in den zweiten Gang schaltete. Die Kupplung des Fiesta knarzte laut auf.

»Sagen Sie mir lieber«, fuhr er fort, »was haben Sie eigentlich mit Ihrem Leben vor? Wissen Sie das schon?«

»Nein, Herr Junge«, schüttelte ich den Kopf. »Darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht.«

»Das sollten Sie aber. Ich habe das Gefühl, in Ihnen steckt eine ganze Menge. In meinen Augen fahren Sie, wenn ich so sagen darf, mit angezogener Handbremse. Lassen Sie los. Ich glaube, dann hält Sie nichts mehr auf«, sagte er. »Und ich erzähle Ihnen noch ein Geheimnis. Sind Sie bereit?«

»Aber nur, wenn es kein gefährliches Geheimnis ist!«, gab ich etwas verschüchtert zurück.

Herr Junge schaute mich an, mindestens einen Moment zu lang für die Tatsache, dass er den Wagen zu lenken hatte, und legte seine Hand verschwörerisch auf mein linkes Knie.

»Jedes Geheimnis ist gefährlich und gleichzeitig ungefährlich. Es kommt darauf an, wer von dem Geheimnis weiß und was man daraus macht … Also, wollen Sie es hören?«

Ich nickte.

»Wenn Sie es weit bringen wollen, wenn Sie an die Fleischtöpfe wollen, dann passen Sie jetzt gut auf. Sie müssen zu den Leuten, die bereits dort sind, wo Sie hinwollen. Immer und immer wieder müssen Sie deren Nähe suchen, und, das ist ganz wichtig, Sie müssen diesen Leuten unter allen Umständen das Gefühl vermitteln, dass Sie keine Bedrohung für sie sind. Verstehen Sie das? Sie müssen sich immer klein und demütig geben, als könnten Sie keiner Fliege was zuleide tun, als läge Ihnen nichts ferner, als sich in den Vordergrund zu spielen, als hätten Sie das Wort Karrierismus noch nie gehört.«

»Karrie… was? Wie, bitte?«, fragte ich.

»Sie müssen in jeder Situation absolut glaubhaft so tun, als hätten Sie keinerlei Ambitionen, als bewunderten Sie die Leute über Ihnen geradezu. Loben Sie sie, himmeln Sie sie an, seien Sie überfreundlich, hilfsbereit und stellen Sie sich immer ein bisschen dumm und begriffsstutzig dar, das mögen diese Leute. Aber arbeiten Sie im Hintergrund wie ein Besessener. Und dann, eines Tages, kommt Ihre Stunde – bis zu diesem Moment hat Sie noch niemand als Bedrohung wahrgenommen, niemand hat Ihren Aufstieg bemerkt, weil er so kleinlaut daherkam, und plötzlich, über Nacht, haben Sie Ihre Konkurrenten links und rechts überholt und ihre Plätze eingenommen, und alle reiben sich die Augen … Ergibt das Sinn für Sie?«

Ich hatte den Ansteckpin aus meiner Hosentasche gezogen und knibbelte geistesabwesend daran herum.

»Haben Sie mir überhaupt zugehört?«, fragte er lauter.

»Ja, natürlich, Herr Junge«, ich war jetzt wieder voll da. »Aber woher wissen Sie das denn alles?«

Der Referendar schwieg bedeutungsvoll.

»Dort drüben«, rief ich plötzlich aus, »dort die Reihenhäuser, da wohne ich!«

Er brachte den Fiesta in aller Ruhe zum Stehen. Dann atmete er laut aus und schaute sich um.

»Hier wohnen Sie also, ja? Das ist doch sehr hübsch. Dieses kleine Häuschen, die Weizenfelder. Und gegenüber gleich ein Sportplatz. Wie idyllisch.«

»Ich kann nicht klagen, Herr Junge. Ich war immer sehr glücklich«, sagte ich.

»Was machen eigentlich Ihre Eltern?«

»Sie sind einfache Arbeiter. Sie arbeiten in der Fabrik.«

»Ach, das ist schön, wissen Sie, meine Eltern sind schon vor langer Zeit …«, aber da redete Herr Junge mit einem Male nicht weiter und hielt einen Moment inne. »Gut, Sie kommen also aus der Arbeiterklasse … Dann will ich es Ihnen nur umso deutlicher sagen. Erwarten Sie nichts von der Politik. Niemals! Besondere junge Menschen wie Sie müssen sich durchsetzen. Gebrauchen Sie Ihre Ellenbogen, wo Sie nur können – Sie haben jedes Recht dazu, Ihnen bleibt kaum etwas anderes übrig als Rücksichtslosigkeit, merken Sie sich das«, erklärte er mir. »Das ist Ihr schärfstes Schwert!«

Ich nickte.

Herr Junge reichte mir seine Hand.

»Sie haben aber sehr weiche Hände, hat Ihnen das schon mal jemand gesagt?«, fragte er.

»Finden Sie?«

»Unbedingt.«

Ich schaute verlegen auf den Anstecker in meiner linken Hand.

»Kann ich den vielleicht bei Ihnen lassen? Ich brauche ihn nicht mehr.«

»Selbstverständlich, ich werde ihn für Sie entsorgen. Und nehmen Sie es nicht so schwer mit der Wahl. Vergessen Sie sie einfach. Es wird sich nichts ändern, das versichere ich Ihnen.«

Ich öffnete die Tür, stieg aus dem Wagen und drehte mich noch einmal zu Herrn Junge um.

»Ich will es hoffen, Herr Junge, ich will es so sehr hoffen.«

*

Erstaunlicherweise schien sich auf fast beängstigende Weise zu bewahrheiten, was Herr Junge an diesem Tag prophezeit hatte – in den folgenden Wochen und Monaten änderte sich nicht das Allergeringste, und auch meine lieben Eltern, die kurz nach der Wahl genauso aus dem Häuschen gewesen waren wie alle anderen, denen gegenüber ich aber aus Rücksicht nichts von meiner Gesinnung zu erkennen gegeben hatte, sprachen schon wenig später kaum noch ein Wort von ihrem neuen Kanzler. Und je mehr Zeit verging, desto unbeschwerter und sorgenfreier wurde ich wieder, ganz so, als wäre überhaupt nichts geschehen.

Meine Eltern arbeiteten weiterhin hart, drehten für ein bisschen Wohlstand jede Mark zweimal um, meine Mutter bereitete pünktlich das Essen vor, und als ich rund anderthalb Jahre später ohne größeren Zwischenfall und ohne besondere Anstrengung ein – wie ich fand – durchaus ordentliches Abitur abgelegt hatte, waren auch die allerletzten Zweifel von mir abgefallen, das Schicksal könne es am Ende vielleicht doch nicht gut mit mir meinen. Ich hatte mein Vertrauen zurückgewonnen.

 

Besonders der Abend des großen Abschlussballs war zu einem fulminanten Erlebnis für mich geworden. Der Blick in die Gesichter meiner gerührten Eltern erfüllte mich mit nie gekanntem Stolz, und auch Herr Junge suchte noch einmal das Gespräch. Den ganzen Abend über hatte er nach mir Ausschau gehalten und nur auf den richtigen Moment gewartet, dann nutzte er die Gelegenheit, um sich zu mir zu gesellen, als ich gerade ein paar Momente verschnaufte und abseits des Trubels auf einem Stuhl Platz genommen hatte, um ein wenig zu resümieren.

»Darf ich mich kurz zu Ihnen setzen?«, fragte er mich.

»Aber sehr gern, Herr Junge.«

»Es ist ja doch alles gut gegangen, nicht wahr?«

Ich lachte laut auf, als hätte er mich bei einer groben, aber an sich harmlosen Ungehörigkeit ertappt.

»Allerdings, Herr Junge, allerdings.«

Und dann lachten wir gemeinsam.

»Und wissen Sie schon«, fragte er nun fast ein bisschen schüchtern, »was Sie nun mit Ihrem Leben anfangen wollen?«

Ich zögerte, denn eigentlich fand ich die Frage banal, wenn nicht gar obszön – was sollte das denn bedeuten? War das nicht sogar die ganz und gar falsche Frage, was man »mit seinem Leben anstellen wollte«? Sprach aus einer so falsch herum gestellten Frage nicht eine vollkommen mutlose Geisteshaltung, eine, die immer davon ausging, dass man in der Schuld stand, tätig zu werden, anstatt einfach darauf zu vertrauen, dass alles, was kommen musste, auch kommen würde? Sprach nicht aus seiner Frage schon eine viel zu mickrige Vorstellung vom Leben?

»Ja, das weiß ich in der Tat«, antwortete ich der Einfachheit halber.

»Wunderbar. Und wollen Sie es mir verraten?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Dafür ist es noch zu früh, ich möchte mich ausschließlich an meinen Taten messen lassen, verstehen Sie?«

Herr Junge, der mittlerweile kein Referendar mehr war, sondern ein verbeamteter Studienrat, zeigte sich beeindruckt.

»Alle Achtung«, sagte er.

Ich lächelte ihn an und nahm einen Schluck Sekt aus einem Plastikglas, das vor mir auf dem Tisch stand.

»Ich möchte Sie auch gar nicht lange stören«, sagte er dann, erhob sich von seinem Stuhl und deutete eine Verbeugung an. »Wissen Sie«, fügte er noch hinzu, »eines Tages möchte ich von Ihnen und Ihren Taten in der Zeitung lesen … Wollen Sie mir das versprechen?«

»O ja«, antwortete ich, »das werden Sie, Herr Junge, machen Sie sich keine Sorgen …«, und dann trennten sich unsere Wege für immer.

*

Ich sah in der Folge nicht den geringsten Grund, etwas zu überstürzen, und verbrachte meine Zeit vor allem mit Tagträumereien darüber, was wohl irgendwann einmal über mich in der Zeitung zu lesen sein würde. Ich konnte mir ganz unterschiedliche Gründe dafür vorstellen, wie und warum ich es zu Berühmtheit bringen würde – es gab ja unendlich viele Möglichkeiten, und je nach Lust und Laune spielte ich sie, während die Tage, Wochen und Monate nur so an mir vorbeirauschten, immer wieder durch.

Ja, bei allem Übermut und athletischen Tatendrang war ich immer schon ein sehr träumerischer Junge gewesen, hatte – während ich in der Natur herumstreunte, auf Baumkronen kletterte und über Wiesen rannte – ganz tief in mich hineingehorcht und meiner Phantasie freien Lauf gelassen. Und nun, da ich etwas älter war, da ich alle schulischen Aufgaben erfüllt hatte und mich von jeglichem Zwang befreit fühlte, nutzte ich die Angebote der Natur abermals zu ausgedehnten Spaziergängen – ich stand spät auf, machte mich in aller Seelenruhe fertig, trat hinaus in den Tag und schaute bis zum Abend nicht mehr auf die Uhr. Es war vielleicht, wenn ich so sagen darf, die schönste Zeit meines Lebens, und wenn es in diesen Tagen überhaupt etwas gab, das mich ein wenig betrübte, dann vielleicht nur, dass Vincent, einer meiner zwei engsten und liebsten Freunde, den ich seit Kindertagen kannte, gleich nach dem Abitur die Stadt in Richtung München verlassen hatte. Er hatte mir selbstverständlich erklärt, was genau er da nun ins Werk setzte, aber ich konnte es mir beim besten Willen nicht merken, und überdies war ich natürlich auch einfach sauer auf ihn, dass er mir so Hals über Kopf den Rücken zugekehrt hatte.

 

Erst nach gut einem halben Jahr begannen meine Eltern zaghaft damit, mich nach meinen weiteren Plänen zu befragen, woraufhin ich zunächst nur mit einem freundlichen Lächeln und einer abweisenden Handbewegung reagierte, sobald ihr Insistieren aber dringlicher wurde, mit sanft erhobener Stimme oder ersten kleineren Wutausbrüchen. Ich wusste ja, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis sich das Richtige für mich ergeben würde. Also ging es für mich nur darum, meine Eltern bei Laune zu halten, bis sich alle angeblich so dringenden Probleme durch eine weitere Fügung urplötzlich in Luft auflösen würden.

Und um mich beizeiten selbst noch einmal zu vergewissern, dass auch wirklich alles in Ordnung war und kein Grund zur Sorge bestand, holte ich aus der Schublade meines Schreibtisches regelmäßig das in Klarsichtfolie abgeheftete Abiturzeugnis hervor, setzte mich auf einen kleinen Schemel am Fenster meines Dachzimmers, legte die Füße bequem auf den Sims und beschaute mir jedes Detail ganz genau. Ja, dieser Abschluss war eine Meisterleistung gewesen, keine Macht der Welt konnte ihn mir je wieder nehmen.

 

Und dann, fast über Nacht, tauchte in mir die Frage auf, was genau ich eigentlich falsch machte? Plötzlich zerbrach ich mir beinahe täglich den Kopf, saß vor dem Fenster, das Kinn in die Hände gestützt, blickte über die Felder und suchte nach einer Antwort auf die Frage, warum das Glück, sosehr ich auch darauf wartete, mir nicht mehr zur Seite stand. Und immer regelmäßiger kamen meine Eltern am Abend schon mit verschränkten Armen gemeinsam in mein Zimmer und versuchten, mich zur Rede zu stellen.

»Aber du hast doch ein so tolles Abitur gemacht, mein Sohn«, schluchzte meine Mutter beinahe.

»Ich verliere bald die Geduld! Wie lange willst du hier noch tatenlos rumsitzen!«, erhob mein Vater die Stimme. »Mit deinem Abschluss bekommst du doch jeden Ausbildungsplatz der Welt!«

Ich schwieg zunächst, als hätte ich die beiden gar nicht gehört, dann platzte es aus mir heraus.

»Seid ihr verrückt geworden?! Ich mache doch keine Ausbildung!«, brüllte ich so laut und verächtlich wie möglich durchs Haus. Sie mussten den Verstand verloren haben, wenn sie auch nur eine Sekunde lang geglaubt hatten, ich würde mit meinem Abitur in der Tasche jetzt unmittelbar irgendeiner unsinnigen Arbeit nachgehen. Diese Vorstellung war geradezu grotesk.

 

Jetzt erst bemerkte ich, wie sehr ich meinen lieben und vor allen Dingen so schlauen Freund Vincent doch vermisste. An ihn nämlich, den Sohn mittlerer Beamter, konnte ich mich in jeder Notlage wenden, ihn konnte ich immer um Rat fragen. Vincent, der schon in frühen Jahren immer über alles Bescheid wusste, der sich in allem auskannte, der sich meinem Empfinden nach für wirklich alles brennend interessierte, der schon zu Schulzeiten andauernd allein durch die Gegend reiste und von sich selbst immer sagte, er würde wegen seines Ordnungssinns und seiner Disziplin auch einen hervorragenden Soldaten abgeben, wäre er nicht so ein Feingeist und Pazifist. Vincent verlor nie die Nerven, war von vorbildlicher Verlässlichkeit, und allein mit ihm Zeit zu verbringen gab mir das gute Gefühl, vielleicht selbst auch von vergleichbarem Charakter zu sein. Und jetzt merkte ich also, wie sehr seine Abwesenheit meine Unruhe verstärkte.

Auch mein Schlaf geriet zusehends schlechter, ich begann mit den Zähnen zu knirschen, wie mir mein schmerzender Kiefer am Morgen bedeutete. Häufig wachte ich schweißgebadet aus den immer gleichen sorgenvollen Albträumen auf und fand kaum die Kraft, morgens überhaupt aus den Federn zu kommen. Und spätestens als in den Vereinigten Staaten aus heiterem Himmel die Türme des World Trade Centers einstürzten, kam ich zu der schmerzvollen Erkenntnis, dass etwas Grundsätzliches ins Wanken geraten war, dass mich – stellvertretend für uns alle – das Glück verlassen hatte, ja, dass einfach alles, woran ich glaubte, vielleicht für immer seine Gültigkeit verloren hatte.

Man hörte es ja auch überall: »Nichts wird mehr so sein, wie es mal war«, hieß es rund um die Uhr auf jedem Fernsehsender, im Radio und in den Gesprächen meiner Eltern – und mir war, als würden sie alle ganz allein mich damit meinen. Nichts war mehr so, wie ich es kannte, schlimmer noch, die Hiobsbotschaften rückten sogar immer dichter an mich heran.

Denn dass sich nun, wie sich schon bald herausstellte, das Glück nicht bloß von mir abgewandt hatte, sondern ausgerechnet Personen in meinem nächsten Umfeld zufiel, Menschen, die es sehr viel weniger verdient oder nötig gehabt hätten, gab mir den Rest.

 

Getroffen hatte es nämlich ausgerechnet meinen anderen besten Freund, Sebastian, den hoch aufgeschossenen, hellblonden, strahlenden Sohn eines Zahnchirurgen aus der Nachbarstadt.

Ich hatte Sebastian, der wie ich ein begabter Fußballer gewesen war, einige Jahre zuvor in einer Auswahlmannschaft kennengelernt und mich schnell mit ihm angefreundet. Er war im Vergleich zu mir zwar gewiss nicht behüteter, aber doch in ungleich größerem Luxus aufgewachsen, denn in den goldenen Siebziger- und Achtzigerjahren der Bundesrepublik hatte sein Vater so viele Zähne und Kiefer aufgebohrt und daran herumgemacht, dass die Familie bald gar nicht mehr wusste, auf welchen Konten im In- und Ausland sie das ganze Geld noch würde verstecken können. Das Glück des Vaters und das seiner Patienten war viele Jahre lang ein gegenseitiges gewesen und hatte darin bestanden, dass die gesetzlichen Krankenkassen ganz einfach bezahlten, was kaputtgegangen war. Und so gingen die Menschen damals mit einem Lächeln zum Zahnarzt und gönnten dem Herrn Doktor den dunkelblauen Jaguar, den ich so liebte, die Sorglosigkeit der Familie sowie die üppige, von oben bis unten mit carrarischem Marmor und Jugendstilmöbeln ausgestattete Villa am Stadtpark, in der ich meinen Freund stets gern besuchte, wenn es die Zeit mir erlaubte.

Da die wirklich goldenen Jahre für Zahnärzte im Ruhrgebiet jedoch längst vorbei waren und Sebastians Vater bereits alles Geld der Welt verdient hatte, waren er und seine Frau die meiste Zeit gar nicht mehr vor Ort, sondern vergnügten sich in ihren Ferienhäusern in Südeuropa oder fuhren auf einem Kreuzfahrtschiff durch die Karibik – und bald wurden ihre Besuche in der Heimat so rar, dass Sebastian mehr oder weniger allein auf dreihundert Quadratmetern lebte, nur hin und wieder noch von den Eltern besucht, und irgendwann, später, würden sie dem kargen Ruhrgebiet vollends »Adieu« sagen und einen Bauernhof in der Eifel beziehen.

 

Als hätte es also das Schicksal mit meinem lieben Freund nicht schon gut genug gemeint, stellte sich nun zu allem Überfluss auch noch heraus, dass Sebastian im Begriff war, ein erfolgreicher Musiker zu werden. Seit Jahren schon hatte er mit ein paar Freunden an einem Musikprojekt gearbeitet und sich im Keller seines Elternhauses ein stetig wachsendes Tonstudio aufgebaut. Ich indes hatte diese Entwicklungen immer mit einer gewissen Abschätzigkeit betrachtet, ja, ich muss zugeben, dass ich dem Unterfangen nie die allergeringsten Erfolgsaussichten beigemessen und es für pure Zeitverschwendung gehalten hatte. Oder um noch deutlicher zu werden: Als Sebastian und seine Freunde begannen, erste Konzerte zu spielen, kam ich um das mir so unangenehme Gefühl nicht herum, sie würden sich damit regelrecht lächerlich machen. Ich war also die meiste Zeit froh, nicht daran mitzuwirken, mich nicht in diese brotlose Kunst zu versteigen, und machte mir einen Spaß daraus, ihre Anstrengungen mit der gebotenen Distanz beschämt zu beobachten.

Mit einem Mal aber rannten ihnen die Plattenfirmen regelrecht die Türe ein, es passierte alles so schnell, ich konnte unmöglich darauf reagieren, und nur kurze Zeit später unterschrieb Sebastian als Chef und Produzent des Ganzen einen richtigen Plattenvertrag. Alles deutete nun darauf hin, dass eine große, von noch mehr und noch schöneren Erfreulichkeiten gesegnete Zukunft auf ihn wartete.

 

Der Neid brannte wie Feuer in mir, und ich war fortan von der Vorstellung besessen, es ihm, so schnell es nur irgendwie ging, gleichzutun. Ja, ich wollte all das selbstverständlich auch: Geschäftstermine, Honorarverhandlungen und Vorschüsse, Veranstaltungen, Konzerte, Relevanz und Ansehen. Und je häufiger ich Notiz davon nahm, was sich in Sebastians Leben nun abspielte, desto mehr geriet ich in Rage über die Tatsache, dass es ausgerechnet ihm widerfahren war, ihm, der doch bereits so viel besaß, und nicht mir, der es doch erst noch zu Wohlstand bringen musste.

Aber was sollte ich tun? Ich hatte zwei Optionen: Ich konnte in Selbstmitleid versinken und meine Wut über diese Ungerechtigkeit in mich hineinfressen, oder aber ich nutzte die Gelegenheit dazu, endlich einmal selbst etwas in Angriff zu nehmen. Aber wie? Irgendetwas, das stand fest, musste sich ändern. Es wurde ja langsam auch Zeit.

 

Eines Morgens erwachte ich ungewöhnlich früh. Die Sonne stand noch ganz tief, es war gerade einmal sechs Uhr, aber draußen war es schon ungemein warm, wie ich durch das weit geöffnete Fenster meines Kinderzimmers ahnte. Irgendetwas lag in der Luft, ich konnte es spüren, also sprang ich unter die Dusche und zog mir im Anschluss leichte Sommerkleidung über – ich wollte heute einfach sehr viel früher nach draußen, noch bevor meine Eltern in die Fabrik aufbrachen. In großen Sätzen sprang ich die Treppe hinunter, dass es nur so polterte. Ungläubig drehte sich meine Mutter in der Küche um, doch ich war bereits halb zur Haustür hinaus. »Warte nicht mit dem Essen auf mich, Mutter! Es könnte heute spät werden«, rief ich ihr zu, und sie verstand, so nehme ich an, an diesem Tag die Welt nicht mehr ganz, schien doch mit einem Male nichts mehr übrig von dem gerade noch so verunsicherten, antriebslosen jungen Mann der letzten Monate, ihrem einzigen Sohn.

Ich spazierte hinaus in den Tag. Vor mir lagen die Kornfelder des Bauern Müller, und ich verspürte plötzlich den unbändigen Drang, mich, anstatt daran vorbeizulaufen und wehmütig über sie hinwegzuschauen, kurzerhand in sie hineinzustürzen. Als Kinder hatten meine Freunde und ich dem Bauern jeden Sommer wieder Teile seiner Ernte platt getreten, einfach so, weil wir es liebten, unter den uns weit überragenden Ären Verstecken zu spielen und Gänge zwischen sie hineinzutrampeln, auf denen wir uns ganze Tage lang durch das schier unendliche Weizenmeer hindurchbewegten. Eine Kindheit von besonders schlichter Schönheit war das, dachte ich einmal mehr, als ich vor dem Kornfeld stand, eine von fast allen elterlichen Verboten befreite – denn erlaubt war damals so gut wie alles und verboten so wenig wie nichts.

Nirgendwo war in dieser Herrgottsfrühe eine Menschenseele zu sehen, nur weit entfernt, am anderen Ende des Feldes, zog ein Mähdrescher einsam seine Runden. Ob es der Bauer Müller höchstpersönlich war? Früher war er nicht besonders gut auf uns zu sprechen gewesen, denn wenn wir nicht gerade seine Ernte zerstampften, sprangen meine Freunde und ich in die auf dem gemähten Feld abgestellten Anhänger, die bis obenhin mit purem Korn beladen waren, und als wären sie mit Goldtalern und Diamanten gefüllte Geldspeicher, versuchten wir darin herumzuschwimmen, was allerdings nicht gerade dergestalt funktionierte, wie wir es uns ausgemalt hatten.