Heilung - Timon Karl Kaleyta - E-Book

Heilung E-Book

Timon Karl Kaleyta

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Beschreibung

Ein Mann kann nicht mehr schlafen. Mit den Nerven am Ende, fürchtet er, alles zu verlieren: seine Ehe, seinen Status, das Leben. Seine Frau Imogen schickt ihn ins San Vita, ein mysteriöses Nobelresort in der verschneiten Stille der Dolomiten. In Obhut von Prof. Trinkl soll er dort zu sich selbst finden. Er sträubt sich aus Angst, sich seinem Innersten stellen zu müssen. Und zu Recht: Trinkl verspricht ihm zwar das Glück, flüstert ihm aber ein Unbehagen ein, das in der Kindheit begründet liegt. Zutiefst verunsichert flieht der Mann zu seinem besten Freund aus Kindertagen. Und ahnt noch nicht, wie weit er gehen muss, um Heilung zu erfahren. Ein überraschender Roman. Schlafwandelnd und doch hellwach. Zwischen Traum und wahrster Wirklichkeit. »Ein glänzend geschriebener, ein unterhaltsamer und intelligenter deutscher Roman, das hat man nicht alle Tage« - Denis Scheck über »Die Geschichte eines einfachen Mannes«

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© Timon Karl Kaleyta 2024

© Piper Verlag GmbH, München 2024

Covergestaltung: Cornelia Niere

Coverabbildung: Friedrich Kunath, I Don’t Worry Anymore, 2016. Acrylic and colored pencil on canvas. Photo courtesy the artist and Andrea Rosen Gallery

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Widmung

Zitat

TEIL I

INNEN

Rund um das Außenbecken lag meterhoch Schnee. …

TEIL II

AUSSEN

Von dem Moment, als ich die Augen aufschlug, …

EPILOG

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Für Frido

»Jeder Mensch trägt in seinem Inneren ein schreckliches anderes Universum der Hölle und des Unbekannten mit sich herum. […] Es ist ein gewaltiger Abgrund, tiefer als der tiefste Krater der Welt, dünner als die dünnste Luft, weit hinter dem Mond.«

Patricia Highsmith

TEIL I

INNEN

Rund um das Außenbecken lag meterhoch Schnee. Die Gipfel der Berge ragten nach allen Seiten hin in den sich bereits verdunkelnden Nachmittagshimmel. Es war kaum ein Laut zu hören, die Bäume schluckten jedes Geräusch, nur in meinen Ohren pochte nach den Behandlungen des Tages das Blut im Takt meines Pulses. Ich glitt in das warme, salzige Wasser und tauchte unter.

Schon seit Tagen fiel der Schnee ohne Unterlass aus den Wolken, es war einer der kältesten Winter der vergangenen Jahrzehnte. Große Teile Europas lagen unter einer dichten weißen Decke. Auch jetzt schneite es, und als ich nach ein paar Sekunden wieder auftauchte, den Kopf in den Nacken legte und mir die Haare zurückstrich, fielen dicke Flocken auf mein Gesicht, wo sie augenblicklich schmolzen.

Ich ließ mich einige Minuten lang treiben, starrte hinauf in den rauschenden Himmel und atmete ein und aus. Wenn meine Ohren dabei für ein paar Sekunden lang untertauchten, hörte ich ein tiefes Dröhnen. Über der Wasseroberfläche war wieder alles still.

Als ich mich nach einer Weile in Bauchlage drehte und in Richtung Aufgang schwamm, legte eine Frau von vielleicht Mitte dreißig ihren Bademantel ab und stieg mit federnden Schritten unmittelbar vor mir ins Wasser. Ich sah, dass ihre Wangen und ihre Stirnpartie von einer vermutlich gerade beendeten kosmetischen Anwendung glühten. Ihr Körper war durchtrainiert, drahtig, doch anmutig, und als sie mir scharf in die Augen sah, wandte ich meinen Blick abrupt ab, um ihr zu erkennen zu geben, dass ich ihre Nacktheit keinen Moment zu lang betrachten würde. Ich trocknete mich in der klirrenden Kälte ab, streifte mir den Bademantel über, und erst als ich die Tür zum Innenbereich öffnete, drehte ich mich noch einmal kurz nach ihr um – die Frau schwamm langsam, ich sah nur ihren über das Wasser dahingleitenden Hinterkopf.

 

Tags zuvor war ich auf Anraten meiner Frau Imogen hierhergereist. Hoch in die Berge Südtirols, ins San Vita, ein luxuriöses Gesundheitsresort, das erst vor rund zwei Jahren eröffnet hatte und mit seinem ganzheitlichen Ansatz aus Naturheilkunde und Spitzenmedizin seither international für Aufsehen sorgte. Auf der minimalistischen Webseite stand nur ein einziger Satz, dunkelgrau auf weiß: Länger besser leben.

Imogen hatte entschieden, dass ich meinem Problem, das längst zu unserem Problem geworden war, dass ich meinem »Zustand«, wie sie es nannte, noch einmal anders begegnen müsste. Dass nur hier, in den Dolomiten, auf 1500 Metern Höhe, abgeschottet von den Ablenkungen des Alltags, eine Lösung gefunden werden konnte.

»Du musst es versuchen«, hatte sie noch am Tag der Abreise gesagt und meine Hände mit ihren umfasst. »Gib Professor Trinkl und seinem Team zumindest die Chance, dir zu helfen!«

Seit Wochen wehrte ich mich dagegen, machte ihr Vorwürfe, verlor immer wieder die Nerven. Ich glaubte nicht daran, dass Prof. Trinkl mir würde helfen können, aber dass ich meiner Frau so ablehnend und gereizt begegnete, war selbstverständlich bereits Teil meines Problems, das weiß ich jetzt.

 

Mein »Zustand« hatte sich vor drei Jahren schleichend eingestellt. Immer früher am Tag überfiel mich eine entsetzliche Müdigkeit. Eine Müdigkeit, so umfassend, dass sie all meine Gedanken lähmte, so erdrückend, als hinge eine schwere Bleischürze über meinen Schultern.

Wie ein dem Leben entrissener Geist stand ich morgens mit dunklen Augenhöhlen vor dem Spiegel. Innerhalb weniger Wochen verlor ich sieben Kilo an Gewicht, ich hatte kaum noch Appetit. Die Hosen rutschten mir von den Hüften, die Hemden wehten um meine Schultern, und sosehr ich es auch ignorieren wollte, schon gegen Mittag ließ ich mich wieder auf das Tagesbett in unserer Küche fallen. Dort glitt ich in ein mehrstündiges Dösen, aus dem ich viel zu spät völlig orientierungslos hochschreckte. Und es dauerte ein, zwei Minuten, bis ich wieder wusste, wer oder wo ich war.

Monatelang tat ich die Müdigkeit ab und versuchte, ihr beizukommen, indem ich immer noch etwas früher zu Bett ging. Doch als auch nach zwölf Stunden Nachtruhe keine Besserung eintrat, als ich, je mehr ich schlief, immer nur noch träger wurde, ahnte ich, dass etwas Grundlegendes ins Rutschen gekommen war.

»So geht es nicht weiter. Wir müssen was tun«, höre ich Imogen noch heute sagen. Und es war die Sorge in ihrem Ausdruck, die Strenge, mit der sie mir bedeutete, endlich etwas zu unternehmen, die meinen Trotz weckten. Lange Zeit verbot ich ihr, das Thema anzusprechen. Ich war sicher, mein Zustand würde genauso schnell und unvermittelt wieder verschwinden, wie er gekommen war.

Erst nach über einem Jahr ohne Besserung erklärte ich mich bereit, mir helfen zu lassen. Doch je mehr Spezialisten ich aufsuchte, je präziser ich ihnen meine Symptome schilderte und je gründlicher sie mich untersuchten, desto eindeutiger geriet am Ende die Diagnose: Ich war nicht krank. Mir fehlte nichts.

An manchen Tagen schaffte ich es nicht mehr aus dem Bett, ich ließ mich hängen, und an den Abenden, wenn Imogen nach ihrer Arbeit langsam zur Ruhe kam, saßen wir wortlos beieinander, ehe wir zu Bett gingen. Später hörte ich sie manchmal leise in ihrem Zimmer weinen. Was war bloß über mich gekommen, fragte ich mich, bis der Aufenthalt in einem Schlaflabor eine erste Antwort lieferte.

»Hier, sehen Sie … Diese Kurve zeigt es ganz deutlich«, sagte der Somnologe und deutete auf einen Graphen, der sich spitz über Millimeterpapier schlängelte. »Sie finden nicht in den Tiefschlaf. Kein einziges Mal. Wirklich erstaunlich.«

Ich schaute ihn fragend an.

»Und leider auch besorgniserregend. Dafür ist das menschliche Gehirn nicht gemacht.«

»Und das heißt?«

»Na ja, das Gehirn … es braucht seine Ruhephasen.«

»Aber ich schlafe eigentlich gut.«

Der Arzt schaute sich die Ergebnisse noch einmal genauer an.

»Na gut, dann frage ich anders. Können Sie mir sagen, wann Sie zum letzten Mal geträumt haben?«

Seltsamerweise konnte ich mich nicht entsinnen.

»Experimente an Ratten haben gezeigt, dass die Tiere nicht länger als eine Woche überleben, wenn man ihnen das Träumen nimmt«, führte er aus. »Sie verlieren den Verstand und verenden schließlich.«

»Wovon träumen Ratten?«, fragte ich zurück, bekam aber keine Antwort.

Stattdessen zeigte er mir eine Videoaufzeichnung der untersuchten Nacht. Darauf war zu sehen, wie ich, ohne selbst Notiz davon zu nehmen, alle zehn bis fünfzehn Minuten wach wurde, den Kopf hob, die Augen aufriss, nervös die Bettseite wechselte und wieder einschlief – so ging das die ganze Nacht, eine einzige Raserei.

»Sie finden keine Entspannung«, sagte er, »etwas blockiert. So etwas wie Sie habe ich, ehrlich gesagt, noch nie gesehen.«

»Schön und gut, aber was können wir tun?«

»Wir müssen, nein, Sie müssen die Ursache für diese Blockade finden. Und sie beseitigen …« Er legte die Stirn in Falten und sah mich an. »Ich bin zwar kein Therapeut, aber möglicherweise gibt es da, grob gesprochen, etwas, das Sie beschäftigt?«

»Nein«, entgegnete ich.

»Irgendein Problem?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Belastet Sie etwas? Eine Veränderung? Eine schwere Aufgabe? Haben Sie Angst?« Er trat ganz nah an mich und sprach im Vertrauen zu mir. »Probleme finanzieller Natur? Wissen Sie, das ist keine Schande.«

Ich schloss die Augen. »Nein«, sagte ich ruhig. »Geld ist kein Problem. Meine Frau und ich … Wir …« Ich wollte den Satz nicht zu Ende führen. »Uns geht es gut.« Ich unterdrückte ein Gähnen.

»Na dann, wenn Sie keine Probleme haben … Vielleicht müssen Sie einfach Ihr Leben ändern?«

 

Da ich der festen Überzeugung war, dass man Probleme ausschließlich mit sich selbst auszumachen hat, begann ich, Sport zu treiben. Ich stellte meine Ernährung um, verzichtete auf Fleisch, trank mehrere Liter Wasser am Tag, hörte mit dem gelegentlichen Rauchen auf und veränderte fast sämtliche meiner Gewohnheiten. Und doch verschlechterte sich mein Zustand. Ja, es kam mir sogar so vor, als wäre diese Verschlechterung gerade deswegen eingetreten, weil ich mit jemandem darüber gesprochen hatte, als wäre es bereits ein Fehler gewesen, der Sache überhaupt auf den Grund gehen zu wollen, anstatt darauf zu vertrauen, dass alles irgendwie gut werden würde.

Inzwischen wachte ich jede Nacht mehrfach auf, war mit einem Mal hellwach und fand bis zum frühen Morgen nicht wieder in den Schlaf. Um Imogen mit meiner Unruhe nicht zu belästigen, schliefen wir in getrennten Zimmern, und nicht selten verließ ich nach Mitternacht unsere Wohnung und fuhr mit dem Aufzug hinunter in die Tiefgarage, setzte mich in unser Auto, schaltete die Klimaanlage ein und lauschte bis zum Morgengrauen dem nächtlichen Radioprogramm. Und manchmal döste ich dabei sogar für ein paar Momente ein.

Innerhalb von zwei Jahren war ich für Imogen zu einer Last geworden. Ich sehe das inzwischen ganz klar. Und sooft ich mir auch vornahm, dass mit dem kommenden Tag alles anders werden würde, sowenig war ich im Alltag noch imstande, so etwas wie Normalität aufrechtzuerhalten. Eine Normalität, die Imogen allerdings für ihre berufliche Tätigkeit dringend benötigte.

»Vielleicht brauchst du therapeutische Hilfe?«, probierte es meine Frau. »Kann doch sein?«

»Fängst du jetzt auch noch damit an?«

»Es ist keine Schande, zu einem Psychologen zu gehen. Ich kenne Hunderte Leute, die das tun.«

»Verschone mich bitte mit diesem Unsinn!« Entgegen meiner Natur wurde ich immer aggressiver.

»Oder … es sind die Hormone?«

»Kann sein«, bemühte ich mich.

»Vielleicht klappt es ja deswegen nicht bei uns«, sagte Imogen, und ich verstand ihre Andeutung sofort. »Vielleicht hängt alles miteinander zusammen?«

»Vielleicht«, sagte ich, doch in Wahrheit hatte ich aufgegeben. Ich glaubte nicht mehr daran, dass ich meine Schlafstörung und alles, was damit einherging, in den Griff bekommen würde. Viel eher wollte ich mich damit arrangieren, so wie ich es immer getan hatte, wenn ich mich mit einem Problem konfrontiert sah. Ich würde mich an den Zustand gewöhnen, das Beste daraus machen und lernen, damit umzugehen – insgeheim fürchtete ich mich jedoch vor dem Tag, an dem Imogen erkannte, dass sie ohne mich besser dran war.

Dieser Tag allerdings war noch nicht gekommen. Mindestens eine Woche, besser zwei oder drei, würde ich nun bei Prof. Trinkl in den Bergen verbringen. Imogen hatte bei einem Abendessen ihres Galeristen erstmals vom San Vita erfahren, sie hatte aus erster Hand von Menschen gehört, die, wie es hieß, von Grund auf verändert von dort zurückgekehrt waren. Und obwohl ich ihr zu verstehen gab, dass ich die Kosten für Aufenthalt und Behandlung entschieden zu hoch fand, obwohl ich sie davor warnte, mich im San Vita heimlich einer Seelenschau unterziehen lassen zu wollen, ließ sie keine Widerrede gelten und arrangierte alles.

»Sei unbesorgt, es ist etwas anderes«, sagte Imogen bei meiner Abreise. »Im San Vita ist alles anders.«

Ich musste zumindest so tun, als würde ich daran glauben. Es war meine letzte Chance. Und so war ich gegen meinen erklärten Willen hierhergekommen.

 

Bedingt durch die extreme Witterung erreichte ich den winzigen Bahnhof in Terlan erst mit drei Stunden Verspätung. Es war bereits stockfinster. Als einziger Passagier stieg ich aus und sah in dem dichten Schneegestöber die Hand kaum vor Augen. Ich versuchte, das Resort telefonisch zu erreichen, doch eine Verbindung ließ sich nicht herstellen.

Plötzlich sah ich, zunächst schemenhaft, dann immer deutlicher, eine gedrungene, winzige Gestalt auf mich zukommen.

»Verzeihung?«, rief ich ihr zu, da war sie schon ganz dicht an mich herangetreten, lächelte und streckte die Hand nach meinem Gepäck aus.

»Darf ich?«

Der Mann war beinahe so breit wie hoch, er erinnerte mich an einen Zwerg. Ich nickte.

»Schön, dass Sie es geschafft haben. Wir haben uns bereits Sorgen gemacht«, sagte er mit einer gepressten Stimme, in seinem Bart glitzerten ein paar Eiszapfen. »Wenn Sie mir bitte folgen wollen? Es ist nicht weit.«

Mit festem Schritt stapfte er voraus, meine Reisetasche über seine rechte Schulter geworfen, das dichte Fell seiner Kapuze wippte vor mir auf und ab.

»Sie haben hier aber nicht seit drei Stunden auf mich gewartet?«, rief ich ihm zu und lachte, und er drehte sich um und lachte nur zurück, da erreichten wir die schmale Straße. »Bitte verzeihen Sie die Umstände.« Er deutete auf einen uralten roten Fiat Panda, der mit laufendem Motor im gelben Licht einer Laterne stand. »Mit schwereren Autos kommen wir nicht gut durch die Serpentinen.«

»Natürlich«, antwortete ich und zwängte mich auf die Rückbank, während der kleine Mann meine Tasche im Kofferraum verstaute.

 

Die Fahrt dauerte etwa eine halbe Stunde. Draußen vor dem Fenster war nicht das Geringste zu erkennen. Mein Fahrer sprach kein Wort mehr, und auch ich stellte keine Fragen. Einmal stöhnte er leise und riss hektisch das Lenkrad herum, ohne dass das Auto eine besondere Wende gemacht hätte. Erst jetzt bemerkte ich, dass mit seinem linken Arm etwas nicht stimmte. Er lenkte und schaltete nur mit der rechten Hand.

Wir glitten dahin. Ich hatte mich in losen Gedanken verloren, als wir wie aus dem Nichts zum Stehen kamen und im Scheinwerferlicht des Fiat ein schweres Eisentor aufschwang. Vor uns lag die hell erleuchtete Einfahrt einer Tiefgarage, die unmittelbar in den Berg hineinführte.

Noch in dem Moment, da ich aus dem Wagen stieg, nahm mich eine Ärztin im weißen Kittel in Empfang. Sie führte mich aus der kargen Garage hinaus in ein Treppenhaus und weiter ins Atrium. Überall knarzte das Holz, das Licht war warm und wohlig, es duftete nach Zirbe und aromatischen Ölen.

»Im Namen von Professor Trinkl heiße ich Sie herzlich willkommen. Hatten Sie eine gute Reise?«

Ich lächelte verkniffen.

»Sie haben gleich Gelegenheit, sich auszuruhen«, sagte sie. »Wir müssen nur noch rasch einen Blick auf Sie werfen. Es geht auch ganz schnell.«

In einer Art Aufnahmezimmer legte ich hinter einem Paravent meine Kleidung ab und gab sie mitsamt meinen Wertgegenständen in eine weiße Kunststoffbox. Auch mein Telefon durfte ich nicht bei mir behalten. Stattdessen fand ich später auf dem Sekretär meiner Hütte einen Füllfederhalter, mit dem ich rund um die Uhr Nachricht und Empfänger auf einen Bogen Papier notieren konnte, um, sobald eine Antwort vorlag, diese, ebenfalls handschriftlich, zugestellt zu bekommen.

Lediglich meine goldene Armbanduhr behielt ich an – Imogen hatte sie mir vor ein paar Jahren gekauft, eine kleine Überraschung, und ich hatte sie seither kein einziges Mal abgelegt. Ich streifte die bereitliegende Unterwäsche aus angenehm weicher Baumwollgaze über und trat halb nackt hinter dem Paravent hervor.

Ich durchlief ein Belastungs-EKG sowie eine Koloskopie, eine Assistentin maß meinen Puls und Blutdruck und schloss mich zur Überprüfung der Lungenfunktion an eine mit zahlreichen Schläuchen und Pumpen versehene Maschine an. Schließlich schoben mich zwei Pfleger der Länge nach in einen Kernspintomographen. Nachdem ich all diese Tests hatte über mich ergehen lassen, gab ich eine Harn- und Stuhlprobe ab, wurde für die erste Nacht mit zwei Sensoren an den Schläfen versehen, und zuallerletzt nahm man mir drei Ampullen Blut ab, sodass mir beim Aufstehen kurz schwarz vor Augen wurde.

»Damit haben Sie das Unangenehmste auch schon hinter sich«, sagte die Ärztin mit einem Lächeln, »ab jetzt geht es nur noch bergauf.« Und dann gingen wir gemeinsam meine Termine für die kommenden sieben Tage durch. Ein straffer Zeitplan der Säuberung und Regeneration lag vor mir, der – wie sie es ausdrückte – vollständigen Neuorganisation meiner Selbstheilungskräfte.

Es fiel mir schwer, mich auf all ihre Erklärungen zu konzentrieren. Doch ich nickte verständig, tat nach der langen Reise ganz einfach, was sie von mir verlangte, und verschwand im Anschluss an ein leichtes Abendessen, bei dem ich nur etwas gedünstete Forelle und zwei kleine Salzkartoffeln zu mir nahm, in meine Holzhütte, wo mich bereits eine handschriftliche Nachricht von Imogen erwartete.

Wenn du das hier liest, hast du schon viel geschafft. Ich bin unglaublich stolz auf dich. Die Leute sagen, Professor Trinkl könne zaubern. Es heißt, er blicke direkt in die Menschen hinein und nehme sie als sie SELBST wahr! Bitte lass es einfach geschehen. Und dann kommst du geheilt wieder zurück. Abgemacht?

 

Nichts versetzte mich zu jener Zeit in größere Panik als die Vorstellung, jemand könnte in mich hineinsehen. Trotzdem machte ich mich gleich an eine Antwort und schrieb, einerseits, weil es der Wahrheit entsprach, andererseits, weil ich wusste, dass Imogen es von mir erwartete, zwei kurze Sätze auf das bereitliegende Papier:

Ich liebe dich. Und: Das werde ich.

 

Die erste Nacht im San Vita verbrachte ich in gewohnter Nervosität. Ich fand in dem riesigen Zirbenholzbett, unter den schweren, gestärkten Oberbetten, keine Ruhe. Mitten in der Nacht wachte ich auf, und nach ein paar Momenten der Orientierung nahm ich die Beißschiene aus dem Mund, ging barfuß über die warmen Holzdielen zum Fenster und schaute hinaus in die eisklare Nacht.

Hier und da flackerte noch Licht in den anderen Hütten, die sich rund um einen kleinen, vermutlich künstlich angelegten See reihten. Aus ihren Schornsteinen stieg dünner Rauch auf, sonst regte sich weit und breit nichts. Der Schneefall hatte ausgesetzt, ein greller Vollmond stand hoch am Himmel, nur ganz langsam zogen einzelne Wolken an ihm vorbei, und erst jetzt erkannte ich, dass das Resort von dichtem Wald umgeben war.

Alles im San Vita war zur Ruhe gekommen. Ich warf mir eine Wolldecke über, schlüpfte in die samtenen Hausschuhe und trat hinaus auf die Terrasse. Mein Atem schlug aus. Irgendwo rief ein Kauz. Dann wieder Stille. Ich verlor mich in Gedanken, als ich plötzlich ein Knacken im Unterholz hörte. Etwas kam langsam aus dem Wald und näherte sich über die geschlossene Schneedecke dem Haupthaus. Ich sah eine dunkle Gestalt, die ein totes Tier hinter sich herzog und dabei eine tiefe Spur hinterließ. Vor einem der Seitenflügel blieb sie stehen, öffnete eine in den Boden eingelassene Tür und verschwand die Treppe hinunter – und ich meinte zu hören, wie der Kopf des Tieres Stufe für Stufe dumpf auf Beton schlug.

Erst kurz vor Sonnenaufgang schlief ich noch einmal ein.

 

Am kommenden Tag warteten schon Termine auf mich. Nach dem Frühstück hatte ich bereits eine Telomerlängenmessung zur Bestimmung meines biologischen Alters über mich ergehen lassen und mich im Anschluss ein paar Stunden mit Dampfbädern, Saunagängen und Solebädern beruhigt. Nun würde ich Prof. Trinkl erstmals persönlich kennenlernen und mit ihm meine Labor- und Testergebnisse durchgehen. Für alle Gäste stellte das Aufeinandertreffen mit Trinkl eine besondere Erfahrung dar, so viel hatte ich im Vorfeld verstanden. Und obwohl ich mich innerlich noch immer dagegen wehrte, obwohl ich auf die raunende Bewunderung gegenüber dem Professor nicht das Geringste gab, obwohl ich ausschließen konnte, dass hier, an diesem Ort, die Lösung meines Problems auf mich wartete, so bewirkte, nach allem, was ich heute weiß, allein die Luftveränderung, vielleicht die ausgezeichnete Forelle am Vorabend, vielleicht die Massage gleich nach dem Mittagessen oder die allgemeine Zugewandtheit, mit der mir begegnet wurde, bereits eine kleine Verschiebung meiner Wahrnehmung.

Doch das gestand ich mir zu diesem Zeitpunkt noch nicht ein. Ganz im Gegenteil.

 

Der Professor erwartete mich in seinem Zimmer, das im zentral gelegenen Hauptgebäude zu finden war. Die gesamte Anlage war durch ein unterirdisches Tunnelsystem verbunden. Man trat aus seiner Hütte hinaus ins Freie, dann ein paar Stufen hinab in ein Netz aus Gängen, das einen zu den Behandlungen leitete, ohne dass man sich Wind und Wetter aussetzen musste. Anders als die Behandlungsräume der Assistenzärzte aber, die klinisch modern gestaltet waren, weiß, hell erleuchtet und mit spiegelnden Oberflächen, empfing mich der Professor in einer Art Salon. Flammen tanzten in einem Kamin, die holzvertäfelten Wände sorgten für einen wohligen Klang, und Trinkl saß in einem Ohrensessel vor einem beeindruckenden Bücherregal und kraulte den Kopf eines Berner Sennenhundes, der gutmütig vor seinen Füßen auf einem Fell lag und vor sich hin döste.

Ich stand in der Tür und klopfte zweimal fest gegen das Holz.

»Guten Abend«, sagte ich.

Langsam erhob sich Prof. Trinkl und drehte sich in meine Richtung. Er war groß, bestimmt ein Meter neunzig, in jedem Fall größer als ich. Er trug einen steifen weißen Kittel, darunter Jeans und an den Füßen ausgetretene Wildlederloafer. Seine Haare waren voll, leicht ergraut und lockig – ich schätzte ihn auf um die sechzig, und dennoch machte er einen agilen, athletischen Eindruck. Gewiss, dachte ich, wäre er in der Lage, mich zu überwältigen.

»Guten Abend, treten Sie ein.« Er machte eine einladende Geste.

Ich zog den Gurt meines Bademantels fest und schritt in meinen Pantoffeln lautlos über die auf dem Tafelparkett ausgelegten Läufer. An einem Sekretär in der Ecke saß eine weiß gekleidete junge Frau und begann augenblicklich, in einen Computer zu tippen.

Prof. Trinkl kam mit einem breiten Lächeln auf mich zu. Er hatte einen festen Händedruck. Auch ich drückte entschieden zu, und je länger wir uns die Hände schüttelten, desto fester und fester geriet unser Griff.

»Und? Wie gefällt es Ihnen bei uns?«, fragte Trinkl.

»Gut«, sagte ich knapp und erwiderte sein Lächeln.

»Haben Sie sich schon eingelebt?«

»Ja«, sagte ich.

Trinkls Augen waren gütig, und doch erkannte ich in ihnen von der ersten Sekunde an den Wunsch, in mich einzudringen.

»Wunderbar. Das höre ich gern. Und …« Er machte eine Pause. »Wie war Ihre erste Nacht?«

Für einen Moment war ich irritiert, ließ im Griff etwas nach, was der Professor erkannte, und sogleich lockerte auch er seinen Händedruck.

»Wissen Sie, die Sache ist, ich …«, wollte ich zu einer Antwort ansetzen, da unterbrach er mich.

»Lassen Sie gut sein, das war eine Fangfrage«, sagte er und ließ meine Hand nun los. »Natürlich haben Sie schlecht geschlafen. Deswegen sind Sie ja hier, nein?«

Trinkl wandte sich ab und durchmaß in aller Seelenruhe den Raum, bis er vor dem Fenster zum Stehen kam.

»Kommen Sie«, rief er mir zu. »Lassen Sie uns ein wenig plaudern.«

»Sollten wir nicht über meine Testergebnisse sprechen?«, fragte ich zurück. »Ich meine, darum geht es doch.«

Trinkl lachte. »Gewiss, gewiss«, sagte er. »Aber warum die Eile? Wir haben alle Zeit der Welt.«

Ich trat zu ihm ans Fenster, er deutete nach draußen. Die gesamte Anlage leuchtete in bernsteinfarbenem Licht, wie heiße Quellen unterbrachen die verschiedenen Badestellen den Schnee.

»Hübsch, nicht wahr?«

Ich zuckte mit den Schultern und nickte. »Ja, natürlich.«

Trinkl lächelte und hielt dann, ohne hinzusehen, der Assistentin seine offene Hand entgegen. »Schön.«

Die Frau reichte ihm eine Akte. Trinkl warf einen Blick hinein, ging entspannt die eingelegten Blätter durch und machte dabei ein paar Brummgeräusche. Urplötzlich verzog er das Gesicht, als hätte ihn ein Schmerz durchfahren, dann klappte er die Akte wieder zu.

»Schlechte Nachrichten?«, fragte ich verunsichert.

»Nein«, sagte Trinkl. »Ganz und gar nicht. Jedenfalls, nicht im herkömmlichen Sinne.« Er musterte mich von oben bis unten, nahm meine Hand, befühlte meinen Puls und ließ sie wieder los. »Erzählen Sie doch mal: Was hat Sie hierhergeführt?«

»Ich hatte gehofft«, ich stockte, »meine Frau hatte gehofft, Sie könnten mir helfen. Bei meinem Schlafproblem.«

»Ha!«, rief Trinkl. »Ich hab’s gewusst. Das ist das Problem. Natürlich!«

»Welches Problem?«

»Sie sind noch nicht wirklich hier. Sie fühlen es nicht«, sagte Trinkl laut, doch ohne jede Spur von Aggressivität. »Sie lassen sich nicht richtig auf unser Angebot ein. So etwas haben meine Leute schon angedeutet. Sie wehren sich. Im Grunde genommen wehren Sie sich seit dem Moment, da Arnim Sie am Bahnhof aufgelesen hat. Übrigens: Ein wunderbarer kleiner Mensch, finden Sie nicht?« Trinkl drückte seine Stirn an die Scheibe. »Ach, schauen Sie, da unten! Da ist er ja!«

Ich sah ebenfalls hinunter und versuchte, in dem schummrigen Licht etwas zu erkennen. »Was macht er denn da?«, fragte ich.

»Er fällt einen Baum«, sagte Trinkl und schmunzelte. »Der Mann ist ein Faszinosum. Man weiß nie, womit er gerade beschäftigt ist und warum, manchmal sehe ich ihn tagelang nicht. Und doch ist er da. Immer und überall. Hält seine Augen und Ohren wach. Ohne ihn wären wir alle verloren.«

Ich nickte nur.

»Aber zurück zu Ihnen. Also, was genau missfällt Ihnen hier?«

»Wissen Sie«, ich wog jedes Wort genau ab, »ich war in den letzten Jahren bei sehr vielen Spezialisten. Ich bin, wie soll ich sagen, nicht mehr besonders hoffnungsfroh, was …«

»Sie waren aber noch nicht im San Vita!«, fiel mir Trinkl mit erhobenem Zeigefinger ins Wort. »Sie waren noch nicht im San Vita.« Er legte die Akte auf den Sekretär, ging zum Kamin, erweckte die Glut mit einem Schüreisen zum Leben und legte zwei Scheite Holz nach. »Was glauben Sie«, fragte er nun aus einigen Metern Entfernung, »ist der Unterschied zwischen einem gewöhnlichen ›Krankenhaus‹ und uns?«

Ich legte einen interessierten Gesichtsausdruck auf. »Verraten Sie es mir.«