Die Hexe und der Zauberbaum - Marcel Zischg - E-Book

Die Hexe und der Zauberbaum E-Book

Marcel Zischg

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Beschreibung

Sia Krähenbühl ist elf Jahre alt und wird ständig von ihren Mitschülern gehänselt, weil sie noch mit Puppen spielt und gern Märchen liest. Eines Tages begegnet sie im Wald einer seltsamen Frau: Die Frau trägt ein schwarzseidenes Kleid in der Form eines Fischschwanzes und scheint durch den Wald zu schweben. Sie schimpft über Sia und verschwindet dann so schnell, wie sie gekommen ist. Fortan geschehen weitere merkwürdige Dinge: So entdeckt der dreizehnjährige Mark ein freischwebendes Schwert über seinem Bett, das nur er sehen kann. Sias Bruder Eugen erblickt über sich in der Stadt das Bild eines wunderschönen Mädchens, das ihn anfleht, es zu erlösen. Sia beschließt, den Geheimnissen auf die Spur zu kommen. Gemeinsam mit Mark betritt sie den Wald mitten in ihrer kleinen Stadt. Auf einer Lichtung stoßen sie auf einen Brunnen, der ihnen den Eingang ins Brunnenland gewährt. In diesem Land herrscht die Hexe Massima, welche allen Kindern in der Stadt schreckliche Alpträume bereitet. Hier müssen sich Sia, Eugen, Mark und dessen Schwester Elisa nun ihren größten Ängsten und Sorgen stellen, denn nur auf diese Weise können sie die Hexe Massima und ihren Diener Silvan besiegen. Hilfe erhalten sie dabei einzig von einer wunderbaren weißen Birke, einem Zauberbaum, der als die übrig gebliebene Hoffnung auf Liebe in der verbitterten Hexe wohnt.

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Marcel Zischg

DIE HEXE UND DER

ZAUBERBAUM

Ein Märchen-Roman

für Leser von 12 Jahren an

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2018

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2018) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Lektorat: Moritz Siegel (Dresden)

Titelbild Quercia secolare © mallorca78 (Fotolia)

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

Seltsamerweise hatten plötzlich alle Kinder in der kleinen Stadt Alpträume. Manche Kinder verschwanden sogar. Sie gingen am Abend ins Bett und waren am Morgen nicht mehr da. Am Ende der Geschichte aber kehrten sie aus dem Reich der Hexe Massima zurück und wurden erlöst.

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Letztes Kapitel

Kapitel 1

Endlich Schule aus. Sia war auf dem Weg nach Hause, wie immer nahm sie den Umweg durch den Wald. Hier fühlte sie sich sicher, hier war sie gerne. Natürlich hätte sie auch den kürzeren Weg durch das Stadtzentrum nehmen können, aber da wäre sie sicher auf ihre Mitschüler getroffen.

Sie schaute sich die Bäume an, deren Zweige bis zum Boden herabhingen, die seltsam duftenden Farne und Gräser und das im Wind raschelnde Laub, das an den Bäumen hing. Beinahe hätte sie zu weinen begonnen, als sie nun traurig an Matthias und an ihren Bruder Eugen dachte:

„Na, kleine Sia?“, rief Matthias, ein großer Junge mit ein paar Pickeln im Gesicht und einer Baseballjacke aus schwarzem Leder.

Sia stand auf dem Pausenhof und schwieg.

„Du bist eine stumme Puppe!“, rief Matthias und schubste sie so, dass sie ein paar Schritte rückwärts taumelte. „Sag mal ‚Märchenwald‘! Davon träumst du doch, oder? Von einem Märchenwald?“

Sia sagte gar nichts und bemühte sich darum, nicht zu weinen. Eugen musste Matthias davon erzählt haben, dass Sia Märchen gerne mochte und mit ihren Puppen sogar Märchen nachspielte.

Eugen stand neben Matthias und grinste. „Sag ‚Märchenwald‘, Sia! Komm schon!“, riefen Eugen und Matthias gleichzeitig.

Da lief Sia davon.

Matthias, Eugen und ein paar andere Jungs jagten ihr lachend nach und riefen: „Bring uns zum Märchenwald, stumme Puppe! Bring uns zum Märchenwald, stumme Puppe! Bring uns zum Märchenwald, stumme Puppe!“ Sie lief in den Wald und immer weiter den kleinen erdigen Weg entlang, der sich durch die vielen Bäume schlängelte, bis sie endlich allein war, weil die Jungs ihr nicht mehr folgten.

Sias Schule stand am Stadtrand. Sie wohnte in einer kleinen Stadt und man musste nicht weit gehen, um von der Schule ins Stadtzentrum zu gelangen. Aber Sia hatte Angst vor dem Stadtzentrum, weil dort die meisten Jungen wohnten, die sie hänselten. Weil sie Krähenbühl hieß, wurde sie Krähe genannt. Sie war elf Jahre alt und ging in die fünfte Klasse.

Sias Bruder Eugen war zwei Jahre älter als sie und mochte Sia nicht, weil sie eine Außenseiterin war. Eugen war ein beliebter Junge, der ausgezeichnete Schulnoten schrieb. Auch schwärmten einige Mädchen von ihm, da er ein toller Sportler war, denn er spielte im Handballverein der Schüler. Und nun spielte er in einem Theaterstück an der Schule sogar die Hauptrolle – in einem Märchen.

Sia dagegen spielte mit Puppen; ja, sie spielte mit ihren Puppen Theater. Sia spielte Märchen und Geschichten nach, die ihr gefielen. Aber sie spielte lieber heimlich nachts in ihrem Zimmer – und immer alleine. Die anderen Mädchen würden wohl nicht verstehen, dass ich im Alter von elf Jahren noch mit Puppen spiele, dachte sie. Diese Mädchen interessierten sich alle schon für Musik, Sport oder Jungs.

Sia hatte keine einzige Freundin. Keines der Mädchen aus ihrer Klasse mochte sie, weil sie etwas bucklig war, kohlrabenschwarzes glattes Haar hatte und eine krächzende Stimme.

„Na, kleine Sia!“, rief Matthias, als Sia ihm nach der Schule wieder einmal in die Arme lief. Er ging in die Klasse von Eugen, aber auch einige Jungen und Mädchen aus Sias Klasse hatten sich hinter Matthias versammelt, der sie alle dazu überredet hatte, Sia abzupassen. Die Kinder kreisten Sia ein, sodass sie nicht mehr weglaufen konnte.

Als Sia nun in ihrer Mitte stand, begannen alle, einen Buckel zu machen. In dieser buckligen Haltung tanzten sie um Sia herum, schnitten hässliche Fratzen und grölten immerfort: „Krähe! Krähe! Krähe!“

Sia durchbrach den Kreis an einer Stelle und warf dabei vor lauter Verzweiflung ein Mädchen zu Boden, dann lief sie davon.

Eugen rief ihr hinterher: „Sia!“, und seine Stimme klang in diesem Augenblick etwas besorgt. Sia aber lief immer weiter, bis sie zu Hause ankam.

Als Eugen später nach Hause kam, verlor er kein Wort über den Vorfall. Noch nicht einmal die Lehrer schienen etwas davon bemerkt zu haben.

Wie Sia an diesem Tag durch den Wald ging, dachte sie über all dies nach und fühlte sich sehr traurig und verlassen. Weil sie nie viel redete, gaben sich auch ihre Eltern eher mit Eugen ab, der am Mittagstisch quasselte und quasselte – über die Schule, über Handball und so weiter.

Plötzlich kam Sia mitten im Wald eine Frau entgegen. Sie trug eine rote Dauerwelle und ein schwarzseidenes Kleid in der Form eines Fischschwanzes. Das sah sehr seltsam aus. Und unter dem Fischschwanz ragten zwei lange, nackte Füße in roten Stöckelschuhen hervor, die eilig durch den Wald gingen – ja, fast schwebten!

Die Frau blickte Sia böse an, als wäre sie über Sia verärgert. Schnell lief sie an Sia vorbei, aber Sia hörte sie noch rufen: „Das ist mein Brunnen, und ich verbiete dir, Steine hineinzuwerfen, verstanden?!“

Mit einem Mal war der dichte Mischwald um Sia herum verschwunden, und sie stand auf einer Lichtung mit einem steinernen Brunnen. Der Brunnen hatte keine Winde und Sia wusste, dass er sehr tief war. Zwischen den Brunnensteinen wuchs kohlrabenschwarzes Moos. Und um den Brunnen herum lagen lauter große, schwere und kohlrabenschwarze Steine. In der Mitte der Lichtung, über den Brunnen gebeugt, stand ein verdorrter, kranker Baum, von dessen kahlen Zweigen schwarzes Pech in traurigen Tropfen ins Wasser rieselte. Sia hatte diesen Brunnen niemals zuvor gesehen, und es überkam sie aus irgendeinem Grund große Angst, sodass sie schleunigst davonlief.

Sogleich fand sie den kleinen Weg wieder, von dem sie abgekommen war, obwohl sie sich nicht daran erinnern konnte, ihn je verlassen zu haben. Ganz plötzlich war sie vor diesem seltsamen Brunnen gestanden. Wie war das möglich gewesen?

Sie lief immer weiter, und endlich mündete der Weg in die Straße. Diese Straße führte in der einen Richtung zur Autobahn und in der anderen Richtung ins Stadtzentrum, das Eugen immer durchquerte, wenn er von der Schule nach Hause ging. Kurz darauf stand Sia bereits vor ihrem Haus, einem schönen kleinen Einfamilienhaus am Waldrand vor der Stadt. Und von der Stadt her näherte sich nun auch ihr Bruder Eugen mit seinem besten Freund Mark Spada.

An diesem Nachmittag wollten sich die beiden zum Handball treffen.

Während Mark mit Eugen in dieselbe Klasse ging, war Marks jüngere Schwester Elisa mit Sia in einer Klasse, aber die schöne blonde Elisa benahm sich wirklich unausstehlich gegenüber Sia und hänselte sie bei jeder Gelegenheit. „Was bist du doch nur für eine hässliche Krähe mit deinem Hexenbuckel und deinen scheußlichen schwarzen Haaren!“, sagte sie meist.

Elisa ist groß und blond und hebt ihre Nase ziemlich hoch, dachte Sia, weil sie das schönste und beliebteste Mädchen in unserer Klasse ist. Aber was kann ich denn dafür, dass ich etwas bucklig bin und nicht so schöne blonde Haare wie Elisa habe?

Sia drehte sich noch einmal zum Wald um. Sie hörte nur den sanften Wind in den Baumwipfeln und die Vögel zwitschern – es war ein schöner, klarer Apriltag mit strahlend blauem Himmel.

„He, Krähe!“, rief Eugen schon von Weitem, aber Sia beachtete ihn gar nicht, sondern ging einfach schnurstracks auf die weiße Haustür zu und klingelte.

Ihre Mutter öffnete. „Meine Güte!“, rief sie, „wieso kommt ihr denn heute so spät nach Hause? Und wo ist Eugen? Das kommt doch sonst nie vor, dass ihr euch so verspätet! Wir essen um Punkt dreizehn Uhr, das wisst ihr doch längst! Ihr seid fünfzehn Minuten zu spät!“

Sia dachte an die heutigen Hänseleien von Matthias und Eugen und an ihre Rufe „Stumme Puppe!“, aber sie wollte keine Petze sein. Schließlich hatte sie sich nur deswegen verspätet, weil sie so langsam, traurig und schwerfällig nach Hause gegangen war.

„Es tut mir leid“, entschuldigte sie sich.

Ihre Mutter wandte sich aber schon ab und eilte in die Küche. „Nun komm schon rein!“, sagte sie.

Sias Mutter hieß Marie Krähenbühl und kümmerte sich um den Haushalt, während ihr Mann als Bankangestellter in der Stadt arbeitete. Sie hatte das Essen bereits aufgetischt und ärgerte sich immer noch über die Verspätung ihrer Kinder. Der Vater, Markus Krähenbühl, saß bereits am Tisch in seinem hellblauen Anzug mit der roten Krawatte und dem weißen Hemd – seinen Standardanzug nannte er ihn – und blätterte ungeduldig in der Wirtschaftszeitung, weil Marie mit dem Essen noch auf Eugen warten wollte. Im selben Moment klingelte Eugen, nachdem er sich vor der Haustür von Mark verabschiedet hatte.

Als sie nun alle am Tisch saßen und sich gegenseitig einiges zu erzählen hatten – der Vater der Mutter über diverse Bankgeschäfte und Eugen den Eltern über seine ausgezeichneten Leistungen in der Schule und im Sport –, da dachte Sia auf einmal an die seltsame Begegnung mit der Frau im Wald. Sie fragte sich, ob sie ihren Eltern etwas davon erzählen sollte.

„Und wie war dein Tag, mein Schatz?“, fragte die Mutter und guckte mit ihren kleinen, braunen Augen, die für Sia immer ein bisschen verschmitzt aussahen, aufmerksam ihre Tochter an.

„Ach, langweilig wie immer“, entschied sich Sia zu sagen. Die Erwachsenen arbeiten in der Bank oder im Haushalt, dachte sie, und die „coolen“ Schüler interessieren sich für Sport, Musik, Mädchen oder Jungs. Aber keiner interessiert sich für den Wald. Und auch für Märchen interessiert sich niemand.

„Du bist doch nicht wieder durch den Wald von der Schule nach Hause gegangen?“, fragte die Mutter besorgt.

„Nein“, log Sia und war froh, dass Eugen jetzt keinen Kommentar dazu abgab, aber die Mutter schien ihr dennoch nicht zu glauben.

Bislang hatte Sia es geschafft, ihren Eltern zu verheimlichen, wie gemein die anderen Kinder zu ihr waren. Aber vor ein paar Tagen hatte ihre Mutter herausgefunden, dass Sia immer durch den Wald nach Hause ging, statt mit Eugen durch Stadtzentrum, und dass sie sogar auf dem Hinweg durch den Wald bis in die Schule ging. Sia hatte ihr den wahren Grund für ihr Verhalten nicht verraten, weil sie Angst hatte, dass die anderen Kinder sie dann für eine Petze halten und noch viel mehr auslachen würden.

Besorgt blickte Marie Krähenbühl nun ihren Mann an, der ihr gegenüber am Tisch saß.

Er meinte: „Ist es nicht gefährlich, allein durch den Wald zu gehen? Und warum machst du das überhaupt?“

„Ich habe gesagt, ich gehe nicht mehr durch den Wald“, log Sia. „Und jetzt lasst mich in Ruhe!“

Marie Krähenbühl ermahnte Sia und Eugen nochmals: „Kommt mir ja nicht wieder zu spät, hört ihr? Sicher warst du diejenige, die nach der Schule so lange herumgetrödelt hat, Sia, oder Eugen musste dich sogar im Wald suchen!“

Sia schwieg und Eugen lächelte verschmitzt. „Ich pass schon auf sie auf, Mama“, sagte er. „In Zukunft wird sie ganz sicher nicht mehr durch den Wald gehen.“

Marie Krähenbühl lächelte zufrieden, dann ging das übliche Tischgespräch weiter. Sia hörte nicht zu und starrte auf Eugens Ponyfrisur. Eugens Haarfarbe gefiel ihr und sie hätte gerne ihre kohlrabenschwarze Haarfarbe mit Eugens goldbrauner getauscht. Und genauso schöne goldbraune Haare hatte auch ihre Mutter.

„Ich muss morgen zum Handballtraining“, erzählte Eugen seinen Eltern, „das wird sicher aufregend – wir haben ein wichtiges Spiel vor uns.“

„Gegen wen spielt ihr denn?“, wollte Markus Krähenbühl neugierig wissen und seine Augen leuchteten.

Kapitel 2

Mark Spada hatte Eugen wie jeden Tag bis vor die Haustür begleitet. Mit gesenktem Kopf trottete er jetzt wieder die Straße zurück in Richtung Stadtzentrum, wo er mit seiner jüngeren Schwester Elisa und seinem Vater in einem größeren Haus mit Eigentumswohnungen lebte. Der Wind fuhr durch sein braun gelocktes Haar und zerzauste es. Mark hasste den Wind. Wenn der Wind durch sein Haar fuhr und es zerzauste, dann musste er immer an die Worte seines Vaters denken: „Junge, du hast heute nur Zwirn im Kopf!“ Das sagte sein Vater, wenn Mark etwas nicht so gut gelang – wenn er beispielsweise beim Handball eine schlechte Leistung zeigte oder wenn er ausnahmsweise einmal keine hervorragende Schulnote geschrieben hatte.

Heute hatte ihn auch noch Eugen die ganze Zeit über geärgert, der ihn im Sportunterricht mit seiner Völkerballmannschaft geschlagen und schon während des Spiels die ganze Zeit „Mark Hutzelbein!“ gerufen hatte. Diesen Spitznamen rief Eugen immer dann, wenn er Mark ärgern wollte, und tatsächlich ärgerte sich Mark über die Maßen, wenn er so genannt wurde. Mark wagte es allerdings nie, sich gegen Eugen zu wehren, weil Eugen bei allen so beliebt war. Er dachte, er könne sich glücklich schätzen, überhaupt Eugens Freund zu sein – und er war sogar Eugens bester Freund, weil kein anderer Junge so viel für Eugen tat wie er.

Endlich stand Mark vor seiner Haustür und klingelte. Elisa öffnete die Tür, denn sie war schon früher von der Schule nach Hause gekommen als Mark und sie hatte im Gegensatz zu Mark von ihrem Vater einen Wohnungsschlüssel bekommen, denn dieser hielt sie für verlässlicher als Mark. Mark war bewusst, dass er tatsächlich viel vergesslicher war als seine Schwester. Nun bemerkte er, dass sie roten Lippenstift und blauen Lidschatten aufgetragen hatte. Ihr Haar trug sie offen – es war lang, blond und gelockt.

„Hey!“, rief Mark neckisch. „Was hast du dich heute wieder herausgeputzt! Etwa für Papa?“

Elisa rollte die Augen und ging ohne ein Wort in Richtung Badezimmer, während sie sagte: „Papa ist nicht hier. Er muss heute wieder den ganzen Tag arbeiten. Ich habe uns Pizza geholt, deine steht in der Küche. Hast du wieder länger gebraucht, um nach Hause zu kommen?“

„Nerv nicht!“, raunzte Mark und setzte sich an den gedeckten Tisch in der Küche, während Elisa die Badezimmertür schloss.

Elisa hatte kaum etwas von ihrer Pizza angerührt, fiel Mark auf. Seine Lieblingspizza stand auf dem Tisch und war schon etwas kalt, aber sie schmeckte ihm trotzdem. Elisa blieb im Badezimmer.

Na gut, ich habe mit Eugen auf dem Heimweg getrödelt, aber Sia ist ja auch spät dran gewesen, dachte Mark, denn er hatte aus der Ferne gesehen, dass Sia erst um viertel nach eins an ihre Haustür gekommen war.

Von Eugen wusste Mark, dass die Familie Krähenbühl um Punkt dreizehn Uhr aß, worauf sowohl Herr als auch Frau Krähenbühl bestanden. Im Gegensatz zu Eugens Familie hatten Elisa und Mark nicht so strenge Essenszeiten. Marks Vater Stefan Spada kam seit dem Tod seiner Frau mittags oft gar nicht mehr nach Hause. Dann gab es für Mark ständig Pizza, die Elisa nach der Schule besorgte. Eigentlich ist es gar nicht gut, so oft Pizza zu essen, dachte Mark. Seine Schwester aß meistens sowieso nur ein kleines Stück und warf den Rest ihrer Pizza dann in den Müll. Man kann sich vorstellen, dass Pizza gar nicht mehr so gut schmeckt, wenn man sie so oft isst wie Mark und Elisa.

Während Mark nun die inzwischen kalte Pizza aß, fiel sein Blick auf ein eingerahmtes Bild an der Küchenwand. Darauf war seine Mama Katharina Spada zu sehen: Auf diesem Bild, das sein Vater geschossen hatte, saß sie in der Küche, genau neben Mark, und legte ihren Arm um seine Schultern. Sie hat nie so viel von mir erwartet wie Papa, dachte Mark wehmütig. Vor eineinhalb Jahren war sie bei einem schlimmen Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Mark dachte: Mama hat mich auch dann gemocht, wenn ich nicht der beste Handballer meines Teams gewesen bin. Papa ist so furchtbar streng mit mir geworden, seit Mama gestorben ist. Früher war er genauso glücklich und fröhlich wie sie. Und mit Elisa hat er auch viel mehr geredet als heute.

Jetzt dachte Mark an Handball: In einer Woche wählt unser Trainer einen von uns Jungs aus, der dann in der Handballmannschaft spielen darf, wo die Buben zwei Jahre älter sind als wir. Wenn der Trainer mich auswählt, dann wird Papa sicher stolz auf mich sein. Vielleicht ist er dann auch öfter zu Hause und verbringt seine Abende nicht immer irgendwo in der Stadt. Dann sitzen wir beim Essen wieder alle zusammen, wie früher, als Mama noch lebte – wie bei Eugen.

Eigentlich konnte Mark Handball gar nicht ausstehen. Er spielte es nur wegen Eugen und wegen seines Vaters. Heimlich und bei verschlossener Zimmertür las er Märchen, aber wenn er das jemandem gesagt hätte, dann wäre er wohl ebenso ausgelacht worden wie Sia, die Krähe. Er biss in seine kalte Pizza und ärgerte sich.

Kapitel 3

Elisa Spada, die sich währenddessen im großen, runden Badezimmerspiegel betrachtete, glaubte nicht, dass ihr Vater nur wegen der vielen Arbeit mittags und dann noch bis spätabends wegblieb: Als ihre Mutter noch gelebt hatte, da war er sowohl in der Mittagspause als auch nach Dienstschluss immer pünktlich zu Hause gewesen. Vielmehr befürchtete Elisa, dass ihr Vater mit einer anderen Frau die Mittagspause verbrachte, mit der er abends dann auch noch ausging, bis er endlich nach Hause kam. Eines späten Abends hatte sie ihren Vater, einen kleinen Mann mit Glatze, mit einer fremden Frau in einer Bar im Stadtzentrum gesehen. Sie hatten Händchen gehalten und sich verliebt angesehen. Elisa hatte weggeblickt und war schnell weitergegangen, bevor ihr Vater sie gesehen hatte.

Elisa wusch sich die Schminke ab. Sie probierte gerne dieselben Schminksachen wie ihre Mutter aus, aber jetzt musste sie endlich anfangen, zu arbeiten. Heute muss ich die Wäsche in die Waschmaschine geben, dachte sie, und ich muss die Küche sauberkriegen. Mark hasst Hausarbeit und erfindet immer alle möglichen Ausreden, um sich davor zu drücken. Oft schließt er sich ja einfach in seinem Zimmer ein und dann bleibt alles an mir hängen, weil Papa meist den ganzen Tag nicht nach Hause kommt! Mark lernt die ganze Zeit für die Schule, der Streber, aber in der Wohnung ist er ein fauler Idiot! Und ich hab dann kaum mehr Zeit, um für die blöde Schule zu lernen. Abends muss ja auch immer ich kochen! Verdammt!

Sie blickte eindringlich in den Spiegel. Ihr Gesicht war jetzt ganz nass, weil sie sich das Make-up, das sie in der Schule getragen hatte, den Lippenstift und auch den Lidschatten abgewaschen hatte.

Sie hatte sich in Eugen verliebt, in Sias Bruder. Eugen war fast zwei Jahre älter als Elisa. Es ist kaum zu glauben, dass er Sias Bruder ist, dachte sie. Er war größer und schöner als Mark, aber Elisa kannte ihn leider nicht so gut, sie hatten noch nie miteinander gesprochen. So viele Mädchen waren in ihn verliebt. Und im Gegensatz zu Mark schien er kein Streber zu sein, der nur deswegen gute Noten schrieb, weil er sich nachmittags stundenlang in sein Zimmer einschloss und dafür heftig büffelte, sondern deshalb, weil er leicht lernte und wirklich Grips im Kopf hatte.

Elisa erinnerte sich, wie Eugen an diesem Morgen vor ihr ins Schulgebäude hineingetrabt war. Am Anfang hatte er noch laut herumgebrüllt und sich wie ein Halbstarker benommen, aber dann war er plötzlich leiser geworden. Er hat gemerkt, dass ich hinter ihm hergekommen bin, dachte sie. Als er sich umgedreht hat, hat er mich angelächelt. Dann aber hat er sich wieder zu einem seiner vielen Freunde gedreht und mich gar nicht mehr beachtet …

Mitten in ihren Gedanken begann Elisa auf einmal zu schreien, denn im Spiegel hatte sie etwas Unglaubliches gesehen: eine Frau! Eine Frau mit feuerrotem Haar, einem scharlachroten Kleid und grünen Augen – eine Frau, deren Gesicht übermäßig geschminkt war. Diese Frau hatte hinter Elisa gestanden und hatte sie ganz böse angestarrt.

Im Nu war die Frau wieder fort, aber gerade eben noch hatte sie ganz dicht hinter Elisa gestanden. Elisa drehte sich nach allen Seiten um, doch sie konnte niemanden mehr im Badezimmer sehen.

Im gleichen Moment klopfte Mark an die Badezimmertür und fragte: „Alles klar? Du hast gerade so laut geschrien. Hast du ein Gespenst gesehen, oder was?“

„Verschwinde!“, schnarrte Elisa. „Du sollst mich doch nicht im Badezimmer stören. Los, zieh Leine, verstanden?!“

Mark verstummte, zog sich in sein Zimmer zurück und schloss sich darin ein.

Sicher habe ich mir das nur eingebildet, dachte Elisa und beruhigte sich allmählich.

Als sie wenig später das Badezimmer verließ und in die Küche ging, sah sie das Geschirr noch auf dem Tisch stehen und wurde darüber ungeheuer wütend: „Nicht einmal abräumen kann er!“, schrie sie, und wie immer machte sie sich nun allein an die Hausarbeit. Mark hatte nicht einmal die Hälfte seiner Pizza gegessen.

Kapitel 4

Anstatt für die Schule zu lernen, lag Mark auf seinem Bett. Neugierig begann er, ein Märchen zu lesen: Ein Vater hatte eine Tochter, die war klug und sollte sich verheiraten. Ein Mann namens Hans kam ins Haus, um sie zu heiraten. Da schickte der Vater die Tochter in den Keller, um Bier zu holen. Als das Mädchen in den Keller kam, bemerkte es über sich eine Kreuzhacke an der Decke, erschrak darüber zu Tode und sprach: „Wenn ich den Hans kriege, und wir kriegen ein Kind, und das ist groß, und wir schicken das Kind in den Keller, dass es hier soll Bier zapfen, so fällt ihm die Kreuzhacke auf den Kopf und schlägt’s tot.“

Mark hielt inne und las nicht weiter, denn er konnte kaum glauben, was er nun in seinem Zimmer entdeckte: ein Schwert! Über sich an der Decke seines Zimmers, ja genau über dem Kopfende seines Bettes, hing plötzlich an einem einzelnen roten Faden ein langes, scharfes silbernes Schwert herab!

Mark stürmte aus seinem Zimmer in die Küche. Er rempelte seine Schwester an und rief: „Komm schnell, über meinem Bett hängt ein scharfes Schwert!“

„Willst du mich veräppeln?“, schnarrte Elisa genervt, die gerade die Küche aufräumte. Schließlich aber ging sie doch mit Mark mit. Als sie dann Marks Zimmer betrat, blickte sie an die Decke, sah jedoch nichts und ärgerte sich. „Du verdammter Idiot!“, schrie sie und hätte ihm am liebsten eine kräftige Ohrfeige verpasst. „Wenn du mir schon nicht bei der Hausarbeit helfen willst, dann veräpple mich wenigstens nicht und lass mich in Ruhe!“

„Warte doch, Elisa!“, rief Mark, denn das Schwert war ja immer noch da – wenigstens für ihn –, aber offensichtlich konnte Elisa es gar nicht sehen! Er wollte seine Schwester zurückhalten, doch dann hielt er inne und dachte nach: Elisa interessiert sich ja sowieso nicht mehr für mich, seit Mama gestorben ist. Sie denkt anscheinend wirklich, ich veräpple sie.

Kapitel 5

Elisa arbeitete in der Küche weiter und ärgerte sich dabei noch eine Zeit lang über Mark. Einmal unterbrach sie ihre Arbeit, blickte aus dem Küchenfenster in den Hof des Hauses hinunter. Dabei dachte sie an die seltsame Frau im Spiegel, die wohl ungefähr so alt wie ihre Mutter gewesen war. In der Mitte des steingepflasterten Hofes stand eine schöne Kastanie, deren Blätter sich leise im nachmittäglichen Wind wiegten. Das beruhigte Elisa.

Auf einmal aber hörte sie Gelächter und Stimmen, obwohl das Fenster zum Hof verschlossen war. Sie blickte weiter durchs Fenster hinaus, während das Gelächter immer lauter wurde. Es war das Lachen einer Frau.

Durch den großen Rundbogen, der in den Gebäudekomplex führte, kam ein Pärchen in den Hof spaziert. Elisa sah zunächst nur die schattenhaften Umrisse zweier Figuren im Licht der in den Hof hereinscheinenden Nachmittagssonne. Aber als diese Schatten jetzt in den Hof traten, da erkannte sie ihren Vater und eine große Frau. Das war die Frau, die Elisa mit ihrem Vater in der Bar gesehen hatte! Die Frau war wirklich sehr schön mit ihrem ganz roten Haar, doch ihr Blick wirkte böse und hinterlistig, als sie nun immer wieder kurz zu Elisa hinaufblickte, ohne dass ihr Vater Stefan dies bemerkte. Wie sie an der Kastanie ankamen, küsste die Frau Elisas Vater innig, dann verabschiedete sie sich von ihm. Während Elisas Vater nun ins Wohnhaus ging, drehte sich die Frau vor dem Rundbogen nochmals zu Elisa um und grinste zu ihrem Fenster hinauf. Elisa schien es, als würde sie ihr sagen: Was beobachtest du mich denn? Du kannst sowieso nichts dagegen machen – ich werde deine Stiefmutter werden. Dein Vater wird dann nur noch mich lieben – mich allein!

Die Frau war über alle Maßen geschminkt, das fiel Elisa erst jetzt auf – sie war genauso geschminkt wie die Frau, die Elisa im Spiegel gesehen hatte. Vielleicht war die Frau eine böse Zauberin, die sich überall hinzaubern konnte? Moment, Elisa! dachte sie, wer außer Sia, die Krähe, glaubt denn noch an Märchen?

Verwirrt blieb Elisa am Fenster stehen, bis ihr Vater in die Küche kam. „Hallo, mein Schatz!“, grüßte Stefan Spada seine Tochter, während er seinen dunklen Hut mit der breiten Krempe abnahm. „Ich habe heute früher Dienstschluss gemacht.“ Elisa drehte sich erschrocken vom Fenster um. Stefan lächelte sanft. „Bist du wieder fleißig?“, sagte er freundlich.

Sie blickte ihn enttäuscht an. Er erschrak kurz, dann wurde er ernst. Sie war noch immer beim Geschirrspülen und ging nun zurück zum Waschbecken. Sie arbeitete schweigend weiter.

„Wo ist eigentlich Mark?“, fragte er. „Er soll dir helfen beim Geschirr oder wenigstens seine Hausaufgaben machen! Wo bist du, Mark?!“

Nachdem Elisa das Schwert über Marks Bett nicht gesehen hatte, hatte sich Mark auf sein Bett gestellt und nach dem unheimlichen Schwert gegriffen, um es von der Decke zu reißen. Aber immer wenn er geglaubt hatte, es greifen zu können, war es ihm entwischt und er hatte stets ins Leere gegriffen – bis er bemerkt hatte, wie die Haustür ins Schloss fiel und sein Vater die Wohnung betrat. Da hatte er sein Zimmer schnell wieder abgeschlossen.

Das Schwert baumelte nun noch immer über seinem Bett. Ob sein Vater es wohl sehen konnte? Und wo sollte Mark denn nun eigentlich schlafen? Etwa unter diesem Schwert?

„Mark, mach sofort die Tür auf!“, rief Stefan Spada jetzt plötzlich. Er rüttelte an der Klinke.

Kapitel 6

Sia saß in ihrem Zimmer über ihren Hausaufgaben. Sie konnte sich jedoch nicht richtig auf den Text konzentrieren, den sie lesen sollte. Es war nun schon später Nachmittag. Sie dachte kurz an Eugen: Er saß auch in seinem Zimmer und lernte den Text für sein Märchentheater. Dass er überhaupt in einem Märchentheater mitspielte! Einige der anderen Jungs waren sogar neidisch darauf – und Sia lachten alle aus, weil sie mit ihren Puppen Märchen nachspielte. Das ist schon merkwürdig, dachte sie.

Eugen! Schon wenn Sia nur an ihn dachte, fühlte sie Ärger in sich aufsteigen. Heute beim Mittagessen in der Küche hatte Mama ihm übers Gesicht gestreichelt, weil sie gestern in der Sprechstunde der Schule nur Gutes über ihn gehört hatte. Sias Lehrer hatten hingegen ständig ihre stille Art kritisiert: „Sia muss sich einfach viel mehr zu Wort melden, das ist auch für das spätere Leben sehr wichtig!“

Sia beschloss, lieber mit ihren Puppen zu spielen, statt über diese Dinge nachzudenken oder ihre Hausaufgaben zu machen – ein Märchenpuppentheater sollte es werden: das Märchen der Brüder Grimm von der Wassernixe, das hatte sie lange nicht mehr gespielt. Die Puppen sprachen den Text einfach so, wie er ihr einfiel.

Gerade wollte sie ihre Puppen holen, mit denen sie die unterschiedlichsten Märchen nachspielte, als ihre Mutter ins Zimmer kam. Sie trug ihr goldbraunes langes Haar offen und es war wunderschön. Ihre Mama war eine bildhübsche Frau, fand Sia, und Eugen war ein schöner Junge. Warum nur konnte sie selbst kein schönes Mädchen sein?

Marie Krählenbühl setzte sich vorsichtig auf Sias Bett und blickte sich in Sias aufgeräumtem Zimmer um. „Du warst schon immer ein sehr ordentliches Mädchen, Sia“, sagte sie und lächelte liebevoll. Sia saß an ihrem Schreibtisch, mit dem Rücken zu ihrer Mutter, und hielt eine ihrer Puppen in der Hand: Es war eine wunderschöne Puppe mit langem blondem Haar, sie trug ein himmelblaues Kleid. „Mach dir bitte nicht zu viele Gedanken, wenn die Lehrer dich kritisieren“, sagte Marie Krähenbühl, „ich glaube, das nimmst du dir zu sehr zu Herzen …“

Sia erinnerte sich, dass ihr Vater auch immer sagte: „Sia, du bist zu schweigsam. Merkwürdig, so war ich doch nie.“ Markus Krähenbühl sprach meist nur mit Eugen und interessierte sich für Handball, denn schließlich war er selbst einmal Handballer gewesen und fieberte immer noch mit seinem Heimatverein mit.

„Weißt du was, Mama?“, sagte Sia jetzt, ohne sich umzudrehen. Sie sah ihre Puppe an, die sie über ihr Heft gelegt hatte und die immerzu lächelte, als wäre jeder Tag wunderschön. Dabei war jeder Tag ein hässlicher, wenn Sia in die Schule gehen musste.

„Wenn ich etwas tue, das euch nicht gefällt, dann wird sofort geschimpft“, fuhr sie fort, „aber bei Eugen seid ihr ganz anders. Ihr sagt ihm zum Beispiel nie, dass er ein unordentliches Zimmer hat und endlich einmal aufräumen soll! Du räumst ja immer Eugens Zimmer auf, Mama!“

„Lenk jetzt bitte nicht ab, Sia“, sagte die Mutter, „wir haben gerade über dich gesprochen! Ich will doch nur, dass du selbstsicherer wirst!“

„Und wenn ich das nicht sein kann?“, fragte Sia.

Darauf hatte ihre Mutter keine Antwort. Sie stand auf, blickte Sia noch einmal erwartungsvoll an und sprach: „Das kann jeder schaffen. Du musst an dich glauben, Sia! Das sagen deine Lehrer auch.“

„Das ist meine Angelegenheit, Mama.“

Sias Mutter nickte nur traurig. Dann ging sie.

Sia wandte sich vom Schreibtisch ab. Sie stand auf, ließ sich aufs Bett fallen und weinte. Sie konnte das tatsächlich nicht: selbstsicher sein – nicht so, wie Elisa es war. Sie wagte es nicht einmal, in der Schule vor den anderen Mädchen ihren Mund aufzumachen. Sie bekam dann nämlich Angst davor, etwas Peinliches zu sagen oder sie befürchtete, dass ihre Stimme krächzend klang und alle anderen sie dann deswegen wieder auslachen würden. Ihre Mitschüler lachten ja alle schon so über sie, auch wenn sie nichts sagte. Sie machten sich dann über ihren Rundrücken oder ihr ängstliches, scheues Wesen lustig.

Nach ein paar Minuten hörte Sia auf, zu weinen. Sie setzte sich wieder an ihren Schreibtisch und begann, mit ihren Puppen das Märchen von der Wassernixe nachzuspielen. Sie besaß dafür zwei kleinere Puppen, einen Knaben und ein Mädchen, die spielten an einem Brunnen, den Sia selbst aus Karton zusammengebastelt hatte. Der Knabe und das Mädchen warfen kleine Papierfetzen in den Brunnen, die für Sia Steinchen waren. Aber in ihrem Übermut beugten sie sich zu weit über den Rand des Brunnens und fielen beide hinein – da hielt Sia inne und überlegte: Die Kinder warfen Steine in den Brunnen – ja! Sie erinnerte sich wieder an den Brunnen im Wald und an die merkwürdige Frau, die ihr begegnet war und gesagt hatte: „Das ist mein Brunnen, und ich verbiete dir, Steine hineinzuwerfen, verstanden?!“ Die Kinder warfen im Märchen Steine in den Brunnen und fielen dann hinein. Als sie unten im Brunnen ankamen, begegneten sie einer bösen Wassernixe, die sie gefangen hielt, das war eine andere Puppe mit einem schwarzen Kleid und feuerrotem Haar. Das schwarze Kleid in der Form eines Fischschwanzes hatte Sia selbst für die böse Puppe genäht; Mama hatte ihr dabei geholfen. Was, wenn die seltsame Frau, die Sia im Wald begegnet war, so eine böse Wassernixe war?

„Sia!“, rief Marie Krähenbühl auf einmal. „Du hast Telefon!“ Telefon?, wunderte sich Sia. Sie kam zögerlich in den Flur. Sie bekam doch nie Telefon!

Es war Mark. Sia wunderte sich.

„Willst du nicht mit Eugen sprechen?“, fragte Sia und bemühte sich, nicht schüchtern oder unsicher zu klingen.

„Nein, ich will mit dir reden“, sagte Mark und klang dabei ganz aufgeregt. „Du kennst dich doch mit Märchen aus, oder? Eugen hat einmal erzählt, dass du mit Puppen Märchen nachspielst. Kennst du auch das Märchen von der klugen Else? Mir ist da nämlich etwas ganz Merkwürdiges passiert. Bitte glaub mir, du musst mir helfen, Sia! Kann ich zu dir kommen?“

Meint er das ernst?, fragte sich Sia. Das können Eugen und Mark sich doch nur ausgedacht haben, um mich zu ärgern! Sia überlegte: Marks Anruf klang zwar seltsam, aber auch sie selbst hatte etwas Merkwürdiges erlebt, als sie im Wald der wütenden Frau begegnet war. Vielleicht war sie ja nicht die Einzige, der so merkwürdige Dinge begegneten; vielleicht war auch Mark im Wald etwas Seltsames zugestoßen und er wollte ihr dies nun erzählen.

„Dann komm vorbei“, sagte sie nur, „jetzt.“ Damit legte sie auf. Hoffentlich mache ich mich nicht wieder zum Affen, dachte sie. Wenig später stand Mark in der Tür.

„Und du bist sicher“, fragte Sias Mutter, „dass du nicht zu Eugen willst?“

„Nein, Frau Krähenbühl, ich möchte mit Sia reden. Es geht um eine Hausaufgabe zum Thema Märchen und ich bin sicher, dass mir Sia helfen kann.“

„Da kann dir doch auch Eugen helfen“, sagte Marie Krähenbühl, „er ist doch viel gesprächiger und dein bester Freund. Ich hole ihn gern aus seinem Zimmer.“

„Nein!“, rief Mark nervös. Vor Eugen wäre es ihm peinlich gewesen, zuzugeben, was er soeben erlebt hatte. Hoffentlich erfährt Eugen gar nicht, dass ich hier bin, dachte er.

In diesem Augenblick trat endlich Sia aus ihrem Zimmer in den Flur. Sie hatte alles schon mit angehört und stellte sich nun selbstsicher vor ihre Mutter.

„Ich habe Eugen schon nach dem Märchen gefragt“, log sie ihre Mutter an, „er kennt es überhaupt nicht.“ Höchstwahrscheinlich ist es zumindest keine Lüge, dass er das Märchen nicht kennt, dachte Sia, und sprach dann weiter: „Außerdem muss er sich doch auf die heutige Theaterprobe vorbereiten, hat er mir gesagt, Mama. Sicher hat er noch einiges an Text zu lernen.“

Sias Mutter nickte. „Na schön“, sagte sie. Ihr Blick jedoch blieb sehr verwundert, als Sia mit Eugens bestem Freund in ihrem Zimmer verschwand.

Sia schloss die Tür. Mark stand nun schweigend vor ihr und zuckte nervös mit den Schultern, was er immer tat, wenn er Angst hatte. Ihm war ganz unheimlich zumute.

„Ist deine Mama immer so?“, fragte er. „Eugen hin, Eugen her! Der Trainer unserer Handballmannschaft lobt auch immer nur Eugen, und das vor allen anderen: ‚Nehmt euch alle ein Beispiel an Eugen Krähenbühl!‘, sagt er immer.“

Sia machte eine wegwerfende Handbewegung und sagte: „Daran bin ich schon lange gewöhnt. Aber … warum bist du denn gekommen?“

Am liebsten hätte sie ihn einfach gefragt: „Willst du mich auch nur veräppeln, wie alle anderen?“, aber das traute sie sich nicht.

„Ja … also …“, stotterte Mark und wusste zuerst gar nicht, wo er überhaupt anfangen sollte. Dann endlich sagte er: „Es ist eigentlich unmöglich und ich habe keine Ahnung, ob du mir glauben wirst. Mir ist etwas sehr Verrücktes passiert.“ Er warf einen Blick auf die Decke von Sias Zimmer.

Sia blickte ihn weiter einfach unverwandt an, aber sie fühlte Angst in sich aufsteigen.

„Ich habe etwas erlebt“, erzählte Mark. „Ich habe heute nach der Schule in meinem Zimmer das Märchen der Brüder Grimm von der klugen Else gelesen. Darin kommt so eine Hacke vor, die die kluge Else an der Decke ihres Kellers entdeckt. Und als ich das gelesen hatte, da hing an der Decke meines Zimmers über meinem Bett plötzlich ein Schwert, aber keiner konnte es sehen – nur ich! Ich wollte es Elisa zeigen, doch sie glaubte, ich würde sie veräppeln. Dann hat Papa wie wild an meine Tür geklopft und als ich mich endlich getraut habe, ihm zu öffnen, da hat auch er nichts an der Decke gesehen – obwohl ich ihn ganz direkt gefragt habe, ob er das Schwert sehen würde!“

Mark hielt Sia jetzt ein Foto von seiner Zimmerdecke entgegen, das er mit seinem Handy gemacht hatte. Auch Sia konnte kein Schwert darauf erblicken.

„Was siehst du, Sia?“, fragte er. „Bitte sag mir, dass du auch ein Schwert siehst!“

„Ich sehe tatsächlich ein Schwert“, log Sia. Das war eine blöde Antwort, dachte sie, aber sie beschloss, mitzuspielen.

„Ja, Mark, ich sehe es! Deine Schwester macht sich immer über mich lustig. Ich spiele noch mit Puppen und mag Märchen. Wer tut das sonst noch außer mir?“ Sia war jetzt auf einmal so verärgert, dass das einfach aus ihr herausgeplatzt war. Sie zitterte vor Wut.

„Wohl niemand“, gab Mark zur Antwort und lächelte, aber es war kein spöttisches Lächeln, das merkte Sia sofort: Es war ein freundliches, offenes Lächeln.

„Danke!“, sagte sie und wurde nun ruhiger. Mark schien wirklich ernst zu meinen, was er sagte – das spürte Sia plötzlich.

„Wofür denn?“, fragte Mark.

„Dafür, dass ich dir jetzt auch erzählen kann, was mir heute begegnet ist“, sagte Sia und fasste etwas Vertrauen, obwohl auf dem Foto für sie immer noch kein Schwert zu sehen war. „Dann finden wir vielleicht gemeinsam eine Lösung für das komische Schwert, das dir begegnet ist, und für den merkwürdigen Brunnen, der mir begegnet ist.“

„Welcher Brunnen denn?“

Sia blickte aus ihrem Zimmerfenster auf den Wald hinaus. Er war sehr dicht mit vielen Erlen und Eschen und auch mit Nadelbäumen bewachsen. Diesen Mischwald konnte man direkt von Sias Zimmerfenster aus sehen. Sia hatte es immer gemocht, durch den Wald zu gehen. Es war stets geheimnisvoll gewesen, das Rauschen der Baumkronen zu hören und die Blumen zu entdecken, die mitten auf Lichtungen blühten, aber mit einem Mal hatte der Wald irgendetwas Dunkles an sich. Es war, als ob hier draußen vor ihm noch heller Tag wäre und im Wald schon tiefe Finsternis herrschte. Vielleicht liegt das ja nur an den Schatten der vielen hohen Bäume, dachte Sia, obwohl sie spürte, dass das nicht die ganze Wahrheit war.

„Mark, als ich heute Mittag durch den Wald nach Hause ging, da begegnete mir eine seltsame Frau“, fing Sia zu erzählen an. Sie erzählte Mark von der Frau mit der roten Dauerwelle und dem schwarzseidenen Kleid, das die Form eines Fischschwanzes gehabt hatte. Sie erzählte, wie böse und verärgert die Frau ausgesehen hatte und wie sie an Sia vorbeigelaufen war mit den Worten „Das ist mein Brunnen, und ich verbiete dir, Steine hineinzuwerfen, verstanden?!“ Sie erzählte auch, dass sie mit einem Mal auf einer Lichtung mit einem steinernen Brunnen gestanden hatte. Niemals zuvor hatte sie diesen Brunnen im Wald gesehen gehabt.

„Du hättest es vielleicht probieren sollen“, meinte Mark und klang abenteuerlustig. „Du hättest ein paar von den schweren Steinen in den Brunnen werfen sollen. Was hätte die Frau dann wohl gemacht? Zeig mir doch den Brunnen!“

„Nein, Mark!“, sagte Sia und wurde plötzlich so laut, dass sie fast schrie. Dabei erschrak sie über sich selbst. Mark blickte Sia verwundert an. Wahrscheinlich wundert er sich darüber, dass ich überhaupt einmal laut werden kann, dachte sie. Sofort verstummte sie wieder, blickte ihn an und sagte leiser: „Ich fürchte mich davor, was diese Frau tun könnte, wenn ich wirklich Steine in den Brunnen werfen würde. Du hast doch auch Angst vor diesem Schwert in deinem Zimmer. Also musst du doch verstehen, dass ich mich vor der Frau fürchte und ihr nicht noch einmal begegnen will.“

„Klar habe ich Angst!“, meinte Mark. „Stell dir mal vor, das scharfe Schwert hängt immer noch über meinem Bett, wenn ich schlafen gehen will. Ich muss ja ständig Angst haben, dass es irgendwann auf mich herabschnellt. Schließlich ist es nur an einem dünnen Faden befestigt.“

Sia fühlte sich überfordert. Sie wusste nicht, was sie Mark sagen sollte. Stumm schaute sie aus dem Zimmerfenster auf den Wald hinaus. Mark stellte sich neben sie und beide blickten eine Weile wortlos hinaus. Der Himmel war beinahe wolkenlos und hellblau.

„Ihr habt ein schönes Haus“, sagte Mark. „Ich finde es sehr groß und mir gefallen der breite Korridor und die weißen Mauern. Und alles ist so aufgeräumt und sauber – ganz anders als bei uns in der kleinen, engen Wohnung. Ich bin ja schon oft hier gewesen, wenn ich Eugen besucht habe, aber sein Zimmerfenster geht nicht zum Wald hinaus, sondern zu eurem Garten.“

„Wir hatten reiche Großeltern“, erzählte Sia. „Sie haben hier mit meinem Papa gewohnt und Papa hat das Haus dann ganz neu eingerichtet, nachdem sie gestorben waren …“

Sie sagten wieder eine Weile nichts und beobachteten den Wald, dessen Bäume sich leise im Wind wiegten. Irgendwo dazwischen ragte eine schöne weiße Birke in die Höhe. Ihr gesunder, kräftiger Anblick beruhigte Sia. Sie bekam nun immer mehr das Gefühl, dass sie Mark vertrauen konnte.

Dann endlich sprach sie: „Vielleicht ist es die Frau. Ich glaube, sie ist eine böse Wassernixe aus einem schlimmen Märchen. Und in Märchen hängt doch immer alles, was geschieht, mit allem zusammen. Vielleicht hat die Frau ja auch etwas mit dem Schwert zu tun, das über deinem Bett hängt.“

„Dann müssten wir also die Frau finden!“, meinte Mark und schaute Sia ernst in die dunklen Augen. „Wer weiß, was diese Wassernixe sonst noch alles anrichtet, wenn wir sie nicht aufhalten“, meinte er, „und außerdem kann ich nicht mehr nach Hause, wenn über meinem Bett ein Schwert hängt! Ich weiß, ich könnte auf dem Boden schlafen, aber als ich da gelegen habe, hing auf einmal dort das Schwert über mir!“

„Dann müsstest du wohl im Freien übernachten“, meinte Sia. „Im Freien gibt es ja keine Zimmerdecke, an der ein Schwert hängen könnte.“ Sia blickte zum Himmel, der jetzt strahlend blau war. Nur über den Wipfeln der Bäume des Waldes hingen dichte und dunkle Wolken.

„Merkwürdig“, sagte sie. „Über dem Wald scheint das Wetter ganz anders zu sein als hier um den Wald herum in der Gegend der Wohnhäuser.“

Mark zuckte mit den Schultern. „Kommst … kommst du mit?“, fragte er dann.

„In den Wald?“

„Ja, jetzt sofort.“

„Ich weiß nicht … Ich habe Angst vor der Frau. Ich will sie eigentlich nicht wieder sehen.“

Mark zuckte mit den Schultern und sagte: „Komm schon! Ich will keine Angst mehr vor dem Schwert haben. Hilf mir! Außerdem gehen wir ja zu zweit in den Wald, das ist immerhin schon besser als alleine!“

Kapitel 7

Mark und Sia waren aus dem Zimmerfenster im ersten Stock gestiegen und am hölzernen Rankgitter hinabgeklettert, das unter Sias Fenster an der Hausmauer befestigt war und an dem die Kletterrosen noch nicht blühten. Heimlich schlichen sie nun durch den Vorgarten und eilten leise die Straße hinab. Dabei blickten sie sich nicht ein einziges Mal zur Haustür oder zu den Fenstern des Hauses im Erdgeschoss um. Wenn Sias Mama immer noch im Bügelzimmer war, wie zuvor, dann mussten sie sich keine Sorgen machen. Die Fenster dieses Zimmers gaben den Blick nämlich auf den Hintergarten frei, ebenso Eugens Zimmer im ersten Stock, und Sias Papa war ja nachmittags immer bei seiner Arbeit. Rasch überquerten sie die Straße und schon waren sie auf der anderen Straßenseite im Wald verschwunden.

Wie sie den Wald betraten, war es um sie herum mit einem Mal finsterste Nacht. Sie erschraken und blickten sich um; da sahen sie, dass die Straße und das Haus noch in vollem Sonnenschein unter einem blauen Himmel lagen. „Wie ist das nur möglich?“, staunte Mark.

Sia wusste darauf natürlich keine Antwort.

Mark zuckte mit den Schultern und fragte: „Weißt du noch, wo du der Frau heute begegnet bist? Bist du dem Waldweg gefolgt, auf dem wir jetzt gehen, oder war es abseits vom Weg? Und wo war der Brunnen?“

„Ich weiß es nicht mehr“, sagte Sia, „es ging alles viel zu schnell, Mark – als wäre es ein flüchtiger Traum gewesen. Folgen wir doch einmal dem Weg! Ich kenne ihn und gehe ihn jeden Tag bis zur Schule und wieder zurück.“

„Deshalb halten dich auch alle für seltsam“, sagte Mark, „weil du allein durch den Wald gehst.“

„Warum ist es denn seltsam, allein durch den Wald zu gehen?“

Mark schwieg und zuckte mit den Schultern. Er fummelte an seiner Schirmmütze herum, die er immerzu trug, aber heute nie aufsetzte – das war Sia aufgefallen.

Sie gingen zusammen den Weg entlang zwischen unzähligen Bäumen hindurch. Von oben herab durch die Baumkronen drang nur spärliches, graues Licht. „Weiß nicht“, gab Mark nach längerer Zeit zur Antwort. „Vielleicht ist es auch nur deshalb seltsam, allein durch den Wald zu gehen, weil die anderen Jungs und Mädchen alle durch die Stadt nach Hause oder in die Schule laufen. Aber vielleicht haben sie auch Angst vor dem Wald.“

„Es war noch niemals eine andere Tageszeit im Wald“, stellte Sia fest und blickte zum nächtlich bewölkten Himmel empor, auf dem noch nicht einmal ein Mond zu sehen war. „Die Wolken haben den Mond wohl verdeckt“, sagte sie, „oder ist es gar nicht wirklich Nacht?“

„Wie meinst du das?“

„Weiß auch nicht.“

Der schmale, dunkle Waldpfad schlängelte sich durch einige Büsche, die ihn an manchen Stellen sogar überwuchsen. Der Pfad führte normalerweise wieder aus dem Wald heraus und endete direkt vor der Schule, doch an diesem Tag – oder in dieser Nacht – führte er woandershin, das spürte Sia. Die Lichtungen und die Bäume, an denen sie vorüberkamen, waren ihr fremd und die Luft war erfüllt mit einer Vielzahl unbekannter Gerüche. Der Weg war jetzt von dunkler, nasser, ja manchmal sogar schlammiger Erde bedeckt.

Endlich erreichten Sia und Mark, die die ganze Zeit nur schweigend hintereinander hergingen – Mark vorn, Sia hinter ihm – eine Laterne mitten im Wald, die wie eine gewöhnliche Straßenlampe wirkte und eine leere Waldlichtung beleuchtete. Sia war ganz sicher, diese Laterne noch niemals zuvor im Wald gesehen zu haben – und sie kannte auch diese Lichtung nicht.

Der Wald war nicht allzu groß, denn die Stadt umgab ihn, grenzte ihn ein. Die Häuser der Stadt waren wie ein Zaun, der verhinderte, dass der Wald größer wurde. Aber jetzt war es, als wäre der Wald plötzlich erheblich größer geworden, sodass man sich ganz darin verlaufen konnte.

„Es ist, als hätte der Wald nun ein ganz anderes Gesicht“, sagte Sia und setzte sich auf einen Stein unter die Laterne, die ihr warmes Licht spendete.

„Ein anderes Gesicht?“, fragte Mark. „Du träumst! Wälder verändern sich doch nicht so einfach!“

„Doch“, sagte Sia, „Wälder verändern sich. Wälder gehören zur Natur, und die Natur verändert sich ständig. Außerdem ist es sicher ein Zauber, der diesen Wald umgibt und eine Veränderung bewirkt. Warum glaubst du mir nicht? Habe ich dir vielleicht nicht geglaubt, dass da auf einmal ein Schwert über deinem Bett hängt?“

„Aber warum verändert sich der Wald auf so seltsame Weise?“, fragte Mark.

Kaum hatte Mark dies gesagt, da spürten sie Tropfen und es begann mit einem Mal, immer stärker zu regnen. Schnell wollte Sia aufstehen und weiterlaufen, da zuckte sie vor Schreck zusammen, als sie kurz nach rechts zur Seite blickte. Die Straßenlaterne warf ihren Schein auf einmal dorthin, wie auf eine Bühne: Nur einige Meter weiter lag die Lichtung mit dem steinernen Brunnen!

Der Brunnen war rund und alt. Eine dunkle und kranke Linde wölbte ihre pechschwarzen Zweige über das Becken, über dem einige traurige Raben umhersprangen. Und um den steinernen Brunnen herum lagen lauter große, schwere und kohlrabenschwarze Steine. Die Raben fingen immer lauter an zu krächzen, je näher Sia dem Brunnen nun kam. Sie setzten sich auf die Linde und beobachteten Mark und Sia von oben herab.

„Das ist der Brunnen!“, meinte Sia und drehte sich zu Mark um. Sie standen jetzt beide dicht vor dem Brunnen. „Zum zweiten Mal begegne ich ihm heute schon.“