Die Juden im Koran - Abdel-Hakim Ourghi - E-Book

Die Juden im Koran E-Book

Abdel-Hakim Ourghi

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Beschreibung

Mit dreiundzwanzig Jahren kam Abdel-Hakim Ourghi als indoktrinierter Antisemit aus Algerien nach Deutschland. Juden galten ihm als Täter, Muslime hingegen als Opfer. Ein Zerrbild, eingebläut in Moscheen, arabischen Schulen und Hochschulen. „Möge Allah die verfluchten Juden erniedrigen und zerstören!“ – dieses Bittgebet wird bis heute in den Moscheen Algeriens und anderer arabischer Staaten freitags wiederholt. Gleichzeitig wird die theoretische und historische Genese des Judenhasses in den Anfängen des Islam seitens der Mehrheit der in Europa lebenden Muslime verschweigen oder verdrängt. Der Koran selbst formuliert ein stereotypes Sündenregister der Juden. Also müssen die kanonischen Quellen des Islam akribisch analysiert und kritisch hinterfragt werden. Ourghis Essay versteht sich als Beiwerk zu einer Reform des Islam auf dem Weg zu einer Religion des Friedens.

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Abdel-Hakim Ourghi

Die Juden im Koran

Ein Zerrbild mit fatalen Folgen

Abdel-Hakim Ourghi wurde 1968 in Algerien geboren. Er studierte in Oran und Freiburg i. Br. Philosophie und Islamwissenschaft. Seit 2011 leitet er den Fachbereich Islamische Theologie und Religionspädagogik an der Pädagogischen Hochschule Freiburg. Er ist Initiator der viel beachteten »Freiburger Deklaration« für einen reformierten, säkularen Islam. Bei Claudius sind von ihm die Bücher »Reform des Islam – 40 Thesen« und »Ihr müsst kein Kopftuch tragen« erschienen.

Mit 23 Jahren kam Abdel-Hakim Ourghi als indoktrinierter Antisemit aus Algerien nach Deutschland. Juden galten ihm als Täter, Muslime hingegen als Opfer. Ein Zerrbild, eingebläut in Moscheen, arabischen Schulen und Hochschulen. »Möge Allah die verfluchten Juden erniedrigen und zerstören!« – dieses Bittgebet wird bis heute in den Moscheen Algeriens und anderer arabischer Staaten freitags wiederholt. Der Koran selbst formuliert ein stereotypes Sündenregister der Juden. Also müssen die kanonischen Quellen des Islam akribisch analysiert und kritisch hinterfragt werden.

»Er ist eine prominente Stimme der liberalen Muslime in Deutschland und setzt sich seit Jahren für eine Reform des Islams ein, laut und medienwirksam« DIE ZEIT

Dieses Buch ist allen Jüdinnen und Juden gewidmet, die im Laufe der Geschichte unter muslimischer Herrschaft diskriminiert und aus ihrer Heimat vertrieben und verfolgt wurden oder der islamischen Judenfeindschaft und dem Antisemitismus zum Opfer fielen.

© Claudius Verlag München 2023

www.claudius.de

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Umschlaggestaltung: Weiss Werkstatt, München

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2023

ISBN 978-3-532-60118-1

INHALT

Vorwort

Einführung

I. Die pathologische Erinnerungskultur

1. Die Stiftung einer Erinnerungskultur

2. Der Mythos des toleranten Andalusiens

II. Das Wahre und das Unwahre

III. Die doppelte Schuld. Das Verdrängen und die Umkodierung der Geschichte des Islam

IV. Ein historischer Exkurs

1. Die Juden auf der Arabischen Halbinsel

2. Die Präsenz der Juden am Anfang des Islam im Ḫaibar

V. Die Juden im Koran

1. Die Annäherung an die Juden

2. Der Dialog mit den Juden

3. Der koranische Sündenkatalog über Juden

VI. Der Heilige Krieg des Propheten gegen die Juden in Medina

1. Der Konflikt mit den drei ortsansässigen jüdischen Stämmen

2. Meuchelmorde als historischer Präzedenzfall

3. Die Kapitulation der Juden von Ḫaibar

VII. Der Status der Inferiorität und die Kopfsteuer als politisch-wirtschaftliches Kalkül

VIII. Der Pakt des Kalifen ʻUmar und die endgültige Vertreibung der Juden

IX. Der gelbe Flicken als islamische Vorgeschichte des Judensterns

Epilog

Literaturliste

Anmerkungen

Vorwort

Die jüdische Weisheit „In der Erinnerung liegt das Geheimnis der Erlösung“ ist durch die Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem weltweit berühmt geworden. Der vollständige Spruch lautet: „Das Vergessen verlängert das Exil, in der Erinnerung liegt das Geheimnis der Erlösung.“ Er wird Rabbi Baal Schem Tov, dem Gründer des osteuropäischen Chassidismus, zugeschrieben.

Die Quintessenz dieser Weisheit liegt darin, dass man sich erinnern muss und nicht vergessen darf. Aus diesen wertvollen Sätzen von Baal Schem Tov kann man lernen, dass kein Mensch, keine Gemeinschaft und keine Religion ihrer Vergangenheit entkommen kann, auch wenn immer wieder versucht wird, die dunklen Epochen der eigenen Geschichte zu vergessen oder zu verdrängen. Besonders in aktuellen Konfliktsituationen holen die vergangenen Ereignisse die Menschen ein, denn sie beziehen ihre affektive Besetzung aus der Geschichte. Sie bleiben im individuellen oder kollektiven Gedächtnis verwurzelt und ihre Erinnerung daran lässt sich weder meistern noch kontrollieren. Die Macht ihrer Rückkehr ist durch den ideologischen Missbrauch immer abrufbar.

Das Vergessen bzw. Verdrängen der unangenehmen Erinnerungen der islamischen Geschichte können auch das Exil der Muslime in ihrer kollektiv-islamischen Identität verlängern. Dadurch wird sogar die seit Jahrhunderten andauernde Sinnkrise des Islam intensiviert. Die Vergangenheit einer Kultur lässt sich per Befehl nicht einfach abschalten. Als Teil der kollektiven Identität gibt es keine Abwehr gegen ihre Wiederholung, denn sie kann sogar die Gegenwart und die Zukunft bestimmen, wenn sie nicht aufgeklärt wird. Die Muslime sind sie selbst in ihrem historischen Gewordensein. Sie sind auch das, was sie, gewollt oder ungewollt, vergessen oder verdrängen. Denn ihre Geschichte ist integrativer Bestandteil ihrer Gegenwart. Und Angehörige einer Religion können aus ihrer religiösen Geschichte nicht austreten, nur weil sie unangenehme Seiten hat.

Die Bedeutung des Erinnerns wird mit Nachdruck im Koran akzentuiert. Im Koran 51:55 ist zu lesen: „Und erinnere! Das Erinnern nützt den Gläubigen.“ Für muslimische Gelehrte wird dieser Aufruf mit der Aufforderung zur Erinnerung und zum Bedenken der Gebote und Verbote Gottes in Verbindung gebracht. Eine zeitgemäße Auslegung dieser Koranstelle würde jedoch auch bedeuten, dass die Erinnerung der religiösen Kultur essenziell für die kollektive Identität der Muslime ist, denn das Vergangene muss gleichzeitig bewahrt und anhand der kritisch-reflektierenden Vernunft überwunden werden. Aus einem solchen Denkprozess können wichtige Lehren für die aktuell erlebte Realität gezogen werden. Und somit können sich alle verpflichten, dass sich die Geschichte, insbesondere der islamische Judenhass, nicht wiederholt.

In der tragischen Begegnung der Juden mit den Muslimen im siebten Jahrhundert wurde der Grundstein für ein historisches Trauma gelegt, das im Laufe der Jahrhunderte nicht geheilt ist und in den gegenwärtigen politischen Konflikten immer wieder von Neuem aufbricht. Dies lässt sich durch den – unter anderem – religiös legitimierten und in vielen muslimischen Ländern zur Staatsräson erhobenen Judenhass und den zunehmenden muslimischen Antisemitismus in westlichen Ländern beobachten.

Ich bin mir der Tatsache bewusst, dass die Muslime Mut benötigen, um die Geschichte des Islam von Verfremdungen, Erfindungen und Fälschungen zu befreien. Es bedarf auch ethischer Entschlossenheit, die Geschichte der Diskriminierung, Vertreibung und Verfolgung der Juden unter islamischer Herrschaft von muslimischen Intellektuellen neu zu schreiben und differenziert anhand der kritischen Vernunft zu behandeln. Und es bedarf vor allem des Rückgrats und der Furchtlosigkeit zu sagen, dass der politische Islam seit 622 alles vernichtet, was vor ihm war, es sei denn, es steht mit ihm in Einklang.1 Es ist an der Zeit, dass Überzeugungen der islamischen Geschichte entmythologisiert werden und mit Tabuthemen gebrochen wird. Genauer gesagt: Nur durch die kritische Aufklärung der Geschichte der islamischen Kultur und die Infragestellung der kanonischen Quellen des Islam – Koran und die Tradition des Propheten (as-sunna) –, die auch die Anwendung der Gewalt gegen Andersdenkende, gegen Angehörige anderer Religionen und Weltanschauungen legitimieren, können die Gegenwart und die Zukunft von der Last der Vergangenheit befreit werden und den Weg für den „ewigen Frieden“ zwischen allen Menschen ebnen.

Das Thema Die Juden im Koran ist eine heikle Angelegenheit. Während des Verfassens warnten mich immer wieder einige Freunde und Kollegen vor der Behandlung dieses Themas. Solch ein Werk könne zu Missverständnissen führen, es könne sogar die Risse zwischen Juden und Muslimen vertiefen. Es könne auch die Islamfeindlichkeit von Anhängern der rechten Szene intensivieren, denn sie könnten den Eindruck bekommen, dass ihre Vorurteile gegen den Islam und die Muslime bestätigt werden. Denn letztendlich würde ich ihnen Argumente für ihren Islamhass anbieten. Bei Diskussionen bekam ich immer wieder zu hören, dass solch ein Buch mit einem Tabuthema zu tun hat, also auch die Gefühle der Musliminnen und Muslime verletzen könnte. Sie könnten denken, dass ihr Heiliges Buch und der Prophet Muḥammad (570–632) kritisiert werden und den Muslimen verallgemeinernd Judenfeindschaft unterstellt würde. Genauer gesagt: Ich würde dem Islam Antisemitismus vorwerfen.

Meine Antwort für die besorgten Freunde lautete oft: Autonomie der Schriften bedeutet, dass der Autor keinen Einfluss auf den Text und seine Interpretation nach seiner Veröffentlichung hat. Jeder kann das Buch gemäß seiner Interessenlage verstehen und rezipieren. Selbstverständlich kann das Deutungsmonopol der Vertreter des politisch-konservativen Islam mit dem Aufklärerischen nicht zufrieden sein. Denn dies ist nicht in ihrem Sinne und ihrem politischen Interesse. Würden alle diese berechtigten Gedanken meiner Gesprächspartner in Betracht gezogen werden, dann würde man lernen zu schweigen und keine Aufklärungsarbeit betreiben. Und somit wird die Aufarbeitung der Geschichte des Islam zu einem Wunschkonzert, denn alle Erwartungen und die Gefühlslage der Rezipienten müssen beachtet werden. Durch die Enthüllung bzw. die Freilegung des historisch Verdrängten kann ihre Macht in ihren Gemeinden ins Wackeln geraten. Denn sie verschweigen bei der religiösen Sozialisation der muslimischen Kinder und Jugendlichen historische Fakten. Bewegt von der Sehnsucht nach einer Islamreform und von dem Mut zur Wahrheit möchte ich akzentuieren, dass das vorliegende Buch nicht von Abwertungen oder polemischen Absichten geleitet ist. Es hat wahrlich nichts mit Islamfeindlichkeit zu tun, denn ich möchte mich möglichen Quellen über religiöse Gewalt widmen, und dabei versuche ich ihre Genese durch die Heranziehung des Koran analytisch zu dokumentieren.

Die Sorge derer, die mich vor dem Schreiben solch eines Werkes warnten, mag ihre berechtigten Gründe haben. Aber diese Sorge ist vermutlich auf die Angst vor ehrlichen Debatten im Rahmen der Meinungsfreiheit und Meinungsverschiedenheit zurückzuführen. Die religiös motivierte und durch die kanonischen Quellen legitimierte Gewalt ist heute aktueller denn je, und sie darf nicht durch Denkverbote und restriktive Debattenvorgaben abgewürgt werden. Der Diskurs darf im öffentlichen Raum dem Schema der „safe spaces“ nicht unterliegen. Tabuthemen in der islamischen Kultur können zu Kontroversen führen. Es geht nicht darum, dem Dialogpartner die eigene Meinung bzw. Überzeugung aufzuzwingen, sondern respektvoll miteinander umzugehen, auch wenn man nicht einig ist. Die Instrumentalisierung des Themas über die Juden im Koran und die kriegerischen Handlungen des Propheten zur Pflege antimuslimischer Klischees weise ich nachdrücklich und strikt zurück.

Die bevormundende Sorge um das Wohlbefinden der Muslime bedeutet auch, dass man ihnen nicht zutraut, ihre religiös-politische Geschichte aufzuklären. Eine solche Haltung lässt vermuten, dass auch die Schriftgelehrten nicht in der Lage sind, kritisch mit den kanonischen Quellen umzugehen. Mir scheint, dass diese Sorge die weinerliche Opferhaltung vieler Musliminnen und Muslime intensiviert. Und solch eine meisterhaft stilisierte Opferrolle kann die Macht des kollektiven Verdrängens freisetzen. Daher ist das vorliegende Buch ein Beitrag zur Befreiung der Musliminnen und der Muslime aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit. Das Werk ist der Beginn für eine kulturelle Erinnerungsarbeit, um eine bewusste Selbstbefreiung von der kollektiven Last unangenehmer Situationen in der Entstehungsgeschichte des Islam zu vollziehen.

Die vorliegende Untersuchung ist kein politisches Programm für die Zukunft Israels, auch nicht für die der Palästinenser. Es ist eine arabisch-muslimische Reaktion auf die Geschichte des Judentums in den arabischen Ländern des Maghreb und des Vorderen Orients. Das Buch möchte auch einen konstruktiven Beitrag zum authentischen Verständnis der Entstehungsgeschichte des Islam und einiger historischen Momente seiner Entwicklungsprozesse leisten. Es will unter anderem an die Vertreibung der Juden auf brutalste Art und Weise aus ihren arabischen Heimatländern erinnern. Die Verfolgung unschuldiger Menschen aufgrund ihrer Glaubenszugehörigkeit und die systematische Löschung einer Kultur in vielen muslimischen Ländern dürfen einfach nicht vergessen oder aus dem kollektiven Gedächtnis gestrichen werden. Ich möchte aufklären, denn das Ziel ist, Frieden zwischen Menschen aller Couleur durch das individuelle und kollektive Erinnern zu stiften. Solch ein Anspruch mag hochgegriffen erscheinen, jedoch darf man die Hoffnung nicht aufgeben. Die Sehnsucht nach Frieden ist groß bei den Menschen. Daher kann eine erfolgreiche muslimische Erinnerungskultur nicht nur selbstkritisch, sondern auch dialogisch mit den Menschen jüdischen Glaubens sein. Nur eine freie islamische Welt und nur freie und selbstbestimmte muslimische Gemeinden im Westen können die Juden respektieren, achten und die Existenz Israels fördern und befördern.

Bekanntlich ist das Verfassen von Büchern ein einsames Unternehmen, denn die Textwelt bei der Beschäftigung mit einem Sachverhalt will die Oberhand über die Realwelt gewinnen. Jedoch gibt es Menschen, die mich beim Schreiben dieses Buches durch ihre Diskussion und Ratschläge von den Momenten der Einsamkeit befreiten. Zu großem Dank verpflichtet bin ich meinen beiden Freunden, den Islamwissenschaftlern Ulrich Rebstock und Rainer Brunner, die das Entstehen dieser Arbeit mit kritischem und zugleich wohlwollendem Interesse verfolgten. Bei unseren Treffen donnerstags in dem Lokal Feierling in Freiburg war es für mich ein unbeschreibliches Vergnügen, mit ihnen über die Einzelheiten der gesamten Arbeit zu diskutieren. Ihr fachlicher Rat und ihre nie versagende Gelassenheit waren mir stets eine große Unterstützung. Bei Fragen bekam ich immer zahl- und hilfreiche Literaturhinweise. Ein besonderes Wort des Dankes gebührt Herrn Rebstock auch dafür, dass er das gesamte Buch korrigiert und mit kritischem Interesse verfolgt hat.

Einführung

Hier möchte ich über meine persönlichen Erfahrungen hinsichtlich des Antisemitismus schreiben. Meine Erfahrung muss schriftlich festgehalten werden, denn sie darf nicht in Vergessenheit geraten. Zeitgenössische Menschen oder sogar die nächste Generation können daraus lernen und durchaus Lehren ziehen. Diese Erfahrung betrifft nicht nur mich und meine Generation, sondern vorherige und die darauffolgenden Generationen, die bis heute durch den Judenhass zu Antisemiten in der islamischen Welt und in den westlichen Gemeinden gemacht werden. Ihnen wird vermittelt, dass die Hamas und die Hisbollah Befreiungsbewegungen seien, die für Gerechtigkeit und Freiheit kämpfen, obwohl sie terroristische Gruppierungen sind. Das Mitleid gegenüber den Arabern, die angeblich durch die Juden unterdrückt werden, wird ihnen bereits in die Wiege gelegt. Dass die Anhänger dieser beiden Politikorganisationen einen starken israelfeindlichen bis antisemitischen Kurs vertreten, scheint sehr wenige unter den Muslimen zu interessieren. Diskriminierung, Verfolgung der Juden im Laufe der Jahrhunderte in der islamischen Kultur und deren Vertreibung aus ihren arabischen Heimatländern bleibt somit außer Acht. Die historischen Traumata der Juden und die in der postkolonialen Ära sollen ein Tabuthema bleiben. Auch die systematische Eliminierung ihrer kulturellen Identität bleibt bis heute unbeachtet. Viele Muslime haben gelernt, nicht zu fragen, sondern nur zu glauben, unkritisch und nachahmend zu befolgen. Uns wurde beigebracht, dass der Jude der ewige Feind der Muslime ist und der Staat Israel bekämpft werden soll.

Heute scheint es mir, dass die islamische Kultur ohne Feindbilder nicht überlebensfähig ist. Und diese müssen bewahrt und aufrechterhalten werden, denn sie verhindern, dass man sich mit eigenen hausgemachten Problemen auseinandersetzt. Die seit Jahrhunderten andauernde Sinnkrise mit ihren politisch-wirtschaftlichen Dimensionen braucht unbedingt Israel, Juden überall in der Welt und den Westen als Feind, damit die ewige Opferrolle der Muslime bestens gepflegt wird und der innere Frieden innerhalb der muslimischen Länder und den muslimischen Gemeinden im Westen gewährleistet bleibt. Die angebliche Schuld der Juden und des Westens setzt die Übernahme der eigenen Verantwortung außer Kraft. Israel und die Juden als Feind intensivieren nicht nur den Opferstatus der Muslime, sondern machen auch Verschwörungstheorien2 salonfähiger, die seit Jahrzehnten zu einem festen Bestandteil der muslimischen Sozialisation wurden. Dadurch werden Muslime in ständige Panik vor den Juden versetzt, denn die Juden sollen als Verschwörer im Geheimen agieren und einen Plan verfolgen: die Bekämpfung des Islam und der Muslime.

Mit dreiundzwanzig Jahren kam ich als indoktrinierter Antisemit nach Deutschland. Ich kann mir heute vorstellen, dass es vielen Musliminnen und Muslimen ebenso erging. Unsere Sozialisation in unseren Herkunftsländern wollte uns in den Zustand des unsterblichen Hasses gegen die Juden versetzen. So hasste ich Juden und den Staat Israel. Alles, was damit zu tun hatte, habe ich vehement abgelehnt. Nur ein Grundsatz galt für mich: Die Juden sind die Täter, und die Muslime sind die Opfer. Schuld an der Misere der Muslime in der ganzen Welt tragen auch die Juden. Und somit werden die Juden zum Inbegriff des Anderen als ewiger Feind, der die Muslime bedroht. Die Juden seien die Bedroher als Täter und wir, die Muslime, sind die Bedrohten als Opfer. Die Dualität bestimmt heute, mehr denn je, das Denken und Handeln vieler Muslime, sowohl in muslimischen Ländern als auch im Westen. Schon am 06.02.2003 in einem in DIE ZEIT veröffentlichten Artikel machte der Politikwissenschaftler Bassam Tibi auf den „importierten Hass“ der in Europa lebenden Muslime aufmerksam. Aber solche Analysen, die heutzutage aktueller denn je sind, wurden damals nicht ernst genommen.

Meine arabisch-islamische Sozialisation als antisemitisches Programm war erfolgreich. Die Erziehung in den Moscheen, in den Schulen und in den Hochschulen ist bis heute darauf bedacht, dass die Kinder bzw. die Menschen mit Hass gegen Juden und gegen Israel erzogen werden. Ich war dem ausgeliefert, denn es gab keine Möglichkeit dazu, anders zu denken. Für Kritik an solchen Überzeugungen gab es keinen Raum und jeder, der dies versuchen würde, würde als Feind des Islam und der Muslime verurteilt. Aus Angst vor Sanktionen tat dies niemand in der Öffentlichkeit. So glaubte ich, dass die Juden unsere ewigen Feinde sind und sie die volle Verantwortung für das Leiden der Musliminnen und der Muslime in der ganzen Welt tragen. Wie geschah das?

Schon mit vier oder fünf Jahren hörte ich zum ersten Mal das Wort „Jude“ (im Algerischen yhūdī) in der Koranschule. Mein damaliger Koranlehrer sagte einem Jungen: „Du Jude, benimm dich“ (ya l-yhūdī trabā). Ich wusste nicht, was das Wort bedeutet. Aber für mich war es wichtig, dass ich mich gut benehme, damit ich nicht als „Jude“ bezeichnet werde. Auch in meiner Grundschulzeit hörte ich immer wieder während des Unterrichts, dass Lehrer von dem Wort „Jude“ Gebrauch machten, um Schüler zu beleidigen. Als Kinder spielten wir wild vor unseren Häusern. Ich erinnere mich bis heute, als uns der Vater meines Freundes erwischte. Er sagte zu seinem Sohn Folgendes: „Habe ich dir nicht gesagt, dass du mit dem Sohn des Juden nicht spielen darfst?“ Mein Vater war nicht aus Tlemcen in Nordwesten Algeriens, sondern aus Tebessa an der algerisch-tunesischen Grenze. Er wurde immer „der Fremde“ genannt. Diese Erfahrung als Sohn des angeblichen Juden hat mich sehr geschockt und darüber habe ich mit niemandem gesprochen.

In der sechsten Klasse sagte der Religionslehrer zu einem meiner Mitschüler: „Bist du Jude oder Muslim? Warum willst du keine Ruhe geben?“ Bei Beschimpfungen oder Beleidigungen gehört das Wort „Jude“ zum Alltag, mit dem Menschen, die man nicht mochte, bezeichnet wurden. Bei Streitereien zwischen Kindern bezeichneten die Eltern sie immer wieder als „jüdische Rachsüchtige“. Man sagte auch: „Du bist wie die Juden. Du suchst nur Probleme.“ Wenn man sich abweichend von den Normen verhält oder anders denkt, dann bekommt man den Satz zu hören „barka min tayhudiyat“. Das heißt: „Du verhältst dich wie ein Jude, hör damit auf.“

Das Wort „Jude“ gilt bis heute unter Muslimen als Schimpfwort. Alles, was böse ist, wird in Verbindung mit Juden gebracht. Schon während meiner Jugend lernte ich die Bezeichnung von geldgierigen Menschen als „Juden“. Als ich 17 Jahre alt war, erzählte uns unsere Geschichtslehrerin auf dem Gymnasium, dass die Juden die Welt durch ihren Reichtum beherrschen und kontrollieren. Wenn man jemanden als egoistisch beleidigen will, sagt man im arabischislamischen Raum Folgendes: „Er/sie ist ein Jude, weil er/sie nur an seine/ihre Interessen denkt.“ Jeden Freitag beendete der Imam, mein Onkel mütterlicherseits, seine Predigt auf der Moscheekanzel mit dem Bittgebet: „Möge Allah die ungläubigen Feinde des Islam und der Muslime allesamt vernichten. Möge Allah die verfluchten Juden erniedrigen und zerstören! Möge Allah die Muslime im Kampf gegen die Juden unterstützen.“ Bis heute wird freitags oder bei Predigten während religiöser Feiertage dieses Bittgebet in algerischen Moscheen und anderen arabischen Ländern wiederholt. Die Kanzel wird dafür missbraucht, eine Kultur des Hasses zu predigen. Bis heute herrscht eine tiefe Abneigung gegen die Juden. Antisemitische Stereotype sind in der algerischen Gesellschaft virulent, sie sind in hohem Maße integrativer Bestandteil der kulturellen Sozialisation der Menschen dort. Im Dezember 2019 besuchte mich mein Bruder mit seiner Familie. Sie leben in Algerien. Eines Abends machten wir einen Spaziergang im Freiburger Stadtteil Wiehre. Ich erklärte seinen Kindern, was Stolpersteine auf den deutschen Straßen bedeuten. Sein vierzehnjähriger Sohn sagte mir plötzlich: „Als ich in der dritten Klasse in der Grundschule war, hat uns unsere Französischlehrerin gesagt: „Ich hasse die Juden und verneige mich vor Hitler, weil er die Juden hingerichtet hat.“ Solche Sätze prägen muslimische Kinder und werden nicht so einfach vergessen.

In der ersten Hälfte des Jahres 1990 legte die islamistische Partei „Islamische Heilsfront“ (FIS)3 einige algerische Städte durch Protestaufrufe zu Ungehorsam gegen den damaligen Staat lahm. Zu den Parolen bei ihren regelmäßigen Demonstrationen4 gehörte der Satz: „Ḫaibar, Ḫaibar, oh ihr Juden! Muḥammads Herr wird bald wiederkehren!“ Ich wusste nicht, was das Wort Ḫaibar bedeutet. Die Bedeutung des Wortes Ḫaibar lernte ich während meinem ersten Seminar „Geschichte des frühen Islam“ bei meinem Dozenten Ulrich Rebstock in der Islamwissenschaft an der Universität Freiburg. Der Slogan ist eine Anspielung auf den Unterwerfungsfeldzug von Muḥammads Heer im Frühjahr 628 gegen die damals von Juden besiedelte Oase5, die etwa 150 Kilometer nördlich von Medina im heutigen Saudi-Arabien liegt. Der antisemitische Satz wird immer wieder bei Protesten von vielen Muslimen gegen den Staat Israel gesungen, wie etwa im Herbst 2017 in Deutschland.6 Interessanterweise wurden von den damaligen algerischen Islamisten ihre politischen Gegner als Juden betrachtet, die zu bekämpfen sind. In dem Zusammenhang schrieb Raimund Fastenbauer in seiner Doktorarbeit Folgendes: „Der Hinweis auf eine angebliche jüdische Herkunft eines politischen Gegners wird in der islamischen Welt auch als politisches Kampfmittel der Verleumdung benützt.“7 Antisemitische Stereotype waren überall präsent, und daran hat sich nichts geändert. Hierbei werden täglich „feindselige Überzeugungen gegen die Juden als Kollektiv“ vorgebracht.8 In den algerischen Medien und der Presse ist nie die Rede vom Staat Israel, sondern nur von Aggressoren als „zionistisches Gebilde“ oder „zionistische Besatzung“. Die Kulpabilisierung der Juden ist eine Projektionsfläche für Probleme und Ängste der Menschen, damit die Aufmerksamkeit der Menschen von realen politisch-wirtschaftlichen Problemen abgelenkt wird. Ich bin einmal pro Jahr in Algerien und würde es nicht wagen, in der Öffentlichkeit zu sagen, dass ich ein Freund Israels und der Juden bin. Das könnte schlimme Folgen haben. Sowohl in Algerien als auch in anderen arabischmuslimischen Ländern gilt der Grundsatz: „Der Jude ist an allen Übeln dieser Welt schuld.“

Es dauerte Jahre, bis ich lernte, dass die Juden nicht die Feinde der Muslime und nicht anders als andere Menschen sind. Dies geschah nicht in Algerien oder in anderen muslimischen Ländern, sondern erst in Deutschland. Ich war geschockt, als ich während meines Studiums in Freiburg von verschiedenen Pogromen gegen algerische Juden während der Kolonialherrschaft erfuhr. Nur die wenigsten unter den Algeriern wissen anscheinend von den zahlreichen Verfolgungen der Juden. Die Einbürgerung der algerischen Juden als französische Staatsbürger durch das Dekret Crémieux vom 24. Oktober 1870 war der Grund für die verstärkte Verbreitung der Judenfeindschaft und zahlreiche Pogrome in Algerien, wo viel jüdisches Blut in den folgenden Jahren geflossen ist.9 Die muslimischen Einheimischen in Algerien waren von diesem Integrationsprozess nicht betroffen, und dies scheint der Grund für die Verfolgung der Juden in zahlreichen Städten Algeriens gewesen zu sein. Nathan Weinstock schreibt Folgendes über diesen ungeheuren Ausbruch des Judenhasses bei den algerischen Muslimen: „Die Städte werden von Pogromen heimgesucht, während derer die Aufrührer Juden ermordeten, ihre Häuser plünderten und Synagogen verwüsteten.“10 Selbstverständlich war der erlernte Judenhass der Katalysator für die Verfolgung der algerischen Juden. Es darf in diesem Kontext über das Pogrom vom 5. August 1934 in Constantine gesprochen werden, wo Juden auf brutalste Weise ermordet wurden, darunter auch Kinder.11 Zudem wurde ihr Hab und Gut geplündert. Zu den Opfern des antikolonialen Befreiungskriegs zwischen 1954 und 1962, der von der Nationalen Befreiungsfront (FLN) geführt wurde, gehörten zahlreiche Juden.12 Ihr Status als Franzosen wurde ihnen zum Verhängnis. „Jüdische Viertel, Rabbiner und israelitische Gebetshäuser werden systematisch zu Zielscheiben gemacht.“13 Die Tragödie der algerischen Juden erreichte ihren Höhepunkt durch die Unabhängigkeit Algeriens. Im Juli 1962 war Algerien ein Land ohne jüdische Bürger.14 Ihre Synagogen wurden zu Moscheen oder zu Kulturvereinen. In der Synagoge im jüdischen Viertel Tlemcen saß die Verwaltung der Gewerkschaft. Inzwischen trainieren junge Algerier darin Karate. Nur der Name des Viertels erinnert daran, dass hier Juden gelebt haben. Ihre Häuser sind von algerischen Muslimen bewohnt. Weniger als hundert Juden sollen in Algier und Tlemcen leben, aber keiner kennt sie. Sie würden es nie wagen, in der Öffentlichkeit zu sagen, dass sie Juden sind.

Das Ganze ist bestimmt ein Trauma für die damaligen Juden Algeriens, die ihrer Heimat beraubt, entwurzelt und vertrieben wurden. Anderen Juden, die nach 1948 aus muslimischen Ländern vertrieben wurden, ist es nicht anders ergangen. Eine ganze Kultur, die ein integraler Bestandteil der algerischen Geschichte war, wurde über Nacht ausgelöscht. Umso trauriger ist die Tatsache, dass die unangenehme Wahrheit vergessen und verdrängt wird. Dies ist auch ein irreparabler Verlust für eine Kultur, die den Islam als Religion des Friedens und der Toleranz verkündet. Nicht nur die Judenvertreibung aus ihren Herkunftsländern ruft Unbehagen und Entsetzen hervor, sondern der Erfolg des Themas, sich als Tabu durchzusetzen. Niemand will sich daran erinnern. Der offizielle Diskurs in muslimischen Ländern hat den ewigen Opferstatus mit Geschick gepflegt und aus politischen Gründen instrumentalisiert, wodurch die eigene Geschichte geleugnet und verdrängt wird.

Ich setzte mich Ende der Neunzigerjahre mit der Geschichte des Zweiten Weltkrieges und dem Nationalsozialismus auseinander, bei dem sechs Millionen Juden durch einen industriellen Holocaust vernichtet wurden. Ich lernte viele Juden kennen und entdeckte, dass sie nicht anders als wir sind, die auch in Frieden leben möchten. Und somit wurde ich kritisch gegenüber meiner kulturellen Sozialisation. Jedoch machen nicht alle Muslime diese Erfahrung, bei dem sie ihren Judenhass infrage stellen und kritisch mit der eigenen Erziehung umgehen können. Der islamische Antisemitismus ist unter muslimischen Schülern und Erwachsenen in westlichen Ländern sehr verbreitet. Tendenz steigend.

Seit Jahren ist der muslimische Judenhass in Ländern wie Deutschland, England, den Niederlanden und Frankreich aktenkundig. Man kann schon von einer Zunahme antisemitischer Wellen gegen die Juden und jüdischen Einrichtungen sprechen. Man kann nur froh darüber sein, dass sie nicht organisiert sind. Schon im Jahre 2004 fand Wolfgang Benz solch eine Entwicklung besorgniserregend.15 Besonders der unter vielen Muslimen in Frankreich verbreitete Antisemitismus ist erschreckend. In den letzten Jahren wurden elf französische Jüdinnen und Juden von Islamisten getötet. Zwischen 2013 und 2017 wanderten 27.000 französische Jüdinnen und Juden nach Israel aus.16 Im Jahre 2018 waren es 2.415. Man muss kein Prophet sein, um zu sagen, dass, wenn der muslimische Antisemitismus in Deutschland ignoriert wird, solch eine traurige Entwicklung auch Deutschland betreffen könnte. In diesem Zusammenhang schreibt Raimund Fastenbauer, der damalige Generalsekretär der Israelitischen Kultusgemeinde in Österreich, Folgendes: „Das Wort ‚Jude‘ ist Teil der Umgangssprache arabischstämmiger Jugendlicher auch in Europa geworden. […] Resignierend wird das Schimpfwort von Lehrern in Deutschland ignoriert.“ Das Wort „Jude“ werde als Schimpfwort nicht antisemitisch gedeutet, sondern nur als eine Beleidigung „völlig losgelöst von seinem historischen Kontext“17. Immer wieder kommt es zu Angriffen von Muslimen gegen Juden.

Angriffe auf Juden in Deutschland gehören in Deutschland zum Alltag. Schülerinnen und Schüler werden attackiert, nur weil sie jüdisch sind. Selbstverständlich fühlen sich die Juden in Deutschland durch antisemitische Angriffe von der Vergangenheit eingeholt. Erinnerungen an die Schoah werden wach. Dieses Mal sind die Feinde der Juden nicht nur Nazis, sondern auch Muslime mit Migrationshintergrund. Der Münchner Oberrabbiner der israelitischen Gemeinde, Shmuel Aharon Brodman, wurde am Donnerstag, den 09.07.2020, Opfer von Beschimpfungen und Pöbeleien. Er trug eine schwarze Kippa. Die Täter sollen Araber gewesen sein, sie riefen antisemitische Parolen wie etwa „Fuck Israel“.

Diese Erfahrung machte ich im Dezember 2019 in einer Brennpunkt-Grundschule in Freiburg, wo ich Studierende der Islamischen Theologie und Religionspädagogik bei ihrem Schulpraktikum als angehende Lehrerinnen und Lehrer betreute. Im Rahmen des Interreligiösen Lernens sollten sich Schülerinnen und Schüler der vierten Klasse mit anderen monotheistischen Religionen vertraut machen. Das Thema im islamischen Religionsunterricht lautete: „Das Judentum“. Ein neunjähriger Schüler fragte die Studentin: „Warum müssen wir überhaupt über Juden lernen?“ Zwei andere Schüler sagten, dass sie keine Juden mögen. Auf meine Frage nach dem Grund dafür konnten die Schüler keine Antwort geben. Die meisten Schüler zeigten im Unterschied zu den Schülerinnen keinerlei Interesse am Lehrstoff. Ein Schüler sagte mir, dass die Juden die Feinde der Muslime sind. In der nächsten Stunde des islamischen Religionsunterrichts teilte die Studentin die Lernenden in drei Gruppen ein. Jede Gruppe sollte sich mit einer der drei monotheistischen Religionen beschäftigen. Einer der Schüler sagte: „Ich bin froh, in der Gruppe des Islam zu sein und nicht in der Gruppe der Juden.“ Die Studentin war anscheinend mit der Bemerkung überfordert und reagierte überhaupt nicht darauf. Sie wusste nicht, wie man mit solch einer heiklen Äußerung umgehen soll. Tatsächlich mangelt es an einer Sensibilisierung der angehenden Lehrerinnen und Lehrer für den islamischen Religionsunterricht im Umgang mit antisemitischen Vorfällen in Schulen.

Selbstverständlich kommen Kinder nicht als Antisemiten auf die Welt, sondern sie werden in ihren Familien und muslimischen Gemeinden dazu erzogen. Dazu leisten auch die muslimischen Satellitenfernseher, wie etwa arabisch-türkische Sender, das Internet und Hassprediger in einigen hiesigen Moscheen einen erheblichen Beitrag. Diese verstärken den Opferdiskurs der Muslime. Die religiös konnotierte Ausprägung von Judenhass ist umso stärker, je religiöser und konservativer eine Familie ist. In ihrem im Jahre 2019 veröffentlichten Artikel über Antisemitismus in der schulischen Bildung stellte Juliane Wetzel fest, dass bereits vor mehr als zehn Jahren das Schimpfwort „Du Jude“ auf Schulhöfen verbreitet war. Solch ein Schimpfwort sei schlicht eine Provokation. Ihrer Meinung nach habe solch ein Ausdruck keine antisemitische Konnotation und werde schlicht als Synonym zu „Du Opfer“ verwendet. Die Autorin ist der Ansicht, dass bei geäußerten antisemitischen Vorurteilen in den Schulen „nicht immer ein antisemitischer Hintergrund zu vermuten“ ist. Es handele sich dabei um „einfach nur unbewusstes Nachplappern tradierter Vorurteile“18. Dass dieses antisemitische Handeln der Lernenden in den Schulen ein integrativer Bestandteil der religiösen Sozialisation vieler muslimischer Schüler ist, scheint die Autorin zu vergessen und verharmlost dadurch ein ernst zu nehmendes Problem. In einem weiteren Aufsatz vertritt sie die Ansicht, dass das unter den muslimischen Jugendlichen verbreitete antisemitische Ressentiment „Ausdruck einer diskriminierten Minderheit“ sei. Solches Verhalten sei eher eine verbale Entgleisung auf Schulhöfen.19 Die Gründe für einen islamischen Antisemitismus, wie etwa der historische Antisemitismus in der Geschichte des Islam, der religiös legitimiert wird, scheinen die Verfasserin nicht zu interessieren. Sehr bedenklich ist, dass diese Sichtweise nicht nur Verständnis für antisemitische Hetze und antiisraelische Gehirnwäsche bei muslimischen Kindern zeigt, sondern sie auch tatsächlich relativiert.

Unter der Überschrift „Lernen wir die Juden nach dem Koran kennen!“ wurden im November 2015 auf der Internetseite der Ditib-Gemeinde im nordhessischen Melsungen antisemitische Hetzparolen übelster Sorte gegen Juden auf Türkisch veröffentlicht.20 Der deutsch-türkische Moscheeverband DITIB steht immer wieder wegen antisemitischer Hetze und Christenfeindlichkeit in der Kritik. So hetzte etwa der ehemalige Göttinger DITIB-Vorsitzende Mustafa Keskin jahrelang in den sozialen Medien gegen Juden.21 Anfang 2017 wurde öffentlich, dass einige seiner Gemeinden auf ihren Facebook-Seiten türkischsprachige Zitate wie „Der kannibalische Jude kotzt den Tod in Palästina“ oder „Um die Barbarei der Juden zu beschreiben, werdet ihr nicht die richtigen Worte finden können“ verbreiteten. Das Weihnachtsfest sei „eine nach Blasphemie stinkende Tradition der Christen“ oder „Freundschaft und Beziehungen zu Ungläubigen sind verboten“, war dort zu lesen. Auf solche Ansichten trifft man auch bei gebildeten, sogar bei einigen westlich aufgeklärten Muslimen. Hierbei handelt es sich um religiös motivierten Antijudaismus, der mit rassistischem Antisemitismus gepaart ist. Schon im Jahre 2005 konnten Interessierte am Stand der türkisch-islamistischen Organisation Milli Göruş auf der Buchmesse in Frankfurt ins Türkische übersetzte Schriften wie etwa Henry Fords Der internationale Jude und Die Protokolle der Weisen von Zion lesen.22 Interessanterweise sind solche politischkonservativen Organisationen Gesprächspartner für Politiker und Vertreter der beiden Kirchen.

Die Gefahren des islamischen Antisemitismus werden aus meiner Sicht noch unterschätzt. Ich spreche bewusst vom islamischen, und nicht vom islamistischen Antisemitismus, denn meiner Meinung nach kommt der Antisemitismus in der ganz normalen Erziehung muslimischer Kinder und während ihrer weiteren Sozialisation in der Gesellschaft vor. Aus Angst vor dem Vorwurf der pauschalisierenden Islamophobie wird lieber vom islamistischen Antisemitismus statt vom islamischen gesprochen. Islamischer Antisemitismus ist nicht nur ein historisches Produkt europäischer Vordenker des Antisemitismus oder Folge des Nahostkonflikts, vielmehr wird er auch theologisch legitimiert. Ich sehe die Gefahr, dass muslimische Kinder in Deutschland bereits in der Familie und in den Moscheegemeinden gegen Israel und gegen jüdische Menschen aufgehetzt werden. Und das ist eine Gefahr für das friedliche Zusammenleben aller Menschen in Deutschland. Die Politik muss dies als Problem zur Kenntnis nehmen und handeln. Dabei geht es um Prävention, um zu verhindern, dass Kinder und Jugendliche mit antisemitischer Hetze aufwachsen. Der Staat muss dafür sorgen, dass so etwas in Deutschland nicht möglich ist. Sich allein darauf zu verlassen, dass es den Sicherheitsbehörden gelingt, antisemitische Straftaten von Muslimen zu verhindern, reicht nicht aus. Wir brauchen dringend realitätsnahe und zukunftsorientierte Aufklärungskonzepte, wie etwa die Thematisierung der Schoah im islamischen Religionsunterricht und Exkursionen zu den KZ-Gedenkstätten.

Der Satz „Der Judenhass hat nichts mit dem Islam und seinen Lehren zu tun“ scheint wohlmeinend zu sein, ist allerdings unaufrichtig. Er erinnert auch an die Behauptung, dass der Islam mit Gewalt nichts zu tun habe. Er gibt jedoch die Naivität und die Gleichgültigkeit seiner Vertreter preis. Wer sich so äußert, offenbart in dieser unangebrachten Verharmlosung seine Realitätsverleugnung und sein Ignorantentum gegenüber den Opfern. Statt eines aufrichtigen Interesses an der Aufklärung der historischen Gründe für islamischen Antisemitismus werden kosmetische Korrekturen und Rechtfertigungen bevorzugt, die letztendlich ein Bestandteil des Problems sind. Diese Ausflüchte haben angesichts der Zunahme antisemitischer Angriffe durch Muslime jedwede Glaubwürdigkeit verloren. Fest steht, dass nicht alle Muslime Antisemiten sind. Fest steht jedoch auch, dass viele Muslime Antisemiten sind. Den Islam als pauschal antisemitisch zu bezeichnen ist irreführend, aber dass der Islam und Judenfeindschaft miteinander nichts zu tun haben sollen, ist unwahr.

Selbstverständlich kann der Judenhass in der islamischen Kultur nicht nur auf Theologisches beschränkt werden. Unter anderem spielen auch politische Gründe eine essenzielle Rolle, wie etwa der Nahostkonflikt und die Gründung des Staates Israel im Jahre 1948. Jedoch wird dabei die theoretische und historische Genese des Judenhasses in den Anfängen des Islam seitens der Muslime verschwiegen. Hervorgehoben werden nur die ethischen Aspekte des Korantexts und das Handeln des Propheten als Verkünder einer friedlichen Religion. Betont werden immer wieder auch die Phasen des friedlichen Zusammenlebens zwischen „Schutzbefohlenen“ (Juden und Christen) in der Geschichte des Islam, wie etwa der Zuzug sephardischer Juden in Gebiete des Osmanischen Reiches nach dem Alhambra-Edikt im Jahre 1492. Im Vergleich zum Abendland führten tatsächlich viele Juden ein besseres Leben in der islamischen Welt.

Das kollektive Gedächtnis taugt nicht als verlässliche Quelle. Daher ist heute die Stiftung einer Erinnerungskultur unverzichtbar, um das Verdrängte in der eigenen kollektiven Identität zu erkunden. Wenn Muslime die Erinnerung an ihre Geschichte aufarbeiten, kann eine geistig-intellektuelle Orientierung entstehen, um sich der Antisemitismusfrage zu stellen. Daraus entsteht eine Kraft des Erinnerns, wodurch Fehlentwicklungen im Islam erkannt und in Zukunft vermieden werden können. Darüber hinaus kann solch eine Aufklärung Erinnerungen lebendig halten und diese vor Missbrauch aus ideologischen Gründen schützen. Es geht um die Vergangenheitsbewahrung und -bewältigung durch Schaffung einer Erinnerungskultur.

Dieses Buch möchte sich vor allem mit einer der dunklen Seiten des Islam in seiner Entstehungszeit zwischen 610 und 661 n. Chr. auseinandersetzen: der Judenfeindschaft. Es ist eine öffentliche Anklage gegen die offizielle muslimische Erinnerungskultur, die nur an die guten Seiten des historischen Islam erinnert und Unangenehmes verdrängen will. Es geht auch darum, die systematische Vernichtung der Juden im Gebiet des heutigen Königreichs Saudi-Arabien zu behandeln. Anhand historischer Beispiele wird die Epoche zwischen 632 und 1258 im Vordergrund stehen.23 Jeder Versuch, den muslimischen Judenhass und Antijudaismus nur auf die politischen Folgen nach der Gründung des Staates Israel zurückzuführen, ist zum Scheitern verurteilt, denn dadurch werden seine historischen und religiösen Wurzeln, die schon im siebten Jahrhundert auszumachen sind, nicht wahrgenommen. Die Judenfeindschaft ist religiös motiviert und findet zweifelsohne ihre religiöse Legitimation in den muslimischen kanonischen Schriften.

Die Gründung einer islamischen Erinnerungskultur und die kritische Auseinandersetzung mit dem islamischen Judenhass wären keine Stunde wert, sollte sie bloß eine Disputation unter Experten sein. Das vorliegende Buch ist daher nicht nur für akademisch-wissenschaftliche Leserinnen und Leser verfasst, sondern auch für die breite Öffentlichkeit, die sich für die Geschichte des Islam und die verschiedenen Themen des Koran interessiert. Vor allem ist es an Muslime im deutschsprachigen Raum gerichtet, die sich mit ihrer historisch-kulturellen Identität auseinandersetzen möchten. Denn im Rahmen meines Aufklärungsprogramms und mit Unterstützung einer differenziert-sachlichen Selbst- und Kulturkritik möchte ich den Weg für eine Erinnerungskultur ebnen, die sich mit dunklen Momenten der islamischen Geschichte beschäftigt. Viele Muslime scheinen noch nicht für die Aufklärung ihrer Geschichte bereit zu sein. Die frühere Gemeinde des Propheten Muḥammad von 610 bis 661 n.Chr. gilt bis heute für das kollektive Bewusstsein aller Musliminnen und Muslime als goldene Zeit im Sinne eines normativen Vorbildes, woran sie sich in ihrem alltäglichen Denken und Handeln orientieren. Sie wird als sinnstiftend betrachtet für ihre gelebte Religiosität. Nur wenige sind mit den dunklen Seiten des frühen Islam vertraut.

Gezielt wird die Gewalt zu Lebzeiten des Propheten gegenüber den damaligen heidnischen Arabern und nichtmuslimischen Gemeinden ausgeblendet. Hierbei wird bewusst eine Dynamik des Verdrängens in Gang gesetzt, welche die Entstehung des Islam verklärt und idealisiert. Die enorme Wirkungsgeschichte des Koran als kanonische Quelle und das politische Handeln des Propheten von 622 bis zu seinem Tod 632 muss jedoch historisch-kritisch verortet werden, denn diese rechtfertigen als Fundamente des Handelns die Anwendung von Gewalt, so auch gegen Juden. Hierfür dienen medinensische, also vor der Hiǧra aus Mekka offenbarte Koranverse (622–632) als Legitimation. Daher hat das Buch zum Ziel, eine historische Wahrheit ans Licht zu bringen. Der Dissens ist groß zwischen der offiziellen Geschichte, die historische Fakten selektiv erzählt und Informationen manipuliert, und der analytischen „Gegengeschichte“, deren Aufgabe es ist, das Vergessene und Verdrängte freizulegen und zu vermitteln.

Liest man Werke zur arabischen Geschichte, stellt man sofort fest, dass sich das Phänomen der Gewalt durch die ganze Frühgeschichte des Islam zieht. Die angewendete Gewalt gegen Angehörige anderer Religionen und andersdenkende Menschen in der Frühgeschichte des Islam gehört dabei zu den Tabuthemen, über die ungern gesprochen wird. Daher ist es heute dringender denn je, dem Zusammenhang zwischen dem islamischen Monotheismus und religiös-politisch motivierter Gewalt im historischen Kontext nachzuspüren. Alles andere zementiert den Stillstand der islamischen Kultur.

Islamisten finden ihre Argumente im Koran, in der Tradition des Propheten und im politischen Handeln Muḥammads. Der 1slamismus hat lediglich die religiösen Inhalte verschärft, daher verwende ich den Terminus „islamischer Antisemitismus“. Denn die verbindenden Quellen des Islam gelten für die meisten Muslime. Der von einem Islamisten vermittelte Judenhass ist nicht davor geschützt, auch von dem friedlichen Imam in seiner Gemeinde gepredigt zu werden. Der Hass zwischen Juden und Muslimen ist in konservativen Lagern und sogar unter vielen intellektuellen Muslimen sehr verbreitet. Fraglos gibt es Juden wie Muslime, die sich intensiv nach friedlicher Versöhnung zwischen beiden Religionen sehnen. Dies ist auch das Ziel des vorliegenden Buches, denn es möchte einen Beitrag dazu leisten, dass die historische Entstehung des Islam und der Umgang des Koran und des Propheten mit den Juden aufgearbeitet werden. Verärgern wird es nicht nur viele Muslime, die angeblich die Geschichte des Islam kennen, sondern auch Vertreter des politisch-konservativen Islam.

Ich bin mir der Tatsache bewusst, dass der unter Muslimen verbreitete Antisemitismus ein gesellschaftlich-politisch-religiöses Reizthema ist. In diesem Zusammenhang möchte ich an den Vortrag des deutsch-israelischen Publizisten Chaim Noll erinnern, der im Mai 2011 in der Alten Synagoge in Essen einen Vortrag über den Judenhass im Islam gehalten hat. Schon die Ankündigung des Vortrags löste heftige Kontroversen aus. Muhammet Balaban, der Sprecher der Kommission „Islam und Moscheen in Essen“ fühlte sich in seiner Glaubenszugehörigkeit gekränkt. Er schrieb in einem öffentlichen Brief an Oberbürgermeister Reinhard Paß und die Leitung der Alten Synagoge, dass solch ein Vortrag Angriffe auf den Propheten Muḥammad, den Koran sowie alle Muslime enthalte. Es sei inakzeptabel, dass die Alte Synagoge durch solche Vorträge „Misstrauen, Hass, Anfeindungen und Unfrieden in unserer Gesellschaft sät.“24

Es ist nicht das erste und das letzte Mal, dass Vertreter des politischen Islam versuchen, kritische Vorträge oder Schriften zu verhindern, denn die Aufklärung bringt ihr Deutungsmonopol und ihre Macht in Gefahr. Der Vorgang in Essen gibt ein deutliches Beispiel für die nicht vorhandene Bereitschaft für die Aufarbeitung der eigenen Geschichte, ganz zu schweigen von einem interreligiös-interkulturellen Dialog mit Juden.