Die Kinder von Alpha Centauri - James P. Hogan - E-Book

Die Kinder von Alpha Centauri E-Book

James P. Hogan

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Beschreibung

Spirale der Gewalt

Einmal mehr steht die Erde vor einem globalen Krieg, der die Menschheit zu vernichten droht. Um das Überleben unserer Spezies zu sichern, schicken Forscher eine Sonde ins Alpha-Centauri-System. An Bord: eine genetische Datenbank, künstliche Gebärmütter, Embryonen und Roboter, die diese vollautomatisch geborenen Kinder aufziehen und unterrichten sollen. Wider Erwarten überstehen die Menschen jedoch den Konflikt und bauen die zerstörte Zivilisation einmal mehr auf. Als Jahrzehnte später die Kolonie meldet, dass die erste Generation der Siedler erfolgreich aufgezogen wurde, schicken die irdischen Großmächte Raumschiffe aus, um Anspruch auf den fremden Planeten zu erheben – und wieder droht ein Krieg mit verheerenden Folgen …

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JAMES P. HOGAN

 

 

 

DIE KINDER

VON

ALPHA CENTAURI

 

Roman

 

 

 

 

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Das Buch

Einmal mehr steht die Erde vor einem globalen Krieg, der die Menschheit zu vernichten droht. Um das Überleben unserer Spezies zu sichern, schicken Forscher eine Sonde ins Alpha-Centauri-System. An Bord: eine genetische Datenbank, künstliche Gebärmütter, Embryonen und Roboter, die diese vollautomatisch geborenen Kinder aufziehen und unterrichten sollen. Wider Erwarten überstehen die Menschen jedoch den Konflikt und bauen die zerstörte Zivilisation einmal mehr auf. Als Jahrzehnte später die Kolonie meldet, dass die erste Generation der Siedler erfolgreich aufgezogen wurde, schicken die irdischen Großmächte Raumschiffe aus, um Anspruch auf den fremden Planeten zu erheben – und wieder droht ein Krieg mit verheerenden Folgen …

 

 

 

 

Der Autor

James P. Hogan (1941-2010) wuchs im Londoner Westen auf. Sein erster Roman Das Erbe der Sterne erschien 1977. Sein wissenschaftlich-technisch orientierter Schreibstil fand großen Anklang, sodass Hogan mehrere Nachfolgeromane schrieb. Er wurde oft mit seinem Landsmann Arthur C. Clarke verglichen. Bis zu seinem Tod lebte er mit seiner Frau Jackie, mit der er in dritter Ehe verheiratet war, in Florida und Irland.

 

 

 

 

 

www.diezukunft.de

 

 

 

Titel der Originalausgabe

 

CODE OF THE LIFEMAKER

 

Aus dem Amerikanischen von Tony Westermayr

 

 

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Überarbeitete Neuausgabe

© der Originalausgabe 1982 by James P. Hogan

Copyright © 2018 der deutschsprachigen Ausgabe by

Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Covergestaltung: Nele Schütz Design, München

Satz: Thomas Menne

 

ISBN 978-3-641-23135-4V002

Prolog

 

»... Meine Damen und Herren, unser heutiger Ehrengast – Henry B. Congreve.« Der Ansager beendete die Vorstellung und trat zur Seite, um die stämmige, weißhaarige Gestalt im Dinnerjacket mit schwarzer Fliege das Podium besteigen zu lassen. Begeisterter Beifall erhob sich von den dreihundert Gästen, die im Hiltonkomplex am westlichen Stadtrand von Washington, D.C., versammelt waren. Die Saalbeleuchtung erlosch und ließ das Publikum zu weißen Hemdbrüsten, funkelnden Hälsen und Fingern und maskenhaften Gesichtern verblassen. Zwei Punktscheinwerfer erfassten den Sprecher, während er das Verebben des Beifalls abwartete. Der Zeremonienmeister kehrte im Schatten neben ihm zu seinem Stuhl zurück.

Nach achtundsechzig Jahren Lebenskampf stand Congreves gedrungene Gestalt noch immer aufrecht, die Schultern strafften sich zu beiden Seiten des kurzgeschorenen Kopfes jugendlich kräftig. Die Linien seines scharf geschnittenen Gesichtes waren noch immer fest und geradlinig, und seine Augen funkelten belustigt, als er den Blick durch den Saal gleiten ließ. Es schien vielen Anwesenden sonderbar, dass ein Mensch von solch sprühender Lebenskraft, einer, der noch so vieles in sich barg, hier seine Abschiedsrede halten wollte.

Nur wenige der jüngeren Astronauten, Wissenschaftler, Ingenieure und leitenden Angestellten der North American Space Development Organization konnten sich NASDO ohne ihren Chef Congreve vorstellen. Für sie alle würde es nie wieder so sein wie früher.

»Danke, Matt.« Congreves Stimme grollte als heiserer Bariton aus den Lautsprechern ringsum. Er blickte von einer Seite zur anderen, um sein Publikum zu erfassen. »Ich, äh – ich wäre beinahe überhaupt nicht reingekommen.« Er legte eine Pause ein; auch das leiseste Konversationsgeflüster verstummte. »Ein Schild draußen in der Halle verkündet, dass die Fossilien oben in Zwölfnulldrei ausgestellt sind.« Die amerikanische Archäologenvereinigung hielt im Hiltonkomplex diese Woche ihre Jahrestagung ab. Congreve zog die Schultern hoch. »Da hätte ich eigentlich hingehört. Zum Glück stieß ich unterwegs auf Matt, der mich auf den rechten Weg zurückholte.« Eine Welle des Gelächters ging durch die Dunkelheit, untermalt von Protestrufen an einigen Tischen. Er wartete, bis es still geworden war, dann fuhr er mit ernsterer Stimme fort. »Das erste, was ich zu tun habe, ist, allen hier Anwesenden und denjenigen NASDO-Leuten, die heute nicht dabei sein können, für die Einladung zu danken. Außerdem muss ich natürlich meinen tiefempfundenen Dank für das da und noch mehr meine Dankbarkeit für die Gefühle ausdrücken, die es symbolisiert. Ich danke Ihnen allen.« Während seiner Worte wies er auf die einen halben Meter lange Nachbildung in Silber und Bronze der noch unbenannten, unerprobten Sternsonde SP3, die am Haupttisch auf ihrem Teaksockel vor Congreves Platz stand.

Seine Stimme wurde noch ernster.

»Ich will mich nicht auf eine Menge persönlicher Anekdoten und Reminiszenzen einlassen. Dergleichen ist bei solchen Anlässen zwar üblich, aber das wäre banal, und ich möchte meine letzte Rede als Leiter der NASDO nicht mit Banalitäten belasten. Die Zeiten gestatten solchen Luxus nicht. Stattdessen möchte ich über Dinge sprechen, die von globaler Bedeutung sind und jeden Einzelnen betreffen, der auf diesem Planeten lebt, ja sogar die künftigen Generationen – vorausgesetzt, es wird sie geben.« Er schwieg einen Augenblick. »Ich möchte vom Überleben sprechen – vom Überleben der menschlichen Gattung.«

Obwohl im Saal gebannte Stille herrschte, schien diese sich bei seinen Worten noch zu vertiefen. Hier und dort sah man sich im Publikum verwundert an. Offenkundig würde dies nicht einfach eine gewöhnliche Abschiedsrede sein. Congreve ergriff wieder das Wort.

»Wir standen schon einmal kurz vor einem dritten Weltkrieg und hingen schon über dem Abgrund. Heute, im Jahr 2015, sind dreiundzwanzig Jahre vergangen, seitdem amerikanische und sowjetische Streitkräfte in Belutschistan mit taktischen Atomwaffen gegeneinander kämpften, und obwohl die rasche Verbreitung einer auf Fusion beruhenden Wirtschaft wenigstens die Aussicht bietet, das Energieproblem zu lösen, das diese Konfrontation ausgelöst hatte, sind Eifersucht, Argwohn und Verdächtigungen, die uns damals an den Rand des Krieges brachten und unsere Gattung während ihrer gesamten Geschichte beharrlich heimgesucht haben, heute noch ebenso vorhanden.

Heute giert die Industrie nicht nach Erdöl, sondern nach Mineralen. In fünfzig Jahren wird unsere Beherrschung der Prozesse kontrollierter Kernfusion vermutlich auch diese überflüssig machen, aber inzwischen erzeugen kurzsichtige politische Überlegungen wieder das Klima von Spannungen und Rivalität, das gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts die Erdölfrage so brisant machte. Wie man deutlich sehen kann, beeinflusst die Bedeutung Südafrikas in diesem Zusammenhang die jetzigen Machtverhältnisse, und der mutmaßliche Krisenherd für einen erneuten Zusammenstoß zwischen Ost und West wird wiederum das Grenzgebiet Iran-Pakistan sein. Nach Meinung unserer Strategen werden die Sowjets versuchen, es sich einzuverleiben, um Zugang zum Indischen Ozean zu erlangen, als Vorbereitung zum Eingreifen in einem Krieg der sogenannten schwarzafrikanischen Befreiung gegen den Süden.«

Congreve machte eine Pause, ließ den Blick durch den Saal gleiten und hob resigniert die Hände.

»Es scheint, dass wir als Einzelne nur hilflos beobachtend dabeistehen und die Ereignisse verfolgen können, die uns der Kollektivität entgegenreißen. Die Lage wird weiter kompliziert durch das Aufkommen und rapide wirtschaftliche und militärische Wachstum der chinesisch-japanischen Co-Prosperity Sphere, die damit droht, Moskau einen unangreifbaren Machtblock gegenüberzustellen, sollte es sich mit uns und den Europäern einigen. Mehr als nur einige Kreml-Analytiker müssen ihr am wenigsten riskantes Spiel nun darin sehen, sich entscheidend mit dem Westen zu schlagen, bevor eine solche Allianz Zeit gehabt hat, sich zu konsolidieren. Mit anderen Worten, es wäre nicht übertrieben, wollte man behaupten, die Zukunft der Menschheit sei nie gefährdeter gewesen als in eben diesem Augenblick.«

Congreve stützte sich mit den Armen am Rednerpult ab und richtete sich dann auf. Als er weitersprach, klang seine Stimme ein wenig heiterer.

»Auf dem Gebiet, das uns alle hier im Alltag betrifft, hat die Beschleunigung des Raumfahrtprogramms in den vergangenen zwei Jahrzehnten viel Aufregung verursacht. Einige ermutigende Leistungen haben dazu beigetragen, die weniger erfreulichen Meldungen aus anderen Gebieten auszugleichen: Wir haben Dauerstützpunkte auf Mond und Mars errichtet, im Weltraum werden Kolonien gebaut, eine bemannte Mission hat die Jupitermonde erreicht, und Roboter sind unterwegs, um die entlegensten Winkel des Sonnensystems und darüber hinaus zu erforschen. Aber« – er breitete die Arme wie zu einem bildlichen Seufzen aus – »diese Maßnahmen sind nationaler, nicht internationaler Art gewesen. Trotz der Hoffnungen und der Worte vergangener Jahre ist die Militarisierung der Forschung weltweit auf den Fersen gewesen, und wir müssen zu dem unabweisbaren Schluss gelangen, dass ein Krieg, wenn er denn ausbräche, sich bald über die Grenzen der Erdoberfläche hinaus ausdehnen und unsere Gattung überall gefährden würde. Wir müssen der Tatsache ins Gesicht sehen, dass die Gefahr, die uns in den bevorstehenden Jahren droht, keine geringere ist als diese.«

Er wandte sich kurz zu dem Modell der SP3 um, das vor ihm auf dem Tisch funkelte, und deutete darauf.

»In fünf Jahren wird diese automatische Sonde die Sonne verlassen und die benachbarten Sterne nach bewohnbaren Welten erforschen ... jenseits der Erde und jenseits aller Mühen, Probleme und Gefahren der Erde. Wenn alles gutgeht, wird sie schließlich an einem solchen Ort eintreffen, durch unvorstellbare Entfernungen isoliert von den Problemen, die dafür sorgen werden, dass Zwist ein untrennbarer und unauslöschlicher Teil der bedrückenden Geschichte menschlichen Daseins auf diesem Planeten bleiben wird.« Congreves Blick schien in die Ferne zu gehen, als flöge er mit der Sonde hinauf und hinaus in den Weltraum. »Es wird ein neuer Ort sein«, sagte er versonnen. »Eine neue, unverbrauchte, vibrierende Welt, unzernarbt vom Kampf des Menschen, sich über die Tiere zu erheben, ein Ort, der bietet, was die einzige Gelegenheit für unsere Rasse sein könnte, einen Ableger von sich dort zu bewahren, wo er überleben und, falls notwendig, neu beginnen kann, diesmal aber mit den Lehren der Vergangenheit als Leitschnur.«

Gemurmel raunte durch die Reihen. Congreve nickte, um zu zeigen, dass er die Einwände kannte. Er hob die Hand, bis sich die Aufregung legte.

»Nein, ich sage nicht, dass SP3 umgebaut und statt als Roboterfahrzeug mit menschlicher Besatzung fliegen sollte. In diesem späten Stadium lässt sich das nicht mehr einrichten. Zu vieles müsste von Anfang an neu durchdacht werden, eine solche Aufgabe würde Jahrzehnte erfordern. Und trotzdem ist nichts mit SP3 Vergleichbares zur Zeit irgendwo im Planungsstadium, geschweige denn vor der Fertigstellung. Die Gelegenheit ist eine einmalige und darf auf keinen Fall versäumt werden. Aber gleichzeitig können wir uns die Verzögerung nicht leisten, die nötig wäre, um diese Gelegenheit zu nutzen. Gibt es einen Ausweg aus diesem Dilemma?« Er blickte auf seine Zuhörer hinunter, als rechne er mit einer Antwort. Sie musste ausbleiben.

»Wir haben uns mit diesem Problem nun seit einiger Zeit beschäftigt und glauben an eine Lösung. Es wäre nicht machbar, ein Kontingent erwachsener Menschen mit dem Raumschiff hinauszuschicken, sei es als funktionierende Gemeinschaft, sei es in irgendeinem Schlafzustand; das Schiff ist in einem zu weit fortgeschrittenen Bauzustand, als dass die Baumaße noch entscheidend verändert werden könnten. Aber warum denn Erwachsene schicken?« Er breitete bittend die Arme aus. »Es geht doch schlicht darum, einen Ableger der Menschheit hinauszusenden, dorthin, wo er sicher ist vor jeder Katastrophe, die uns hier heimsuchen mag, und ein solcher Ort wäre nur am Ziel der Reise zu finden. Die Menschen würden weder während des Fluges noch bei der Vermessungsphase gebraucht werden, da die Maschinen ohne weiteres in der Lage sind, alles damit Zusammenhängende allein zu bewältigen. Menschen werden erst dann Bedeutung erlangen, wenn diese Phasen erfolgreich abgeschlossen sind. Wir können deshalb alle Schwierigkeiten, die mit der Vorstellung verbunden sind, Menschen mitzuschicken, umgehen, indem wir die üblichen Methoden interstellaren Raumflugs beiseitestellen und einen vollkommen neuen Weg gehen: Das Schiff wird die Menschen erschaffen, sobald es sein Ziel erreicht hat!«

Congreve verstummte wieder, aber diesmal störte nicht ein Wispern die Stille.

Congreve begann sich für das Thema zu erwärmen, er sprach drängender und überzeugender.

»Die Entwicklung auf den Gebieten Gentechnik und Embryologie ermöglicht es, menschliche genetische Information in elektronischer Form in die Schiffscomputer einzugeben. Mit einer kleinen Erhöhung von Raum und Gewicht könnte das Schiffsinventar so erweitert werden, dass es alles Notwendige enthält, um eine erste Generation von, sagen wir, einigen hundert menschlichen Embryos zu erzeugen und zu ernähren, sobald eine Welt gefunden ist, die den Anforderungen der vorbereitenden Oberflächen- und Atmosphäretests entspricht. Sie könnten aufgezogen und versorgt werden von Spezialrobotern, denen von dem Wissen und der Geschichte unserer Kultur so viel zur Verfügung stünde, wie in die Schiffscomputer einprogrammiert werden kann. Alle erforderlichen Ressourcen für Errichtung und Erhaltung einer fortgeschrittenen Gesellschaft würden von dem Planeten selbst geliefert werden. Während die erste Generation ihre Kindheit noch in der Umlaufbahn hinter sich bringt, würden andere Maschinen Anlagen für Metall- und Materialverarbeitung errichten, Fabriken, landwirtschaftliche Güter, Transportsysteme und Stützpunkte, die für eine Besetzung geeignet wären. Binnen weniger Generationen wäre mit der Etablierung einer blühenden Kolonie zu rechnen, und die Menschheit würde überleben, ohne Rücksicht darauf, was hier auf der Erde geschieht. Der besondere Reiz dieser Methode liegt daran, dass, sollte man sich jetzt dazu entschließen, die erforderlichen Veränderungen in den Zeitplan der SP3 eingebaut werden könnten und der Start trotzdem, wie vorgesehen, in fünf Jahren möglich wäre.«

Inzwischen kehrte in seine Zuhörer langsam Leben zurück. Obwohl viele von seinem Vorschlag noch zu verblüfft waren, um deutlich zu reagieren, sah man Köpfe nicken, und das Gemurmel, das durch den Saal ging, wirkte positiv. Congreve nickte und lächelte schwach, als genieße er den Gedanken, sich das Beste bis zuletzt aufgespart zu haben.

»Etwas, was ich heute noch mitzuteilen habe, betrifft die Tatsache, dass ein solcher Entschluss gefasst worden ist. Wie ich vorhin erwähnte, ist das Thema seit geraumer Zeit untersucht worden. Ich kann Ihnen jetzt bekanntgeben, dass der Präsident der Vereinigten Staaten und der Vorsitzende der Co-Prosperity Sphere Ost vor drei Tagen eine Vereinbarung über das Projekt unterzeichnet haben, das ich eben kurz skizzierte, mit der Maßgabe, es ab sofort gemeinsam zu betreiben. Die Maßnahmen der verschiedenen nationalen und privaten Forschungsinstitutionen und anderer Organisationen, die an dem Unternehmen beteiligt sein sollen, werden mit denen der NASDO und unseren chinesischen und japanischen Partnern unter der Projektbezeichnung ›Sternhafen‹ koordiniert.«

Congreve lächelte zufrieden.

»Meine dritte Ankündigung heute ist folgende: Der heutige Abend markiert doch nicht meinen Rückzug aus dem Berufsleben. Ich habe ein Angebot des Präsidenten angenommen, die Leitung des Projekts Sternhafen im Namen der Vereinigten Staaten als führender Mitgliedsnation zu übernehmen, und gebe meine Funktionen bei NASDO lediglich auf, um meine ganze Kraft der neuen Verantwortung zu widmen. Denjenigen, die vielleicht glauben, ich hätte es ihnen in der Vergangenheit manchmal schwer gemacht, darf ich mit unaufrichtigem Bedauern sagen, dass ich noch eine ganze Weile zur Stelle sein werde, und dass die Zeiten, bis dieses Projekt abgeschlossen ist, noch um einiges härter werden dürften.«

Einige der Zuhörer im Auditorium erhoben sich von ihren Plätzen und klatschten Beifall. Der Applaus breitete sich aus. Congreve lächelte zufrieden und genoss sichtlich die Begeisterung, blieb eine Weile stehen, während der Beifall rauschte, und umfasste mit den Händen wieder das Pult.

»Wir hatten gestern unsere erste formelle Zusammenkunft mit den Chinesen. Die erste amtliche Entscheidung ist bereits gefallen.« Er warf wieder einen Blick auf das Modell der Sternsonde. »SP3 hat jetzt einen Namen. Sie ist benannt nach einer Göttin der chinesischen Mythologie, die wir als die passende Schutzherrin genommen haben: Kuan-yin, die Göttin, die Kinder bringt. Hoffen wir, dass sie in den kommenden Jahren sorgsam auf ihre Kinder achtet.«

Teil I

 

Die Reise der »Mayflower II«

 

1

 

Ungefähr sechzig Meter unterhalb des Hügelkamms hatte der dritte Zug der Kompanie D seine taktische Gefechtsstation in einer Senke errichtet, umgeben von Salbeibüschen und Gestrüpp. Eine niedrige Feldsteinmauer deckte sie auf zwei Seiten, ein großer Felsblock schloss die dritte ab, eine Brustwehr aus kleineren, flachen Steinen schützte sie von vorn; eine Thermalabschirmung über den Köpfen verbarg die Körperwärme der Insassen vor den stets wachsamen Sensoren der feindlichen Aufklärungssatelliten.

Das Gelände draußen war täuschend still, als Colman eine Zeltklappe anhob und hinausspähte, den Kopf weit hinter dem Rand des Überdachs. Der Hang unter dem Gefechtsstand fiel steil ab, die Eigenheiten des Geländes verloren sich rasch im schwachen Sternenlicht, bevor sie in das undurchdringliche Dunkel der Schlucht darunter ganz eintauchten. Es schien kein Mond, der Himmel war kristallklar. Als seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, richtete Colman seine Aufmerksamkeit auf den Boden in der Nähe und suchte methodisch den Bereich ab, in dem die fünfundzwanzig Mann des Zuges seit drei Stunden getarnt und regungslos lagen. Wenn sie ihre Schützenlöcher und Unterstände so ausgehoben hatten, wie er es ihnen gezeigt hatte, und sie Felsen und Vegetation richtig zu nutzen verstanden, hatten sie gute Aussicht, nicht entdeckt zu werden. Um die taktischen Maßnahmen des Gegners weiter zu unterlaufen, hatte die Kompanie Thermalköder eine halbe Meile weiter hinten und den Hang hinauf ausgelegt, wo es nach allen anerkannten Regeln mehr Sinn für den Zug ergeben hätte, sich zu verschanzen. Automatisch eingestellt, um sich in wahlloser Reihenfolge ein- und abzuschalten und damit Bewegung vorzutäuschen, hatten die Scheinanlagen fast die ganze Nacht hindurch sporadisches Feuer auf sich gezogen, der Zug selbst dagegen nicht, was einiges über die »Regeln« zu sagen schien, wie Staff Sergeant Colman sie umgeschrieben hatte.

»Es gibt immer zwei Möglichkeiten«, erklärte er den Rekruten. »So, wie es die Army macht, und die falsche. Etwas anderes gibt es nicht. Wenn ich euch also sage, macht es auf die Army-Weise, was heißt das dann?«

»Es heißt, wir machen es auf Ihre Weise, Sergeant.«

»Sehr gut.«

Ein winziger, orangegelber Lichtpunkt glühte eine Sekunde lang in etwa fünfzehn Metern Entfernung hell auf, wo Stanislau und Carson mit dem Submegajoule-Laser den Weg von der Schlucht herauf deckten. Colman zog die Brauen zusammen. Er wandte den Kopf eine Spur und flüsterte Driscoll zu: »LKP lässt eine Zigarette sehen. Sagen Sie ihnen, sie sollen sie wegtun.«

Driscoll tippte auf die Kleintastatur des Kom-Geräts; aus einem in den Boden gestoßenen Lift breiteten sich Ultraschallwellen mit dem Rufsignal des Laserkanonenpostens aus.

»LKP verstanden«, bestätigte eine leise Stimme aus dem Kom-Gerät.

Driscoll sprach in das Mikro an seinem Helm.

»Rot Drei, Routineprüfung.« Das würde im automatischen Signallogsystem harmlose Spuren hinterlassen. In der Dunkelheit drückte Driscoll eine Taste, um den Aufzeichnungskanal vorübergehend zu blockieren. »Bei euch sieht man Licht, Scheißkerle. Löschen oder verdecken.« Seine Finger ließen die Taste los. »Meldung, LKP.«

»In Bereitschaft«, erwiderte die Stimme ausdruckslos. »Keine Vorkommnisse.« Draußen verschwand das Lichtpünktchen schlagartig.

»In Bereitschaft bleiben. Ende.«

Colman gab einen Knurrlaut von sich, suchte die Umgebung noch einmal gründlich ab, ließ die Klappe zurückfallen und kroch in das Innere zurück. Hinter Driscoll suchte Maddock den Schluchtboden mit dem Bildverstärker ab, während im Schatten neben ihm der Ausdruck von Konzentration auf Corporal Swyleys Gesicht durch das schwache Leuchten des Gelände-Displayschirms scharf akzentuiert wurde.

Das Bild, das ihn so fesselte, wurde von einer fünfzig Zentimeter langen Infanterie-Aufklärungsdrohne übertragen, die sie dreihundert Meter über dem Schluchtboden und fast genau über den vorgeschobenen Stellungen des Gegners hatten in Position bringen können, und wurde ergänzt durch Zusatzdaten über Satellit und andere ELINT-Netzquellen. Das Display zeigte den Befehlsbunker am Schluchtboden, bekannte gegnerische Gefechtsstellungen, durch Computer rückerrechnet aus radarverfolgten Geschossbahnen, und die Örtlichkeiten von Beobachtungs- und Feuerleitstellen durch Dreiecksaufnahmen verirrter Spiegelungen von Leitlasern. Das kühle Wasser des Flusses und seiner Nebenarme zeigte sich auf dem Bildschirm als schwarze, verzweigte Linien; die Felsvorsprünge und -blöcke waren blau schattiert; lebende Vegetation ging von Rostbraun auf den Hügeln bis zu Dunkelrot, wo sie sich an den unteren Schluchtwänden zusammendrängte; und Granaten- und Bombenkrater leuchteten von mattem Orangerot bis zu Gelb, je nachdem, wie lange die Explosion zurücklag.

Aber worauf Corporal Swyley sich so konzentrierte, waren die winzigen Fleckchen von hellerem Rot, die unvollkommen getarnte Abwehrstellungen waren oder auch nicht, und die kaum erkennbaren haarfeinen Spuren, die Thermalreste neuer Fahrzeugbewegungen sein mochten.

Wie Swyley das, was nur er so gut konnte, wirklich machte, wusste niemand so recht genau, am allerwenigsten Swyley selbst. Woran es auch liegen mochte, Swyleys Fähigkeit, aus einem hoffnungslosen Durcheinander bedeutsame Einzelheiten herauszuschälen und ständig zwischen gültiger Information und Tarnanlagen zu unterscheiden, wurde zu Recht gerühmt – und war geradezu unheimlich. Da aber Swyley selbst nicht wusste, wie er das anstellte, konnte er es auch nicht den Systemprogrammierern erklären, die gehofft hatten, seine Leistungen mit ihren Bildanalyse-Programmen nachzuvollziehen. Darauf hatten die »-isten« und »-ologen« mit ihren endlosen Folgen nutzloser Tests begonnen. Schließlich erfand Swyley plausibel klingende Erklärungen für die Spezialisten, aber sie wurden bloßgestellt, als die nach ihren Angaben geschriebenen Programme nicht funktionierten. Swyley behauptete nun, seine geheimnisvolle Gabe hätte ihn plötzlich ganz verlassen.

Major Thorpe, Elektronik-ND-Offzier im Brigadehauptquartier hatte irgendwo gelesen, Spinat und Fisch seien sichere Mittel gegen nachlassendes Sehvermögen, und Corporal Swyley auf die entsprechende Diät gesetzt. Nun hasste Swyley Spinat und Fisch noch mehr als dauernde Tests, und er war binnen einer Woche von akuter Farbenblindheit befallen worden, die er dadurch nachwies, dass er sich selbst bei den einfachsten Ausbildungsdisplays weigerte, irgendetwas zu erkennen.

Danach war Swyley für »milieugestört« erklärt und zu Kompanie D versetzt worden, wo alle Unangepassten und Unzufriedenen landeten. Seine Talente kehrten auf wundersame Weise nur dann zurück, wenn keine Offiziere in seiner Nähe waren, ausgenommen Captain Sirocco, der die Kompanie D führte und sich nicht darum scherte, wie Swyley zu seinen Ergebnissen kam, solange sie richtig waren. Und Sirocco störte sich nicht daran, dass Swyley ein Eigenbrötler war, weil die Kompanie D angeblich ohnehin nur aus solchen Typen bestand.

Es bedeutete vermutlich, dass es keine sichere Methode gab, aus der Kompanie D wieder herauszukommen, geschweige denn aus dem normalen Dienst überhaupt, dachte Colman, während er in die Dunkelheit starrte und auf Swyleys Urteil wartete. Und so sprach nicht viel dafür, dass Colman die beantragte Versetzung zur Technik erleben würde.

Es erschien ihm selbstverständlich, dass niemand, der bei Verstand war, getötet oder von Leuten, die er nie zu Gesicht bekam, zu Orten geschickt werden wollte, von denen er nie gehört hatte, um andere Leute umzubringen, die er nicht kannte. Aus diesem Grund war niemand, der seinen Verstand beisammen hatte, in der Armee. Da aber die Armee voller Leute war, die sie als angemessen vernünftig und normal beurteilte, schien daraus zu folgen, dass die Vorstellungen der Armee von dem, was vernünftig war, überaus seltsame sein mussten. Sich nun in einen Bereich wie die Technik versetzen lassen zu wollen, schien auf den ersten Blick eine völlig natürliche, vernünftige, konstruktive und wünschenswerte Sache zu sein. Und das schien auszureichen für eine Garantie, dass die Armee die Bitte als unvernünftig und ihn als ungeeignet betrachten würde.

Auf der anderen Seite war ein wichtiger Teil der Beurteilung die psychiatrische Einschätzung und Empfehlung, und im Verlauf der Sitzungen, die er mit Pendrey, dem Brigade-Psychiater verbracht hatte, war in Colman der ständig wachsende Verdacht entstanden, dass Pendrey verrückt sei. Er fragte sich, ob ein verrückter Psychiater mit verrückten Grundvorstellungen vielleicht auf dieselbe Weise zu vernünftigen Antworten gelangen mochte, wie zwei logische Umkehrungen hintereinander die Wahrheit einer Behauptung nicht veränderten; wenn aber Pendrey nach den Maßstäben der Armee normal war, hatte der Vergleich keine Gültigkeit.

Sirocco hatte den Antrag befürwortet, gewiss, aber Colman war nicht sicher, ob das etwas zählte, weil Sirocco die Kompanie D befehligte und alles, was er sagte, irgendwo auf dem Dienstweg ganz selbstverständlich auf den Kopf gestellt wurde. Vielleicht hätte er Sirocco dazu bewegen sollen, den Antrag nicht zu befürworten. Wenn andererseits alles, was Sirocco befürwortete, von Anfang an auf den Kopf gestellt wurde, und wenn Pendrey verrückt, nach den Maßstäben der Armee aber normal war, und wenn auch die Voraussetzungen, von denen Pendrey ausging, verrückt waren, dann mochte die Entscheidung am Ende doch zu Colmans Gunsten ausfallen. Oder doch nicht? Sein Versuch, die verquere Logik der Situation noch einmal nachzuvollziehen, wurde endlich von Swyley unterbrochen, der sich zurücklehnte und das Gesicht vom Bildschirm abwandte.

»Sie haben praktisch ihre gesamten Kräfte auf beiden Seiten die Schlucht entlang an den Flanken postiert«, erklärte Swyley. »Ein paar Einheiten kommen den gegenüberliegenden Hang herunter, aber es dauert noch dreißig Minuten, bis die an ihrem Platz sind.« Der Widerschein des Sichtschirms betonte den verblüfften Ausdruck, der über sein Gesicht huschte. Er zog die Schultern hoch. »Im Augenblick sind sie ganz entblößt, direkt unter uns.«

»Hier haben sie nichts?« Colman berührte den Schirm mit dem Finger, um die Stelle anzuzeigen, wo die Wegsohle am Rand einer ebenen Wiese und nur hundert Meter vom Feindbunker entfernt aus einem kleinen Wald herauskam. Das Display zeigte auf beiden Seiten des Weges, genau dort, wo man Verteidigungsformationen erwartet hätte, ein schwaches Muster von Flecken.

Swyley schüttelte den Kopf.

»Das sind Scheintruppen. Wie ich schon sagte, sie haben praktisch alle Kräfte auf die Flanken hinaus verlegt« – er tippte mit dem Finger mehrmals auf den Schirm – »da, da und da.«

»Sie wollen Kompanie B umgehen und über Höhe Vier-neun-drei hinauf«, meinte Colman, während er die Anzeige studierte.

»Möglich«, sagte Swyley, ohne sich festzulegen.

»Da unten scheint mir alles mausetot zu sein«, warf Maddock ein, ohne den Blick vom Verstärkerokular zu nehmen.

»Was sagen Seismos und Schnüffler zu Swyleys Scheintruppen?«, fragte Colman und wendete den Kopf zu Driscoll um.

Driscoll übertrug die Frage in einem Computerbefehl und starrte auf die Datenübersicht auf einem der Kom-Schirme.

»Unbedeutende Seismik über Schwellenwert bei achthundert Meter. Verhältnis in Windrichtung unter fünf Punkte bei vierhundert. Negative Bestätigung durch Akustik-Hintergrundüberflutung.« Die Computer konnten Schwingungsdaten im Zusammenhang mit menschlichem Einsatz in den Daten, übermittelt von den Sensoren, die im Lauf der Nacht von tieffliegenden, ferngesteuerten »Bienen« in der Schlucht unauffällig immer wieder verteilt wurden, nicht erkennen; die chemischen Sensoren auf der windabgewandten Seite der vermuteten Scheintruppen erfassten wenig von den für Menschenkörper charakteristischen Geruchsmolekülen; die Mikrofone hatten keine zusammenhängenden Schallmuster übermittelt, aber das lag zweifellos an dem weißen Hintergrundrauschen, das in der Nähe des Flusses entstand. Obwohl die Anzeichen nur partiell und noch dazu negativ waren, stützten sie Swyleys Behauptung, dass die Hauptstraße hinunter zum Ziel unfassbarerweise zunächst praktisch unverteidigt blieb.

Colman runzelte die Stirn, während seine Gedanken sich fieberhaft mit der Bedeutung der Daten befassten. Kein vernünftiger Angreifer würde erwägen, ein solches Ziel durch einen direkten Frontalangriff in der Mitte zu nehmen – der unterste Wegteil war von den Hängen zu gut zu überblicken, und wenn der Angriff steckenblieb, gab es keine Umkehr. Dass jedermann so dachte, hätte der feindliche Kommandeur gedacht. Was hatte es also für einen Sinn, einen Haufen Leute zur Verteidigung einer Stelle einzusetzen, die nie angegriffen werden würde? Den Regeln zufolge führte der richtige Weg, den Bunker anzugreifen, den Fluss entlang von oben, oder indem man ihn unten überquerte und von der Höhe auf der anderen Seite herunterkam. Die Gegenseite konzentrierte sich also auf Stellen über beiden naheliegenden Angriffswegen und bereitete sich darauf vor, der Attacke, die sich dann ergab, aus dem Hinterhalt zu begegnen. Aber inzwischen war man in der Mitte völlig entblößt.

»Alle Sektionsführer des Gitters in Bereitschaft«, sagte Colman zu Driscoll. »Und eine Verbindung zu Blau Eins.«

Sirocco meldete sich Augenblicke später über Funk. Colman gab eine Lagebeurteilung. Die Kühnheit des Gedankens gefiel Sirocco sofort.

»Wir müssten das selbst machen. Es bleibt nicht genug Zeit, die Brigade einzuschalten, aber wir könnten die Kerle auf der anderen Seite binden, während Sie vorgehen, und vor Ihnen Sperrfeuer legen, um Hindernisse wegzuräumen.« Er meinte die der Kompanie unterstehenden Roboterbatterien, die hinten aufgestellt waren, unterhalb des Hügelkamms. »Das würde heißen, ohne jede Gegenbatterie-Unterdrückung vorgehen zu müssen, wenn Sie durchbrechen. Was meinen Sie?«

»Wenn wir schnell sind, könnten wir es ohne schaffen«, gab Colman zurück.

»Ohne GB-Unterdrückung bliebe keine Zeit, irgendeinen der anderen Züge als Unterstützung für Sie zu verlegen. Sie wären auf sich allein gestellt«, gab Sirocco zu bedenken.

»Wir können die Roboterbatterien einsetzen, um von den Flanken einen Schirm mit enger Deckung zu legen. Wenn Sie uns bei vierhundert Meter einen Optik- und IR-Schirm geben, können wir es schaffen.«

Sirocco zögerte für den Bruchteil einer Sekunde.

»Okay«, sagte er schließlich. »Wir machen es.«

Zehn Minuten später hatte Sirocco mit seinem Batterieoffizier einen hastig entworfenen Feuerplan aufgestellt und Einzelheiten an die Züge Eins, Zwei und Vier übermittelt und Colman Zug Drei über seine Sektionsführer verständigt. Colman prüfte und sicherte seine Ausrüstung, entlud, lud und überprüfte seine M 32-Sturmkanone, prüfte und zählte die Munition.

Sofort als die erste Salve Rauchbomben auf vierhundert Meter barst, um das Gelände vor feindlicher Beobachtung einzunebeln, stürzte sich Zug Drei den Weg hinunter zur dichteren Vegetation. Augenblicke später begannen knapp unter dem Rauchvorhang Optikstörgranaten zu explodieren und spien Wolken von Aluminiumstaub aus, um die feindlichen Steuer- und Kommunikationslaser lahmzulegen. Vor den Angriffstruppen rollte konzentriertes Punktsperrfeuer von Granaten und starken Impulsstrahlen, abgefeuert von den Flankenzügen, den Weg entlang, um ihn von Minen und anderen Schützenwaffen zu säubern. Hinter dem Sperrfeuer rückte Zug Drei im überschlagenden Einsatz sektionsweise vor, um durch wechselseitig stützendes Bodenfeuer das Werk der Artillerie zu vervollständigen. Es gab keinen Widerstand. Die Abwehrartillerie griff zehn Sekunden nach dem Auftauchen der ersten Nebelwand aus dem Hintergrund ein, aber der Feind feuerte blind und zum größten Teil ohne Wirkung.

Nach dreizehn Minuten war das Feuergefecht vorbei. Colman stand auf dem Kiesufer des Flusses und schaute zu, als ein verwirrter Major aus dem Feindbunker geführt wurde, gefolgt von seinem betäubten Stab, um sich der Schar entwaffneter Verteidiger anzuschließen, die unter den wachsamen Augen feixender Bewacher von Zug Drei zusammengetrieben wurden. Das Hauptziel war gewesen, Gefangene zu machen und Nachrichten zu beschaffen, und die Ernte hatte neben dem Major zwei Hauptleute eingebracht, einen Oberleutnant, einen Leutnant, einen Fähnrich, einen Hauptfeldwebel, zwei Feldwebel und mehr als ein Dutzend Soldaten. Überdies waren die Rufsignallisten und Stabskarten zusammen mit wertvoller Kommunikations- und Waffensteuerungs-Ausrüstung unbeschädigt erbeutet worden. Durchaus keine schlechte Beute, dachte Colman befriedigt.

Die Computer hatten zwei Mann von Zug Drei für tot und fünf ernsthaft genug verwundet erklärt, dass sie als Ausfälle gelten mussten. Colman dachte im Stillen, wie schön es gewesen wäre, wenn man echte Kriege so hätte führen können, als grelle Lichter hoch oben den Schauplatz augenblicklich in künstlichen Tag verwandelten. Er kniff die Augen vor der plötzlichen Grellheit ein paar Sekunden zusammen, schob den Helm ins Genick und schaute sich um. Die Schwerverwundeten, die weiter oben auf den Hängen getroffen worden waren, kamen in einer kleinen Gruppe den Weg herunter, während über ihnen und seitlich die drei anderen Züge der Kompanie D ihre Deckung verließen. Entlang der Schlucht wurde es in beiden Richtungen lebendig, als andere Verteidigungs- und Angriffseinheiten heraustraten. Stabstransporter, Mannschaftsfrachter und andere Fluggeräte kamen hinter den fernerliegenden Hügelkämmen heraufgebrummt. Colman hatte keine Ahnung gehabt, wie viele Truppen an dem Manöver beteiligt gewesen waren. Ein unbehagliches Gefühl beschlich ihn – er hatte eben ein kompliziertes Spiel vorzeitig zu Ende gebracht, auf das Stäbe sich seit geraumer Zeit gefreut hatten; diese Leute würden wohl nicht sehr erbaut sein. Sie mochten vielleicht sogar auf den Gedanken kommen, dass sie ihn nicht in der Armee haben wollen, dachte er stoisch.

Einer der Transporter näherte sich mit schrill ansteigendem Heulen dem Bunker und schwebte einen Augenblick lang regungslos fast genau über ihm, bevor er gleichmäßig herabsank. Die Hecktür glitt zur Seite und gab den Blick frei auf die schlanke, braunhäutige Gestalt Captain Siroccos in Helm und Kampfanzug, die Flakweste noch angelegt. Er sprang behände heraus, während der Transporter noch fast zwei Meter über dem Boden schwebte, und kam auf Colman zu. Die weichen Linien seines Gesichts verrieten hinter dem buschigen schwarzen Schnurrbart so wenig wie eh und je, aber seine Augen zwinkerten.

»Recht gut, Steve«, begann er ohne Vorrede, während er sich die Hände in die Hüften gestützt, herumdrehte, um die empört-finsteren Blicke der gefangenen »Feind«-Offiziere zu genießen, die mürrisch am Bunker standen. »Ich glaube aber nicht, dass wir dafür Pluspunkte erhalten. Wir haben praktisch gegen sämtliche Regeln verstoßen.« Colman gab einen Knurrlaut von sich. Er hatte kaum anderes erwartet. Sirocco zog die Brauen hoch und legte den Kopf auf eine Weise schief, die alles und nichts bedeuten konnte. »Frontalangriff gegen einen Widerstandskern, offene Flanken, keine vernünftigen Rückzugsmöglichkeiten, kein Krisenplan, unzureichende Boden-Unterdrückung und keine Gegenbatterie-Deckung«, führte er sachlich, aber gelassen auf.

»Wie ist es mit Kinn-Hinhalten?«, fragte Colman. »Steht darüber was in den Regeln?«

»Kommt darauf an, wer man ist. Für die Kompanie D ist alles relativ.«

»Haben Sie schon mal erwogen, sich aus dem Stoff der Flakjacke einen neuen Hosenboden machen zu lassen?«, fragte Colman nach einer Pause. »Den werden Sie vermutlich brauchen.«

»Ach, wen stört das?« Sirocco blickte nach oben. »Außerdem dauert es nicht mehr lange, bis wir Bescheid wissen.«

Colman folgte seinem Blick. Ein gepanzerter VIP-Transporter mit Generalsstandarte an der Bugspitze flog langsam auf sie zu. Colman nahm die M 32 auf die andere Schulter und richtete sich auf. »Reißt euch zusammen«, rief er den Leuten von Zug Drei zu, die rauchten, sich unterhielten und in Gruppen am Fluss und beim Bunker herumlungerten. Die Zigaretten wurden von den dicken Sohlen der Kampfstiefel zertreten, das Geplauder hörte auf, und die Gruppen stellten sich geordneter auf.

»Worauf haben Sie Ihre Analyse der Situationsanzeige gestützt, Sergeant?«, fragte Sirocco in dem abgehackten, schrillen Tonfall, einer exakten Nachahmung von Colonel Wessermans Sprechweise, der General Portneys Adjutant war. Er legte einen Anflug von Argwohn und Anklage in seine Stimme. »Hat Corporal Swyley bei der Formulierung Ihrer taktischen Bewertung eine Rolle gespielt?« Die Frage würde sich stellen; die Bildanalyseabläufe im Brigade-Hauptquartier würden nichts ergeben haben, was den Angriff rechtfertigte.

»Nein, Sir«, erwiderte Colman steif und starrte geradeaus. »Corporal Swyley bediente die Kom-Anlage. Er wird nicht zur ELINT-Analyse eingeteilt. Er ist farbenblind.«

»Wie erklären Sie dann Ihre ungewöhnlichen Schlussfolgerungen?«

»Wir hatten wohl nur Glück, Sir.«

Sirocco seufzte.

»Ich muss es wohl schriftlich geben, dass ich den Angriff aus eigener Initiative und ohne stützende Daten genehmigt habe.« Er legte den Kopf schief. »Kennen Sie hier jemanden, der eine ordentliche Hose nähen kann?«

Die Tür des VIP-Transporters öffnete sich vor der rundlichen Gestalt von Colonel Wesserman. Sein rotes Gesicht war noch geröteter als sonst, am Hals fast violett. Er schien vor unterdrückter Wut halb zu ersticken.

»Er hat wohl keine Nase für den süßen Duft des Erfolgs«, murmelte Colman bissig.

Sirocco zwirbelte nachdenklich seine Schnurrbartspitzen.

»Erfolg ist wie ein Furz«, sagte er. »Nur der eigene riecht gut.«

2

 

Eine plötzliche Veränderung in Format und Farben eines der im Monitorraum des Subzentrums Antriebssteuerung dargebotenen Displays bannte Bernard Fallows Blick und vertrieb andere Gedanken. Das Display war eines von mehreren für Gruppe 5 des Treibstoff-Hauptführungssystems und stand in Verbindung mit einer der Batterien riesiger Wasserstoff-Boosterpumpen im Heckteil des Schiffes, fünf Meilen von der Stelle entfernt, wo Fallows saß.

»Was ist mit Fünf E, Horace?«, fragte er ins Leere hinein.

»Trendprojektion Grundbereich«, erwiderte der Exekutivcomputer des Subzentrums durch ein kleines Gitter an der Seite von Fallows Konsole. »Booster Fünf-Sub-Drei scheint schon wieder heißlaufen zu wollen. Korrelationsintegral siebenundsechzig, Funktionsprobe positiv, Ausdehnungsindex Acht-Null.«

»Anzeige bei Index Sechs?«

»Unbedeutend.«

Den Rest der Information erfuhr Fallows vom Sichtschirm. Die von den Computern entdeckten Veränderungen waren minimal, nur die Andeutung eines Trends, der, wenn er sich im derzeitigen Tempo fortsetzte, noch einen Monat oder länger keine ernsthaften Ausmaße annehmen würde. Da es nur noch drei Monate dauern würde, bis das Schiff Chiron erreichte, bestand kein Grund zur Aufregung, da die Pumpengruppe genug Konstruktionsreserven besaß, um den Unterschied sogar ohne Hilfsanlagen auszugleichen. Aber trotzdem gab es keinen Zweifel, dass Merrick darauf bestehen würde, die Hauptanlage zu demontieren, die Lager neu zu schleifen, die Einstellung zu überprüfen und den Rotor neu auszubalancieren. In den drei Monaten, seitdem der Hauptantrieb lief, hatten sie das schon zweimal durchgemacht. Das bedeutete wieder eine Woche Arbeit bei fast Null g und Herumwanken in schweren Schutzanzügen auf der falschen Seite der Strahlungsabschirmung im Heck.

»Dreckspumpe«, murrte Fallows gereizt.

»Da eine Pumpe kein organisches System ist, nehme ich an, dass es sich bei dem Ausdruck um eine Verwünschung handelt«, meinte Horace gesprächig.

»Ach, halt den Mund.« Der Computer kehrte gehorsam zu seinen Meditationen zurück.

Fallows lehnte sich im Sessel zurück und schickte einen geübten Blick durch den Monitorraum. An den bemannten Stationen auf der anderen Seite der Glaswand hinter seiner Konsole schien alles glatt zu laufen, und die anderen Displays bestätigten, dass alles andere so war, wie es sein sollte. Der Reservetank für das Verniertriebwerk 2 war nach einer kleinen Kurskorrektur zuvor neu geladen worden und zeigte wieder »Bereit« an. Alle Treibstoff-, Kühl-, Primär- und Hilfsenergie-, hydraulischen, pneumatischen, Gas-, Öl-, Lebenserhaltungs- und Instrumentierungs-Hilfssysteme des Antriebssektors funktionierten beruhigend innerhalb der geltenden Grenzwerte. Weit hinten Richtung Heck schluckten die Reihen gigantischer Fusionsreaktoren die 35 Millionen Tonnen Wasserstoff, die während der zwanzigjährigen Reise aus dem Weltraum magnetisch angesaugt worden waren, und verwandelten in jeder Sekunde mehr als zwei Tonnen seiner Masse in Energie, um den staunenerregenden Ausstoß von Strahlung und Reaktionsprodukten mit eineinhalb Meilen Durchmesser zu erzeugen, der sechs Monate brennen musste, um die 140 Millionen-Tonnen-Masse der »Mayflower II« von ihrer Freifallgeschwindigkeit abzubremsen.

Das Schiff hatte die Erde mit nur so viel Treibstoff an Bord verlassen, dass es auf Marschgeschwindigkeit kam, und war durch die dichteren Wasserstoffkonzentrationen geflogen, um einzusammeln, was es brauchte, damit es wieder abbremsen konnte.

Fallows warf einen Blick auf die Uhr in der Konsolenmitte. Noch knapp eine Stunde, bis Walters ihn ablösen würde. Dann würde er zwei Tage für sich haben, bevor er den Dienst wieder antreten musste. Er schloss kurz die Augen und genoss den Gedanken.

Nur noch drei Monate! Seine Kinder hatten ihn oft gefragt, warum ein junger Mann in der Blüte seiner Jahre allem Vertrauten den Rücken zuwandte und zwanzig Jahre seines Lebens gegen einen Flug ohne Rückkehr nach Alpha Centauri tauschte. Sie hatten Anlass dazu, weil ihre Zukunft durch die Entscheidung in hohem Maß bestimmt worden war. Die meisten der dreißigtausend Menschen in der »Mayflower II« waren daran gewöhnt, dass diese Frage ihnen gestellt wurde. Fallows erwiderte meistens, durch das Schauspiel der Welt, stetig derselben Wahnsinnsstufe entgegenrüstend, die der Vernichtung eines so großen Teils von Nordamerika und Europa und dem Ende des Sowjetreichs im kurzen Holocaust von 2021 vorangegangen war, wären ihm alle Illusionen geraubt worden, und er hätte alles zurückgelassen, um anderswo einen neuen Anfang zu machen. Das war eine der gängigen Antworten, die ebenso sehr zur Eigenberuhigung wie aus irgendeinem anderen Grund gegeben wurde. Aber wenn er mit sich allein war, wusste Fallows, dass er das nicht wirklich glaubte. Er versuchte sich einzureden, an den wahren Grund entsann er sich nicht mehr.

Er war fast am Ende der kargen Jahre nach dem Krieg geboren worden, so dass er sich an diese Zeit nicht erinnerte, aber sein Vater hatte ihm von der Zeit erzählt, als fünfzig Millionen Menschen im Bretterbudenelend um die geschwärzten und verbogenen Skelette ihrer Städte gelebt und in Frost und Schnee in langen Schlangen um ihre Ration an Suppe und Brot an staatlichen Feldküchen angestanden hatten; von seiner Mutter, die fünfzehn Stunden am Tag Bretter für Fertighäuser schnitt, um jeden Tag zwei kärgliche Mahlzeiten Rindfleischsuppe mit Reis von den chinesischen Lebensmittelschiffen auf den Tisch zu bringen und alle sechs Monate pro Person ein paar Schuhe aus Presspapier kaufen zu können; von seinem älteren Bruder, getötet im Kampf gegen die Horden, die von der Karibik und aus dem Süden zum Plündern gekommen waren.

Die Jahre, an die Fallows sich erinnerte, waren später gekommen, als die schlanken Finger schimmernder neuer Städte aus den Schuttwüsten wieder zum Himmel hinaufgriffen, und neue Stahl- und Aluminiumwerke surrten und hämmerten, während auf der anderen Seite der Welt China und Indo-Japan um die Herrschaft über Industrie- und Handelsmacht des Ostens rangen. Das waren aufregende Jahre gewesen, schwungvolle Jahre, ermutigende Jahre. Fallows erinnerte sich an die Flutlicht-Umzüge am Unabhängigkeitstag in Washington – an die Farbe und Pracht der vielen Musikkapellen, die Kolonnen marschierender Soldaten in schnittigen Uniformen und flatternden Fahnen, die Nationalhymnen und Kirchenlieder, gesungen von Zehntausenden auf dem Capitol Square, wo einst das berühmte Gebäude gestanden hatte. Er erinnerte sich, in seiner eben erworbenen Uniform des Neu-Amerikanischen Jugendkorps zu einem Schulball stolziert zu sein und hochmütig so getan zu haben, als bemerke er die bewundernden Blicke, die ihm überallhin folgten, gar nicht. Wie er seinen neidischen Freunden gegenüber nach dem ersten Wochenende Kriegsmanöver mit der Armee in der Wüste von Neu-Mexiko geprahlt hatte ... die Begeisterung, als Amerika auf dem Mond wieder einen Dauerstützpunkt besetzte.

Gemeinsam mit dem größten Teil seiner Generation war er begeistert worden von der Vision des Neuen Amerika, das sie aus Asche und Ruinen des alten zu gestalten halfen. Noch stärker als zuvor, moralisch und geistig reiner und zuversichtlich im Wissen um seine gottgewollte Mission, würde es wiederauferstehen als unangreifbare Freistätte, um das Erbe der westlichen Kultur vor der zersetzenden Flut heidnischer Dekadenz und Prahlerei zu bewahren, die den anderen Teil der Erdkugel überschwemmte. So hatte das Credo gelautet. Und wenn der Osten endlich aus seinem inneren Zerfall heraus zerbrach, wenn die Illusion der Einheit, die Zentralasien aufzuerlegen die Araber versuchten, endlich deutlich wurde, und wenn die afrikanische Militanz schließlich in einer Orgie innerer Auseinandersetzungen zugrunde ging, würde das Neue Amerika ein zeitweise entfremdetes Europa wieder aufnehmen und die Oberhand behalten. Das war die Bestrebung gewesen.

Die »Mayflower II«, als sie endlich Jahr für Jahr in der Mondumlaufbahn zu wachsen und Gestalt anzunehmen begann, war das greifbare Symbol dieses Strebens gewesen.

Obwohl er 2040 erst acht Jahre alt gewesen war, konnte er sich deutlich an die Erregung auf die Nachricht hin erinnern, es sei ein Signal von einem Raumschiff namens Kuan-yin eingetroffen, das 2020, kurz vor Ausbruch des Krieges, gestartet war. Das Signal hatte mitgeteilt, dass die Kuan-yin einen geeigneten Planeten in einer Bahn um Alpha Centauri entdeckt habe und mit seinem Experiment beginne. Der Planet hieß Chiron, nach einem der Zentauren; drei andere bedeutsame Planeten, ebenfalls von der Kuan-yin im System Alpha Centauri entdeckt, erhielten die Namen Pholus, Nessus und Eurytion.

Zehn Jahre vergingen, während Nordamerika und Europa sich erholten und die Großmächte im Osten ihre Rivalitäten bereinigten. Am Ende dieser Zeit reichte Neu-Amerika von Alaska bis Panama, Großeuropa hatte Russland, Estland, Litauen und die Ukraine als getrennte Nationen aufgenommen, und China beherrschte eine Ostasiatische Föderation, die von Pakistan bis zur Beringstraße reichte. Alle drei Großmächte hatten mehr oder weniger gleichzeitig Programme für die Wiederausdehnung in den Weltraum anlaufen lassen, und da jede ein legitimes Interesse an der Kolonie auf Chiron behauptete und den beiden anderen misstraute, machte jede sich an den Bau eines Sternenschiffs mit dem Ziel, als erste dort zu landen, um die eigenen Leute vor Einmischung anderer zu beschützen.

Mit einer guten Sache, einem Kreuzzug, einer Herausforderung und einem Ziel – jenseits der Erde ein Imperium wiederaufzubauen und auf einer Welt Eroberungen zu machen – gab es wenige in Fallows Alter, die sich nicht an den Rausch dieser Zeit erinnerten. Und während die »Mayflower II« am Mondhimmel als Symbol für dies alles wuchs, wurde der Traum, mit dem Schiff zu fliegen und Teil des Kreuzzugs zu sein, Chiron gegen die Ungläubigen zu schützen, für viele zum Ziel höchsten Ehrgeizes. Die Lektionen von Disziplin und Opferbereitschaft, während der kargen Jahre gelernt, trugen dazu bei, dass die »Mayflower II« zwei Jahre vor ihrer schärfsten Konkurrentin fertiggestellt wurde, und so kam es, dass Bernard Fallows im Alter von achtundzwanzig Jahren seinem Vater mannhaft die Hand geschüttelt und seine weinende Mutter zum Abschied geküsst hatte, bevor er von einem Raumfähren-Startplatz in Arizona hochgeschossen worden war zum Mondtransporter, der ihn auf die erste Strecke seines Kreuzzugs brachte, um die Neue Amerikanische Ordnung zu den Sternen zu tragen.

Über solche Dinge dachte er nicht mehr allzu häufig nach; seine Visionen, ein großer Führer und Held bei der Überbringung der Botschaft an Chiron zu werden, waren im Lauf der Jahre verblasst. Und an ihre Stelle war ... was getreten? Nun, da das Schiff fast am Ziel angelangt war, hatte er keine klare Vorstellung von dem, was er tun wollte ... nichts über die Fortführung eines Lebens hinaus, das seit langem zur Routine geworden war, nur in anderer Umgebung.

Der Anblick von Cliff Walters, der auf der anderen Seite der Glastrennwand zum Monitorraum ging, unterbrach seine Gedanken. Einen Augenblick später ging die Tür an einer Seite leise jaulend auf, und Walters trat ein. Fallows drehte sich mit dem Sessel zu ihm herum und hob überrascht den Kopf.

»Hallo. Sie sind früh dran. Noch vierzig Minuten.«

Walters zog seine Jacke aus und hängte sie in den Schrank neben der Tür, nachdem er aus der Innentasche ein Buch herausgezogen hatte. Fallows zog die Brauen zusammen, sagte aber nichts.

»Ich fange früher an«, gab Walters zurück. »Merrick möchte Sie kurz sprechen, bevor Sie Dienstschluss machen. Ich soll ausrichten, Sie möchten beim KDT vorbeikommen. Sie können gleich aufhören und das noch während der Dienstzeit erledigen.« Er trat an die Konsole und wies mit dem Kinn auf die Sichtschirme. »Wie stehen wir? Tut sich was Aufregendes?«

»Fünf-Sub-Drei Hauptanlage fängt schon wieder an, wie Sie sicher gern erfahren. Grundbereichsprofil, aber ganz eindeutig. Wir hatten um siebzehnhundert Uhr eine einsfünfzehn Sekunden Brennzeit von Verniertriebwerk Zwei, was richtig klappte. Der Hauptschub benimmt sich ordentlich und korrigiert die Trimmung nach Programm ...« Er zog die Schultern hoch. »Das ist eigentlich alles.«

Walters gab einen Brummlaut von sich, überflog rasch die Bildanzeigen und rief das Log für die letzten vier Stunden auf einen leeren Schirm.

»Scheint wieder eine Demontage der verdammten Pumpe fällig zu sein«, murmelte er, ohne aufzusehen.

»Sieht so aus«, bestätigte Fallows seufzend.

»Lohnt gar nicht, sich damit abzugeben«, erklärte Walters. »Bei nur noch drei Monaten könnten wir ebenso gut die Hilfspumpe einschalten und auf das Ding verzichten. Es reparieren, wenn wir da sind und der Hauptantrieb nicht läuft. Warum sich in den Anzügen zu Tode schwitzen?«

»Sagen Sie's Merrick«, meinte Fallows. Er gab sich Mühe, seine Missbilligung nicht zu zeigen. Wer so redete, verriet eine schlampige Einstellung der Technik gegenüber. Selbst wenn sie nur noch drei Wochen Flugzeit vor sich gehabt hätten, wäre das keine Ausrede gewesen, etwas nicht zu reparieren, das repariert werden musste. Die Gefahr eines katastrophalen Versagens mochte verschwindend gering sein, aber sie war vorhanden. Es war nur vernünftige Praxis, solche Möglichkeiten auf Null zu bringen. Er hielt sich für einen tüchtigen Ingenieur, und dazu gehörte Gründlichkeit. Walters hatte die Gewohnheit, in manchen Dingen lasch zu sein – bei Kleinigkeiten gewiss, aber Laxheit blieb Laxheit. Sich ebenso eingestuft zu sehen, ärgerte Fallows. »Schichtwechsel vermerken, Horace«, sagte er zu dem Gitter an der Konsole. »Officer Fallows beendet. Officer Walters übernimmt.«

»Bestätigt«, antwortete Horace.

Fallows stand auf und trat zur Seite. Walters ließ sich in den Aufsichtssessel sinken.

»Sie haben achtundvierzig frei, nicht?«, fragte er.

»M-hm.«

»Schon Pläne?«

»Eigentlich nicht. Jay spielt in einer der Mannschaften morgen in der Meisterschaft. Das sehe ich mir vielleicht an. Kann sogar sein, dass ich nach Manhattan hinüberfahre. Ich bin schon eine Weile nicht mehr dort gewesen.«

»Gehen Sie mit den Kindern im Grand-Canyon-Modul spazieren«, schlug Walters vor. »Es wird neu gestaltet. Viele Bäume und Felsen und jede Menge Wasser. Müsste hübsch sein.«

Fallows wirkte überrascht.

»Ich dachte, das ist noch ein, zwei Tage geschlossen. Hat da nicht die Armee ein Manöver oder so was?«

»Man hat früher abgeschlossen. Bud hat mir jedenfalls erzählt, dass ab morgen wieder geöffnet wird. Sehen Sie nach und probieren Sie es aus.«

»Das mache ich vielleicht.« Fallows nickte langsam. »Ja ... ein paar Stunden Bewegung würden mir guttun. Danke für den Tipp.«

»Gern geschehen. Schön aufpassen.«

Fallows verließ den Monitorraum, ging durch das Subzentrum Antriebssteuerung und trat durch auseinandergleitende Doppeltüren in einen hell beleuchteten Korridor. Ein Lift brachte ihn zwei Stockwerke höher zu einem anderen Flur. Minuten später erreichte er ein Büro, das an der Seite des Kommandodecks Technik lag. Leighton Merrick, zweiter stellvertretender Direktor Technik betrachtete in diesem Raum die Anzeige eines Meldeschirms in der schräg über der linken Schreibtischecke eingebauten Kontrolltafel.

Fallows hatte immer den Eindruck gehabt, Merrick sei gebaut wie eine gotische Kathedrale aus dem Mittelalter. Sein langer, schmaler Körper vermittelte denselben Eindruck strengen Perpendikularstils wie abweisende Reihen hagerer, grauer Steinsäulen, und seine hängenden Schultern, schrägen Brauen und hohen Geheimratsecken, die den spitzen Kopf betonten, bildeten eine Komposition von Bogen, die fromm dem Himmel entgegen- und von der prosaischen Welt sterblicher Dinge wegstrebten. Und wie eine zu Stein erstarrte Vorderfront, die das Allerheiligste verbarg und durch ausdruckslose Fenster hinabstarrte, schien sein Gesicht Teil einer Außenschale zu bilden, dazwischengeschoben, um Außenstehende in achtunggebietender Distanz zu dem zu halten, was darin verborgen war. Manchmal fragte sich Fallows, ob im Inneren wirklich jemand war, oder ob vielleicht im Lauf der Jahre die Außenschale ein autonomes Dasein angenommen hatte und weiterfunktionierte, während der vorher im Inneren Anwesende verwelkt und gestorben war, ohne dass irgendjemand es bemerkt hätte.

Obwohl er schon seit Jahren unter ihm tätig war, hatte Fallows die Kunst, sich in Merricks Anwesenheit gelöst zu fühlen, nie gelernt. Zwischen Personal von Stufe 6 und solchem von Stufe 4 waren Äußerungen unpassender Vertraulichkeit natürlich kaum zu erwarten, aber selbst wenn man das berücksichtigte, verspürte Fallows rasch akutes Unbehagen, sobald er ein Zimmer betrat, in dem Merrick sich aufhielt, zumal dann, wenn sonst niemand anwesend war. Diesmal würde er es nicht dazu kommen lassen, hatte er sich zum x-ten Mal draußen im Flur vorgenommen. Diesmal würde er rational erkennen, wie irrational das Ganze war, und es ablehnen, sich von seiner eigenen Phantasie einschüchtern zu lassen. Merrick hatte sich ihn nicht als besondere Zielscheibe seiner Verachtung ausgesucht. Er benahm sich allen Leuten gegenüber so. Das hatte nichts zu besagen.

Merrick wies stumm auf einen Stuhl vor dem Schreibtisch und starrte weiter auf den Sichtschirm, ohne den Kopf zu heben. Fallows setzte sich. Nach gut zehn Sekunden begann er sich unbehaglich zu fühlen. Was hatte er in den letzten Tagen falsch gemacht? Hatte er irgendetwas vergessen ... oder versehentlich nicht gemeldet ... oder nicht abschließend aufgeklärt? Er zermarterte sich das Gehirn, ohne dass ihm etwas eingefallen wäre. Schließlich stammelte er entnervt: »Äh ... Sie wollten mich sprechen, Sir.«

Der zweite stellvertretende Direktor Technik lehnte sich endlich zurück und stieg von seiner höheren Denkebene herab.

»Ah, ja, Fallows.« Er wies auf den Sichtschirm, den er studiert hatte. »Was wissen Sie über diesen Colman, der aus der Armee austreten und zur Technik will? Der Direktor hat eine Kopie des Versetzungsantrags erhalten, der beim Militär einging, und ihn an mich zur Kommentierung weitergegeben. Dieser Colman scheint Ihren Namen als Referenz angegeben zu haben. Was wissen Sie über ihn?« Das nach oben geneigte Kinn und das Zusammenziehen der gotischen Brauen fragten stumm, warum ein Techniker Stufe Vier mit Selbstachtung sich mit einem Infanteriesergeanten einließ.

Fallows brauchte ein paar Augenblicke, um zu begreifen, was geschehen war. Als ihm die Umstände einfielen, stöhnte er innerlich auf.

»Ich, äh ... Er war ein Instrukteur, unter dem mein Sohn beim Kadettentraining Dienst tat«, stotterte Fallows unter Merricks fragendem Blick. »Ich lernte ihn beim Vorbeimarsch nach dem Lehrgang kennen ... unterhielt mich ein bisschen mit ihm. Er schien großen Ehrgeiz zu haben, die Technikerschule zu besuchen, und ich habe vermutlich gesagt: ›Warum nicht einmal versuchen?‹ oder so ähnlich. Er hat sich wohl meinen Namen gemerkt.«

»Mmmmmm. Sie wissen also in Wirklichkeit gar nichts über seine Erfahrung oder Eignung. Er war nur jemand, den Sie beiläufig kennenlernten und der in eine Bemerkung von Ihnen zuviel hineinlegte. War es so?«

Fallows konnte nicht ganz schlucken, was ihm da in den Mund gelegt wurde. Er hatte den Mann sogar ein paar Mal zu sich nach Hause eingeladen, um mit ihm über Technik zu reden. Er runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf, bevor er sich zurückhalten konnte.

»Nun ja, er schien überraschend fundierte Grundkenntnisse zu haben. Er war bis vor ungefähr einem Jahr bei den Pionieren, ist also ein Praktiker. Und seit wir die Erde verlassen haben, hat er sehr viel studiert. Ich habe – ich hatte den Eindruck, er sei vielleicht der Beachtung wert. Aber das ist natürlich nur eine Meinung.«

»Der Beachtung wert, wofür? Sie wollen doch sicher nicht behaupten, dass er leitender Techniker werden könnte.«

»Natürlich nicht. Aber vielleicht eine der Technikerklassen ... Zwei oder Drei vielleicht. Oder die Anfangsstufe nach dem Examen.«

»Hm.« Merrick wies mit der Hand auf den Schirm. »Keine akademische Vorbildung. Er müsste mindestens ein Jahr mit Jungen studieren, die halb so alt sind wie er. Wir sind kein Verein zur Sozialrehabilitierung, wissen Sie.«

»Er hat die Ingenieurkurse Eins bis Fünf erfolgreich im Selbststudium bewältigt«, betonte Fallows. Es machte ihn nervös, als Widerspruchsgeist zu erscheinen, aber er hatte keine große Wahl. »Ich dachte, er könnte vielleicht in der Lage sein, mit dem Repetitionslehrgang Klasse Zwei zu schaffen ...«

Merrick funkelte ihn über den Schreibtisch hinweg argwöhnisch an. Offensichtlich erhielt er nicht die Antworten, die er wünschte.

»Seine Leistung bei der Armee ist nicht die allerbeste, die man sich wünschen könnte, wissen Sie. In zweiundzwanzig Jahren Sergeant, also Feldwebel, und seit dem Abflug von Luna auf und ab wie ein Jo-Jo. Er trat nur ein, um zwei Jahre Strafausbildung zu umgehen, und steckte lange vorher schon in erheblichen Schwierigkeiten.«

»Tja, ich – ich kann nicht behaupten, dass ich von diesen Dingen etwas wüsste.«

»Jetzt wissen Sie's.« Merrick legte vor dem Gesicht die Fingerspitzen aneinander. »Würden Sie sagen, Straffälligkeit und kriminelle Tendenzen spiegeln das Bild wider, das wir vom Dienst aufrechterhalten wollen, oder nicht?«

Bei einer derart formulierten Frage konnte Fallows nur antworten: »Hm ... nein, sicher nicht.«

»Aha!« Merrick schien zufriedener zu sein. »Ich will jedenfalls meinen Namen nicht amtlich mit einer solchen Sache verbunden wissen.« Seine Feststellung sprach auch ganz deutlich aus, dass Fallows seine Zukunftsaussichten nicht fördern würde, wenn er das mit seinem Namen geschehen ließ. Merrick kniff das Gesicht zusammen, als hätte er in etwas Saures gebissen. »Pöbel aus den unteren Klassen, der hochkommen will. Wir müssen sie an ihrem Platz halten, Fallows, verstehen Sie. Das war es, was bei der Alten Ordnung schiefging. Man ließ sie zu hoch aufsteigen, und sie übernahmen das Kommando. Sie rissen sie in den Staub – die Zivilisation. Wollen Sie das noch einmal erleben?«

»Nein, natürlich nicht«, erwiderte Fallows nicht gerade glücklich.

»Mit anderen Worten: eine positive Reaktion auf diesen Antrag könnte nicht als im besten Interesse von Dienst oder Staat liegend gesehen werden, oder?«, schloss Merrick.

Fallows war nicht in der Lage, die Logik ausreichend nachzuvollziehen, um Widerspruch zu wagen. Stattdessen schüttelte er den Kopf.

»Es hört sich wohl nicht so an.«

Merrick nickte ernsthaft.

»Ein Officer, der eine Handlung unterstützt, die den besten Interessen des Dienstes zuwiderläuft, ist illoyal, ein Bürger, der gegen die Interessen des Staates handelt, könnte als subversiv gelten, finden Sie nicht?«

»Nun ja, das ist wahr, aber ...«

»Würden Sie sich also darauf festlegen wollen, dass Sie eine illoyale und subversive Handlung befürworten?«, fragte Merrick scharf.

»Keineswegs. Aber schließlich ...« Fallows geriet ins Stocken, als er dahin zurückzukehren versuchte, wo er den Faden verloren hatte.

»Ich danke Ihnen«, endete Merrick, die Gelegenheit zum Abschluss sofort ergreifend. »Ich bin Ihrer Meinung und bekräftige Ihre Einschätzung. Sehr gut, Fallows. Genießen Sie Ihren Urlaub.« Merrick drehte sich auf die Seite und begann über eine Tastatur unter den Sichtschirmen etwas einzugeben.

Fallows erhob sich linkisch und ging zur Tür. Auf halbem Weg blieb er stehen, zögerte und wandte sich wieder um.

»Sir, da ist noch ein Punkt, den ich ...«

»Das wäre alles, Fallows«, murmelte Merrick, ohne aufzusehen. »Wegtreten.«

 

Fallows brütete eine Viertelstunde später noch immer in der Transitkapsel vor sich hin, die ihn um den Ring der »Mayflower II« mit seinen sechs Meilen Durchmesser nach Hause brachte. Merrick hatte recht, zu diesem Schluss war er gekommen. Er war ein Narr gewesen. Er hatte Leuten wie Colman gegenüber keine Verpflichtung, sich ihretwegen durch die Mangel drehen oder seine eigene Integrität in Frage stellen zu lassen. Er schuldete es keinem dieser Sorte, ihnen dabei zu helfen, ihr verkorkstes Leben in Ordnung zu bringen.

Cliff Walters hätte sich nie in eine so dumme Situation manövrieren lassen. Was war schon dabei, wenn Walters ab und zu Kleinigkeiten bewusst übersah, auf die es ohnehin nicht ankam? Walters war viel schlauer, wenn es um Dinge ging, die wirklich von Bedeutung waren. Soviel zu Fallows, dem jungen Schlauberger, der von Arizona mit der Raumfähre heraufgekommen war, um das Universum zu retten, der noch immer nicht gelernt hatte, sich nichts zuschulden kommen zu lassen. Cliff Walters hatte sich jeden Stern seiner Beförderungen verdient, räumte Fallows als Bestandteil seiner selbstauferlegten Buße ein, und er hatte sich jedes Jahr als unbedeutende Figur auf Chiron verdient, das vor ihm lag. Vielleicht würde er doch eines Tages lernen, auf Jean zu hören.

3

 

Die »Mayflower II« hatte ungefähr die Form eines Rades, montiert auf dem dünnen Ende einer grob kegelförmigen Achse, die den Namen Spindel trug und mehr als sechs Meilen vom Sockel des magnetischen Ansaugtunnels am Bug bis zu dem riesigen Parabol-Reaktionsspiegel hinausreichte, der das Schiffsheck bildete.

Das Rad, auch Ring genannt, hatte einen Umfang von mehr als achtzehn Meilen und war unterteilt in sechzehn getrennte Baumodule, durch Kugelzapfen miteinander verbunden. Zwei von diesen Modulen stellten die Hauptbefestigungspunkte des Rings an der Spindel dar und waren fest verankert; die übrigen vierzehn konnten sich um ihre Zwischenmodulträger drehen und die Bodenwinkel im Verhältnis zur zentralen Spindelachse verändern. Infolge dieser Konstruktion variabler Geometrie konnte die radiale Kraftkomponente durch die Rotation mit der Axialkomponente durch den Schub auf solche Weise kombiniert werden, dass zu allen Zeiten im ganzen Ring ein normales Maß an simulierter Schwerkraft bestand, gleichgültig, ob das Raumschiff beschleunigt wurde oder im freien Fall flog, wie das während des größten Teils der Reise der Fall gewesen war.

Die Ringmodule enthielten alle Einrichtungen für Wohnen, Arbeiten, Erholen, Herstellen und Landwirtschaft, die bei der Entwicklung von Raumkolonien erprobt worden waren, und beherbergten, bis das Schiff sich Alpha Centauri näherte, rund dreißigtausend Menschen. Da die Kommunikationsverzögerung zur Erde und zurück jetzt neun Jahre betrug, war die Gemeinschaft in allen Angelegenheiten autonom – eine Gesellschaft, die sich selbst versorgte und selbst regierte. Sie besaß ihr eigenes Militär, und da die Planer des Unternehmens verpflichtet gewesen waren, alle vorstellbaren Möglichkeiten und Abläufe in Betracht zu ziehen, war das Militär auf alles vorbereitet angetreten; man konnte keine Verstärkungen anfordern, wenn es Schwierigkeiten gab.

Der den Waffen gewidmete Teil der »Mayflower II« war das eine Meile lange Kampfmodul. Es war an der Spindelspitze angebracht, konnte sich aber im Notfall abkoppeln und unabhängig als Kriegsschiff operieren, ausgerüstet mit genug Feuerkraft, um jede der beiden Seiten im Zweiten Weltkrieg mühelos überwältigt zu haben. Es konnte Fernstrecken-Selbstlenkraketen abschießen, die ein Ziel auf fünfzigtausend Meilen Entfernung anzusteuern vermochten; Orbitalstationen für Oberflächenbombardierung mit unabhängig gezielten Bomben oder Strahlenwaffen aussetzen; hochfliegende Sonden und Unterwasser-Sensoren, Bodenangriffs-Flugzeuge und geländeangepasste Marschflugkörper in planetarische Lufthüllen hinunterschicken; und eigene Bodentruppen landen. Unter anderem führte sie viele Atomwaffen mit.

Das Militär verfügte über eine Anlage zur Verarbeitung von Sprengköpfen und Herstellung von Ersatzgerät, die als Vorsichtsmaßnahme gegen Unfälle und als Gewichtsersparnis weit hinten im Ende der Spindel untergebracht worden war, hinter dem riesigen Strahlungsschild, der den Rest des Schiffes gegen den Ausstoß des Hauptantriebs abschirmte. Offiziell hieß sie Sprengkopf-Nacharbeit und -Lagerung, inoffiziell sagte man »Bombenfabrik« dazu. Niemand arbeitete dort. Maschinen sorgten für den Routineablauf, und Ingenieure erschienen nur in unregelmäßigen Abständen, um Inspektionen vorzunehmen oder besondere Reparaturen auszuführen. Nichtsdestoweniger war es eine militärische Einrichtung mit Kriegsmaterial, die den Vorschriften zufolge bewacht werden musste. Die Tatsache, dass es sich ohnehin praktisch schon um eine Festung handelte, elektronisch gegen unbefugten Zutritt selbst einer Fliege geschützt, fiel nicht ins Gewicht; den Vorschriften zufolge mussten Anlagen mit Kriegsmaterial von Wachen bewacht werden. Und so etwas zu bewachen, musste nach Colmans Meinung die miserabelste, bescheuertste Aufgabe sein, die das Militär zu vergeben hatte.

Das waren seine Gedanken, als er und Sirocco eingemauert in ihren schweren Schutzanzügen hinter einem Fenster im Wachraum neben der Panzertür der Anlage saßen und auf die Korridore hinausstarrten, die in zwanzig Jahren niemand begangen hatte, der nicht dazu gezwungen gewesen war. Hinter ihnen war Gefreiter Driscoll in einen Sessel gezwängt und sah sich auf einem der Bildschirme an der Kom-Wand einen Film an, den Ton auf seinen Anzugfunk geschaltet. Driscoll hätte draußen Rundgänge machen müssen, aber auf dieses Ritual verzichtete man, sobald Sirocco den Wachdienst Bombenfabrik befehligte. Vor ungefähr einem Jahr hatte jemand von Kompanie D die Tatsache genutzt, dass in den schweren Schutzanzügen jeder gleich aussah, indem er die Videoaufzeichnung eines pflichteifrigen, längst vergessenen Postens in das TV-Überwachungssystem einspeiste, mit dem höhere Offiziere ab und zu herumspionierten, und seitdem hatte aus der Einheit niemand mehr Rundgänge gemacht. Die Kameras wurden stattdessen dazu benutzt, Vorwarnung für unerwartete Kontrollen zu geben.

»Man weiß nie. Vielleicht wird es besser, wenn wir Chiron erreichen«, meinte Sirocco. Colmans Versetzungsantrag war von der Technik abgelehnt worden. »Bei der irrsinnigen Bevölkerungsexplosion könnte es alle möglichen Aussichten geben. Das haben Sie jetzt davon.«

»Was habe ich davon?«

»Dass Sie ein guter Soldat und ein miserabler Bürger sind.«

»Man ist ein guter Soldat, wenn man nicht gern Menschen umbringt?«