Die Schöpfungsmaschine - James P. Hogan - E-Book + Hörbuch

Die Schöpfungsmaschine E-Book

James P. Hogan

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Beschreibung

Wer die Schwerkraft beherrscht …

Brad Cliffords Theorie scheint auf den ersten Blick nur auf dem Papier tauglich: er will einen Weg finden, die Schwerkraft zu kontrollieren. Als das Militär auf seine Forschungen aufmerksam wird, macht es Cliffords Ergebnisse zum Staatsgeheimnis, denn eine Maschine zur Kontrolle der Gravitation birgt ungeahntes militärisches Potenzial. Clifford selbst wird zügig entlassen, er ist den Kommandeuren nicht politisch verlässlich genug. Doch der Wissenschaftler gibt nicht auf: zusammen mit einem Freund arbeitet er weiter an seiner Theorie, denn ihm geht es nicht darum, eine Waffe zu bauen. Er will der Menschheit ein sehr viel größeres Geschenk machen: er will ihr den Weg zu den Sternen eröffnen …

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JAMES P. HOGAN

 

 

 

DIE

SCHÖPFUNGSMASCHINE

 

Roman

 

 

 

 

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Das Buch

Brad Cliffords Theorie scheint auf den ersten Blick nur auf dem Papier tauglich: er will einen Weg finden, die Schwerkraft zu kontrollieren. Als das Militär auf seine Forschungen aufmerksam wird, macht es Cliffords Ergebnisse zum Staatsgeheimnis, denn eine Maschine zur Kontrolle der Gravitation birgt ungeahntes militärisches Potenzial. Clifford selbst wird zügig entlassen, er ist den Kommandeuren nicht politisch verlässlich genug. Doch der Wissenschaftler gibt nicht auf: zusammen mit einem Freund arbeitet er weiter an seiner Theorie, denn ihm geht es nicht darum, eine Waffe zu bauen. Er will der Menschheit ein sehr viel größeres Geschenk machen: er will ihr den Weg zu den Sternen eröffnen …

 

 

 

 

Der Autor

James P. Hogan (1941-2010) wuchs im Londoner Westen auf. Sein erster Roman Das Erbe der Sterne erschien 1977. Sein wissenschaftlich-technisch orientierter Schreibstil fand großen Anklang, sodass Hogan mehrere Nachfolgeromane schrieb. Er wurde oft mit seinem Landsmann Arthur C. Clarke verglichen. Bis zu seinem Tod lebte er mit seiner Frau Jackie, mit der er in dritter Ehe verheiratet war, in Florida und Irland.

 

 

 

 

 

www.diezukunft.de

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Titel der Originalausgabe

THE GENESIS MACHINE

Aus dem Amerikanischen von Ulrich Kiesow

Überarbeitete Neuausgabe

Copyright © 1978 by James Patrick Hogan

Copyright © 2018 der deutschsprachigen Ausgabe by

Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Covergestaltung: Nele Schütz Design, München

Satz: Thomas Menne

ISBN 978-3-641-23131-6V002

1

 

An der Abzweigung vom Albuquerque-Highway, ungefähr dreißig Meilen südlich von Albuquerque, stand ein vertrautes Schild. Es trug folgende Aufschrift:

 

FORSCHUNGSZENTRUMFÜRERWEITERTE

KOMMUNIKATION

 

REGIERUNGSEIGENTUM

 

ZUTRITTFÜR UNBEFUGTE

STRENGVERBOTEN

 

PASSKONTROLLE

1½ MEILEN

 

Ein kaum hörbarer Piep-Ton leitete das sanfte Bremsmanöver des Ford Cougar ein. Der Wagen wechselte auf die rechte Spur und bog dann in die Ausfahrt ein. Dr. Clifford hatte das elektronische Warngeräusch vom Armaturenbrett nicht bewusst wahrgenommen, doch jetzt spürte er, wie das Fahrzeug auf seine Lenkbewegung reagierte, nachdem es von Computer- auf Handsteuerung umgeschaltet hatte. Die Fahrbahn wich in einem weiten Bogen einer flachen, sandigen Erhebung aus, deren spärlicher Bewuchs aus ein paar vertrockneten Büschen und staubigem Wüstendorn bestand. Die Motorhaube des Cougar glitt gemächlich über das Asphaltband. Die Straße schmiegte sich an den Hang eines kahlen, felsübersäten Hügels – wie eine Eidechse, die in der Sonne badet. Voraus und rechts des Hügels ragten dunstverhangen rotbraune, zerklüftete Felsbastionen auf; Reihe um Reihe flankierten sie in altersloser, unveränderlicher Formation das Tal des Rio Grande. Bis zum fernen Horizont erstreckte sich diese Landschaft, wo in diesigem Blaugrau Felstürme und Himmel miteinander verschmolzen.

Ungefähr auf der Mitte des Hanges erreichte die Straße ihren höchsten Punkt; dort begann eine lange, flache Gefällstrecke. Sie endete an der Mündung eines dürren Tales, an dessen anderem Ende sich der Gebäudekomplex des Forschungsinstitutes für Erweiterte Kommunikation befand. In dieser frühen Morgenstunde stand die Sonne jenseits des Institutes und verwandelte das Gewirr von Gebäuden, Antennentürmen und Parabolspiegeln in starre Silhouetten, die bedrohlich am Boden kauerten. Dahinter ragte schwarz die Felswand auf, die das Tal nach Osten abschloss. Aus der Ferne erinnerte der Anblick Clifford immer an eine unheilvolle Versammlung von gigantischen Insektenmutanten, die einen dunklen Höhleneingang bewachten. Die Formen erschienen ihm als Symbol für den Höchststand einer deformierten Wissenschaft: einer ungeheuren Anhäufung von Wissen, das nur den Zweck hatte, fortwährend machtvollere Zerstörungskräfte zu ersinnen, um eine gequälte Welt in Schrecken zu versetzen.

Nach etwa einer Meile stieß die Straße in der Mitte des Talbodens auf die äußere Umzäunung des FEK-Komplexes. Dort befand sich ein Kontrollposten. Clifford brachte den Wagen bei einer niedrigen Säule zum Stehen, und ein schwarzer Army-Feldwebel trat an den Schlagbaum. Er trug ein kurzärmeliges Hemd, doch er war bewaffnet und hatte einen Stahlhelm auf dem Kopf. Clifford erwiderte das routinemäßige »Morgen« des Wachsoldaten mit einem Kopfnicken, entnahm seiner Brieftasche die magnetisierte Personalkarte und schob sie in einen Schlitz in dem Kasten, der oben an der Säule angebracht war; die Brieftasche gab er der Wache. Dann drückte er seine Daumenspitze gegen eine kleine Glasplatte neben dem Schlitz. Tief im Innern des Verwaltungsgebäudes von FEK nahm ein Computer die Daten auf und verglich sie mit den Angaben in seinen Speichern. Das Ergebnis wurde einem zweiten Wachsoldaten übermittelt, der vor einem Schirm in der Wachkabine saß. Der Feldwebel legte die Brieftasche in Cliffords ausgestreckte Hand zurück, warf einen flüchtigen Blick ins Innere des Fahrzeugs, trat beiseite und hob den Arm. Der Cougar rollte vorwärts, hinter ihm fiel der Schlagbaum auf seine Halterung zurück.

 

Fünfzehn Minuten später hatte Clifford sein Büro erreicht. Es lag im dritten Stock des Gebäudes, das die Abteilung für Angewandte Mathematik und den Computerservice beherbergte. Für gewöhnlich verbrachte er nur zwei Tage in der Woche im FEK. Er zog es vor, zu Hause zu arbeiten, wo er den Infonetz-Terminal benutzen konnte, durch den er direkten Zugang zur Datenbank und zu den Computern des Institutes hatte. Diesmal war er seit acht Tagen nicht mehr im Büro gewesen, aber als er die Liste der Mitteilungen auf seinem Schreibtisch-Terminal durchging, stellte er fest, dass nichts ungewöhnlich Dringliches dabei war. Alle wichtigen Anrufe waren auf seinen Heim-Terminal durchgestellt worden, und er hatte sie dort bearbeitet.

Das Elfuhr-Treffen würde also keine unerwarteten, bösen Überraschungen bringen.

Er hatte den Gedanken kaum beendet, als ein Summer ertönte, der einen Anruf ankündigte. Er seufzte und drückte die Annahmetaste.

»Clifford!«

Auf dem Bildschirm erschien ein Farbflimmern, das jedoch sofort feste Konturen annahm. Es zeigte sich das bleiche Gesicht eines dünnen Mannes mit schütterem Haar und einer Sichelnase. Ein böses Gesicht. Clifford stöhnte innerlich, als er in den Gesichtszügen den Ausdruck äußerster, aufrechter Empörung las. Der Mann war Wilbur Thompson, der Stellvertreter des Vizedirektors der Finanzkontrolle der Mathe-Komp-Abteilung. Außerdem war er der selbsternannte Hüter des Protokolls und des Bürobedarfs.

»Sie hätten es mir mitteilen müssen!« Die keifende Zornesstimme schrillte in Cliffords Ohren wie eine Kettensäge auf Granit. »Sie hatten überhaupt keinen Grund, damit hinter dem Berg zu halten. Bei der Verantwortung, die ich trage, hätte ich doch etwas mehr Bereitschaft zur Zusammenarbeit von Leuten wie Ihnen erwartet. Ihr Benehmen nützt niemandem etwas.«

»Was hätte ich Ihnen mitteilen müssen?«

»Sie wissen genau, was ich meine. Sie haben eine ganze Latte Klasse-B-Ausrüstung angefordert, obwohl Ihre Abteilung den Etat für dieses Quartal bereits weit überzogen hat und obwohl Sie keine SP6-Freigabe hatten. Natürlich konnte ich nicht zustimmen, und Sie haben es zugelassen, dass ich die Bestellung storniere, ohne mir zu sagen, dass Sie eine Sondergenehmigung von Edwards hatten. Jetzt ist die ganze Angelegenheit total verfahren, und ich kriege Druck von allen Seiten.«

»Was heißt hier nicht zugestimmt?« Cliffords Stimme klang sehr gelassen. »Sie haben mir gesagt, es wäre unmöglich.«

»Sie haben zugelassen, dass ich es storniere.«

»Sie sagten, Sie hätten keine andere Möglichkeit. Ich habe Ihnen geglaubt.«

»Sie wussten verdammt gut, dass eine Sondererlaubnis bereits vorlag.« Thompsons Stirnadern waren dick geschwollen, er drohte vollends hysterisch zu werden. »Warum haben Sie es mir nicht gesagt oder Einblick gewährt? Wie kann ich denn wissen, dass der Projektleiter persönlich Dringlichkeitsstufe 1 angeordnet hat? Was für ein Spiel spielen Sie eigentlich? Wollen Sie mich zum Narren machen?«

»Das schaffen Sie gut ohne meine Hilfe.«

»Jetzt hören Sie mir einmal genau zu, Sie schlitzohriger Hundesohn! Glauben Sie denn, mein Job wäre nicht so schon schwer genug, auch ohne dass Sie sich dumm stellen? Es gab überhaupt keinen Grund, warum ich mit einer Sondergenehmigung rechnen konnte. Jetzt kriege ich einen Anschiss nach dem anderen, weil sich das ganze Projekt festgefahren hat. Sagen Sie selbst, warum hätte ich mit einer Sondergenehmigung rechnen sollen?«

»Weil das Ihr Job ist«, sagte Clifford knapp und schaltete den Schirm aus.

Er hatte gerade genug Zeit, um ein paar Ordner vom Tisch aufzunehmen und sich der Tür zuzuwenden, da erklang wieder das Rufzeichen. Er fluchte laut, ging zum Terminal zurück und drückte die Suchertaste. So erhielt er ein Bild des Anrufers, bevor sich der Schaltkreis schloss und die Verbindung hergestellt war. Wie er vermutet hatte, war es wieder Thompson. Er war einer Herzattacke nahe. Clifford ließ die Suchertaste los und schlenderte hinaus auf den Korridor. Aus der Automatenecke holte er sich einen Kaffee, dann ging er in einen der Grafik-Projektionsräume, den er sich für die nächsten zwei Stunden hatte reservieren lassen. Da er wegen des Treffens an diesem Tag ohnehin zum FEK musste, hatte er sich vorgenommen, seinen Aufenthalt so gut wie möglich zu nutzen.

Eine Stunde später saß Clifford noch immer am Schaltpult in dem abgedunkelten Raum. Seine Miene verriet äußerste Konzentration, während er das Arrangement der Tensorgleichungen studierte, das ihm von der gegenüberliegenden Wand entgegenleuchtete. Mehrere Räume waren eigens dafür eingerichtet worden, die Handhabung und optische Umsetzung der grafischen Daten des FEK-Computerkomplexes zu erleichtern. Die Wand, die Clifford betrachtete, bestand ganz aus einem riesigen Computer-Bildschirm. Tief unter dem Gebäude waren die Maschinen damit beschäftigt, tausenderlei andere Aufgaben zu lösen, während Clifford über die Folgerungen nachdachte, die sich aus den Zeichenmustern ableiten ließen. Schließlich neigte er leicht den Kopf, um einige Worte in das Mikrofongitter zu sprechen, das in die Schaltkonsole eingesetzt war. Seine Augen blieben auf den Bildschirm gerichtet; er sprach langsam und deutlich:

»Gegenwärtiges Bild speichern; Register Delta zwei. Schirm Module eins, zwei und drei stehen lassen, alle anderen entfernen. Symmetrieeinheit phi-null-sieben rotieren lassen. Differential-Koeffizient I-Vektor bilden, unter Verwendung der Isospin-Matrix-Funktion. I-Koeffizient von Schaltbrett zwei übernehmen. Darstellung auf dem Schirm im gewöhnlichen Rechteck-Format.«

Er sah zu, wie die Maschine seine Befehle in Zeichen umsetzte, die auf einem der kleinen Hilfsschirme im Schaltpult erschienen. Zustimmend nickend wandte er sich der Tastatur zu und tippte eine lange Zahlenfolge ein.

»Fortfahren.«

Der untere Teil des Schirms erlosch, Sekunden später begann er, sich erneut mit Zeichenmustern zu füllen. Clifford verfolgte den Vorgang konzentriert. Sein Geist ging ganz darin auf, die verborgenen Gesetze zu durchdringen, mit denen die Natur Raum, Zeit, Materie und Energie zueinander in Beziehung gesetzt hatte.

In den frühen Neunzehnhundertneunzigern hatte der deutsche Physiktheoretiker Carl Maesanger die lang erwartete Vereinte-Felder-Theorie formuliert. Er fasste die Phänomene der »starken« und »schwachen« nuklearen Kräfte, der elektromagnetischen Kraft und der Schwerkraft zu einem verbundenen System von Gleichungen zusammen. Nach dieser Theorie konnten alle bekannten Felder als Projektionen in die Einsteinsche Raumzeit ausgedrückt werden. Maesanger benutzte dazu komplexe Wellenfunktionen, die ein übergeordnetes, sechsdimensionales Kontinuum bezeichneten. Mit der Vorliebe der Deutschen für zusammengesetzte Wörter hatte er für dieses Kontinuum den Namen Sechsrechtwinkelkoordinatenraumkomplex gewählt. Die restliche Welt zog die Bezeichnung SK-Raum vor, und später verwendete man allgemein nur noch das Kürzel K-Raum.

Maesangers Universum setzte sich aus K-Wellen zusammen. Diese Wellen waren Schwingungsbündel, deren Komponenten um jede der sechs Achsen schwingen konnten, die das System definierten. Die Dimensionskomponenten wurden Resonanzmodi genannt, und die Merkmale der jeweiligen K-Wellen-Funktion wurden bestimmt durch die Resonanzkombination, aus der die Welle bestand.

Die vier unteren Modi konnten in ihren Auswirkungen beobachtet werden. Sie entsprachen in ihren Dimensionen der relativistischen Raumzeit und definierten so die Struktur des leeren Universums. Raum und Zeit wurden nämlich nicht als passiver Hintergrund gesehen, vor dem die Partikel und Kräfte die ihnen innewohnenden Funktionen erfüllen konnten; sie galten vielmehr als eigenständige, objektive und quantifizierbare Realitäten. Die Vorstellung galt nicht mehr, dass der leere Raum das war, was entstand, wenn man alles Berührbare aus ihm entfernt hatte.

Die neu eingeführten höheren Modi bestanden aus Vibrationskomponenten, die in rechten Winkeln zu allen anderen Koordinaten der gewöhnlichen Raumzeit standen. Die Auswirkungen der höheren Modi nahmen daher im Universum keinen Raum in Anspruch, der mit den Sinnen der Menschen oder mit ihren Instrumenten erfasst werden konnte. Sie konnten im wahrnehmbaren Universum nur als dimensionslose Punkte auftreten. Die Interaktion zwischen ihnen hing von den jeweils beteiligten K-Funktionen ab. Anders ausgedrückt: Sie erschienen als Elementarpartikel.

Die populäre Einschätzung des Partikels als glattes, winziges Kügelchen aus »irgendetwas« war ein Modell, an dem man wegen seiner beruhigenden Vertrautheit seit Jahrzehnten eisern festgehalten hatte, trotz der Entdeckung der Quanten-Wellen-Wirkungsweisen. Jetzt endlich konnte das Modell zur letzten Ruhe gebettet werden. Man erkannte jetzt, dass das »Massive« nur eine Illusion der makroskopischen Welt war. Selbst der Radius des Protons erschien jetzt nur noch als Manifestation in der Wahrscheinlichkeits-Raumverteilung einer Punkt-K-Funktion.

Wenn höhere und niedere Resonanzen gemeinsam auftraten, führte dies zur Entstehung von Einheiten, die die Tendenz aufwiesen, in ihrem Zustand der Bewegung oder der Ruhe zu verharren, zur Entstehung von Massen also, die sich im gewöhnlichen Raum beobachten ließen. Eine 5-D-Resonanz produzierte ein wenig Masse und konnte über die elektromagnetischen und schwächeren Kräfte interagieren. Eine volle 6-D-Resonanz produzierte sehr viel Masse und verfügte zusätzlich über die Fähigkeit, auch über die starken nuklearen Kräfte zu interagieren.

Es gab auch die Möglichkeit, dass die höheren Modi losgelöst allein existierten, ohne eine Vibrationskomponente in der gewöhnlichen Raumzeit. So entstanden Zentralpunkte der Interaktion, deren Bewegung in der Raumzeit keiner Beschränkung unterlag und die sich daher mit der schnellsten wahrnehmbaren Geschwindigkeit bewegten, der Lichtgeschwindigkeit. Dies waren die masselosen Partikel: die bekannten Protonen und Neutronen und das hypothetische Graviton.

In ihrer einleuchtenden, umfassenden Anordnung brachten Maesangers Wellenfunktionen eine erklärende Ordnung in die verwirrende Anhäufung von Beobachtungen, die Tausende der besten Forscher aller Nationen von den fünfziger bis zu den achtziger Jahren zusammengetragen hatten. So lieferten sie zum Beispiel die Erklärung dafür, dass ein Partikel, das stark interagiert, auch auf alle möglichen schwächeren Weisen interagieren kann, obwohl die Umkehrung dieses Gesetzes nicht möglich ist. Es ist einleuchtend, dass eine 6-D-Resonanz, die für die starken nuklearen Kräfte verantwortlich ist, schon nach ihrer Definition alle niederen Kräfte einschließen muss – sie bilden sozusagen ihren Unterbau. Wäre dem nicht so, wäre es keine 6-D-Resonanz. Das Bild erklärt auch, warum schwere Partikel immer stark interagieren.

Die Theorie sagte voraus, dass 5-D-Resonanzen Partikel kleiner Massen produzieren würden, die unfähig wären, an starken Interaktionen teilzunehmen. Die Existenz des Elektrons und des My-Mesons bewiesen diese Aussage. Weitere Überlegungen führten zu der Schlussfolgerung, dass schwere Partikel fähig sein mussten, drei verschiedene Zustände elektrischer Ladung anzunehmen, die jeweils von einer geringen Masseveränderung begleitet sein würden. Erste Beweise hierfür lieferten das Proton und das Neutron.

Wenn eine Interaktion zwischen zwei Resonanzen eintrat, deren jeweilige Komponenten sich auf der Zeit-Achse in entgegengesetzter Richtung bewegten – die Theorie schloss diese Möglichkeit keineswegs aus –, dann hoben die beiden Zeitwellen einander auf, und es entstand ein Gebilde, das keinerlei Dauer in der Zeit hatte. Dem menschlichen Beobachter erschien dieser Vorgang so, dass beide Wellen aufhörten zu bestehen; der Effekt war der einer Partikel-Antipartikel Vernichtung.

Als junger Student im CIT in den späten neunziger Jahren hatte Bradley Clifford an der Spannung und Erregung teilgehabt, die die Welt der Wissenschaft erfasste, nachdem Maesanger seine Theorien veröffentlicht hatte. K-Theorie wurde zu Cliffords beherrschender Leidenschaft, und sie war es auch, die seine schlafenden Talente weckte. Noch bevor er seine Doktorarbeit verfasste, hatte er einige Aspekte der Theorie bereits um bedeutende Beiträge ergänzt. Die ruhe- und schrankenlose Energie der Jugend trieb ihn vorwärts, und er drang bis an die immer weiter zurückweichenden Grenzen des menschlichen Wissens vor. Was hinter dem nächsten Hügel lag, das wollte er wissen. Es war eine idyllische Zeit. Es gab nicht genug Stunden an einem Tag, Tage in einem Jahr und Jahre in einem Menschenleben, um all das anzupacken, was er als seine Aufgabe betrachtete.

Aber die Wirklichkeit der niederen Welt und der niederen Menschen holte ihn nach und nach ein. Die globale politische und wirtschaftliche Lage verschlechterte sich zusehends, und die Gebiete der reinen akademischen Forschung waren ständig zunehmenden, rigorosen Kontrollen und Streichungen unterworfen. Gelder, die zunächst üppig geströmt waren, verwandelten sich in ein armseliges Rinnsal. Notwendige Ausstattung wurde verweigert, und hoffnungsvolle Talente wurden nach und nach weggelockt. Der Bereich der militärischen Verteidigung genoss eine hohe Dringlichkeitsstufe und winkte mit hohen Löhnen. Auch die Gesetzgebung veränderte sich; die Freiheit der führenden Forscher der Nation, Ort und Art ihrer Arbeit selbst zu bestimmen, wurde als Luxus betrachtet, den man nicht länger zulassen konnte.

So war Dr. Clifford zum FEK gekommen, als eine Art Rekrut, dessen Aufgabe es war, wirkungsvollere Methoden zur Steuerung der Abwehrlaser auf den Satelliten zu erarbeiten.

Aber wenn sie auch über seinen Körper und seinen Verstand befehlen konnten, sie würden nie die Kontrolle über seine Seele haben. Die Einrichtungen und Computer des FEK übertrafen alles, was er sich in seinen Studentenjahren im CIT erträumt hatte. Seinen Geist konnte er immer noch frei schweifen lassen, mit ihm konnte er Carl Maesangers geheimnisvolles Reich des K-Raums durchstreifen.

Es schien ihm, als wären nur Minuten vergangen, als ein Lichtzeichen in der Mitte des Bildschirms aufflackerte und ihn daran erinnerte, dass die Besprechung in fünf Minuten beginnen würde.

2

 

Professor Richard Edwards, der verantwortliche wissenschaftliche Leiter und zweite Mann in der Rangfolge des FEK, betrachtete das Dokument, das vor ihm auf dem Tisch lag. Das Titelblatt trug folgende Aufschrift: K-Raum-Rotationen und Schwerkraft-Impulse. An der Ecke des Tisches, zur Linken des Professors, saß Walter Massey. Er blätterte versonnen in den Seiten seiner Kopie; offensichtlich konnte er mit den komplexen Formeln nicht viel anfangen. Massey gegenüber saß Miles Corrigan. Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und musterte Clifford mit einem kalten, ablehnenden Blick. Er gab sich keine Mühe, seine Abneigung gegen alle Wissenschaftler zu verbergen.

»Die Regeln unseres Institutes sind völlig eindeutig«, begann Edwards, und während er sprach, betrachtete er seine gefalteten Finger. »Alles wissenschaftliche Material, das von einer Person erarbeitet wird, solange diese beim FEK beschäftigt ist, ganz gleich, ob sie es während ihrer Dienstzeit oder in ihrer Freizeit erarbeitet hat, unterliegt automatisch den bekannten Sicherheitsbestimmungen. Was sind nun die genauen Gründe, aus denen Sie eine Ausnahmegenehmigung fordern und die Erlaubnis, dieses Papier zu veröffentlichen?«

Clifford erwiderte seinen Blick mit ausdruckslosem Gesicht. Ihm kam es vor allem darauf an, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr ihn die ganze Angelegenheit verwirrte. Die allgemeine Inquisitionsstimmung, die den Raum beherrschte, seit sie sich niedergelassen hatten, behagte ihm gar nicht.

Seine Antwort war knapp formuliert: »Wissenschaftliches Material von rein akademischem Interesse. Sicherheitsfragen sind nicht betroffen.«

Edwards wartete ab. Offensichtlich erwartete er eine weitere Erläuterung. Nach ein paar langgedehnten Sekunden bewegte Massey hörbar die Füße unter dem Tisch und räusperte sich nervös.

Massey war Cliffords direkter Vorgesetzter bei Mathe-Komps. Er war mit jedem Zoll ein Praktiker, ein Verfechter der angewandten Wissenschaften. Fünfzehn Jahre im technischen Dienst der Armee hatten ihm alle Zuneigung zur Theorie ausgetrieben. Wenn ihm eine Aufgabe übertragen wurde, dann ging er sie an, ohne Fragen nach den Absichten oder der Weisheit seiner Vorgesetzten zu stellen. Er kannte keine Zweifel. Es war besser, über solche Dinge gar nicht erst nachzudenken, das brachte sowieso nur Ärger. Er repräsentierte das Endprodukt eines Systems; er hatte seine individuelle Freiheit zugunsten einer allgemeinen Sicherheit geopfert. Er empfand sich als Teil des FEK und des Systems, zu dem das Institut gehörte. Auf gleiche Weise empfand er sich als Teil der Armee. Er wollte genau wissen, wohin er gehörte, darauf kam es ihm an. Er diente der Organisation, und die Organisation diente ihm: Sie bezahlte ihn, bildete ihn aus und nahm ihm alle wichtigen Entscheidungen ab. Sie klopfte ihm auf die Finger, wenn er aus der Reihe tanzte, und beförderte ihn, wenn er es nicht tat. Wenn es darauf ankam, würde er sein Leben opfern im Kampf für das, was die Organisation für ihn verkörperte.

Aber deshalb hielt Clifford ihn nicht für einen schlechten Menschen.

Augenblicklich war Massey verärgert über die Art, in der Clifford sein Anliegen verfocht. Es interessierte ihn keinen Deut, ob das Papier veröffentlicht werden würde oder nicht, aber es ärgerte ihn, dass jemand aus seiner Abteilung für seine Sache nicht anständig kämpfen wollte. Der Name der ganzen Gruppe geriet so in Verruf.

»Was Brad eigentlich sagen möchte, ist folgendes: Das gesamte Thema seines Papiers ist rein abstrakt und theoretischer Natur. Es kommt nichts darin vor, das auch nur entfernt mit den Fragen der nationalen Sicherheit in Zusammenhang gebracht werden könnte.« Massey sah von Edwards zu Corrigan und wieder auf den Professor. »Man könnte sagen, es ist so 'ne Art Hobby, nur dass Brads Hobby eben eine Menge mit Mathematik zu tun hat.«

»Mmmh …« Edwards massierte mit seinen Daumen die Kinnspitze und dachte über das Gesagte nach. Abstrakt theoretische Konzepte hatten die Eigenschaft, sich mit erschreckender Geschwindigkeit in Wirklichkeit zu verwandeln. Selbst die unschuldigsten Gedankenspielereien konnten eine unerwartete Bedeutung erlangen, wenn man sie mit anderen Gedankenmustern in einen geeigneten Zusammenhang brachte. Er hatte keine Vorstellung davon, was in anderen, hermetisch abgeschirmten Forschungsinstituten vorgehen mochte. Das galt für sein eigenes Land und erst recht für die Forschungsstätten der anderen Seite. Den großen Überblick hatte nur Washington, und wenn er Cliffords Antrag dorthin weiterleitete, dann würde er bald mit einer Flut von Anfragen und Erlaubnisformularen eingedeckt werden … Außerdem schätzte man solche Initiativen in Washington ganz und gar nicht. Es war viel besser, wenn man die ganze Sache von vornherein abwürgen konnte.

Andererseits würde es seinem Image nicht guttun, wenn der Eindruck entstand, dass er vorschnell handelte. Er musste objektiv und unvoreingenommen erscheinen.

»Ich habe das Papier flüchtig durchgesehen, Dr. Clifford«, sagte er. »Bevor wir näher auf Ihre Anfrage eingehen, wäre es vielleicht hilfreich, wenn Sie einige Punkte Ihrer Studie näher erläutern würden.« Er breitete die Hände aus und presste die Handflächen auf die Tischplatte. »Sie führen zum Beispiel einige bemerkenswerte Ableitungen auf, die das Wesen der Elementarpartikel und ihre Verbindung mit der Ausdehnung der Schwerkraft betreffen …« Sein Blick forderte Clifford dazu auf, mit seinen Erläuterungen zu beginnen.

Clifford seufzte. Er hatte lange Erörterungen immer schon gehasst. Zusätzlich hatte er bereits das Gefühl, dass er für eine Sache eintrat, die ohnehin schon verloren war. Aber er hatte keine andere Wahl.

»Alle aus der Physik bekannten Partikel«, begann er, »können durch Maesangers Funktionen definiert werden. Jedes Partikel stellt eine Verbindung von höheren und niederen K-Resonanzen dar. Die Theorie stellt die These auf, dass es Dinge gibt, die nur in der höheren Ordnung existieren und somit keine physikalischen Eigenschaften besitzen, die im wahrnehmbaren Universum feststellbar wären. Es gibt bislang keine experimentelle Technik, mit der sie sich beobachten ließen.«

»Dies ist aber nicht in der ursprünglichen Theorie Maesangers enthalten?«, fragte Edwards.

»Nein, das ist neu.«

»Ist das Ihr Beitrag?«

»Ja.«

»Aha. Fahren Sie bitte fort!« Edwards kritzelte eine kurze Notiz auf seinen Block.

»Ich habe diese nicht wahrnehmbaren Partikel O-Partikel genannt und den Bereich, in dem sie auftreten, den O-Raum – dies ist der nicht wahrnehmbare Teil des K-Raums. Den verbleibenden Teil des K-Raumes – die Raumzeit, die wir beobachten können – bezeichne ich als U-Raum.

Zwischen O-Partikeln sind Interaktionen möglich. Meistens resultieren hieraus neue O-Partikel. Bei einigen Kategorien dieser Interaktionen können jedoch komplette K-Funktionen als Endprodukte entstehen: kombinierte O- und U-Resonanzen also, die wahrnehmbar sind. Mit anderen Worten: sie sind im gewöhnlichen Raum feststellbar.« Clifford schwieg und wartete auf eine Reaktion. Sie kam von Massey:

»Sie wollen also sagen – so habe ich es jedenfalls verstanden –, dass es zunächst kein Partikel gibt, überhaupt nichts, und dann – Peng! – ist eins zu sehen.«

Clifford nickte. »Richtig.«

»Hmhm … Ich verstehe, die spontane Entstehung von Materie … so wie im Weltall. Interessant.« Edwards bearbeitete wieder sein Kinn und bedeutete Clifford mit einer Kopfbewegung fortzufahren.

»Wenn man davon ausgeht, dass die Charakteristika aller konventionellen Partikel sich bis in den O-Raum erstrecken, dann können diese Partikel auch mit O-Partikeln interagieren. Wenn dies geschieht, sind zwei Ergebnisse möglich.

Erstens: Die Interaktionsprodukte enthalten K-Resonanzen, dann sind die Partikel wahrnehmbar. Was der Beobachter sieht, ist der wahrnehmbare Teil des K-Partikels, das zunächst da war, und dann der wahrnehmbare Anteil des neuentstandenen K-Produktes. Was man nicht beobachten kann, ist das reine O-Partikel, das die Veränderung herbeiführte.«

Masseys Gesichtsausdruck wurde zusehends skeptischer. Er hob eine Hand, um Cliffords Redefluss vorübergehend zum Stillstand zu bringen.

»Einen Augenblick, Brad. Ich will sehen, ob ich dich richtig verstanden habe. So ein K-Partikel enthält also Teile, die man sehen kann, und Teile, die man nicht sehen kann. Ist das so richtig?«

»Ja, genau.«

»Alle Partikel, die wir kennen, sind K-Partikel?«

»Richtig.«

»Aber du behauptest auch, dass es Dinge gibt, die niemand sehen kann; du nennst sie O-Partikel.«

»Richtig.«

»Und wenn zwei Os zusammenkommen, kann ein K entstehen. Und weil man Ks sehen kann, würde also plötzlich ein Partikel aus dem Nichts auftauchen. Stimmt das auch?«

»Ja, richtig.«

»Okay …« Massey zögerte einen Moment und sortierte seine Gedanken. »Kannst du den letzten Teil noch einmal erklären? Am besten in Kindersprache.« Er wollte keineswegs sarkastisch klingen. So war einfach seine normale Redeweise.

»Ein O kann mit einem K interagieren, und daraus kann ein anderes K, können sogar mehrere Ks entstehen. Wenn das geschieht, stellt man in dem beobachteten Partikel eine plötzliche Veränderung fest, deren Ursache sich nicht erkennen lässt.«

»Ein unmittelbares Ereignis«, kommentierte Edwards bedächtig nickend. »Vielleicht läge darin die Erklärung für den Zerfall radioaktiver Atomkerne und ähnliche Phänomene.«

»Genauso ist es«, erwiderte er. »Die hieraus gewonnenen Statistiken stimmen genau mit den Beobachtungen überein, die man aus der Häufigkeit mechanischer Mengenrichtungswirkungen gewonnen hat, mit der Energieübertragung der Elektronen und mit einer ganzen Liste anderer unerklärlicher Phänomene aus dem atomistischen Bereich. Für alles erhalten wir eine umfassende Erklärung. Wenn diese Dinge für uns unverständlich waren, so gilt das nur für den U-Bereich der Raumzeit.«

»Mmm …« Edwards musterte erneut die vor ihm liegenden Blätter. Der Verwaltungsmann in ihm wollte der ganzen Angelegenheit immer noch ein schnelles Ende machen, aber der Wissenschaftler war neugierig geworden. Er wünschte nur, dass die Diskussion sich zu einer anderen Zeit zugetragen hätte, zu einer Zeit, die nicht so sehr unter den Zwängen einer rauen Wirklichkeit gestanden hätte. Er sah wieder zu Clifford hinüber und bemerkte zum ersten Mal die drängende Ernsthaftigkeit, die in den hellen, jugendlichen Augen brannte. Clifford konnte höchstens Mitte oder Ende Zwanzig sein, ein Alter, in dem Newton oder Einstein bereits ihren Gipfel erreicht hatten. Diese Generation würde auf viele Fragen eine Antwort verlangen, wenn einmal der Tag der Abrechnung käme.

»Sie sagten, dass es noch eine zweite mögliche Art gibt, in der O- und K-Partikel interagieren können?«

»Ja«, bestätigte Clifford. »Das Produkt der Interaktion kann auch völlig dem O-Raum angehören.« Er wandte sich Massey zu. »Das heißt, ein O und ein K können zusammen einfach ein O ergeben. Man sieht zunächst ein K, dann ist es plötzlich verschwunden.«

»Spontane Partikelvernichtung«, kommentierte Edwards.

»Das ist ein Ding«, sagte Massey.

»Schöpfung und Vernichtung sind symmetrisch in ihren Auswirkungen«, fuhr Clifford fort. »Man kann es locker so formulieren, dass jedes Partikel im wahrnehmbaren Universum nur eine begrenzte Lebensdauer hat. Es erscheint aus dem Nirgendwo, existiert eine bestimmte Zeit lang, dann verschwindet es wieder, oder es zerfällt in andere Partikel, die ihrerseits früher oder später verschwinden. Die Zeitspanne, die ein bestimmtes Partikel existieren wird, lässt sich nicht bestimmen, aber der statistische Durchschnitt für eine große Anzahl von ihnen ist ziemlich genau errechenbar. Solche, die an den bekannten Hochenergie-Zerfallsprozessen teilhaben, haben oft eine sehr kurze Lebenserwartung. Beim radioaktiven Zerfall kann sie Sekunden und Millionen Jahre dauern. Sogenannte stabile Partikel wie Proton und Elektron bestehen unter Umständen Milliarden Jahre.«

»Wollen Sie sagen, dass die stabilen Partikel am Ende gar nicht wirklich stabil sind?« Edwards hob überrascht eine Augenbraue. »Sie haben keine wirkliche Dauer?«

»Nein.«

Für eine kurze Zeit herrschte Schweigen, während die Teilnehmer der Besprechung die Informationen verarbeiteten. Edwards sah sehr nachdenklich aus. Miles Corrigan hatte die ganze Zeit über geschwiegen, aber seinen scharfen Augen entging nichts. Er glättete eine Falte in seinem teuren, maßgeschneiderten Anzug und blickte auf die Uhr. Er wirkte ungeduldig und gelangweilt. Massey ergriff als nächster das Wort.

»Sehen Sie, es ist, wie ich sagte. Rein akademisches Zeug. Harmlos.« Er zuckte die Achseln und hielt den anderen seine leeren Handflächen entgegen. »Ich glaube, wir haben keinen Grund, es Washington nicht zuzuschicken. Ich bin dafür, dass wir zustimmen.«

»Glauben allein hilft uns wenig«, unterbrach ihn Edwards. »Wir müssen ganz sichergehen. Zunächst einmal muss ich mich von der wissenschaftlichen Genauigkeit überzeugen. Bestimmt käme nichts Gutes für uns dabei heraus, wenn wir Washington mit etwas belästigen, das nicht völlig ausgearbeitet ist. Das würde auch dem Image des FEK ganz allgemein schaden. Da sind einige Punkte, die mir nicht ganz gefallen.«

Massey trat sofort den Rückzug an:

»Natürlich haben Sie recht. Es war auch bloß so ein Gedanke von mir.«

Clifford stellte zu seinem Erstaunen fest, dass Massey nur herausfinden wollte, aus welcher Richtung der Wind wehte. Er würde mit den anderen beiden einer Meinung sein, ganz gleich, wie sie sich entscheiden würden.

»Dr. Clifford«, fasste Edwards zusammen, »Sie behaupten, dass auch die stabilen Partikel eine begrenzte Lebensdauer in der gewöhnlichen Raumzeit haben?«

»Ja.«

»Und das haben Sie bewiesen … unwiderlegbar …?«

»Ja.«

»Also gut …« Er zögerte. »Dann sagen Sie mir bitte, wie Sie diese Behauptung mit einigen Fundamentalgesetzen der Physik in Einklang bringen, deren Gültigkeit seit Jahrzehnten oder Jahrhunderten außer Zweifel steht. Es ist doch eine bekannte Tatsache, dass der Zerfall des Protons dem Gesetz von der Erhaltung der Baryon-Zahl widerspricht. Der Zerfall des Elektrons widerspräche dem Gesetz von der Erhaltung der Ladung. Und wie ist es mit den Gesetzen von der Erhaltung der Masse, der Energie und der Bewegung? Wie passt es zu diesen Gesetzen, wenn stabile Partikel einfach auftauchen und verschwinden?«

Clifford erkannte den Tonfall. Die Einstellung des Professors war ablehnend. Es ging ihm nur darum, einen Fehler zu finden. Er suchte einen Grund, die Besprechung abzubrechen und Clifford zurück ans Reißbrett zu schicken. Der leicht herausfordernde Klang seiner Worte sollte einen gefühlsbetonten Widerspruch hervorrufen. So würde die Diskussion von ihrer rein rationalen Ebene in einen irrationalen Bereich gelangen, in dem es leichter möglich war, den weiteren Verlauf der Auseinandersetzung zu steuern.

Clifford war auf der Hut. »Es sind bereits Einschränkungen der Erhaltungsgesetze bekannt. Obwohl die starken nuklearen Interaktionen all den aufgezählten Gesetzen unterliegen, bewahren die elektromagnetischen Interaktionen nicht den Isotopen-Spin. Schwache nukleare Interaktionen bewahren die Spannung nicht. Es gilt das allgemeine Prinzip, dass eine Kraft um so mehr Gesetzen unterliegen muss, je stärker sie ist. Dies ist eine Tatsache, die durch vielfältige Experimente bewiesen wurde. In den letzten Jahren haben wir erfahren, dass sich dies automatisch aus den Maesangerschen Wellenfunktionen ergibt. Jedes Erhaltungsgesetz wird einer bestimmten Resonanzachse zugeordnet. Da stärkere Interaktionen mehr Achsen einschließen, müssen sie auch mehr Erhaltungsgesetzen unterliegen. Wenn man die Anzahl der Achsen reduziert, verringert man auch die Anzahl der Gesetze, da diese zum Teil nur für den oberen Bereich gelten.

Ich behaupte in dieser Studie«, er zeigte auf die Blätter, »dass das gleiche Muster für alle Bereiche gilt, bis herab zur schwächsten Kraft, der Schwerkraft. Wenn man sich nämlich auf die Ebene der Schwerkraft-Interaktion herunterbegibt – dort gelten nur die U-Bereichs-Resonanzen –, verliert man die meisten Gesetze, die für den O-Bereich gelten. Es scheint sogar so zu sein, dass man alle verliert.«

»Aha«, sagte Edwards, »aber wenn das so ist, wie kommt es dann, dass bisher noch niemand diese Dinge entdeckt hat? Wieso wurde es nicht durch die Experimente enthüllt, die seit Jahrhunderten angestellt werden? Ganz im Gegenteil, diese Experimente bestätigten nur immer wieder das, was Sie widerlegen wollen.«

Clifford wusste natürlich, dass Edwards nicht so naiv war. Seit langem schon spekulierten die Wissenschaftler mit dem Gedanken, dass die Erhaltungsgesetze keine Allgemeingültigkeit haben könnten. Wenn es gelang, jemanden in eine Verteidigungsposition zu bringen, dann hatte man bereits die Sache geschwächt, für die er eintrat. Clifford hatte keine andere Möglichkeit, als durchzuhalten.

»Ich habe bereits vorhin darauf hingewiesen, dass die sogenannten stabilen Partikel eine extrem lange Lebensdauer haben. Materie entsteht und vergeht in unendlich kleinem Umfang, wenn wir einen Alltagsmaßstab zugrunde legen. Diese Vorgänge sind im Labor nicht messbar. Bei einer gewöhnlichen Materiedichte verschwindet eins von zehn Milliarden Partikeln im Jahr. Es ist nicht möglich, eine Versuchsanordnung zu ersinnen, mit der sich dieser Vorgang beobachten ließe. In einem kosmologischen Maßstab ist eine solche Beobachtung denkbar, aber wer kann schon ganze Galaxien zum Gegenstand seiner Experimente machen.«

»Na ja …« Edwards bereitete in Gedanken seinen nächsten Vorstoß vor; Massey spürte, dass die Lage sich in verschiedene Richtungen verändern konnte, und beschloss, sich einstweilen herauszuhalten.

Clifford beschloss weiter vorzuprellen: »Alle Interaktionen lassen sich als Rotationen im K-Raum ausdrücken. Dies gilt für die Symmetrie der Mengenmechanik und die bekannte Anzahl der Erhaltungsgesetze. Es ist in der Tat so, dass alle Erhaltungsgesetze in diesem Zusammenhang nur Projektionen einer Grundeinheit von K-Erhaltungsbeziehungen sind.

Jede Rotation verursacht eine Umverteilung der Energie auf den verschiedenen K-Achsen, und dieser Prozess erscheint uns als das Auftreten von Kräften. Die Gruppe von Rotationen, die in Verbindung mit dem Übergang eines Partikels vom O-Raum in den Normalraum auftreten – mit dem Ereignis der Schöpfung und Vernichtung also – produziert eine Welle im K-Raum. Diese Welle nimmt im wahrnehmbaren Universum die Form eines Schwerkraftstoßes an. Mit anderen Worten: Jedes Entstehen und Vergehen eines Partikels ist mit einem Schwerkraftimpuls verbunden.«

Da niemand eine Frage hatte, fuhr Clifford fort: »Ein Partikel kann überall im Universum unmittelbar entstehen, mit gleicher Wahrscheinlichkeit. Wenn das geschieht, entsteht ein winziger Schwerkraftstoß. Meine Berechnungen haben ergeben, dass es im Jahr zu einer Partikel-Entstehung in einer Million Kubikmeter Materie kommt. So etwas lässt sich natürlich nicht experimentell überprüfen, daher hat es auch noch niemand festgestellt.

Andererseits kann ein Partikel natürlich nur von dort verschwinden, wo es sich bereits befindet, das versteht sich von selbst. Wo also eine größere Menge von Partikeln zusammengefasst ist, wird es auch mehr Vernichtungen in einem bestimmten Zeitraum geben. So kommt es zu einer höheren Anzahl von Schwerkraftimpulsen. Je mehr Partikel vorhanden sind und je höher ihre Dichte ist, desto höher ist auch die Gesamtsumme der Impulse. Daher sind große Materiemengen von einem Schwerkraftfeld umgeben. Ein solches Feld ist also keine statische Erscheinung, es ist vielmehr das Zusammenspiel von Einzelkräften. Nur von einem makroskopischen Beobachtungsstandpunkt aus betrachtet, wirkt das Feld gleichmäßig.

Schwerkraft ist also kein Attribut der Masse an sich. Es ist vielmehr so, dass die Masse ein Volumen im Raum schafft, in dem Vernichtungen mit größerer Häufigkeit auftreten. Diese Vernichtungen sind es, durch die die Schwerkraft entsteht.«

»Hast du nicht gesagt, dass auch bei der Entstehung von Partikeln Schwerkraftimpulse auftreten?«, fragte Massey.

»Ja, das stimmt, aber die Auswirkung ist unerheblich. Wie ich schon sagte, kommen die Entstehungen im ganzen Universum mit gleichmäßiger Häufigkeit vor, innerhalb von Materieansammlungen und außerhalb von ihnen, irgendwo in der Galaxis. An einer Stelle, die durch Materie ausgefüllt ist, ist die Auswirkung der Partikelvernichtungen erheblich größer.«

»Hmhm …« Edwards musterte seine Handknöchel, während er über einen neuen Aspekt nachdachte.

»Aus dem Gesagten kann man auch ableiten, dass alle Materie auf lange Sicht ohne Rest zerfällt. Warum ist das nicht der Fall?«

»Es ist wirklich so. Aber die Maßzahlen, um die es hierbei geht, sind viel zu klein. Sie lassen sich in einem kleinen Maßstab und einem begrenzten Zeitraum nicht ermitteln. Ein Kubikzentimeter Wasser zum Beispiel enthält zehn hoch dreiundzwanzig Atome. Wenn diese Atome mit einer Geschwindigkeit von drei Millionen pro Sekunde verschwänden, würde es immer noch zehn Milliarden Jahre dauern, bis der letzte Rest des Kubikzentimeters verschwunden wäre. Da ist es doch nicht verwunderlich, dass dieser Zerfall nicht im Labor beobachtet werden konnte. Es ist auch nicht überraschend, dass das Schwerkraftfeld eines Planeten gleichmäßig erscheint. Wir haben keine Möglichkeit, die Schwerkraft eines Kubikzentimeters Wasser zu ermitteln – wie sollten wir feststellen können, ob sich dieses Kraftfeld aus Einzelimpulsen zusammensetzt? Nur auf der kosmologischen Ebene wären solche Feststellungen möglich. Auf dieser Ebene, die ganz vom Phänomen der Schwerkraft beherrscht wird, könnte es leicht geschehen, dass die Ungültigkeit von Erhaltungsgesetzen festgestellt wird. Unsere Daten haben eben nur für die Laboratorien Gültigkeit, in denen sie ermittelt wurden.«

»Sie behaupten also, alle Dinge im Universum zerfallen mit der Zeit zu nichts«, warf Edwards ein. »Nun, sie haben bisher eine Menge Zeit gehabt, und es gibt immer noch einen Haufen Materie da oben.«

»Vielleicht zerfallen sie zu nichts«, sagte Clifford, »aber Sie dürfen nicht vergessen, dass gleichzeitig das ganze Universum von unmittelbarer Schöpfung erfüllt ist. Hier handelt es sich um ein gewaltiges Volumen, daraus ergibt sich, dass auch die Entstehung in einem ungeheuren Ausmaß abläuft.«

»Denken Sie etwa an einen Vorgang, bei dem sich neue Körper aus interstellarer Materie bilden, und zwar in der uns bekannten Entstehungsweise von Galaxien und Planeten. Ihre neuentdeckten Partikel wären dann so etwas wie der Grundstoff, aus dem sich die interstellare Materie dauernd neu ergänzt?«

»So könnte es sein.«

Endlich hatte Edwards Clifford zu einem Thema geführt, in dem er nicht mehr mit sicheren Antworten aufwarten konnte. Diesen Vorteil wollte der Professor nutzen.

»Das kann doch nur bedeuten, dass Sie der Dauerschöpfungstheorie als Erklärung für die Entstehung des Weltalls den Vorzug geben. Wir wissen doch alle, dass diese Theorie schon vor Jahren zu den Akten gelegt wurde. Die überwältigende Mehrzahl der Forschungsergebnisse spricht ganz eindeutig für die Urknall-Theorie.«

Clifford breitete in einer hilflosen Geste die Arme aus.

»Das sehe ich ein. Ich kann nur sagen, dass meine Mathematik stimmt. Ich bin kein Astronom und kein Kosmologe. Ich bin nicht einmal ein experimentierender Wissenschaftler. Ich bin reiner Theoretiker. Ich weiß nicht, wie eindeutig der Urknall bisher bewiesen ist, oder ob es noch andere einleuchtende Erklärungen gibt. Darum möchte ich auch, dass diese Studie veröffentlicht wird. Ich möchte die Aufmerksamkeit der Forscher erwecken, die ihr Spezialgebiet in anderen Bereichen haben.«

Cliffords Eingeständnisse verliehen dem Gespräch eine Wendung, auf die Edwards gewartet hatte. Hier war der Schwachpunkt, den er nutzen konnte. Es war Zeit, die Löwen hereinzulassen. Er wandte sich Corrigan zu.

»Was meinst du dazu, Miles?«

Miles Corrigan trug beim FEK den offiziellen Titel eines Verbindungsdirektors – das war ein beschönigender Ausdruck für Wachhund. Corrigan stand außerhalb der Hierarchie der Abteilungsleiter, deren Vorgesetzter Edwards war. Er erhielt seine Befehle direkt vom technischen Koordinierungsbüro in Washington, dies war ein Amt im Pentagon, das als Bindeglied fungierte, zwischen dem Verteidigungsministerium und den verschiedenen Forschungsstätten unter Regierungsaufsicht. Das Büro kontrollierte und koordinierte praktisch alle Wissenschaftler der Nation und stellte die Verbindung zu ähnlichen Einrichtungen in den westlichen Demokratien her. Es führte seine Lohnempfänger an einer kurzen Leine.

Corrigans Aufgabe war es, darauf zu achten, dass die richtigen Dinge zur rechten Zeit geschahen. Das war zumindest die offizielle Lesart. Inoffiziell hatte er für die ständige Präsenz einer politischen Aufsicht zu sorgen. Er sollte daran gemahnen, dass die Alltagsarbeit im FEK ausschließlich dazu diente, die Pläne jener fernen und erhabenen Architekten zu verwirklichen. Er war immer damit beschäftigt, »produktionshemmende Einflüsse« zu entdecken, aufzuspüren und auszumerzen. Unter jenen Begriff fielen zahlreiche Dinge: falsche Einstellungen, uniformierte Meinungen, überhaupt alles, was einem glatten Arbeitsablauf des Institutes auf irgendeine Art entgegenstehen konnte. Ein subversives Gerücht verfolgte Corrigan bis zu seiner Quelle zurück. Dabei ging er mit dem Geschick und der Zähigkeit eines Seuchenforschers zu Werke, der einer Typhusepidemie bis zum ersten Krankheitsfall nachspürt. Um solche Hexenjagden zu vermeiden, war es am sichersten, nur das zu sagen, was von einem erwartet wurde, oder besser noch, nichts zu sagen, was niemand von einem erwartete. Die Wissenschaftler im FEK nannten Corrigan den Kommissar.

Sein Temperament und sein Lebenslauf machten ihn für diesen Beruf äußerst geeignet. Er hatte sein Jura-Studium in Harvard mit Auszeichnungen abgeschlossen und eine lukrative Praxis in Washington eröffnet. Er spezialisierte sich auf die Verteidigung gestrauchelter Politiker, darin bewies er ein außerordentliches Geschick. Nach wenigen Jahren schon standen eine Menge dieser Macher und Drahtzieher auf Lebenszeit in seiner Schuld. Dies war die einzige Art Freunde, die in seinem Wertesystem etwas galten. Der Ausdruck ihrer Dankbarkeit hatte bald all seinen finanziellen Sorgen auf Dauer ein Ende bereitet.

Er heiratete die Tochter eines Senators, der seine erste Million bei einer Serie von heimlichen Waffengeschäften gemacht hatte. Unter anderem hatte er arglosen Kunden in Burma und Malaysia ganze Schiffsladungen schadhafter Munition geliefert, so wurde jedenfalls gemunkelt. Die Rolle des Senators in der Affäre blieb ungeklärt. Die Untersuchung war über einem technischen Detail zum Stillstand gekommen. Dafür hatte Corrigan gesorgt.

Durch den Einfluss seines Schwiegervaters und mit Hilfe einiger Freunde, die über die richtigen Verbindungen verfügten, war Miles Corrigan auf einer Ebene in den Regierungsdienst getreten, die seine weiteren Pläne begünstigte. Seine Zeit beim FEK betrachtete er als letzte Etappe der Vorbereitungsphase. Danach sollte der Einstieg in die internationale politische Szene erfolgen. Er war noch nicht einmal in den besten Jahren und hatte die entscheidenden Weichen schon gestellt.

Jetzt nahm er die Fährte auf. Er witterte ein Wild, das zur Jagd freigegeben war. Seine Stimme war eiskalt und bedrohlich, wie das Zischen einer Kobra, die eine Beute anvisiert. »O-Raum, K-Raum und das ganze andere Wortgeklingel interessieren mich nicht. Wenn sich das alles präzise so zu der Aussage zusammenfassen lässt, dass Sie auf etwas gestoßen sind, das den nationalen Interessen nützt, dann drücken Sie das bitte klarer aus. Wenn das nicht der Fall ist, sollten wir hier nicht länger unsere Zeit verschwenden.«

Er fixierte Clifford mit dem starren, höhnischen Blick, der schon unzählige unsichere gegnerische Zeugen vernichtet hatte. Spöttische Überlegenheit blitzte aus diesen Augen, die den Wissenschaftler einluden, seinen eigenen Untergang herbeizuführen. Gleichzeitig waren sie fordernd und verlangten nach einer unmittelbaren Antwort. Er traf Clifford völlig unvorbereitet.

»Aber … darum geht es doch gar nicht. Dies ist …« Clifford war selbst überrascht, dass er stotternd nach einer Antwort suchte. Noch während er sprach, spürte er, dass man ihn auf dem falschen Fuß erwischt hatte. Er lief geradewegs in die Falle, aber es war zu spät. »Wir reden über fundamentales Wis…«

»Hilft es uns, die Roten fertigzumachen?«, schnitt ihm Corrigan das Wort ab.

»Nein, aber …«

»Wird es die Roten daran hindern, uns fertigzumachen?«

»Nein … Ich weiß es nicht … Vielleicht irgendwann einmal …«

»Warum geben Sie sich dann überhaupt damit ab? Wie viel Zeit und Mittel sind für dieses Zeug verbraucht worden? Hatte es irgendeinen Zusammenhang mit der Arbeit, für die man Sie bezahlt? Massey sagte, es sei Ihr Hobby, aber das nehme ich ihm nicht so ohne weiteres ab. Ich habe Ihre Computerbenutzung in den letzten sechs Monaten genau überprüft, und ich habe den Stand des Projektes überprüft, an dem Sie eigentlich arbeiten sollten. Es liegt weit hinter dem Planziel zurück. Also, wofür sind diese Computerstunden draufgegangen?«

»Ich glaube nicht, dass Einstein an die Atombombe gedacht hat, als er seine Relativitätstheorie aufgestellt hat«, erwiderte Clifford. Er war der Finte ausgewichen und direkt in einen Aufwärtshaken gelaufen.

»Einstein!« Corrigan ließ sich das Wort auf der Zunge zergehen, empfahl es so der besonderen Aufmerksamkeit der Jury. »Er möchte uns erzählen, dass er ein zweiter Einstein ist! Sieht es tatsächlich so aus? Halten Sie sich Einstein für ebenbürtig, Dr. Clifford?«

»Das habe ich nicht gemeint, und das wissen Sie verflucht genau!« Clifford hatte sich inzwischen soweit erholt, dass er Corrigans süffisantes Lächeln mit einem Blick erwiderte, den man nur als mörderisch bezeichnen konnte. Er wusste, dass Corrigan ihn immer weiter in die Ecke drängte. Doch irgendwie machte es ihm nicht mehr viel aus.

»Sie wollen uns also empfehlen, dass wir Ihnen erlauben sollen, sich nach Herzenslust mit Sachen die Zeit zu vertreiben, die Ihnen Spaß machen. Es könnte ja sein, dass etwas Nützliches dabei herauskommt. So sollen wir also unseren Dienst für die Sicherheit des Westens leisten? Bedeutet das Konzept der strukturierten freien Wissenschaft Leuten Ihrer Sorte denn gar nichts? Wie lange sollen wir Sie und die Freiheit, über die Sie dauernd reden, denn noch verteidigen, bis Sie endlich aufwachen?«

Edwards starrte unbehaglich auf die Tischplatte. Er hatte sich der Teilnahmslosigkeit Masseys angeschlossen. Corrigan hatte seinen großen Auftritt.

»Wir leben hier doch nicht in einem philosophischen Utopia, wo es jedermann freisteht, so zu leben, wie er mag«, fuhr Corrigan fort. »In der Welt herrscht das Gesetz des Tierreichs, die Starken überleben, und die Schwachen müssen daran glauben. Wenn wir stark bleiben wollen, dann muss jeder von uns zunächst mal seine Pflicht erfüllen. Sie haben Ihre Pflichten vernachlässigt, und jetzt kommen Sie zu uns und erwarten, dass wir Ihr Verhalten auch noch gutheißen.«

Er atmete tief und effektvoll ein. »Kommt überhaupt nicht in Frage. Auf gar keinen Fall werde ich Professor Edwards raten, dass er seine Zustimmung gibt zu noch mehr Zeitverschwendung und Mittelvergeudung!«

In Wirklichkeit war es so, dass Corrigan Edwards gar nichts zu sagen hatte. Aber er hatte sich absichtlich so ausgedrückt. Er wollte an seine Macht, an seinen Einfluss beim FEK erinnern. Für Edwards wäre eine solche Erinnerungshilfe nicht nötig gewesen. Er wusste, was Corrigans Berichte an das Büro vermochten, dass sie darüber entscheiden konnten, ob er eines Tages oberster Leiter des FEK werden würde oder ob er irgendwo an der Nordküste der Baffin-Insel Unterwasser-Raketentests leiten durfte.

Wenn das Opfer zu einem blutigen Kloß zerschlagen ist und man ihm alle Würde geraubt hat, dann ist es sehr leicht zu beeinflussen und reagiert dankbar auf die kleinste freundliche Geste. Gefangenenwärtern war diese Technik schon in allen Zeiten sehr vertraut. Corrigan hatte einige psychologische Erfahrung – er wusste, wie man Leute wieder in die Reihe brachte.

Sein Tonfall wurde einige Grade weicher: »Wahrscheinlich irren wir uns alle, und nur Sie haben recht, Dr. Clifford? Wir sind doch ein gutes Team hier und tun alle unser Bestes. Warum machen Sie es sich selber schwer? Wenn Sie sich ein bisschen Mühe geben, sich einzufügen, werden Sie bald merken, dass das Leben gar nicht so übel ist.

Spüren Sie denn nicht auch, dass wir diesem Land vieles schulden, diesem Land, das uns alles bedeutet, was das Leben lebenswert macht? Ist es nicht ein kleines Opfer wert, dies alles zu beschützen? Genau in diesem Moment lauert die halbe Welt darauf, dass wir auch nur für eine Sekunde weich werden, damit sie uns für immer auslöschen können. Wollen Sie denn einfach dasitzen und zusehen, wie das geschieht? Wollen Sie sie hier hereinmarschieren lassen, ohne auch nur einen Finger zu rühren?« Corrigans Stimme triefte vor Freundlichkeit, als er zur großen Verbrüderung ansetzte: »Oder wollen Sie ein vollwertiges Mitglied in unserem Team sein und uns helfen, diese Hundesöhne für immer zu erledigen?«

Clifford war sehr blass geworden. Corrigan und seine Propagandasprüche waren die Verkörperung alles Widerwärtigen in einer Welt, die langsam wahnsinnig wurde. Wie konnte er nur erwarten, dass er Clifford in seine Reihen aufnehmen konnte? In die Millionenschar derer, die schuften, bluten und sterben mussten zu allen Zeiten, weil sie an diese Sprüche geglaubt hatten. Es würde immer solche Corrigans geben, die sich vom breiten Rücken der Masse tragen ließen; so lange jedenfalls, wie jemand seinen Rücken bereitwillig darbot. Cliffords Stimme erstarb zu einem Flüstern; der Zorn, der in seinem Inneren kochte, drohte ihn zu ersticken, Übelkeit lähmte seine Kehle.

»Ich bin nicht daran interessiert, irgendjemanden zu erledigen. Mr. Corrigan … Nicht für Sie und auch nicht für die Werte, die Sie vertreten. Wenn es Ihr System nicht gäbe, wäre ich gar nicht in dieser Lage. Erzählen Sie mir nicht, dass mir alles leichter fiele, wenn ich mich besser anpassen würde, und dass ich diesem System etwas schulde, um ihm aus der Klemme zu helfen. Sparen Sie sich Ihr Gewäsch für Gehirnamputierte auf.« Ohne auf eine Reaktion zu warten, sprang er auf und ging auf die Tür zu. Edwards und Massey schwiegen, den Blick fest auf die Tischplatte gerichtet. Wenn Brad sich ins Wasser stürzen wollte, dann mussten sie aufpassen, dass sie keinen Spritzer abbekamen.

Clifford zitterte noch immer innerlich, als er fünf Minuten später die Tür seines Büros hinter sich zuschlug. Er hämmerte einen kurzen Buchstabencode in die Tastatur seines Schreibtischterminals. Zumindest hatte er versucht, den offiziellen Weg zu beschreiten. Das Ergebnis hatte ihn kaum überrascht. Er war darauf vorbereitet und hatte schon vorher einen langen Bericht in den Datenspeicher eingegeben, der sich sofort zur Übertragung abrufen ließ.

Ein Frauengesicht erschien auf dem Bildschirm.

»Vermittlungsstelle. Was kann ich für Sie tun?«

»Ich brauche sofort eine Eilverbindung nach außerhalb. Die Rufnummer ist 09 09 09-7 37 85-2 13 18!«

Die Frau begann automatisch den Code einzutippen, dann zögerte sie.

»Dreimal 09, das ist ja eine außerplanetarische Nummer, Sir, das ist die Mondbasis.«

»Das weiß ich.«

»Es tut mir leid, aber dieser Kanal darf nur von Mitarbeitern benutzt werden, die mindestens Besoldungsstufe 5 innehaben. Haben Sie eine Ausnahmegenehmigung?«

Auf einmal entlud sich die ganze Enttäuschung der letzten halben Stunde:

»Jetzt hören Sie mal genau zu, meinetwegen nehmen Sie es auf Band auf: Es handelt sich um Dringlichkeitsstufe eins. Ich übernehme die volle Verantwortung. Es interessiert mich nicht, ob Sie eine Vollmacht vom Präsidenten, dem Papst oder vom Herrgott persönlich sehen wollen. GEBEN SIE MIR DEN VERFLUCHTEN KANAL!!«

3

 

»… Proxima Centauri, das 4,3 Lichtjahre von uns entfernt liegt, hat mindestens drei Planeten von bemerkenswerter Größe. Der größte von ihnen hat eine Masse, die 0,0018 Sonnenmassen entspricht, und eine Umlaufzeit von 137 Jahren. Barnards Stern, der mit 6,0 Lichtjahren etwas weiter entfernt ist, hat mindestens drei Planetenbegleiter: B1, B2 und B3, mit Massen von 0,0011, 0,0008 und 0,0003. Die Umlaufzeiten betragen 26, 12 und 14,3 Jahre. Wir vermuten dort noch weitere Planeten. Die weiter entfernten Sterne Lalande 2115A, 61 Cygni und Krüger 60A – um nur drei zu nennen – verfügen ebenfalls über Planeten, die beobachtet wurden und deren Hauptmerkmale genau gemessen wurden. Es ist in der Tat so, dass in einem Radius von einigen Lichtjahren mehr als dreißig Planeten bekannt sind, die zu anderen Sternen als unserer Sonne gehören.«

Professor Zimmermann beendete diesen letzten Punkt, wandte sich von dem dreidimensionalen Modell der näheren Galaxis ab und sah direkt in die Kamera. Der Kamerawagen rollte geräuschlos auf ihn zu, um eine Nahaufnahme dieses makellos gekleideten Mannes, dessen eckigem Wuchs ein silbergrauer Haarschopf eine gewisse Würde verlieh, zu präsentieren.

»Bisher hat unsere Arbeit hier im Joliot-Curie-Observatorium auf der Rückseite des Mondes unser Wissen erheblich erweitert. Wir haben viel über die unserer Sonne benachbarten Planetensysteme erfahren. Wenn wir die gewonnenen Zahlen auf die gesamte Galaxis übertragen, dann können wir erwarten, dass es Milliarden von Planeten gibt. Wenn nur einer von tausend eine ähnliche Temperatur und Oberflächenstruktur wie die Erde aufweist, dann gibt es immer noch Millionen Welten, auf denen Leben entstanden sein kann. Außerdem habe ich bereits vor einiger Zeit darauf hingewiesen, dass es sich bei der Entstehung von Leben nicht um einen ausgefallenen Zufall mit einer Wahrscheinlichkeit von eins zu einer Milliarde handelt; die Experimente von Okoyaku und Skovensen haben gezeigt, dass man geradezu sicher sein kann, dass Lebensformen auftreten, wenn gewisse Voraussetzungen erfüllt sind.« Er trat beiseite, damit die Kamera das Modell nahe heranholen konnte, während er seine Schlusssätze sprach. »Ich möchte es Ihnen selbst überlassen, die Folgerungen aus dem Gesagten zu ziehen. In dieser Sendung haben wir Ihnen aufregende Dinge gezeigt, aber es kann gut sein, dass uns die wahrhaft erregenden Entdeckungen noch bevorstehen.«

»Gut! Wir machen hier einen Schnitt.« Die Stimme des Aufnahmeleiters drang aus der Finsternis hinter den Filmleuchten. »Das ist gut gelaufen. Wir machen eine kurze Pause. Aber haltet euch bereit für den ersten Teil von Folge fünf. Wir fangen in ein paar Minuten damit an. Harry und Mike, ihr bleibt hier. Ich muss einen Augenblick mit euch sprechen.«

Die Scheinwerfer erloschen, und lebhaftes Stimmengewirr erscholl von überall her. Das ganze Zimmer war erfüllt vom hektischen Durcheinander der eifrigen Techniker. Zimmermann blinzelte. Seine Augen hatten Mühe, sich auf die normale Beleuchtung umzustellen, die ihm wie Dämmerlicht erschien. Mit einem Kopfnicken nahm er den Dank des Filmteams entgegen und entfernte sich von der Szene verwirrender Geschäftigkeit. Er trat an ein Sichtfenster der Kuppel, und während er seine Stirn leicht mit einem Taschentuch betupfte, blickte er hinaus über die raue, öde Landschaft der Mondoberfläche.

Hinter dem Wirrwarr der technischen Geräte, die die Umgebung des Observatoriums prägten, schmorten die weichen, welligen Dünen aus aschgrauem Staub unter dem ungedämpften Anprall der Sonnenstrahlen. Hier und da unterbrach der tintenschwarze Schatten eines Kraterrandes oder eines Felsbrockens das öde Bild. Über der eintönigen Horizontlinie funkelten Millionen kleiner Diamanten auf dem Hintergrund samtener Unendlichkeit. Joliot-Curie war mit Sicherheit die einsamste menschliche Ansiedlung im ganzen Universum. Der Körper des Mondes selbst schirmte die riesigen Radioteleskope von der elektronischen Katzenmusik ab, die die Erde ständig abstrahlte. Hier konnte man den geflüsterten Geheimnissen des Kosmos lauschen, ungehindert von einer Atmosphäre und von gewichtsbedingten Verzerrungen, mit denen irdische Instrumente immer zu kämpfen hatten. Hier oben gab es Fernrohre, die bis an den Rand des sichtbaren Universums reichten. Das Joliot-Curie-Observatorium hatte einen sehr entlegenen Standort; es war isoliert, aber es war frei. Ein vorgeschobener Beobachtungsposten der ungehinderten Wissenschaft, die sich hier ihre Grenzen selber setzen konnte.

Auf die Wand neben dem Sichtfenster fiel ein Schatten. Zimmermann drehte sich um und stand Gus Craymer gegenüber, dem Produktionsassistenten von Unendlicher Horizont. So hieß der Dokumentarfilm, der hier entstand. Craymer sah an dem Professor vorbei, musterte die Umgebung und verzog das Gesicht.

»Wie kommt es, dass ihr Burschen hier oben nicht durchdreht?«, fragte er. Zimmermann folgte seinem Blick, dann antwortete er ihm mit einem angedeuteten Lächeln.

»Oh, Sie würden überrascht sein, Mr. Craymer. Die Ruhe und die Einsamkeit können sehr stimulierend sein. Es kommt ganz darauf an, was Sie sehen, wenn Sie hier hinausschauen, was Ihnen der Anblick bedeutet. Ich frage mich manchmal, wieso ihr auf der Erde nicht alle durchdreht.«

»Sie sehen Sterne, hm?« Craymer grinste. »Im wahrsten Sinne des Wortes.« Mit einem Kopfnicken wies er auf die andere Seite des Raumes. »Da drüben gibt's Kaffee, wenn Sie einen mögen.« Zimmermann faltete sein Taschentuch und schob es in die Brusttasche zurück.

»Vielen Dank, nein. Wenn wir hier ganz fertig sind, werde ich in aller Ruhe einen trinken. Wie lange wird es noch dauern?«

»Tja, wir haben noch einige Außenaufnahmen zu machen, wenn die Sonne richtig steht; das wird gleich soweit sein. Wir machen ein paar Nahaufnahmen von Instrumenten, die wollen wir mit dem Kommentar unterlegen, den wir gestern aufgenommen haben. Moment mal, ich will eben nachsehen, wann Sie noch einmal dran sind … Ja, genau, es gibt nur noch eine Einstellung, für die wir Sie brauchen. Das ist eine Neuaufnahme für den Anfang von Folge fünf. Sie sprechen da über die Strahlung von Schwarzen Löchern. Das drehen wir jetzt gleich.«

»Ah ja, sehr schön.«

Craymer schloss sein Notizheft und betrachtete gemeinsam mit Zimmermann das Durcheinander im Zimmer.

»Ich schätze, dass Sie froh sind, wenn Sie endlich wieder in Ruhe an Ihre Arbeit gehen können, ohne diesen Trubel der letzten Tage«, sagte er, »ich möchte Ihnen im Namen des ganzen Teams für Ihre Geduld und die gute Zusammenarbeit danken.«

»Das ist sehr freundlich von Ihnen, Mr. Craymer«, erwiderte Zimmermann, »aber ich kann Ihnen sagen, dass es auch mir Spaß gemacht hat. Die Öffentlichkeit hat das alles hier finanziert, einschließlich meines Gehaltes; daher hat sie ein Recht darauf, dass sie darüber informiert wird, was wir hier tun und warum wir es tun. Außerdem ist es die freie Wissenschaft wert, dass man sich alle Mühe macht, sie dem Verständnis der Allgemeinheit näherzubringen. Denken Sie nicht auch so?«

Craymer lächelte resigniert, als er sich an die Probleme erinnerte, die sie vor sechs Monaten mit übereifrigen Bürokraten in Washington hatten. Sie hatten versucht einen Dokumentarfilm über Weltraumnavigation und Antriebssysteme zu machen. Schließlich mussten sie das Projekt aufgeben, denn was der Schere des Zensors entkommen war, reichte nicht einmal mehr für ein Schulfernsehprogramm für das zweite Schuljahr.

»Ich wünschte, dass mehr Menschen so dächten. Daheim schnappen sie allmählich über«, sagte er.

»Das kann ich mir vorstellen«, antwortete Zimmermann, während er beiseite trat, um einen Techniker vorbeizulassen. Eine Stimme aus dem Hintergrund wies den Beleuchtern ihre Plätze an.

Sie gingen zu dem Platz hinüber, wo die nächste Szene abgedreht werden sollte. Craymer fragte: »Wie lange sind Sie jetzt hier oben?«

»Oh, ungefähr achtzehn Monate, glaube ich. Aber hin und wieder fliege ich zur Erde hinunter. Es mag seltsam klingen, aber ich vermisse kaum etwas. Hier oben habe ich meinen Arbeitsplatz, und, wie ich schon sagte, die Umgebung kann sehr stimulierend wirken. Niemand hält uns auf, und es gibt keine Behinderungen.«

»Es muss schön sein, wenn man sich auf diese Art verwirklichen kann«, stimmte Craymer zu, »aus der schmutzigen Politik halten Sie sich heraus, nicht wahr?«

»Ja, wir versuchen es … Aber das ist nicht immer so gewesen. Ich hatte über mehrere Jahre hinweg einige wissenschaftliche Regierungsämter inne … Das war in Deutschland, noch bevor es die Vereinigten Staaten von Europa gab. Doch dann …« Zimmermann seufzte, »wurde die öffentliche Unterstützung immer mehr auf Bereiche eingeengt, die weder mit meinem Interesse noch mit meiner Einstellung in Einklang zu bringen waren, und da bin ich ausgeschieden und habe mich der Internationalen Wissenschaftlichen Gesellschaft angeschlossen. Die Gesellschaft ist nämlich völlig unabhängig. Sie finanziert sich ausschließlich aus freiwilligen privaten Spenden.«

»Ja, das weiß ich. Ich wundere mich, dass die Regierung der Vereinigten Staaten Ihnen keine Schwierigkeiten gemacht hat.«

Zimmermann lächelte und kratzte sich an der Augenbraue.

»Ich glaube, es ist mir gelungen, sie davon zu überzeugen, dass weder ich noch mein Wissen von großem Nutzen für sie sein können«, sagte er.

Craymer dachte daran, dass ihm mit steigender Lebenserfahrung immer klarer wurde, dass Bescheidenheit ein Privileg der ganz großen Männer war, denen er begegnete. Aus dem Lautsprecher dröhnte die Stimme des Aufnahmeleiters und unterbrach ihr Gespräch.

»Alles auf die Plätze. Neuaufnahme, erste Szene Folge fünf. Danach ist für heute Schluss. Ich will hoffen, dass alles klappt.« Das Stimmengewirr erstarb, die Scheinwerfer flammten auf und erfassten die Hintergrundszenerie, die an einer Wand aufgebaut war. Den rechten Teil dieses Hintergrunds nahm ein Schaltpult ein, das mit seinen blinkenden Kontrolllichtern und Bildschirmen sehr effektvoll wirkte. Zimmermann löste sich aus der Ansammlung von Kameras, Mikrofongalgen, Stühlen und Menschen und trat in den beleuchteten Halbkreis vor dem Schaltbrett. Martin Borel, der Kommentator der Dokumentationsreihe, nahm seine Position schräg rechts neben dem Professor ein.

Die Stimme des Aufnahmeleiters ertönte wieder: »Mart, diesmal bewegst du dich nach links, sobald du sagst: ›… eines der erstaunlichsten Phänomene, auf das die Menschheit bisher gestoßen ist.‹ Du sprichst genauso schnell wie beim letzten Mal. Dann müsste es eigentlich so hinkommen, dass wir den Professor genau dann im Bild haben, wenn du ihn vorstellst. Alles klar?«

»Natürlich«, Borel nickte.

»Herr Professor?«

»Ja, bitte?«

»Wenn Sie zum ersten Mal auf die Ausrüstung hinter Ihnen verweisen, könnten Sie dann bitte kurz beiseite treten, damit wir mit der Kamera dicht daraufzufahren können? Dann stellen Sie sich dicht neben Mart und nehmen den Dialog wieder auf.«

»Ja, gut.«

»Vielen Dank. Also dann, abfahren!« Borel streckte sich und verschränkte die Arme vor der Brust. Die Schnittklappe knallte. »Action!«

»Das Schwarze Loch«, begann Borel, er sprach mit der festen wohlklingenden Stimme eines Berufssprechers, »ist eine seltsame Erscheinung im Weltall, wo Materie und Energie für immer verschwinden, ohne eine Spur zu hinterlassen, wo die Zeit stillsteht. Wir haben die Geschichte des Schwarzen Lochs von den frühesten Spekulationen her verfolgt, bis in unsere Tage, da die Wissenschaft über einige gesicherte Erkenntnisse verfügt. Die Forscher können nun für uns ein Bild von den erstaunlichen Gesetzen und unbekannten physikalischen Eigenschaften entwerfen, von denen diese rätselhaften Himmelskörper beherrscht werden. Aber trotz all dieses Wissens tauchen immer wieder neue, unlösbare Rätsel auf. Das Schwarze Loch ist noch immer eines der erstaunlichsten Phänomene, auf das die Menschheit bisher gestoßen ist.«

Während des letzten Satzes hatte sich Borel dem Professor genähert, und er stand nun neben ihm vor dem Hintergrundarrangement.

»Ich möchte Ihnen einen Mann vorstellen, der Ihnen einen Eindruck davon vermitteln kann, mit welchen Rätseln die Erforscher der Physik der Schwarzen Löcher heute konfrontiert werden: Professor Heinrich Zimmermann, Mitglied der IWG, Direktor von Joliot-Curie und einer der herausragenden Astronomen unserer Tage.