Die Prophezeiung der Schwestern - Liebe und Verrat - Michelle Zink - E-Book

Die Prophezeiung der Schwestern - Liebe und Verrat E-Book

Michelle Zink

4,3
7,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Noch mitreißender, noch dramatischer, noch emotionaler: Band 2 des Romantasy-Bestsellers!

Schlimme Nachrichten ereilen Lia, als sie nach einem Weg sucht, um die unheilvolle Prophezeiung zu beenden: Ihre Schwester und Todfeindin Alice schreckt vor nichts zurück, um das Tor für Samael zu öffnen, und hat sich sogar Lias Freund James gefügig gemacht. Nun bleibt Lia nur noch eine Chance, um das Blatt zu wenden: Sie muss die gefahrvolle Reise nach Altus, zum Sitz der Schwesternschaft, auf sich nehmen. Zu spät erkennt sie, dass sich in ihrer Gruppe ein Verräter befindet. Fast hätte dieser Lia ins Verderben gestürzt – da rettet sie in letzter Sekunde Dimitri, ein Gesandter der Schwesternschaft. Um Lia vor dem Zugriff Samaels zu schützen, gibt er die Neutralität auf, zu der ihn seine Position ehern verpflichtet …

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 444

Bewertungen
4,3 (20 Bewertungen)
11
5
4
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Michelle Zink

Die Prophezeiung

der Schwestern

Liebe und Verrat

Aus dem amerikanischen Englisch

von Alexandra Ernst

cbj ist der Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Verlagsgruppe Random House

Gesetzt nach den Regeln der Rechtschreibreform

1. Auflage 2010

© 2010 by Michelle Zink

Die Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel

»Guardian of the Gate« bei Little, Brown and Company, New York

© 2010 für die deutschsprachige Ausgabe cbj, München

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Aus dem amerikanischen Englisch von Alexandra Ernst

Lektorat: Carola Henke

st · Herstellung: RF

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-04926-3

www.cbj-verlag.de

Für Kenneth, Rebekah,

Andrew and Caroline.

Ihr habt einen Ehrenplatz

in meinem Herzen.

1

Vor mir liegt das Buch. Ich muss die Prophezeiung nicht lesen; ich kenne sie auswendig, Wort für Wort. Sie hat sich so fest in meinen Geist gebrannt wie das Mal auf meinem Handgelenk in mein Fleisch.

Aber es ist irgendwie beruhigend, das uralte Buch mit dem rissigen Einband in die Hand zu nehmen, das mein Vater vor seinem Tod in der Bibliothek versteckte. Seine Festigkeit ist tröstlich. Ich schlage es auf, und mein Blick fällt auf das Stück Papier, das zwischen den Buchdeckeln liegt.

Acht Monate sind vergangen, seit Sonia und ich in London eintrafen, und in dieser Zeit habe ich es mir zur Gewohnheit gemacht, die Worte der Prophezeiung als eine Art Bettlektüre zu lesen. In diesen stillen Stunden ist Milthorpe Manor unendlich friedlich. Ich sitze in meinem Zimmer am Schreibtisch. Das Haus schweigt, die Dienerschaft schläft, ebenso wie Sonia in ihrem Zimmer am anderen Ende des Flurs. In diesen Stunden fahre ich mit meinen Bemühungen fort, die Worte der Prophezeiung zu entschlüsseln, die James so sorgfältig aus dem Lateinischen übersetzt hat. Ich hoffe, irgendeinen neuen Hinweis zu finden, der mich zu den verloren gegangenen Seiten führt. Und der mir die Freiheit schenkt.

An diesem Sommerabend zischt das Feuer nur leise im Kamin. Ich beuge den Kopf über die Seite und lese – erneut – die Worte, die mich unlösbar an meine Schwester, an meinen Zwilling binden, und an die Prophezeiung, die uns unüberwindbar trennt.

In Krieg und Eintracht erduldete die Menschheit ihr Schicksal

Bis die Wächter kamen

Die Frauen der Menschen zu Gemahlinnen und Geliebten nahmen

Und sich so Seinen Zorn zuzogen.

Zwei Schwestern, erschaffen in demselben wirbelnden Ozean

Die eine der Wächter, die andere das Tor.

Die eine Hüterin des Friedens, die andere Hexenkraft für Hingabe eintauschend.

Ausgestoßen aus dem Himmel, gingen ihre Seelen verloren.

Doch die Schwestern fahren fort mit ihrer Schlacht

Bis die Pforten ihre Rückkehr einfordern

Oder der Engel die Schlüssel zum Abgrund bringt.

Durch die Pforten schreitet die Armee.

Samael, das Untier, durch den Engel.

Der Engel, bewacht nur durch einen zarten Schleier.

Vier Zeichen. Vier Schlüssel. Ein Kreis aus Feuer.

Erschaffen in dem ersten Atemzug von Samhain

Im Schatten der Mystischen Steinschlange von Aubur.

Wenn das Tor des Engels sich ohne Schlüssel öffnet

Folgen die Sieben Plagen und es gibt kein Zurück.

Tod

Hungersnot

Blut

Feuer

Dunkelheit

Dürre

Zerstörung

Öffne deine Arme, Herrin des Chaos, auf dass die Verwüstung des Untiers sich in Strömen ergießen kann.

Denn alles ist verloren, wenn die Sieben Plagen beginnen.

Es gab eine Zeit, als diese Worte mir nichts bedeuteten. Als sie bloß eine Legende zwischen zwei Buchdeckeln waren, die in Vaters Bibliothek vor sich hin staubte. Aber das war, bevor ich die erwachende Schlange auf meinem Handgelenk bemerkt hatte, vor knapp einem Jahr. Bevor ich Sonia und Luisa traf, zwei der vier Schlüssel, gezeichnet wie ich. Mit einem Unterschied.

Nur in meinem Zeichen prangt in der Mitte der Buchstabe C. Nur ich bin der Engel des Chaos, das unwillige Tor, das meine Schwester – ebenso unwillig – bewacht. Unsere Rollenverteilung ist keine Laune der Natur, sondern das Ergebnis unserer Geburt. Dennoch kann nur ich entscheiden, ob ich Samael verbannen werde. Für immer.

Oder ob ich ihn beschwöre und das Ende der Welt, wie wir sie kennen, herbeiführe.

Ich schließe das Buch und dränge die Worte aus meinen Gedanken. Es ist schon spät, zu spät, um über das Ende der Welt nachzudenken. Zu spät, um über meine Rolle nachzugrübeln, über die Möglichkeit, all dem ein Ende zu bereiten. Die Last der Prophezeiung hat mich gelehrt, den Schlaf und seinen einzigartigen Frieden hoch zu schätzen, und so stehe ich vom Schreibtisch auf und schlüpfe unter die Decke des mächtigen Himmelbetts, das in meinem Zimmer in Milthorpe Manor steht.

Ich lösche die Lampe auf meinem Nachttisch. Der Raum wird jetzt nur noch durch das sanfte Glühen des Feuers erhellt, aber die Düsternis eines nächtlichen Zimmers ängstigt mich nicht mehr so wie früher. Jetzt ist es das Böse, das sich hinter dem Schönen, dem Vertrauten verbirgt, das mir das Herz erzittern lässt.

Es ist lange her, dass ich das Reisen mit den Schwingen für einen einfachen Traum gehalten habe, aber diesmal kann ich – trotz meiner mittlerweile ausgiebigen Erfahrung – nicht sagen, ob mich der Schlaf in einen Traum oder in die Anderswelten führt.

Ich bin in einem Wald, den ich instinktiv als den Hain um Birchwood Manor erkenne, mein Zuhause, das ich vor acht Monaten verließ, um nach London zu kommen. Es gibt wohl Menschen, die behaupten, alle Bäume sähen gleich aus, und die es für unmöglich halten, den einen vom anderen zu unterscheiden, aber dies ist die Landschaft meiner Kindheit, und ich erkenne sie ohne den Schatten eines Zweifels.

Die Sonne fällt in Flecken durch das Laub hoch über meinem Kopf. Es ist taghell, sodass es sowohl später Morgen als auch früher Abend sein kann, oder jede beliebige Stunde dazwischen. Ich fange an, mich zu fragen, warum ich hier bin – selbst wenn es sich um einen Traum handelt. Denn selbst meine Träume scheinen neuerdings einem Ziel zu folgen. Da höre ich hinter mir meinen Namen.

»Li-a … Komm, Lia …«

Ich drehe mich um. Es dauert ein paar Sekunden, bis ich die Gestalt neben mir zwischen den Bäumen wahrnehme. Das Mädchen ist klein und so reglos wie eine Statue. Ihre Locken schimmern golden, selbst in dem gedämpften Licht des Waldes. Obwohl es beinahe ein Jahr her ist, seit ich sie in New York sah, würde ich sie überall erkennen.

»Ich muss dir etwas zeigen, Lia. Komm schnell.« Ihre Stimme ist noch dieselbe – ein kindlicher Singsang, genauso wie damals, als sie mir das Medaillon mit dem gleichen Zeichen wie auf meinem Handgelenk überreichte, das mich seitdem überallhin begleitet.

Ich warte einen Moment. Sie streckt die Hand aus und winkt mich zu sich mit einem Lächeln, das bezaubernd wäre, hätte es nicht längst alle Unschuld verloren.

»Beeil dich, Lia. Du willst sie doch nicht verpassen.« Das kleine Mädchen dreht sich um und rennt voraus. Mit wippenden Locken verschwindet sie zwischen den Bäumen.

Ich folge ihr, weiche Bäumen und moosbedeckten Steinen aus. Meine Füße sind nackt, aber ich fühle keinen Schmerz, während ich über den harten Waldboden laufe. Die Kleine ist so grazil und flink wie ein Schmetterling. Ständig verschwindet sie aus meinem Blickfeld, um kurz darauf wieder aufzutauchen. Die weiße Schürze weht wie ein Geist hinter ihr her. Ich muss mich beeilen, um mit ihr Schritt zu halten. Mein Nachthemd verfängt sich in Zweigen und Ästen. Ich schiebe sie mit den Armen beiseite, in dem Bestreben, das kleine Mädchen nicht aus den Augen zu verlieren. Aber es ist zu spät. Gleich darauf ist sie verschwunden.

Ich bleibe stehen und drehe mich im Kreis, suche den Wald nach ihr ab. Ich bin verwirrt, mir ist schwindlig, und ich muss gegen die Panik ankämpfen, als mir klar wird, dass ich mich in dem Dickicht aus gleichförmigen Bäumen und dichtem Laubwerk hoffnungslos verirrt habe. Sogar die Sonne ist meinem Blick verborgen.

Im nächsten Moment kehrt die Stimme des Mädchens zurück. Ich rühre mich nicht, lausche bloß. Es ist unzweifelhaft die gleiche Melodie, die sie auch damals in New York summte, als sie mir das Medaillon überreicht hatte und sich hüpfend von mir entfernte.

Ich folge dem Lied, während mich eine Gänsehaut überzieht. Die zarten Härchen auf meinem Nacken richten sich auf, aber ich kann nicht umkehren. Ich folge der Stimme, um dicke und dünne Baumstämme herum, bis ich den Fluss höre.

Dort werde ich das Mädchen finden. Ich bin mir ganz sicher. Und als ich zwischen den Bäumen hindurch ins Freie trete, liegt das Wasser vor mir und ich kann das Mädchen wieder sehen. Sie kniet am anderen Ufer, über das Wasser gebeugt. Ich kann mir nicht vorstellen, wie sie die reißende Strömung durchquert hat. Ihr Summen ist melodisch, aber mit einem unheimlichen Unterton, der mir einen Schauer über den Rücken jagt. Langsam gehe ich auf das diesseitige Ufer zu.

Sie scheint mich nicht zu sehen. Sie summt einfach weiter ihre Melodie und fährt mit den Händen durchs Wasser. Ich weiß nicht, was sie dort in der Klarheit des Flusses sieht, aber sie starrt mit äußerster Konzentration hinein. Dann blickt sie auf und ihre Augen treffen meine.

Ihr Lächeln ist mir genauso unheimlich wie ihr Summen. Es brennt sich in meine Gedanken ein. »Oh, gut. Ich freue mich, dass du hier bist.«

Ich schaue sie an. »Warum bist du zu mir gekommen? Hast du noch etwas, das du mir geben möchtest?«

Sie schaut nach unten, streichelt mit den Händen das Wasser, als würde sie mich nicht hören.

»Hallo?« Ich versuche, meiner Stimme mehr Gewicht zu verleihen. »Ich möchte gerne wissen, warum du mich hierhergeführt hast.«

»Nicht mehr lange.« Ihre Stimme klingt flach. »Du wirst schon sehen.«

Sie schaut auf. Ihre blauen Augen verschränken sich über den Fluss hinweg in meinen. Ihr Gesicht verschwimmt, als sie wieder spricht.

»Glaubst du, dass du unter dem Mantel deines Schlafes sicher bist, Lia?« Die Haut, die sich über die kleinen Knochen ihres Gesichtes dehnt, schimmert, und ihre Stimme klingt mit einem Mal tiefer. »Hältst du dich für so mächtig, für unangreifbar?«

Ihre Stimme klingt völlig falsch, und als ihr Gesicht wieder verschwimmt, begreife ich. Sie lächelt, aber diesmal nicht als das kleine Mädchen mit der weißen Schürze und den blonden Locken. Jetzt ist sie meine Schwester. Alice. Ich kann meine Furcht nicht unterdrücken. Ich weiß zu gut, was sich hinter diesem Lächeln verbirgt.

»Warum schaust du so überrascht, Lia? Du weißt doch, dass ich dich überall finden werde.«

Ich nehme mir die Zeit, um meine Stimme zur Ruhe zu zwingen. Ich will Alice meine Angst nicht spüren lassen. »Was willst du, Alice? Wir haben doch alles gesagt, was zu sagen war.«

Sie legt den Kopf schräg, und wie immer habe ich das Gefühl, dass sie mir direkt in die Seele blicken kann. »Ich glaube nach wie vor, dass du zur Vernunft kommst, Lia. Dass du die Gefahr erkennst, in die du dich selbst und deine Freunde bringst. Und auch deine Familie, jedenfalls was davon noch übrig ist.«

Alles in mir will aufbegehren, als sie meine Familie – unsere Familie – erwähnt, denn war es nicht Alice, die Henry in den Fluss gestoßen hat? Ist sie es nicht, die seinen Tod in den Fluten zu verantworten hat? Aber ihre Stimme wird weicher, und ich frage mich, ob auch sie um unseren Bruder trauert.

Als ich ihr antworte, liegt Stahl in meiner Stimme. »Die Gefahr, der wir uns stellen, ist der Preis, den wir für die Freiheit zahlen. Die Freiheit danach.«

»Danach?«, wiederholt sie ungläubig. »Wann soll das sein, Lia? Du hast noch nicht einmal die letzten beiden Schlüssel gefunden, und wenn du dich auf diesen altersschwachen Detektiv verlässt, den Vater angeheuert hat, wirst du sie wohl niemals finden.«

Ihre spöttischen Worte über Philip entfachen meine Wut erneut. Vater hat ihm die Aufgabe anvertraut, die Schlüssel zu finden, und jetzt, nach Vaters Tod, arbeitet er für mich. Er ist unermüdlich in seiner Suche. Natürlich werden mir die beiden Schlüssel ohne die restlichen Seiten aus dem Buch des Chaos nichts nützen, aber ich habe schon vor langer Zeit begriffen, dass es keinen Sinn macht, zu weit vorauszudenken. Es gibt nur das Hier. Nur das Jetzt.

Als ob sie meine Gedanken gehört hätte, sagt sie: »Und was ist mit den Seiten? Du hast doch keine Ahnung, wo du suchen sollst.« Ruhig schaut sie hinab ins Wasser und fährt mit der Hand darüber, wie das kleine Mädchen. »Deiner augenblicklichen Lage nach zu urteilen, wäre es wohl klüger, dein Schicksal in Samaels Hände zu legen. Er kann wenigstens deine Sicherheit garantieren, und die Sicherheit all jener, die du liebst.

Mehr noch: Er kann dir einen angemessenen Platz in der neuen Weltordnung verschaffen. Eine Welt, die von ihm regiert und von den Seelen bevölkert wird. Eine Welt, die kommen wird, ob du uns nun dabei hilfst oder nicht.«

Ich hätte es nicht für möglich gehalten, dass sich mein Herz Alice gegenüber noch mehr verhärten könnte, aber so ist es. »Es ist doch wohl eher so, dass er dir einen angemessenen Platz in dieser neuen Weltordnung verschafft, Alice. Darum geht es doch in Wirklichkeit, nicht wahr? Das ist der Grund, warum du sogar schon als Kind Hand in Hand mit den Seelen gearbeitet hast.«

Sie zuckt mit den Schultern und schaut mich geradewegs an. »Ich habe nie vorgegeben, uneigennützig zu sein, Lia. Ich will einfach nur die Rolle einnehmen, die eigentlich mir bestimmt war, statt diejenige zu erfüllen, die mir durch die törichten Regeln der Prophezeiung aufgezwungen wurde.«

»Wenn das dein Verlangen ist, haben wir nichts mehr zu bereden.«

Sie schaut wieder ins Wasser. »Vielleicht bin ich doch nicht die geeigneteste Person, um dich zu überzeugen.«

Ich glaube nicht, dass mich noch etwas überraschen kann, dass meine Furcht, die ich im Zaum habe, mich übermannen könnte, zumindest nicht heute. Aber dann schaut Alice auf. Ihr Gesicht verschwimmt. Einen Augenblick lang sehe ich den Schatten des Antlitzes des kleinen Mädchens, ehe Alices Gesicht wieder Gestalt annimmt. Aber das ist nicht von Dauer. Ihre Miene legt sich in Falten, kräuselt sich und verwandelt sich in einen merkwürdig geformten Kopf und ein Antlitz, das sich ständig zu verändern scheint. Wie angewurzelt stehe ich am Ufer. Ich bin nicht in der Lage, mich zu bewegen. Namenloser Schrecken hat mich gepackt.

»Ihr weist mich immer noch zurück, Mistress?« Die Stimme, die ich einstmals aus Sonias Mund vernommen habe, als sie versuchte, mit meinem toten Vater Kontakt aufzunehmen, ist unverkennbar. Beängstigend. Unnatürlich. Sie gehört nicht in diese Welt. In keine Welt. »Ihr könnt mir nicht entkommen. Es gibt kein Versteck. Keine Zuflucht. Keinen Frieden«, sagt Samael.

Er erhebt sich aus der Hocke, streckt sich in die Höhe, zweimal so groß wie ein sterblicher Mann. Sein Körper ist mächtig. Ich habe das Gefühl, dass er mit einem Sprung über den Fluss setzen und mir an die Kehle gehen könnte, wenn er wollte. Eine Bewegung hinter ihm erregt meine Aufmerksamkeit, und ich erhasche einen flüchtigen Blick auf die glänzenden, ebenholzfarbenen Flügel, die zusammengefaltet auf seinem Rücken liegen.

Und jetzt schiebt sich ein schier übermächtiges Verlangen über meine Furcht. Eine Sehnsucht, die mich wünschen lässt, den Fluss zu überqueren und mich in diese weichen, fedrigen Flügel einzuhüllen. Der Herzschlag ist zunächst ganz leise, ganz schwach. Dann wird er stärker. Poch-poch. Poch-poch. Poch-poch. Ich erinnere mich an ihn. Ich habe ihn schon einmal gehört, als ich mit den Schwingen reiste und Samael begegnete. Und wieder einmal erfüllt es mich mit Entsetzen, dass mein Herz im Rhythmus des seinen schlägt.

Ich trete einen Schritt zurück. Mein ganzes Sein befiehlt mir zu fliehen. Aber ich wage es nicht, mich von ihm abzuwenden. Stattdessen gehe ich ein paar Meter rückwärts, den Blick fest auf die wandelbare Maske seines Gesichts gerichtet. Manchmal ist er so schön wie der schönste Mann. Und dann verändert er sich und wird zu der Kreatur, die er ist.

Samael. Das Untier.

»Öffnet das Tor, Mistress, wie es Eure Pflicht ist und Euer Wunsch. Eurer Weigerung folgen unweigerlich Leid und Qual.« Die kehlige Stimme klingt nicht vom jenseitigen Ufer, sondern ist in meinem Gedanken, als ob seine Worte die meinen wären.

Ich schüttele den Kopf. Ich muss alle Kraft aufwenden, die ich in mir habe, um ihm den Rücken zu kehren. Aber ich tue es. Ich drehe mich um und renne los, breche durch die Baumlinie am Flussufer, obwohl ich keine Ahnung habe, wohin ich mich wenden soll. Sein Gelächter schießt durch die Bäume wie ein lebendiges Wesen. Als ob es mich jagen würde.

Ich will es nicht hören. Zweige und Äste schlagen gegen meinen Körper und mein Gesicht. Ich renne, will aus diesem Traum aufwachen, will diese Reise beenden. Aber mir bleibt keine Zeit zu überlegen, wie ich das anstellen soll. Mein Fuß bleibt an einer Wurzel hängen und ich falle hin, schlage mit voller Wucht auf, sodass mir schwarz vor Augen wird. Ich stoße mich mit beiden Händen vom Boden ab, versuche, wieder auf die Füße zu kommen, will weiterrennen. Aber da fühle ich, wie mich eine Hand an der Schulter packt.

Und eine Stimme zischt: »Öffnet das Tor.«

Ich sitze aufrecht im Bett. Der Schweiß hat meine Nackenhaare durchfeuchtet und ich unterdrücke einen Schrei.

Mein Atem kommt stoßweise; mein Herz hämmert gegen meine Brust, als würde es immer noch mit seinem im Einklang schlagen. Selbst das Licht, das durch einen Spalt zwischen den Vorhängen fällt, kann den Schrecken nicht besänftigen, den mein Traum hinterlassen hat. Ich warte ein paar Minuten, rede mir ein, dass es wahrhaftig nur ein Traum war. Wieder und wieder sage ich mir: Es war nur ein Traum. Bis ich es glaube.

Dann sehe ich das Blut auf meinem Kissen.

Meine Hand fährt zu meinem Gesicht. Ich berühre mit den Fingerspitzen meine Wange. Als ich sie zurückziehe, weiß ich natürlich schon, was das bedeutet: Der rote Fleck spricht nur die Wahrheit.

Ich stehe auf und gehe zu der Frisierkommode, auf der unzählige Tiegel und Töpfchen mit Cremes und Puder stehen. Ich erkenne das Mädchen im Spiegel kaum. Ihr Haar ist zerzaust und ihre Augen erzählen von etwas Dunklem, Beängstigendem.

Die Schramme auf meiner Wange ist nicht tief, aber sie spricht Bände. Ich starre auf das Blut, das mein Gesicht befleckt, und denke an die Zweige und Äste, die mir das Antlitz zerkratzten, als ich vor Samael floh.

Ich will leugnen, dass ich ungewollt – und allein – mit den Schwingen reiste. Sonia und ich haben beschlossen, dass dergleichen nicht klug wäre, trotz meiner wachsenden Macht und Stärke. Es spielt keine Rolle, dass ich mittlerweile Sonia in den Schatten stelle, denn eins ist sicher: Meine erblühenden Fähigkeiten sind nichts im Vergleich zum Willen und der Macht der Seelen – oder der Stärke meiner Schwester.

2

Ich ziehe die Bogensehne zurück und halte sie eine Sekunde lang gespannt, ehe ich den Pfeil abschieße. Er saust durch die Luft und landet mit einem scharfen Knall hundert Fuß weit entfernt auf der Zielscheibe.

»Du hast genau ins Schwarze getroffen!«, ruft Sonia aus. »Und das auf diese Entfernung.«

Ich schaue zu ihr hin und grinse, wobei ich an meine anfänglichen Versuche im Bogenschießen denken muss, als ich das Ziel nicht einmal auf fünfundzwanzig Fuß treffen konnte, obwohl mir Mr Flannigan, der Ire, der uns unterrichtet, nach Leibeskräften half. Jetzt trage ich Männerhosen und schieße so sicher, als ob ich mein Leben lang nichts anderes getan hätte. Erregung und Stolz fluten zu gleichen Teilen durch meinen Körper.

Und doch kann ich mich heute nicht wirklich an meiner Fähigkeit erfreuen. Immerhin ist es meine Schwester, die ich damit bezwingen will. Und wer weiß – vielleicht muss ich eines Tages meinen Pfeil tatsächlich auf sie richten. Nach allem, was passiert ist, sollte ich vermutlich froh sein, sie zu Fall bringen zu können, aber wenn es um Alice geht, sind meine Gefühle kompliziert. Mein Herz ringt mit einer verschlungenen Mischung aus Wut und Trauer, Bitterkeit und Bedauern.

»Versuch du es.« Ich lächele und lasse meine Stimme bewusst fröhlich klingen, während ich Sonia ermutige, ebenfalls auf die alte, abgenutzte Zielscheibe anzulegen. Aber wir beide wissen, wie unwahrscheinlich es ist, dass sie treffen wird. Sonias Gabe beschränkt sich auf die Fähigkeit, mit den Toten zu sprechen und mit den Schwingen zu reisen. Beim Bogenschießen versagt sie kläglich.

Während sie den Bogen an ihre schmale Schulter hebt, verdreht sie die Augen. Diese scheinbar unbedeutende Geste bringt mich zum Lächeln, denn es ist noch gar nicht so lange her, dass meiner ernsthaften Freundin jede Form von leichtherzigem Humor fremd war.

Sonia legt den Pfeil an und spannt die Sehne. Ihre Arme zittern vor Anstrengung. Als sie die Sehne loslässt, taumelt der Pfeil durch die Luft und sinkt ein paar Fuß vor der Zielscheibe lautlos ins Gras.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!