Die siebte Farbe des Regenbogens - Janila Fuchs - E-Book

Die siebte Farbe des Regenbogens E-Book

Janila Fuchs

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Beschreibung

Wenn die Liebe den Tod berührt. Ellas größter Albtraum wird wahr, als ihr bester Freund Nick plötzlich spurlos verschwindet. Auf der Suche nach ihm gelangt sie in eine farblose Traumwelt und kommt den dunklen Schatten seiner Vergangenheit auf die Spur. Als Ella dort dem Tod persönlich begegnet, stellt dieser sie vor die Wahl: Entweder sie rettet ihr eigenes Leben oder das ihres Freundes. Im Kampf um eine gemeinsame Welt muss Ella ausgerechnet demjenigen blind vertrauen, der sie verlassen wollte – Nick. Sieben Prüfungen erwarten sie. Sieben Farben, die verloren scheinen. Doch nur die siebte ist es, die am Ende zählt.

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Inhaltsverzeichnis

Impressum

Abschied

(K)ein Date

Verschwunden

Fussspuren

Familie

Blutsvertrag

Das Ferienhaus

Flieder

Geschenke

Unter der Erde

Vertrauen

Der See

Damals und heute

Lagerfeuer

Von Bäumen umzingelt

Hoffnung

Wildschweinrennen

Missverständnisse

Die Seelensteine

Zuhause

Scherben

Fremde Erinnerungen

Der Plan

Die siebte Farbe des Regenbogens

Neues Leben

Epilog

Danksagung

Die Autorin

GedankenReich Verlag

N. Reichow

Neumarkstraße 31

44359 Dortmund

www.gedankenreich-verlag.de

DIE SIEBTE FARBE DES REGENBOGENS

Text © Janila Fuchs, 2023

Cover & Umschlaggestaltung: Phantasmal Image

Lektorat/Korrektorat: A.C. LoClair

Satz & Layout: Phantasmal Image

Innengrafiken © shutterstock

eBook: Grit Bomhauer

ISBN 978-3-98792-071-4

© GedankenReich Verlag, 2023

Alle Rechte vorbehalten.

Dies ist eine fiktive Geschichte.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Triggerwarnung

(enthält Spoiler)

Dieses Buch beschäftigt sich explizit mit dem Thema Suizid und beschreibt am Rande auch Selbstverletzung, Depression und Tod.

Eventuell können die Inhalte für Leser mit bestimmter Lebensgeschichte ungeeignet sein.

Manche Dinge können nicht,

ohne ihr Gegenstück existieren.

Es kann kein Glück geben ohne die Trauer.

Keinen Anfang ohne das Ende.

Es gäbe kein Licht ohne die Dunkelheit.

Keine Wahrheit ohne Lügen.

Es gäbe kein Leben ohne den Tod.

Doch was liegt in der Mitte

dieser beiden Gegensätze?

Beim letzten Atemzug eines Menschen

begibt sich seine Seele in eine Welt voller Erinnerungen,

welche ihr die Chance bietet,

Dinge nachzuholen, die sie im Leben versäumt hat.

Um wahre Heilung zu finden,

muss sie Prüfungen bestehen

und sich ihren Ängsten stellen.

Über diese Welten wacht ein Wesen,

das älter ist als die Zeit.

Es hat viele Namen,

doch die meisten nennen es

schlicht den Tod.

Meine Nasenspitze berührte beinahe die Fensterscheibe, während ich von draußen beobachtete, wie die Schüler im Speisesaal ihre Tabletts wegbrachten. Als das Glas unter meinem warmen Atem beschlug, trat ich einen Schritt zur Seite, um wieder etwas zu sehen. Dabei widerstand ich dem Drang, ein Herz auf die Scheibe zu malen.

Wo bleibst du, Nick?

Normalerweise trafen wir uns vor Unterrichtsbeginn an unserer Bank auf dem Schulhof und gingen gemeinsam zum Klassenraum. Dort war er aber nicht aufgekreuzt.

Mein Handy vibrierte, und ich zog es aus der Hosentasche. Ich hoffte auf eine Nachricht von ihm, doch es war nur eine Mail der Internatsbibliothek, in der sie sich für die Vormerkung eines Buches bedankte. Seit einer gefühlten Ewigkeit wollte ich es lesen, aber es war andauernd vergriffen.

Meine Finger waren eiskalt, trotzdem zögerte ich, bevor ich das Handy zurücksteckte. Noch immer kein Lebenszeichen meines besten Freunds.

Ich begann unter dem dünnen Mantel zu zittern und entschied, mich durch die Schülerscharen zu kämpfen, die auf dem Weg zur ersten Stunde aus dem Speisesaal strömten. Der Frühling war bereits angebrochen, doch die morgendlichen Temperaturen machten eine Jacke unverzichtbar.

Als ich endlich im Inneren des Saales stand, konnte ich Nick nirgends entdecken. Der Raum war nicht groß, aber die engen Tischreihen und das Gedränge meiner Mitschüler erschwerten die Suche.

»Ella, junge Dame, seit wann frühstückst du im Internat?«

Ich wandte mich um und spürte, wie mir die Röte in die Wangen schoss, weil ich meinem Literaturlehrer Herrn Redlich direkt gegenüberstand. Dabei hätte mir das ›junge Dame‹ verraten müssen, dass er es war, der mich ertappt hatte. Kein anderer sprach so hochtrabend wie der verhassteste Lehrer der ganzen Schule.

Wieso ausgerechnet er und warum jetzt?

Nur Schüler, die im Internat wohnten, durften sich um diese Zeit hier aufhalten. Einer Tagesschülerin wie mir war das erst ab der Mittagspause erlaubt.

»Gefrühstückt hab ich zu Hause. Ich bin auf der Suche nach einem Freund«, antwortete ich.

Sein Blick verriet mir, dass er wusste, von wem ich sprach. Die ausgeprägten Falten auf seiner Stirn vertieften sich noch mehr. Die Brille war ihm bis zur Nasenspitze gerutscht, sodass er mich über den breiten Rand hinweg musterte.

»Dann richte deinem Freund aus, dass es eng für ihn wird«, sagte er.

Nick war bei den Lehrern nicht sonderlich beliebt, erst recht nicht bei unserem Literaturlehrer und ich wurde das ungute Gefühl nicht los, dass es dieses Mal etwas Ernstes war.

Ohne meine Antwort abzuwarten, verabschiedete sich Herr Redlich mit einem Nicken. »Wir sehen uns im Klassenzimmer.«

Ich wartete, bis er um die Ecke bog, dann schnappte ich mir ein Brötchen vom Buffet, schnitt es auf und belegte es mit vier Scheiben Salami. Für einen kurzen Moment genoss ich den Duft von warmem Gebäck, dann wickelte ich es in eine Serviette. Gerade wollte ich mich auf den Weg zum Wohntrakt machen, da hörte ich wieder eine Stimme und fuhr herum. Dieses Mal war sie eindeutig weiblich.

»Was meinst du, Lotta? Ist das Mundraub oder Diebstahl?«, fragte die Stimme.

»Ich weiß nicht, Charlotte. Aber lass die arme Ella doch. Bestimmt kann die sich kein Frühstück leisten«, antwortete eine andere.

Die beiden Oberzicken aus meinem Biokurs hatten mir gerade noch gefehlt. Im Geheimen nannte ich sie ›das doppelte Lottchen‹, obwohl sie eigentlich keine Zwillinge waren. Dafür trugen sie gern die gleiche Kleidung und man traf selten eine von beiden allein an.

»Das ist für Nick. Er hat verschlafen.« Die Worte rutschten mir heraus und ich bereute sie sofort.

Der Gedanke daran, das doppelte Lottchen könnte ihn beim Rektor verpfeifen, beschleunigte meinen Puls.

Lotta setzte ein verträumtes Grinsen auf.

Sie war hübsch mit ihrem blonden, langen Haar und den großen blauen Augen. Aber ich glaubte nicht, dass sie für Nick interessant sein würde. Genau genommen hatte er sich im ganzen Jahr, seit er das Internat besuchte, bisher für keines der Mädchen interessiert, die bei ihm Schlange standen.

»Nenn uns einen Grund, warum wir das für uns behalten sollten!« Charlotte schien im Gegensatz zu ihrer besten Freundin einen klaren Verstand zu besitzen.

Mit den vielen Sommersprossen im Gesicht und der Hornbrille auf der Nase sah sie nicht so makellos aus wie Lotta. Dafür hatte sie wesentlich mehr Grips.

Tja, warum sollten sie das tun? Um ein einziges Mal nett zu sein?

Doch diese Antwort würde sie nicht zufriedenstellen und mir lief die Zeit davon. Nur noch zehn Minuten, bis wir auf unseren Plätzen sitzen mussten.

»Weil ich euer Bioreferat übernehme.« Ich biss mir auf die Zunge. Doch es war zu spät. Toll gemacht, Ella.

Charlotte nickte. »Abgemacht. Wir haben das Thema Wildschweine. Gib dir Mühe!«

Bevor ich etwas erwidern konnte, zog sie Lotta hinter sich her, die noch immer verträumt durch die Gegend guckte.

Das hatte ich nun davon.

Einen sinnlosen Nachmittag, an dem ich Informationen über Wildschweine sammeln musste. Unsere Biologielehrerin war nicht sonderlich kreativ, wenn es um Referatsthemen ging. Dass wir in der Oberstufe waren, schien sie ebenfalls nicht zu interessieren.

In meiner Hosentasche vibrierte es erneut und ich zog das Handy heraus. Dieses Mal war es eine Nachricht von Nick. Immerhin war er mittlerweile aufgewacht.

Mist, hab verschlafen. Geh schon mal vor!

Ich schüttelte den Kopf. Nein, zuerst würde ich ihm sein Frühstück vorbeibringen.

Auf dem Weg zu den Schlafräumen kamen mir einige Schüler entgegen. Eigentlich hatte ich hier keinen Zutritt, doch im morgendlichen Durcheinander fiel es nicht auf, wenn ich mich zu Nick schlich.

Auf das Klopfen verzichtete ich und trat ins Zimmer. Als ich meinen besten Freund sah, der sich gerade umzog und daher mit freiem Oberkörper im Raum stand, hielt ich mir schnell das eingewickelte Brötchen vors Gesicht. Der Anblick seiner sehnigen Oberarme und der schmalen Taille war mir nicht entgangen.

Ich schluckte und beschloss, beim nächsten Mal zu klopfen.

»Was machst du denn hier?« Seine Stimme klang erfreut.

Sein Frühstück versperrte mir noch immer die Sicht auf ihn. Ich streckte ihm das Salamibrötchen entgegen und legte mir stattdessen die freie Hand vors Gesicht.

Nick lachte. »Du kannst wieder gucken.«

Zuerst spreizte ich die Finger ein wenig, dann nahm ich die ganze Hand von den Augen und reichte ihm das eingewickelte Päckchen. Mittlerweile hatte er sich ein rot kariertes T-Shirt übergezogen. Auf seiner blassen Haut leuchtete es geradezu.

»Weckt Jonas dich nicht, wenn er zum Unterricht geht?«, fragte ich. Nicks Zimmergenosse war im Gegensatz zu ihm meist pünktlich.

»Manchmal. Dann drehe ich mich um und penn weiter.«

Er nahm mir sein Frühstück aus der Hand und schloss mich in eine kurze Umarmung. »Denkst du etwa, ich würde ohne dich verhungern?«

Zur Antwort streckte ich ihm die Zunge raus. »Gern geschehen.«

Er wickelte das Brötchen aus und biss einmal hinein, dann verstaute er es in seinem Rucksack.

»Wenn du schon mal hier bist, kann ich es dir direkt geben«, murmelte er in seine Tasche hinein, zog einen in Seidenpapier verpackten Gegenstand heraus und reichte ihn mir.

Mit großen Augen wickelte ich das Geschenk aus und erkannte sofort, worum es sich handelte.

»Wo hast du das her?«, fragte ich ehrfürchtig.

Es war das Buch, das ich am Morgen vorgemerkt hatte. Nick antwortete nicht auf meine Frage, sondern zwinkerte mir zu.

»Ohne wärst du nicht mehr zu ertragen.«

Ich verdrehte die Augen und hätte ihm am liebsten einen Schlag auf den Arm verpasst. Wie ich es hasste, wenn er mich damit aufzog. Doch der Geruch nach frisch bedrucktem Papier löste meinen Ärger rasch auf. Vorsichtig blätterte ich auf die erste Seite und entdeckte die handschriftliche Zeile.

›Für Miss Bücherwurm‹.

»Danke«, hauchte ich, und Tränen stiegen mir in die Augen. Es war mir peinlich, daher drückte ich wie zum Schutz den lang ersehnten Schmöker an die Brust. »Mein Geburtstag war doch erst letzte Woche.«

In Gedanken war ich bei dem hübschen Lesebändchen, das er mir zu diesem Anlass geschenkt hatte.

»Dann kannst du dein Geschenk wenigstens richtig einweihen«, erwiderte er und stieß seine Zimmertür auf.

Natürlich hatte ich das längst, aber das sagte ich nicht. Gerade wollte ich mein neues Buch in den Rucksack gleiten lassen, da hörte ich den Gong, der den Unterrichtsbeginn ankündigte.

So ein Mist.

Die Drohung von Herrn Redlich hatte ich völlig verdrängt.

»Wir müssen los!«, rief ich und trat auf den Flur.

Nicks langsame Bewegungen nervten tierisch.

»Ja ja, immer mit der Ruhe. Fünf Minuten Verspätung bringen keinen um.«

Ich hielt inne und betrachtete meinen besten Freund genau. »Herr Redlich hat mich vorhin im Speisesaal erwischt. Er sagte, dass es eng wird bei dir. Wie meinte er das?«

Nick strich sich ein paar hellblonde Haarsträhnen aus der Stirn. Die braunen Augen, die dahinter zum Vorschein kamen, erinnerten mich an flüssige Schokolade und sandten ein wohliges Kribbeln in meinen Bauch. So ehrlich und vertraut war ihr Ausdruck, dass ich ihm alles geglaubt hätte.

»Das Übliche. Zuspätkommen, keine Hausaufgaben …« Er zuckte mit den Schultern. »Einige Lehrer haben es auf mich abgesehen.«

Das stimmte. Sie schienen strenger mit ihm zu sein als mit unseren Mitschülern. Aber das war mit Sicherheit nicht alles.

»Sag’s mir!«, bat ich.

Er ließ seinen Blick umherwandern und vermied, mich anzusehen. »Es könnte sein, dass meine Eltern einen Brief bekommen haben. Vielleicht auch zwei. Ich glaub, darin stand was von drohender Suspendierung.«

O Gott.

Plötzlich schlug mein Herz wie wild in der Brust. Das durfte nicht sein. Wenn sie Nick vom Internat schmissen, würde ich das nicht überleben.

»Dann mal schnell«, sagte ich, statt meine Sorgen mit ihm zu teilen.

Mit geschulterten Rucksäcken folgten wir den vereinzelten Nachzüglern im Laufschritt zu den Klassenräumen.

Ich wusste, dass Nick selten pünktlich zum Unterricht kam, Lehrern widersprach und seine Aufgaben nicht erledigte, doch dass es so ernst war, hatte ich nicht geahnt. Wieso hatte er mir nicht früher davon erzählt? Immerhin waren wir beste Freunde, obwohl ich nicht einmal wusste, warum. Nick konnte ohne Probleme bei jeder Schülergruppe Anschluss finden. Mich dagegen mieden die meisten. Es gab nicht viele Tagesschüler, und ich war die Einzige, deren Familie eigentlich nicht genug Geld besaß, um sich den monatlichen Beitrag leisten zu können. Nick war so etwas nicht wichtig.

»Fast vergessen«, sagte er und hielt mir einen Arm vor die Brust, damit ich stehen blieb.

Wir standen vor dem Klassenraum, den Herr Redlich erwartungsgemäß bereits betreten hatte.

»Hat das nicht bis zur Pause Zeit?«

Ich wollte nicht zu spät kommen und gerade er sollte sich endlich zusammenreißen. Das Risiko war zu groß.

»Nee, dann werde ich abgeholt.«

»Abgeholt?«, hakte ich nach.

»Ja, von meinem Vater. Wir müssen unseren Serienabend verschieben.«

Das fiel ihm aber früh ein. Ich konnte kaum glauben, dass er unser Treffen vergessen hatte. Wieso hatte er mir nicht eher davon erzählt? Für die Samstagabende war Netflix bei mir zu Hause fest eingeplant. Normalerweise verbrachte er seine Wochenenden im Internat und fuhr nur selten weg, um seine Familie zu besuchen.

»Wann bist du denn zurück?«, fragte ich.

»Sonntag. Ich kann abends zu dir kommen.«

»Aber meine Mutter …«

Es war Herr Redlich, der unser Gespräch unterbrach. »Dürfte ich die Herrschaften bitten? Ich möchte mit dem Unterricht beginnen!«

»Ja gern, sehr freundlich von Ihnen.«

Nick schlenderte selbstbewusst in den Raum, während ich mein Gesicht hinter ihm verbarg. Dass alle Augen auf uns gerichtet waren, trieb mir Hitze in die Wangen.

»Du sollst doch nicht vor dem Unterricht mit Mädchen rummachen«, zog Jonas ihn auf.

»Dabei machen verbotene Dinge so viel Spaß«, erwiderte Nick mit einem Augenzwinkern.

Ein paar Schüler lachten.

Ich blickte zu meinen Schuhen, erkannte jedoch anhand ihrer Stimmen, wer es war. Am liebsten wäre ich auf der Stelle von einem riesigen Loch im Klassenraum verschluckt worden.

Seit Nick und ich befreundet waren, konnten mich die Mädchen in unserer Stufe noch weniger leiden, denn nun hatten sie einen Grund dafür. Ihre verhassten Blicke brannten auf meiner Haut, während ich mir den schmachtenden Ausdruck in ihren Augen ausmalte, den sie meinem besten Freund zuwarfen.

Das waren wir – Freunde.

Auch wenn ich seine Sprüche manchmal nicht ausstehen konnte.

»Junger Mann, der Direktor wird sich sicher für den Mädchenbesuch auf deinem Zimmer interessieren«, sagte unser Lehrer, nachdem wir uns hingesetzt hatten und Ruhe eingekehrt war. Dabei schrieb er etwas in sein Notizbuch.

Nick und ich tauschten Blicke aus.

Das war ordentlich schiefgelaufen. Wenn er wegen mir von der Schule flog, könnte ich mir das niemals verzeihen.

»Dann Sonntagabend bei dir um sieben.« Nick hatte bereits den Koffer in seiner Hand. Wir standen am Rand des kleinen Wäldchens, das ans Internat grenzte.

»Hast du nicht noch fünf Minuten?«, fragte ich.

Dass er ging, fühlte sich seltsam an.

Mit einem Blick auf die Uhr an seinem Handgelenk nickte er und setzte sich neben mich auf eine Bank, die ich gerne als unsere bezeichnete. Sie war ein geheimer Treffpunkt, den nur wir kannten. Hier, an den Rand des Schulhofs, verirrten sich die anderen Schüler so gut wie nie.

»Was ist los, Ella?«

War es derart offensichtlich, dass mir etwas auf dem Herzen lag?

Ich blickte ihm in die schokoladenbraunen Augen, die im Licht der reflektierenden Sonne heller wirkten, ihre Farbe wie die von Haselnüssen. Obwohl er mich mit ehrlichem Blick musterte, ahnte ich, dass es einiges in seiner Vergangenheit gab, von dem ich nichts wusste. Dennoch hatte ich mich von unserer ersten Begegnung vor einem Jahr an in seinen Augen verloren. Es fühlte sich an, als könnte er mir mit ihnen tief in die Seele blicken.

»Nichts, alles ist gut«, winkte ich ab. »Wie kommt es, dass du dieses Wochenende zu deinen Eltern fährst?«

Sofort bereute ich, ihn danach gefragt zu haben.

Nicks Kiefer spannten sich an, und es trat ein trauriger Ausdruck in seine Züge, der den Impuls in mir auslöste, ihm über die Wange zu streichen. Wenn er mir nur endlich erzählen würde, was ihn belastete.

Stattdessen wich er meinem Blick aus und sah hinunter aufs Karomuster seines Shirts. »Wenn ich wiederkomme, werde ich dir alles erklären.«

Ich zog eine Augenbraue hoch. Ein solches Versprechen hatte er mir zu oft gegeben, doch als er mich wieder ansah, wollte ich glauben, dass er es ernst meinte.

Ich berührte seinen Arm. »Was mache ich denn zwei Tage ohne dich?«

Vielleicht könnte ich eine alte Freundin anrufen, die vor drei Jahren das Internat gewechselt hatte, um mich mit ihr zu verabreden. Damals hatte uns nichts voneinander trennen können, doch sobald sie fortgezogen war, blieben mir bloß die Bücher. Doch ich verwarf den Gedanken sogleich. Nicht einmal an meinen Geburtstag hatte sie dieses Jahr gedacht.

»Du hast doch was zum Lesen.« Nick strich mir beiläufig über die Hand, die noch auf seinem Arm ruhte. »Außerdem musst du dich mal um deine Mutter kümmern. Sie vermisst ihre Tochter.«

Stimmte das? Sie war diejenige, die ohne Ende Schichten schob. Andererseits fand ich am Wochenende regelmäßig Ausreden, um Zeit mit Nick verbringen zu können, weswegen es mit gemeinsamen Aktivitäten nie klappte.

Also nickte ich. Er hatte recht.

»Dann sehen wir uns Sonntag. Du weißt ja, wo du den Schlüssel für die Haustür findest.«

Lächelnd zog er mich in eine feste Umarmung. Mein Puls setzte für zwei Schläge aus und ich atmete den vertrauten Duft von Apfelshampoo ein.

Es war nichts Neues, dass ich mich in seinen Armen wiederfand – und trotzdem fühlte es sich anders an.

Der Weg durch das Waldstück bis zu unserem Haus war nicht weit. Zum Glück waren die Schulden beglichen worden, bevor mein Vater uns verlassen hatte. So konnte ich das nahe gelegene Internat besuchen.

Mein Blick schweifte an den Laubbäumen entlang und blieb an einem Rotkehlchen hängen. Es beobachtete mich aufmerksam und zauberte mir mit seinem schief gelegten Köpfchen ein Lächeln auf die Lippen. Es gab für mich kaum etwas Schöneres als die Tiere und Ruhe dieses Waldstücks.

Der Kiesweg, der unter meinen Schuhen knirschte, führte bis zum niedrigen Gartenzaun, der unser Haus umgab. Ich kramte nach dem Schlüssel. In diesen Bereich des Waldes verirrte sich zwar selten jemand, doch meine Mutter bestand darauf, selbst diese Tür verschlossen zu halten.

In meinen Augen war das eine maßlose Übertreibung. Wenn jemand einbrechen wollte, könnte er problemlos über den Holzzaun klettern. Mama zuliebe hielt ich mich an die Vorschrift, weil ich wusste, wie wichtig sie ihr war.

Glücklicherweise ahnte sie nicht, dass Nick das Versteck für den Zweitschlüssel kannte. Sollte sie jemals davon erfahren, dass er mich besuchte, würde sie ausflippen.

Schlimmer noch – wahrscheinlich müsste ich mir in diesem Fall ein neues Zuhause suchen.

Aus dem Postkasten zog ich einige Briefe heraus, die an meine Mutter adressiert waren. Nachdem ich durch die Haustür getreten war, ließ ich die Umschläge auf die kleine Kommode im Eingangsbereich fallen und stellte meine Schuhe darunter. Einer der Briefe war vom Jugendamt. Bestimmt wieder irgendetwas wegen des Sorgerechts. Zu gern hätte ich den Umschlag geöffnet. Auf die anschließende Diskussion mit meiner Mutter hatte ich jedoch keine Lust, daher ließ ich es bleiben.

Beim Anblick der Küche seufzte ich laut, denn auf dem Rand der Spüle standen die Teller und Tassen kreuz und quer. Dabei hatte Mama versprochen, den Abwasch vor der Arbeit zu erledigen. Das blieb nun an mir hängen. Meine Tasche ließ ich auf einen der Stühle am Esstisch fallen, die Jacke zog ich nicht einmal aus.

Gerade als ich mit der Arbeit loslegen wollte, hörte ich die Haustür, gefolgt von lauten Absatzgeräuschen auf den Fliesen im Flur. Meine Mutter hasste die Pumps und trug sie daher nur bei der Arbeit. Entsprechend waren sie das Erste, was sie auszog, sobald sie ins Haus kam. Auf Strümpfen erschien sie einen Moment später in der Küche.

»Hey Maus. Du bist ja schon von der Schule zurück.« Sie lockerte ihr Haar, das zu einem strengen Zopf zusammengebunden war.

Ihr Blick fiel auf das Spülbecken, in welches heißes Wasser lief.

»Ach, Süße, du brauchst doch nicht zu spülen. Tut mir leid, dass ich es nicht mehr geschafft habe. Ich hab erst später mit dir gerechnet.«

Normalerweise verbrachten Nick und ich den Nachmittag miteinander, daher war ich heute früher zu Hause.

»Schon gut«, antwortete ich in der Hoffnung, das Thema damit zu beenden.

Mama dachte, ich nähme am Freizeitprogramm des Internats teil, während ich mich in Wahrheit heimlich mit Nick traf.

»Du spülst schließlich den halben Tag und sollst die nächsten paar Wochen etwas runterfahren.«

Mein Ablenkungsmanöver schien zu funktionieren, denn sie lachte und strich mir liebevoll durchs Haar, welches dunkler war als ihr eigenes – beinahe schwarz.

»Man sollte meinen, dass eine Chefin anderes zu tun hätte, als zu spülen.«

Doch leider war dem nicht so. Sie führte eine Bar im Kino und konnte uns durch die hohe Stundenzahl einen guten Lebensstandard ermöglichen. Nachdem ihre Migräneanfälle vor einigen Monaten stetig zugenommen hatten, hatte sie beschlossen, kürzer zu treten. Seither gehörten uns zumindest der Freitagabend und der gesamte Sonntag.

»Ich werde die Küche übernehmen. Du erledigst in der Zeit deine Schulaufgaben, und dann treffen wir uns auf der Couch zu unserem Serienmarathon. Zweimal Pizza Salami?«

Das klang nach einem Plan. Ich nickte und machte mich auf den Weg zu meinem Zimmer. Im Hinausgehen fiel mir der Brief ein, auf den ich vorhin einen Blick geworfen hatte.

»Das Jugendamt schreibt. Gibt es Probleme mit meinem Vater?«

Die Leichtigkeit verschwand aus ihrem Blick und die Falten um ihre Augen wirkten tiefer als sonst. Sie fuhr sich mehrmals durch die Haare, die ihr in Wellen auf die Schultern fielen. Konzentriert auf den Abwasch tat sie, als hätte sie meine Frage überhört. Doch so einfach ließ ich mich nicht abwimmeln.

»Nächstes Jahr werde ich achtzehn. Dann ist das alles sowieso vorbei«, sagte ich.

Ihre Schultern sackten hinab und sie drehte sich zu mir um. Am liebsten hätte ich sie in diesem Moment einfach in die Arme genommen, doch die plötzliche Wut hielt mich davon ab. Ich hatte ein Recht darauf, von meinem Vater zu erfahren.

»Du weißt genau, dass ich über dieses Thema nicht reden möchte. Es ist fünfzehn Jahre her, und trotzdem verfolgt es mich noch. Vor allem will ich dich nicht damit belasten, Ella. Er hat so viel kaputt gemacht. Du wirst nicht den gleichen Fehler machen wie ich. Wenn du dir keinen Kerl anlachst, wirst du ein besseres Leben haben.«

Ich hätte sie nicht darauf ansprechen sollen. Nicht, dass ich vorhatte, mir irgendeinen Typen anzulachen. Es gab keinen, der mich interessierte. Doch ihre Vorträge ertrug ich nicht. Manchmal gab sie mir das Gefühl, sie wäre ohne mich besser dran, obwohl ich wusste, dass sie es nicht so meinte. Meine Treffen mit Nick würde sie allerdings genauso wenig akzeptieren.

»Keine Sorge, ich werde mir deine Worte zu Herzen nehmen.«

Na ja, zumindest teilweise.

Schließlich stand am Wochenende männlicher Besuch an und dafür musste ich Mama Sonntag aus dem Haus kriegen. Dies war der perfekte Zeitpunkt, meinen Plan in die Tat umzusetzen.

»Morgen Abend gibt es eine Theateraufführung an der Schule. Kannst du deine Schicht tauschen, damit wir zusammen dorthin können?«

Sie sah mich mit diesem gequälten Blick an, den sie immer bekam, wenn sie ein schlechtes Gewissen hatte. Wenn sie Ja sagen wollte, aber Nein sagen musste. Jetzt war ich allerdings auf ihre Zustimmung angewiesen, denn sonst könnte ich den Serienabend mit Nick vergessen. Dann wäre sie am Sonntagabend zu Hause.

»Wieso kommst du so plötzlich damit? Du weißt doch, dass ich planen muss.«

Weil ich erst heute erfahren habe, dass mein bester Freund nicht wie üblich am Samstagabend vorbeikommen kann.

»Es war eine spontane Idee von mir, dort mitzumachen.«

Und wie spontan diese Idee war. Ich musste mir schnellstens überlegen, wie ich dafür sorgen konnte, bei der Aufführung dabei zu sein.

»Ich rufe meinen Kollegen später an«, gab sie endlich nach.

Das war der ersehnte Erfolg, denn ihr Kollege würde mit Sicherheit nichts dagegen haben, mit ihr zu tauschen. Schließlich hatte er keine Familie und bekäme im Gegenzug einen freien Sonntag geschenkt.

»Du bist die Beste!« Ich trat auf sie zu, schloss sie in die Arme und drückte ihr einen Kuss auf die Wange.

Dann machte ich mich auf den Weg zu meinem kleinen Zimmer unterm Dach. Mein Vater hatte es ausgebaut, als Mama mit mir schwanger gewesen war. Ich erzählte nie davon, aber ich dachte oft an ihn.

Wie er jetzt wohl lebte? Hatte er eine neue Familie? Vor allem wollte ich wissen, wieso er uns verlassen hatte.

Meine Erinnerungen an ihn waren blass, wie Szenen, die man hinter einem Milchglasfenster beobachtete, durch welches die Geräusche nicht bis zu den Ohren drangen. Dennoch wusste ich, dass ich ihn einmal geliebt hatte. So, wie ein kleines Mädchen seinen Vater liebte.

Ich zog das Buch von Nick aus meinem Rucksack und strich gedankenverloren über den Einband. Wir wären bloß zwei Tage voneinander getrennt und trotzdem vermisste ich ihn bereits. Leider gab es anderes zu tun, als in meinem neuen Schmöker zu blättern. Seufzend legte ich es auf dem Nachttisch ab. Dann fuhr ich meinen Laptop hoch und ließ mich auf dem Drehstuhl nieder, um die Informationen für das Referat vom doppelten Lottchen zu recherchieren.

»Ella, bist du so weit?«

Die Stimme meiner Mutter ließ mich zusammenzucken. Ich war total ins Thema Wildschweine vertieft. Diese Tiere waren wider meiner Erwartungen total spannend. Dem Menschen sind sie in beinahe allen Disziplinen überlegen und ihre Jungen verteidigen sie bis aufs Blut.

»Ich komme!«

Den Laptop klappte ich zu, dann zog ich schnell meine Jeans aus und stattdessen die Jogginghose an. Es ging schließlich nichts über Fernsehen auf der heimischen Couch in gemütlicher Kleidung.

In dem Moment, in dem ich am unteren Treppenabsatz ankam, klingelte es an der Haustür. Sofort stürmte ich los und öffnete.

Das musste unsere Pizza sein!

Als ich die Tür aufriss, stand dort ein Kerl, der mich von oben bis unten musterte. Ich spürte, wie Röte in meine Wangen stieg. Plötzlich wäre mir die Jeans lieber.

Unverschämt lange Wimpern umrahmten hellgrüne Augen und das dunkelblonde Haar stand ihm wirr nach allen Seiten ab. Dazu dieses Grinsen, bei dem er eine seiner Augenbrauen leicht hob.

»Das macht dann zwölf Euro, Süße.«

Gott, hatte er mich wirklich so genannt? Er musste gemerkt haben, wie ich ihn anstarrte. Stand mein Mund offen? Am liebsten wäre ich im Erdboden versunken. Konnte es noch peinlicher werden, als es ohnehin schon war? Es konnte!

Meine Mutter war neben mich getreten und hielt dem Pizzaboten sein Geld hin. »Halten Sie sich von meiner Tochter fern!« Sie nahm ihm die Pizzaschachteln aus den Händen und schlug ihm die Tür vor der Nase zu.

»Musste das sein?«

Es war mir egal, dass der Typ unser Gespräch mit anhören konnte. Schlimmer ging es sowieso nicht mehr.

»Der kannte dich nicht mal. Er hat nicht das Recht, dich so zu nennen!«

Darüber ärgerte ich mich genauso wie sie. Es machte ihr Verhalten aber nicht weniger unangenehm.

»Das kann ich ihm auch selbst sagen!« Meine Stimme war fest und ich wusste, dass meine Mutter keinen Streit mit mir anfangen würde.

Sie kannte diesen Modus von mir. Ich hatte schon immer auf mich selbst aufgepasst, denn sie war ja nie da. Aber das sagte ich nicht. Ich wusste, wie groß ihr schlechtes Gewissen deswegen war. Stattdessen ging ich in die aufgeräumte Küche und schnitt die Pizza in acht Stücke. Der Geruch nach frischem Oregano ließ mich den Streit für den Moment vergessen. Mit den Tellern beladen marschierte ich ins Wohnzimmer und bereitete den Fernseher für unsere Serie vor. Mama stand stumm daneben. Es war ihr mittlerweile ebenso unangenehm.

Dafür entschuldigen würde sie sich bei mir nicht, stattdessen begann sie in dem Moment mit einem anderen Thema: »Carl ist einverstanden. Wir wechseln am Wochenende unsere Schicht.«

Ich lächelte unwillkürlich. Dem Abend mit Nick stand nichts mehr im Wege. Bis auf das flaue Gefühl in meinem Magen, das ich mir nicht erklären konnte.

Der Schein der Kerzen warf Schatten auf die Wand und ich pustete sie wieder aus.

Dein Ernst, Ella?

Kerzenschein?

Kitschiger ging es kaum.

Da öffnete sich die Zimmertür und jemand kam herein.

»Schläfst du schon, oder wieso ist es hier so dunkel?« Nicks Stimme war laut, sodass es nicht in seinem Interesse sein konnte, mich schlafen zu lassen.

Wie kam er auf so etwas?

Ich tastete nach dem Lichtschalter und stieß dabei gegen seine Brust. Der vertraute Apfelduft beendete meine Suche abrupt.

Nick schien den Moment dagegen nicht halb so sehr zu genießen wie ich. Er stöhnte auf und erhellte den Raum. Dann wanderte sein Blick zwischen den feinen Rauchfäden, die von den Kerzen aufstiegen und dem kleinen Couchtisch, den ich mit selbst gemachten Knabbereien gedeckt hatte, hin und her.

»Stromausfall? Oder wen hast du erwartet?«

Zwar war der Klang seiner Stimme neckend, doch die Worte trafen mich mitten ins Herz. Ich gab zu, dass die Kerzen übertrieben waren, aber mit dem Essen hatte ich mir wirklich Mühe gegeben.

»Jemanden mit besserer Laune«, antwortete ich daher und verschränkte die Arme vor der Brust.

Aus irgendeinem Grund machte mich der mürrische Ausdruck in Nicks Gesicht wütend.

»Sorry, hatte ein mieses Wochenende.« Mit diesen Worten ließ er sich mit schmerzerfülltem Blick aufs Sofa fallen und griff in die Schüssel mit den Chips – es war der einzige Snack, den ich lediglich aus einer Tüte geschüttet hatte.

Ich atmete tief durch und schluckte meinen Ärger hinunter, um ihn in der hintersten Ecke meines Verstandes einzusperren.

»Was ist denn passiert?«, fragte ich und setzte mich neben ihn, während ich darauf achtete, so viel Abstand wie möglich zwischen uns zu lassen.

Dafür sah ich ihm aufmerksam in die Augen, um keines der unausgesprochenen Worte zu verpassen. Es war nicht leicht, seinen Blick einzufangen, da dieser die ganze Zeit im Zimmer hin und her sprang. Als er schließlich auf mir ruhte, leuchtete er auf und wanderte kaum wahrnehmbar an meinem Körper hinab.

»Ist das Kleid neu?« Nick stellte sich die Schüssel mit den Chips auf den Schoß.

Statt mich über sein Kompliment zu freuen, klopfte die Wut an die verschlossene Tür in meinem Kopf, und es kostete Mühe, sie nicht herauszulassen.

»Du hast es versprochen.«

Wir redeten aneinander vorbei, aber ich wusste, dass er mir ohne Probleme folgen konnte. Mit seinen Fingerspitzen trommelte er eine leise Melodie gegen die Schüssel, während er meinem Blick erneut auswich.

»Es tut mir leid, aber ich kann nicht darüber reden.«

Die Tür in meinem Kopf zerbarst und alles, was ich mühevoll hatte zurückhalten wollen, brach aus mir heraus.

»Mir tut es leid, dass ich trotzdem darauf gehofft habe. Nick, du weißt alles über mich, aber ich weiß rein gar nichts über dich! So funktioniert eine Freundschaft einfach nicht. Wie soll ich dir vertrauen, wenn du mir offensichtlich nicht vertrauen kannst?«

Ich war aufgesprungen, weil das Adrenalin, das durch meine Adern schoss, mich keine Sekunde länger auf dem Platz hielt. Am liebsten hätte ich noch lauter geschrien oder irgendetwas nach ihm geworfen. Es war der verzweifelte Ausdruck in seinen Augen, der mich davon abhielt, doch er antwortete nicht. Nach allem war ich ihm keine Erklärung wert.

Mein Herz verkrampfte sich und aufsteigende Tränen schnürten mir den Hals zu, sodass ich nur mit Mühe sagen konnte: »Bitte geh.«

Nicks Augen wurden groß. Er griff nach meiner Hand, und sobald ich seine Berührung auf der Haut spürte, verschwand ein Teil der Wut. Er stand ebenfalls auf und sah mich direkt an. Mit den Fingern strich er mir eine dunkle Haarsträhne aus dem Gesicht und wischte eine Träne fort, die sich unbemerkt aus meinem Auge gestohlen hatte.

»Ich kann verstehen, dass du wütend bist.« Seine Stimme klang traurig.

Er sprach leise mit mir, ohne unseren Blickkontakt abzubrechen. Ich konnte nichts anderes tun, als das warme Braun seiner Iris anzustarren. Dieses vertraute und ehrliche Schokoladenbraun.

»Wenn es auf der Welt einen Menschen gibt, mit dem ich darüber sprechen könnte, dann bist du es, Ella. Seit Jahren war ich niemandem so nah wie dir. Aber ich kann es einfach nicht. Gerade weil du mir so wichtig bist …« Er brach ab und strich mit dem Daumen über jeden meiner Fingerknöchel.

Die Berührung sandte Wärme durch meinen Körper und verursachte ein sanftes Kribbeln. All der Ärger war mit einem Mal verschwunden, stattdessen spürte ich nur den Schmerz, der sich in Nicks Augen widerspiegelte. Tränen drohten ungehemmt aus mir herauszubrechen, als er mich in eine feste Umarmung zog. Nach einem kurzen Moment wollte ich mich befreien, etwas erwidern, doch er hielt mich noch immer. So lange, bis die Anspannung endlich nachließ.

Mein Kopf gab zuerst nach und ich lehnte mich an seine Brust.

»Danke, dass du dir so viel Mühe mit diesem Abend gemacht hast«, raunte er in mein Haar. »Das neue Kleid steht dir.«

»Danke«, murmelte ich gegen den Kloß, der mir den Hals fest verschloss.

Meine Muskeln entspannten sich mehr und mehr und kurz darauf zog Nick mich mit sich aufs Bett und nahm mich wieder in die Arme.

Ich lauschte minutenlang seinem Herzschlag und dachte nicht mehr an das, was mich zuvor so wütend gemacht hatte. Nur die Wärme seines Körpers zählte. Es war mir egal, wie viel ich wusste. Ich vertraute ihm, obwohl er mir keinen Grund dazu gab.

»Sag mal, Jonas hat mir von deinem kleinen Auftritt erzählt«, brach Nick irgendwann die angenehme Stille.

Meine Wangen wurden heiß, als ich an die peinliche Situation am Tag zuvor dachte. Da die beiden sich ein Zimmer teilten, waren sie flüchtig befreundet. So war mir die Idee gekommen, ihn darum zu bitten, mir einen Part bei der Aufführung zu geben.

»Das war nötig, damit meine Mutter ihre Schicht tauscht und keinen Verdacht schöpft«, erklärte ich.

»Was du nicht alles tust, damit du endlich die nächste Folge gucken kannst.« Er gab mich frei und zwinkerte mir zu.

Natürlich war es der einzige Grund für das alles. An Nick hatte ich dabei keine Sekunde gedacht.

Mit einem Blick auf die Uhr am Fernseher nickte ich. »Eine Folge sollten wir schaffen. Danach solltest du zurück ins Internat. Du darfst die Ausgangssperre nicht verpassen.«

Er verdrehte die Augen und ich schenkte ihm dafür einen tadelnden Blick.

Wann würde dieser Kerl endlich vernünftig werden?

Meine Schläfen pochten, als ich gegen das hereinfallende Licht blinzelte. Ich tastete unters Kopfkissen, um das Handy zu finden, dessen Weckton in meinen Ohren dröhnte.

»Mist.«

Stöhnend richtete ich mich auf und schaltete das nervige Geräusch ab. Normalerweise reichte eine sanfte Melodie, um mich aus dem leichten Schlaf in den frühen Morgenstunden zu holen, doch an der Lautstärke erkannte ich, dass ich bereits einige Male auf die Schlummertaste gedrückt haben musste. Ein Blick auf die Uhr bestätigte meine Vermutung. Es war zehn nach acht.

Dieses Mal war ich diejenige, die verschlafen hatte und verspätet zum Unterricht erscheinen würde.

Anscheinend hatte meine Mutter nicht daran gedacht, nach mir zu sehen. Wieso auch? Sie verließ sich darauf, dass ich jeden Morgen rechtzeitig aufstand. In meinem Zimmer tauchte auch kein Nick auf, der mich mit einer Tüte Brötchen begrüßte, wie ich es am Freitag für ihn getan hatte.

Der Gedanke an meinen besten Freund löste ein ungewohntes Flattern in meinem Bauch aus. Wir hatten unzählige Serienabende miteinander verbracht, aber dieses Mal hatte es sich anders angefühlt. Noch immer spürte ich seine Brust an meiner Wange, weil ich sie gestern als Kopfkissen benutzt hatte. Ich schob die wilden Gefühle und Erinnerungen an den Abend beiseite, um für Schadensbegrenzung zu sorgen.

Wir hatten montags wie freitags Literatur in der ersten Stunde und Herr Redlich würde nicht einmal für die Kursbeste eine Ausnahme machen, was seine Ansprache fürs Zuspätkommen anging. Außerdem steckte der Stick mit dem Referat für das doppelte Lottchen in meinem Rucksack. Bekämen sie es nicht, würden sie mich beim Rektor verpfeifen. Die Frage war bloß, ob die Anklage Mundraub oder Diebstahl lautete.

Mit den Fingern der einen Hand kämmte ich mein zerzaustes Haar, während ich die andere dazu nutzte, meine Schulsachen zusammenzupacken. Für ein Frühstück war keine Zeit mehr und mein Magen knurrte laut, um gegen diesen Entschluss zu protestieren.

Vielleicht hatte Nick etwas zu Essen für mich in der Tasche?

Hastig schlüpfte ich in frische Kleidung und rannte aus der Tür. Dabei machte ich mir nichts aus dem feinen Nieselregen, der von den Blättern über meinem Kopf kaum abgefedert wurde und mich durchnässte. Der Weg durch den Wald war mir vertraut und an den meisten Tagen genoss ich den Geruch von Tau und Moos genauso sehr wie den Anblick der frühen Sonnenstrahlen, die durch das Blätterdach stießen und die kleinen Wassertropfen an den Grashalmen zum Funkeln brachten.

Aber nicht heute. Ich war froh, alle Wurzeln und jede Unebenheit des Bodens so gut zu kennen, dass ich selbst im Halbschlaf und trotz des feuchten Untergrunds nicht ins Stolpern geriet, während ich den Pfad entlang hastete. Meine Schritte verlangsamte ich erst, als ich in den Schulflur bog, in dem sich die Klassenzimmer befanden. Da der Unterricht vor neunzehn Minuten begonnen hatte, waren die Türen verschlossen und mir niemand begegnet.

Zögernd hob ich eine Hand und versuchte, ruhiger zu atmen, um meinen sich überschlagenden Puls zu verlangsamen, doch es half nicht. Ich klopfte und trat ein. Auf zwanzig Paar Augen, die mich mit mitleidigen Blicken musterten, war ich gefasst. Genauso wie auf Herrn Redlich, der zu einer Standpauke ansetzte, aber was ich sah, riss mir den Boden von den Füßen. Es war Nick, dessen Haltung und Gesichtsausdruck mich vollkommen aus der Fassung brachten und meine gesamte Aufmerksamkeit für sich beanspruchte.

»Ella, es ist jetzt …« der Lehrer brach ab, weil hinter mir eine weitere Person in den Raum trat.

»Nickolas Spielmann? Kommst du bitte mit in mein Büro?«

Ohne mich umzudrehen, erkannte ich an der Stimme, dass es sich um Rektor Werner handelte. Wenn er sprach, war jeder im Raum still. Es lag an der ruhigen Autorität, die er ausstrahlte.

Ich beeilte mich, meinen Sitzplatz neben Nick zu erreichen, der sich gerade erhob und dabei meinem Blick auswich.

O Gott.

War er etwa sauer? Was war passiert, nachdem er gestern zurück zum Internat gelaufen war? Was hatte er angestellt, dass der Rektor ihn mit in sein Büro nahm?

Flüchtig sah mich Nick nun doch an und es war, als wollte er um Hilfe flehen. Seine Augen waren voller Verzweiflung, das erkannte ich sofort. Angst kroch meinen Rücken hinauf. Ich stellte mir vor, wie es wäre, ihn nicht mehr jeden Tag sehen zu können. Zwar war er gestern so lange wie möglich bei mir geblieben, müsste es aber rechtzeitig in sein Zimmer geschafft haben.