Die tote Kuh kommt morgen rein - Ralf Heimann - E-Book

Die tote Kuh kommt morgen rein E-Book

Ralf Heimann

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ein Lokalreporter erzählt Herrliche Geschichten für alle, die »Willkommen bei den Sch'tis« geliebt haben »Ein Jahr in der Provinz. Lokalredakteur in der Ödnis Borkendorf. Ich hätte mir was Besseres vorstellen können. Ein gebrochenes Bein zum Beispiel. Oder eine Steuernachzahlung. Aber man wird ja nicht gefragt.« Als seine Kollegin ein Kind bekommt, muss Ralf Heimann ihre Vertretung übernehmen. Vielleicht, weil er der Einzige ist, der ein Auto hat? Seine Freude hält sich in Grenzen. »Jetzt sind zwölf Monate lang Tauben-Ausstellungen, Schützenfest-Orgien und Landfrauen-Treffen mein trübes Schicksal.« Aber bald lernt er Land und Leute fast sogar lieben …

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 391

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Ralf Heimann

Die tote Kuh kommt morgen rein

Ein Reporter muss aufs Land

FISCHER E-Books

Inhalt

ImpressumDorkovs AnrufDie PrunksitzungHeinis WeihnachtsfeierDie gelbe ListeBei HelgaDas ParkplatzproblemDer 500. PreisflugRadio-TherapieKirmes und KrawallAuf dem SchützenfestHelga singt wiederDie BildungsoffensiveDer Live-TickerDer KuhdampferKneipensterbenDie MondzyklenÄrger mit WolleDie SchneekatastropheDer AdventskalenderAbschied aus BorkendorfNachwortDanke

Impressum

Anton Dorkov (Chefredakteur)

Anja Hagen (Leitende Redakteurin Politik)

Werner Hecker (Nachrichtenredakteur)

Gerd Ottmann (Kulturredakteur)

Friedbert Brohmschulte (Leiter der Lokalredaktion)

Dalia Bauer (stellv. Leiterin der Lokalredaktion)

Carsten Börner (Lokalredakteur)

Rita Hemberger (Lokalredakteurin)

Norbert Nadrup (Lokalredakteur)

Frank Pohlmann (Lokalredakteur)

Karin Steffens (Lokalredakteurin)

Karl Weiß (Lokalredakteur)

Günter Bocklund (Lokalsport)

Franjo Heinzen (Foto)

Silke Neuhaus (Redaktionsassistenz)

Christoph Röhrbein (Volontär)

Hermann Noltenhans (freier Mitarbeiter)

Dorkovs Anruf

Es war ein kalter Montag im Januar, kurz nach neun. Ich stand vor dem Getränkeautomaten im Raucherraum und sah meinem Kaffee dabei zu, wie er in einem dicken Strahl in den Ausguss floss. Ich hatte vergessen, einen Becher in den Schacht zu stellen und fand so schnell auch keinen. Der Strahl versiegte mit einem Zischen. Auf dem Display stand: fertig. Und hinter mir sagte irgendwer, dass Karin Steffens ja jetzt schwanger sei.

Ich hatte meinen letzten Euro in diesem Automaten versenkt und war gerade so sehr mit meinem Ärger beschäftigt, dass ich nicht weiter hinhörte. In der Telefonkonferenz am Mittag erfuhr ich es zum zweiten Mal. Als schon fast alles gesagt war, schaltete sich überraschend die Lokalredaktion Borkendorf zu. Ein Kollege, den ich nicht kannte, sagte, er habe noch eine gute Nachricht. »Karin Steffens bekommt einen Sohn.« Er sang es fast. Dann folgte eine Pause.

Karin Steffens? Ja, wer war das noch gleich? Die mit dem Raucherhusten? Nee, zu alt. Ich glaubte, mich zu erinnern, dass es die mit der Fistelstimme war, die in der Konferenz egal auf welche Frage mit dem Satz antwortete. »Weiß ich grad leider nicht ganz genau, hör ich aber gleich mal nach.«

»Ja, äh, das ist toll. Da gratulieren wir natürlich alle ganz herzlich. Auch im Namen der Chefredaktion«, sagte Dorkov. Für das, was er sagte, klang es relativ gleichgültig. »Gibt’s sonst noch was?«, fragte er. Als sich Schweigen einstellte, beendete er die Konferenz.

Ich ahnte nicht, dass Karin Steffens’ Kinderglück eine Bedeutung für mein Leben bekommen könnte. Auch am Nachmittag nicht, als Dorkov in einer E-Mail an alle schrieb, dass er jemanden suche, »der Frau Steffens in Borkendorf für einige Monate vertritt«. Natürlich auf freiwilliger Basis. Dorkov schrieb oft E-Mails an alle. Meistens antworteten auch alle, weil keiner riskieren wollte, in den Verdacht zu geraten, er lese die Mails vom Chef nicht. Diesmal kam keine Antwort.

Beim Essen sprachen wir über die E-Mail. Die Meinungen schwankten zwischen »Auf keinen Fall« und »Nie im Leben«. Nur Anja, die Politikchefin, vertrat die Auffassung, dass es auf dem Land auch ganz schön sein könne. Ein Haus im Grünen, Arbeit ohne Stress, Redaktionsschluss um 17 Uhr. Dagegen sei ja erst mal nichts zu sagen. Otti aus der Kultur setzte die Aufzählung fort: Schützenfestorgien, Scheckübergaben, Rammlerschauen, Hausfrauenreporter, Idioten. Und das hatte Anja natürlich vergessen. »So gesehen«, sagte sie und nahm die Mehrheitsmeinung an. Das Thema war damit durch.

Na ja, und abends klingelte zu Hause das Telefon.

Ich stand im Wohnzimmer, goss den Ficus und entschied mich, nicht da zu sein, aber es klingelte so hartnäckig, dass ich neugierig wurde. Als ich abnahm, hörte ich Gemurmel.

»Hallo?«, fragte ich. Das Gemurmel verstummte.

»Guten Abend Herr Heimann, Dorkov hier. Ich hoffe, ich störe Sie nicht.«

Ich schreckte zusammen und ärgerte mich, dass ich es nicht hatte klingeln lassen.

»Nein, nein, überhaupt nicht«, sagte ich. »Was gibt’s denn?«

»Keine Angst, Herr Heimann. Es geht nur um die E-Mail von heute Mittag. Hatten Sie die gelesen?«

»Ach, die mit der Vertretung. Ja, äh, die hatte ich gesehen.«

»Gut, ich will auch gar nicht lange um den heißen Brei rumreden. Herr Heimann, ich hatte heute Mittag gleich an Sie gedacht. Sie sind doch flexibel. Ich frag mal ganz direkt: Würden Sie’s machen?«

Natürlich nicht, dachte ich und sagte: »Na ja, äh, da müsste ich überlegen.«

»Überlegen Sie«, sagte Dorkov. »Was spräche denn dagegen?«

»Dagegen? Ja, äh, nicht direkt dagegen. Aber es ist weit weg, und ich habe nie …« Mir fiel nichts ein. Es kam mir vor, als hätten sich alle guten Argumente mit einem Lachen davongemacht. »Die Leute auf dem Land sind einfach komisch«, konnte ich ja auch nicht sagen.

»Herr Heimann, die Fahrtkosten zahlen wir. Und eingearbeitet sind Sie in drei Tagen.«

»Ja, aber ich weiß nicht, ob ich da wirklich der Richtige bin.«

»Herr Heimann, Sie sind perfekt für diese Aufgabe. Also machen Sie’s?«

Ich war ratlos und sagte ja. Er bedankte sich so überschwänglich, dass ich selbst das Bedürfnis verspürte, entgegenzuhalten, so schlimm sei es jetzt auch nicht – tat es dann aber doch nicht. Als ich aufgelegt hatte, beruhigte ich mich mit einer Flasche Bier und versuchte mir klarzumachen, was soeben passiert war.

Mit ausgebreiteten Armen lag ich auf dem Sofa und starrte an die Decke. Es war unbequem, aber ich verharrte wie erschossen in dieser Position, weil ich mich nicht von der Frage lösen konnte, warum er ausgerechnet mich angerufen hatte. Hatte er wirklich sofort an mich gedacht? Und wenn ja, warum überhaupt? Warum hatten sie nicht Werner Hecker gefragt? Der saß eh nur nutzlos rum, seit er vor anderthalb Jahren in die Nachrichtenredaktion versetzt worden war. Die Außenredaktion, in der er gearbeitet hatte, war dicht gemacht worden. Kündigen konnten sie ihm nicht, weil er im Betriebsrat war. So kam er zu uns, wo er nun allerlei Dinge machte, von denen er nichts verstand.

Mir fiel ein, dass Werner Hecker vor ein paar Wochen sein Auto verkauft hatte. Ohne Auto hätten sie ihn in Borkendorf nicht gebrauchen können. Aber das konnte Dorkov nicht wissen. Oder doch?

Ich fand eine neue Sitzposition, in der ich meinen Rücken wieder spüren konnte. Meine Beine baumelten über der Lehne. Ich überlegte, wer in der Redaktion sonst noch ein Auto hatte, aber mir fiel nur Anja ein. Als Politikchefin war die aber nicht ersetzbar. Ich als Wirtschaftsredakteur schon, denn davon gab es drei. Quatsch, dachte ich. Als ob Dorkov Journalisten danach aussucht, ob sie auch ohne Bus mobil sind. Ich verwarf den Gedanken.

Aber was sprach sonst für mich? Mein Talent zur Fotografie war, wenn man es freundlich formulieren wollte, nicht ganz so ausgeprägt. Und auf dem Land ist das nicht gut, denn da ist jeder Redakteur sein eigener Fotograf. Ich konnte mich auch nicht erinnern, in den sechs Jahren als Nachrichtenredakteur irgendwann als großer Fan des Lokalteils auffällig geworden zu sein. Ich las ihn nicht mal in der Ausgabe, die jeden Morgen in meinem Briefkasten lag. Vor allem aber war ich noch nie im Leben in Borkendorf gewesen.

Am behaglichsten erschien mir die Möglichkeit, dass ich auf einer langen Liste mit Telefonnummern weit hinten gestanden hatte und Dorkov auch jedem Kandidaten vor mir erzählt hatte, er habe gleich an ihn gedacht. Das hätte auch erklärt, warum er so spät anrief. Andererseits: Wen sollte er fragen, wenn die Voraussetzung ein Auto war?

Meine Mutter beendete die Grübelei mit einem Anruf. In einem Anfall von Leichtsinn erzählte ich ihr von der Karrierefallgrube. Sie war hellauf begeistert und beglückwünschte mich.

»Wenn die nicht zufrieden mit dir wären, hätten die dich nicht gefragt«, sagte sie.

Ich versuchte, sie vom Gegenteil zu überzeugen, scheiterte aber schon im Ansatz.

»Es gibt niemanden, der das machen will«, sagte ich.

»Jetzt red mal nicht alles gleich so schlecht. Die Landluft wird dir guttun«, sagte sie.

Über Nacht wurde ich krank. Ich lag vor dem Klo und kotzte. Ich glaube nicht, dass Borkendorf daran Schuld hatte, aber der Zeitpunkt war ungünstig.

Am nächsten Morgen schrieb Dorkov in einer E-Mail an alle, dass ich zugesagt hatte. Gleich darauf meldeten sich Kollegen, die vermuteten, ich sei gezwungen worden. Einer schrieb: »Das können die Arschlöcher nicht mit dir machen.« Er riet mir, mich an die Gewerkschaft zu wenden. Ein anderer schickte mir die Nummer von einem Schulfreund, der inzwischen Anwalt für Arbeitsrecht war. Als ich antwortete und erklärte, wie es wirklich gewesen war, hörte ich nichts mehr.

Bis zum Ende der Woche blieb ich krank. Am Samstag schrieb Dorkov, ich möge am Montag direkt nach Borkendorf fahren. Karin Steffens sei ab sofort zu Hause.

Am Sonntag trainierte ich mir Vorfreude an. Ich lag geschwächt auf meinem Sofa und träumte von Borkendorf. Mein Schreibtisch stand an einem großen Fenster mit Blick direkt in den Wald. Es war grün und idyllisch. Vögel zwitscherten. Ein Reh hüpfte vorbei. Ein wunderschöner Ort. Aber dann stapfte auf einmal der Förster ins Bild, klopfte mit seinem Gewehrlauf an die Scheibe und fragte, ob ich nicht mal eine Geschichte über ihn machen wolle. Ich wachte auf.

Als ich abends Zwiebeln in die Pfanne warf, stellte ich mir vor, wie ich mit einer Papiertüte voll frischem Gemüse über den Borkendorfer Wochenmarkt schlenderte und mir an einem Marktstand frische Weintrauben in den Mund schob. Ich fragte, wie viel die Trauben denn kosten sollten. Die alte Marktfrau antwortete: »Achtzig Zeilen mit Bild.«

Ich beschloss, nicht mehr an Borkendorf zu denken, bevor ich es gesehen hatte. Aber vielleicht war es auch einfach die Krankheit. Am Montagmorgen ging ich zum Arzt. Ganz gesund fühlte ich mich noch immer nicht.

Der bärtige Doktor leuchtete mir in die Augen, schaute mir ernst ins Gesicht und befand: »Ich schreibe Sie noch eine Woche krank. Gönnen Sie sich Ruhe und fahren Sie in die Natur.«

»Wenn das alles ist, schreiben Sie mich besser nicht krank«, sagte ich. Er war verwundert, aber nachdem ich es ihm erklärt hatte, folgte er meinem Rat.

Ich war jetzt Pendler. Borkendorf lag siebzig Kilometer entfernt, vierzig davon führten über die Autobahn. Gleich am ersten Tag fand ich heraus, dass es auch einen fünfundachtzig Kilometer langen Weg gab. Ich verpasste auf Anhieb die richtige Ausfahrt und kurvte über Landstraßen von der anderen Seite in die Stadt. Trotz des Umwegs kam ich viel zu früh an. Ich hatte eine Stunde eingeplant, um mir vor der Arbeit die Stadt anzusehen. Jetzt blieben noch vierzig Minuten. Und nach meinem ersten Eindruck hätten wahrscheinlich auch zwanzig gereicht.

Ich fand sofort einen Parkplatz und nahm das als gutes Omen, obwohl wahrscheinlich nie die Gefahr bestanden hatte, keinen zu finden. Ich sah viel Grün, Fachwerkidylle, ein paar Läden und mittendrin eine Kirche. Die Stadt war nicht hässlich, aber es war klirrend kalt. So kalt, dass ich mich gleich wieder ins Auto setzte. Würde ich eh alles noch früh genug sehen, dachte ich, drehte die Heizung auf, lehnte mich zurück und wartete.

Auf dem Weg zur Redaktion lief ich an einem geschlossenen Versicherungsbüro, einem geschlossenen Blumenladen und einer grünen Dönerbude vorbei. In der Dönerbude lehnte ein Mann mit Schnauz lustlos auf seiner Theke. Er grüßte, als würde er mich kennen. Aber er schien nicht damit zu rechnen, dass ich in den Laden kommen könnte. Am Ende der Straße öffnete sich der Marktplatz, am Rand lag die Kirche, gegenüber die Redaktion. Ein schluffiger Typ im Kapuzenpulli stand vor dem Schaufenster und blies Rauchwolken in die Luft. Als er sah, dass ich auf ihn zusteuerte, ließ er die Zigarette fallen und zerquetschte sie mit der Schuhsohle.

»Scheiß Wetter«, sagte er.

Ich nickte ihm entgegen.

»Ralf Heimann.«

»Carsten Börner. Freut mich. Dich hat’s also getroffen.«

Ich schüttelte seine kalte Hand.

»Na ja, was heißt getroffen …«

»Wirste gleich sehen«, sagte er, drückte die Tür auf und wies mir den Weg hinein. Drinnen klickten Tastaturen. Ein Telefon klingelte, aber niemand hob ab. In der Mitte stützte eine gelbe Säule den Raum. Drumherum reihten sich Tische aneinander. Es sah aus wie beim Scrabble. Am Rand stand ein Quader mit hohen Scheiben, in dem ein dicker Mann saß und rauchte. »Warte kurz«, sagte Carsten. Er lief rüber, klopfte an die Scheibe und winkte den dicken Mann heraus. Der erhob sich schwerfällig und winkte seinerseits. Ich sollte kommen.

»Das ist Friedbert Brohmschulte, der Chef«, sagte Carsten.

»Alles klar, wir kennen uns schon vom Telefon.«

Ich betrat einen Raum aus Qualm. Auf dem Schreibtisch stapelten sich Akten.

»Setzen Sie sich«, sagte Brohmschulte, aber es war nirgendwo Platz. Er schichtete einen Berg Ordner um. Darunter kam ein Stuhl zum Vorschein. »Sie wollen also für uns arbeiten«, sagte er, starrte auf seinen Bildschirm und griff mit der rechten Hand eine Zigarette.

»Ja, äh, gern«, sagte ich. Die Frage verunsicherte mich. Er konnte sich ja denken, dass ich nicht wirklich scharf auf den Job war.

»Haben Sie denn schon mal für eine Zeitung geschrieben?«, fragte er.

»Sechs Jahre als Nachrichtenredakteur beim Westkurier.«

Er drehte sich überrascht um, aber die Verwunderung verklang, als er mich sah.

»Heimann, ich hab Sie gar nicht erkannt.«

»Kein Problem. Wir sehen uns ja jetzt öfter.«

»Haben Sie schon ’nen Schreibtisch?«

»Nee, ich komm gerade erst zur Tür rein.«

»Dann lassense sich von Börner mal alles erklären. Das meiste kennense ja eh. Und nehmense das hier mit. Da könnense gleich mal anrufen, wennse sich nützlich machen wollen.«

Er gab mir einen zerknitterten Zettel mit einem Namen und einer Nummer.

»Worum geht’s da?«

»Sagense, dasse die Nummer von mir haben. Dann erklärt er Ihnen alles.«

Dann wandte er sich wieder dem Bildschirm zu und tippte mit zwei Fingern. Seine Hände bewegten sich wie Körner pickende Hühner.

»Ich mach mich dann mal an die Arbeit«, sagte ich. Brohmschulte antwortete mit einem Grummeln. Ich schloss die Tür, schaute hilflos durch den Raum. Das Telefon klingelte immer noch, vielleicht auch schon wieder. Ich hatte meinen ersten Auftrag, aber noch keinen Schreibtisch.

»Hier ist übrigens dein Platz«, sagte Carsten und zeigte auf einen Computertisch. Der Tisch selbst war nur unwesentlich größer als die Tastatur darauf. Er stand direkt neben der Tür zu den Toiletten. Und damit war auch die Frage beantwortet, warum er noch frei war.

Ich setzte mich, nahm einen Stift und wählte die Nummer auf dem Zettel. Es tutete lange. Ich wollte gerade wieder auflegen, da schnauzte ein Mann seinen Namen in den Hörer.

»Dennsmann!«

»Tschuldigung, Heimann vom Borkendorfer Boten. Friedbert Brohmschulte hatte mich …«

»Endlich.«

»Ich hab gerade erst …«

»Hat er Ihnen alles erzählt? Dann können wir’s schnell machen.«

»Nee, ich weiß noch gar nichts. Er hat mir gerade erst …«

»Also, morgen Abend 19 Uhr in der Realschule. Das machen wir jetzt doch. Hatte ich ja gesagt. Das war alles ’n bisschen zu kurzfristig. Ließ sich auf die Schnelle nicht mehr ändern. Is aber in Ordnung so. Dann hamwer alles klar, nech?«

»Tschuldigung, können Sie vielleicht noch mal kurz sagen, worum’s geht? Ich hatte gerade erst von …«

»Realschule, 19 Uhr. Alles wie gehabt. Schreibense sich’s auf. Nich, dat dat wieder schiefgeht.«

Er legte auf, ohne sich zu verabschieden. Viel schlauer war ich noch immer nicht.

»Sag mal Carsten, morgen 19 Uhr in der Realschule – was könnte da sein?«

»Prunksitzung«, sagte Carsten.

»Ahhh!«, sagte ich und versuchte, freudig überrascht zu klingen.

»Du sollst da hin?«

»Brohmschulte hat gesagt, ich soll da anrufen.«

»Dann sieh zu, dass du ’nen Fotografen kriegst. Sonst kannst du morgen die scheiß Bilder für die Sonderseite selbst machen.«

Irgendwer schlug einen Gong. Ich schaute auf die Uhr. Es war zehn. Brohmschulte strich in seiner Qualmwolke ein paar Zettel zusammen. Carsten trank noch schnell einen Schluck Kaffee. Dann trotteten sie alle zur Treppe. »Konferenz«, sagte Carsten. Ich schloss mich an, er schlurfte voran. Von hinten sah er mit seinem Kapuzenpulli und den zerwetzten Jeans aus wie ein Bummelstudent, von vorn eher wie der Vater eines Bummelstudenten.

Oben an der Treppe registrierten sie mich zum ersten Mal. Allerdings nur, weil ich die Tür zum Konferenzraum blockierte. Ich schüttelte ein paar Hände und setzte mich neben Brohmschulte an den ovalen Tisch. Er roch wie ein Nikotin-Duftbaum.

»Morgen«, grummelte er. Zeitungen raschelten, keiner sagte etwas.

Am Tisch saß bereits eine ältere Frau, knapp sechzig, schwarze kurze Haare, braunes Halstuch. Sie schaute in die Runde, als wolle sie mit ihrem Blick jemanden bestrafen, schien aber niemanden zu finden. Das musste wohl Dalia Bauer sein, Brohmschultes Stellvertreterin. In der Nachrichtenredaktion galt sie als eingebildet. Anja hatte mal gesagt, sie führe sich auf wie eine Pulitzer-Preisträgerin im preußischen Staatsdienst.

Ihr gegenüber kaute ein Typ in einem grauen Pullover an seinem Kuli. Er war vielleicht Mitte vierzig. Am Halsausschnitt schaute ein weißes Hemd heraus. Er sah aus, als hätte ihm seine Mutter die Sachen rausgelegt. Das war Frank Pohlmann, berüchtigt für seine bizarren Beiträge in den Telefonkonferenzen. Wenn er sich meldete, schalteten alle anderen auf lautlos, damit ihr Prusten ungehört blieb. In der Nachrichtenredaktion riefen sie oft sogar Kollegen herbei, wenn sich abzeichnete, dass Pohlmann etwas sagen würde. Dann lagen alle gemeinsam gackernd über der Telefonspinne, während Pohlmann Dinge kritisierte, die außer ihm, sagen wir, wenige interessierten. Zum Beispiel, dass der Zeilenabstand im Fernsehprogramm nicht stimmte. Käme ihm jedenfalls so vor. Vorgestellt hatte ich ihn mir anders. Unseriöser. Der graue Pulli gab ihm etwas Lehrerhaftes.

Der gescheitelte Typ daneben erinnerte an einen Finanzbeamten. Er hieß Karl Weiß. Ich hatte nie mit ihm gesprochen und konnte mich nicht erinnern, je was von ihm gelesen zu haben. Und dann saß noch Carsten da. Unrasiert. Er sah schläfrig aus. Alle anderen waren krank, im Urlaub oder unterwegs.

»Erst mal eine Personalie«, sagte Brohmschulte. »Ralf Heimann wird bis Ende des Jahres Karin vertreten. Heimann, vielleicht sagen Sie selbst ein paar Sätze über sich.«

»Na klar, wie gesagt, ich bin Ralf Heimann, seit sechs Jahren in der Nachrichtenredaktion. Die nächsten Monate hier. Ich freue mich und bin gespannt, was mich hier erwartet«, log ich. Dann fiel mir nichts mehr ein. Ich schaute in gelangweilte Gesichter.

Pohlmann drückte ein Lächeln raus. Carsten nickte. Karl Weiß sagte: »Willkommen!« Aber es klang eher wie ein mäßig interessiertes »Aha«.

Danach begann die Blattkritik. Auf dem Tisch lag der Lokalteil. Sie fanden, dass sie alles gut gemacht hatten. Zu einer Geschichte, die nur im Konkurrenzblatt, dem Borkendorfer Anzeiger, stand, sagte Pohlmann: »Kann man machen, muss man aber nicht.« Und er war der Meinung, dass sie sich vor der Ausgabe der Konkurrenz auf keinen Fall verstecken müssten.

»Was hamwer zu morgen?«, fragte Brohmschulte. Sein Blick streifte von Gesicht zu Gesicht und blieb an Karl Weiß hängen, der etwas ratlos schien, aber dann tatsächlich etwas sagte.

»Äh, ja, der Wirt vielleicht.«

»Welcher Wirt?«

»Der Hagenbrock von der Alten Ziege. Hamwer doch letzte Woche drüber gesprochen.«

»War ich nich da.«

»Der hat das Dach vom Wintergarten abgerissen, um das Rauchverbot zu umgehen.«

»Wie? Und die Leute sitzen da jetzt im Freien?«

»Nee, das ist ja der Clou. Übers Dach kommt ein Carport. Offiziell sitzen die Leute dann draußen, in Wirklichkeit aber drinnen!«

Brohmschulte hob kritisch die Augenbrauen. Er stellte seinen Kuli mit der Spitze auf den Tisch und glitt mit Daumen und Zeigefinger am Kunststoff hinab auf die Tischplatte.

»Hagenbrock ist doch der, der uns damals die Geschichte mit der Pissrinne erzählt hat, oder?«

»Ja, das stimmt. Die Geschichte war Mist. Aber die Serie danach war doch super.«

»Die wir machen mussten.« Brohmschulte schüttelte verständnislos den Kopf, sah mich an und erklärte: »Wir haben letztes Jahr über die letzte Pissrinne im Münsterland berichtet. Und am nächsten Tag riefen im Minutentakt Kneipenwirte an, die sauer waren, weil es in ihrer Kneipe auch noch eine gab.«

Auch Karl Weiß wandte sich mir zu: »Und dann haben wir eine Serie gemacht, die super ankam: die zwanzig schönsten Pissrinnen der Region«, sagte er – offensichtlich stolz.

Brohmschulte schien den Ärger über die Peinlichkeit noch immer nicht ganz verdaut zu haben. »Und dem sollen wir das jetzt glauben?«, fragte er.

Karl Weiß zog die Schultern hoch. »Am Telefon hat er gesagt: Diesmal stimmt’s wirklich.«

»Aha, diesmal stimmt’s wirklich, sagt er. Dann sagense ihm, wenn’s nicht stimmt, dann schreiben wir übermorgen, dass seine Kneipe die einzige im Münsterland ist, in der es kein Bier mehr gibt.«

»Mach ich, aber ein Problem gäb’s noch.«

»Was?«

»Das müsste wer anders machen. Ich schaff das heut nicht.«

Brohmschulte war genervt. Sein Blick schwenkte ungeduldig durch die Runde. »Pohlmann? Könnse da anrufen?«

Pohlmann richtete sich auf wie eingeschaltet. »Ich, äh, muss noch drei Geschichten, äh, also ich habe noch zwei, und eine, die …«

»Das schaffen Sie. Gibt’s sonst noch was?«

Es war wieder still. Ich hob in Brusthöhe den Zeigefinger. Brohmschulte erteilte mir das Wort.

»Sie hatten mir ja den Zettel gegeben. Soll ich da morgen Abend auch hingehen?«, fragte ich in der Hoffnung, er würde nein sagen.

Brohmschulte nickte. »Das hatte ich mir eigentlich so gedacht. Da könnse dann gleich mal Ihr Talent zeigen«, sagte er. Ich meinte, etwas Spott zu hören.

»Vielleicht ’ne dumme Frage, aber worum geht’s denn überhaupt? Karneval, das hab ich verstanden. Aber was genau?«

»Lassense sich einfach überraschen«, sagte Brohmschulte.

Die Prunksitzung

Dass ich noch dem Fotografen Bescheid sagen wollte, fiel mir am nächsten Morgen ein, aber da war es schon zu spät. Er hatte andere Termine. Ich steckte selbst eine Kamera ein und dachte: So schlimm wird’s schon nicht werden. Die Vermutung stimmte nicht ganz.

Die Turnhalle der Realschule war nicht schwer zu finden. Sie hatten den öden grauen Klotz mitten in die Stadt gewürfelt. Betonarchitektur der Siebziger. Ein trostloses Gebäude. Allerdings würde der hässliche Kasten innerhalb der nächsten halben Stunde eine Art Blitzmetamorphose hinlegen und sich in die Hochburg der Freude verwandeln – wenn es stimmte, was in dem Artikel vom letzten Jahr stand, den Carsten mir netterweise ausgedruckt hatte. Der Text klang wie ein Zwischenbericht von der karnevalistischen Ostfront. Der Autor schrieb von einem »Aufstand der Massen«: Das Narrenvolk habe die Bühne belagert, es war von Lachsalven die Rede, und die Halle sei aus allen Nähten geplatzt.

Inzwischen sah wieder alles ganz ordentlich aus. Schlachtspuren waren jedenfalls nicht mehr zu sehen. Vor der Tür standen zwei alte Männer und rauchten.

»’n Abend, wer macht denn bei euch die Presse?«, fragte ich. Sie schauten mich wortlos an. Einer deutete mit der rauchenden Hand ins Gebäude. Ich ging hinein.

Auf dem blassen Steinfußboden hüpften sich die Tanzgarden-Mädchen warm. Vom Band lief Jürgen Drews. Er sang, er sei der König von Mallorca. Ich hatte das nie für ein Karnevalslied gehalten, doch daran schien sich außer mir niemand zu stören. Noch war es leer, aber die Zapfanlagen waren schon gut ausgelastet.

Irgendwer tippte mir von hinten auf die Schulter. Ein mickriger Mann mit Narrenkappe und viel zu vielen Orden am Revers fragte: »Presse?«

»Ja, ’n Abend, Heimann.«

»Wir haben gestern telefoniert.«

Ich gab ihm die Hand. Er drückte so fest zu, dass ich »Aua« sagte.

»Geh’n wer kurz dahinten rein?«

Er winkte mich an einer Palme vorbei in einen kleinen Raum mit einem Tisch. Aus der Innenseite seiner Jacke zog er einen gefalteten Zettel. »Ich hab hier schon mal was vorbereitet. Da steht alles drin«, sagte er, leckte an seinen Fingern und entfaltete das Papier. »So, wir ham dat allet schon durchgesprochen«, sagte er, verschwieg aber, mit wem. Draußen polterte Marschmusik.

»Ich erklär dat noch mal schnell. Nich, dat noch wat schiefgeht«, sagte er und las vor: »Wie in jedem Jahr konnte die Narrengarde Unterschlossholz 09 in diesem Jahr viele Gäste zu ihrer beeindruckenden Prunksitzung einladen. Dat kannste allet so übernehmen.«

Es war ungefähr das, was in dem Text stand, den Carsten mir gegeben hatte. Dennsmann fand, das sei doch schon ein super Anfang.

»Mehr als vierhundert begeisterte Gäste tanzten auf den Tischen …«

»Vierhundert?«, fragte ich.

»Schreib ma ruich vierhundert.«

»Aber da draußen sind keine vierhundert Leute.«

»Dat lass ma einfach so.«

Ich ließ es so und hörte mir gelangweilt den Rest an. Das Superprogramm, von dem er auf seinem Waschzettel schrieb, bestand aus DJ Steffen Schindler, dem Komiker Hans, der nervösen Mädchengarde, die sich vor der Tür eintanzte und dem Duo Killekille, was auch immer das sein mochte.

»Alles klar, der Rest steht ja auf dem Zettel«, sagte ich.

Ach, und auf keinen Fall dürfe ich die Wimmerländer Brauerei vergessen. Die müsse unbedingt in den Text. Das sei sehr wichtig, sagte er und wiederholte noch mal: sehr wichtig.

»Wennde Fragen hast, rufste an. Aber nich vor elf«, sagte er, drückte mir das zerknitterte Blatt in die Hand und schob mich zur Tür raus. »So, und jetz trinkenwer ersmal ’n Pils«, befahl Dennsmann. Er hob zwei Gläser vom Tablett einer Kellnerin, die mit dem Bier neben der Tür stand, als hätte sie dort auf uns gewartet.

Noch immer trudelten Gäste ein, aber es wurde nicht voll. Sobald die Leute ihre Mäntel an der provisorischen Garderobe abgegeben hatten, verschwanden sie in den Gängen der Turnhalle.

Ich prostete Dennsmann zu und nahm das Bier in kleinen Schlucken. Aus den Boxen dudelte ein Karnevalsmarsch. Um den Bierstand herum drängten sich Karnevalisten in blauen Uniformen. Die Männer trugen gelbrote Narrenmützen, die Frauen fast alle die gleiche Frisur. Silberhelme.

»Is nich viel los dies Jahr«, sagte Dennsmann so laut, dass sich Leute am Stehtisch neben uns umdrehten. Er klang enttäuscht, und ich konnte ihn verstehen bei der drögen Party.

Dennsmann reichte mir ein neues Bier, diesmal noch ein Pinnchen Korn dazu. Ich bemerkte erst jetzt, dass er schon ganz gut einen im Tee hatte. Die Hälfe des Pinnchens vergoss er. Dann schüttete er mir sein Herz aus.

»Ach, et is vielleicht dat letzte Jahr«, sagte er mit seiner lauten Stimme seltsam leise.

»Warum?«, fragte ich arglos.

»Siehste ja. Nix mehr los. Wenn uns die Wimmerländer jetzt auch noch als Sponsor abspringt, is nächstes Jahr Schluss.«

Ich sagte, es sei natürlich nicht schön, wenn man sich so viel Mühe gebe und dann komme nichts dabei rum.

»Dreihundert Karten sind noch da. Und das bei dem Programm«, sagte Dennsmann.

»Das ist echt ärgerlich.«

Dennsmann hob zwei Finger, um zwei Bier zu bestellen. »Wir wissen nich mehr weiter«, klagte er. Ich hatte etwas Mitleid und versprach, die Wimmerländer Brauerei auf jeden Fall im Text zu erwähnen. »Du bis ’n guter Kerl«, sagte Dennsmann und gab mir einen Schlag auf den Rücken, der wohl freundschaftlich gemeint sein sollte.

Mit dem Narrhallamarsch füllten sich die orangefarbenen Holzbänke in der Halle. Sie hatten alles mit grauem Teppich ausgelegt und die Tische mit Konfetti berieseln lassen, um Karnevalsstimmung zu verbreiten, was nicht so richtig gelungen war. Die Musikanlage fiepte. Dann wurde es dunkel, und Dennsmann stolperte auf die Bühne. Er kündigte einen Spitzenhumoristen und großen Freund des Karnevals an, der schon seit vielen Jahren dabei sei.

»Ich freue mich, ihn heute Abend wie in jedem Jahr hier bei uns begrüßen zu dürfen«, sagte er, ließ eine kleine Pause und rief dann überraschend einfach nur: »Hans!«

Ein Mann mit grauem Bart zog sich am Geländer auf die Bühne. Auf seinem schwarzen Hut klebten zwei Plastikvögel. »Vielen Dank, vielen, vielen Dank«, rief er in den plätschernden Applaus. Dann brachte er eine Zote nach der nächsten. Dass kaum jemand lachte, schien ihm überhaupt nichts auszumachen. Als ihm doch mal ein Lacher gelang, rief er wieder: »Vielen Dank, vielen, vielen Dank.«

Die Gags waren vom Kaliber: »Meine Frau macht drei Diäten gleichzeitig. ›Von einer werd’ ich nicht satt‹, sagt sie.« Und das war schon der Witz, für den es den Applaus gab.

Ich schlich mich rechts an den Tischen vorbei nach vorn. Als Hans die Kamera erblickte, sagte er: »Ahhh, die Presse!« Er unterbrach sein Programm, um sich auf der Bühne schräg runter zu mir in Pose zu werfen. Wenn die alten Leute auf den Bänken gerade noch kurz davor waren wegzunicken, jetzt regten sie sich. Es wurde unruhig. Alle schauten auf mich.

»Alles okay! Machen Sie ruhig weiter«, rief ich hoch. Er fror sein Grinsen ein. Ich drückte einmal auf den Auslöser. Es blitzte.

»Die Presse soll ja auch was von mir haben«, blökte Hans.

Ich schlich beschämt zurück in die letzte Reihe und knipste den Rest der Bilder von dort. Im Nachhinein war das keine allzu gute Idee, denn auf fast allen Fotos waren nur Köpfe von hinten zu sehen. Den Hintergrund hatte die Kamera schwarz geblitzt. Das erklärte mir unser Fotograf Franjo später, als wir versuchten, aus den ganzen fotografischen Unfällen eine Sonderseite zu bauen. Es gelang schließlich mithilfe von Archivaufnahmen.

Vom Duo Killekille, das ziemlich zum Ende hin auftrat, fanden wir leider kein Foto. Das war ziemlich schade, denn die beiden Stimmenimitatoren waren auch für mich der Höhepunkt des Abends. Als ihre Show begann, konnten die meisten Leute in den letzten Reihen schon nicht mehr bis zur Bühne schauen. Dummerweise hatten die beiden Künstler selbst auch schon so viel getrunken, dass es ihnen entweder nicht mehr gelang, Frank Sinatra, Elvis oder Wolfgang Petry zu imitieren – oder sie hatten es nie gekonnt. Ich hielt die zweite Möglichkeit für wahrscheinlicher.

Ich musste lachen und fiel so zum zweiten Mal an diesem Abend auf, denn ausgerechnet dieser Programmpunkt kam überhaupt nicht an. Das Publikum in den vorderen Reihen buhte, was die Besoffenen ganz hinten allerdings auch nicht verstanden. Sie grölten, um auf die Buh-Rufe zu reagieren. Es endete alles in einem ziemlichen Chaos.

Dann kam noch Dr. Mabusen. Eigentlich hatte niemand mit einem weiteren Auftritt gerechnet. Dr. Mabusen stand nicht auf meinem Zettel, und es wurde auch später nicht klar, ob man ihn einfach nur vergessen hatte, er kurzfristig eingesprungen oder hier einfach falsch war.

Er trug einen angegilbten Arztkittel, um den Hals ein Stethoskop und auf dem Kopf eine weiße Haube. Dazu grüne Turnschuhe – ich war mir nicht sicher, ob aus Absicht oder weil er diesen Teil des Kostüms vergessen hatte. Auch er schwankte leicht.

Mabusen polterte auf die Bühne, als das Duo Killekille gerade, so gut es noch konnte, in der Garderobe verschwunden war. Auf seiner Mütze stand sein Name in Buchstaben, so groß, dass man sie unter normalen Umständen auch in den letzten Reihen hätte lesen können. Aber da war es still geworden.

»Liebe Freunde, ich erlebe in meiner Praxis ja viel«, rief Mabusen – leider etwas zu früh, so dass der Tusch ihm den Satz abschnitt.

Tättää! Tättää! Tättää!

Mabusen nickte, als sei das alles so geplant gewesen. Dann setzte er neu an: »Liebe Freunde, ich erlebe in meiner Praxis ja viel, aber neulich, da is mir was passiert, das glaubt ihr nicht. Da kommt ein Mann zu mir und fragt: ›Herr Doktor, kann ich mit Durchfall baden?‹ Ich sach: ›Klar, wennse die Wanne damit voll kriegen.‹«

Tättää! Tättää! Tättää!

In den Tusch ebbte etwas Applaus. Der Büttenarzt grinste. Ich hatte das Gefühl, er war ganz zufrieden mit der Resonanz. So ging es ein paar Minuten. Dann wandte sich ein Vierergrüppchen behelmter Frauen an einem Tisch vor der Bühne ab, um wieder zu plaudern. Nach zehn Minuten glänzte Mabusens Gesicht vor Schweiß. Sein Kugelbauch spannte den Kittel. Er sprach übers Abnehmen.

»Der Knaller ist die China-Diät. Es gibt nur Suppe, gegessen wird mit Stäbchen«, rief er.

Tättää! Tättää! Tättää!

Sein Lachen schepperte durch den stillen Saal. Das Niveau rutschte weiter ab. Eine Viertelstunde später waren die Pointen gerade noch durch den darauf folgenden Tusch auszumachen. Dann schwenkte Mabusen zu einem neuen Thema über: Ehefrauen. Eigentlich ein dankbarer Büttenstoff vor beduseltem Landvolk, aber schon die erste Pointe offenbarte, dass irgendetwas nicht stimmte.

»Was haben ein Magnet und eine schöne Frau gemeinsam?«, fragte Mabusen.

Von der Biertheke rief ein stämmiger Mann zurück: »Beide sind anziehend und arbeiten nicht. Den kennwer schon.«

Tättää! Tättää! Tättää!

Mabusen lachte. »Dann nehmwer doch den hier«, rief er, als der planmäßige Tusch verhallt war: »Welche Wirkung hat Viagra auf Frauen?«

»Noch mehr Kopfschmerzen! Denn kennwer auch schon.« Der stämmige Mann lehnte mit dem rechten Arm auf der Theke, mit dem linken nahm er einen Schluck aus dem Humpen. Dann knallte er das Glas auf die Theke, lachte und brüllte mit einer herausfordernden Geste: »Los, noch einen!«

Mabusen lachte nicht mehr. Er war erst spät gekommen und konnte nicht wissen, dass der Komiker Hans seine Witze wohl auf der gleichen Internetseite gefunden hatte. Mabusen glotzte verlegen an der Theke vorbei, wo sie dem Dicken auf die Schulter schlugen. Hinten im Saal regte sich wieder was. Jetzt buhten sie mit letzter Kraft.

»Aber den hier kennter noch nicht: Sacht der Witwer zum Pfarrer: ›Ich möchte meine Frau auf dem Bauch …‹«

»›… liegend begraben lassen‹«, grölte der Dicke, »›dann buddeltse nach unten, wennse scheintot ist.«

Jetzt johlten sie neben ihm und protesteten sich zu. Selbst die Frauen mit den silbernen Helmen lachten. Der erste satte Applaus an diesem Abend war für einen dicken Mann an der Theke gedacht. Mabusen sagte nichts. DJ Steffen Schindler erlöste ihn mit dem Narrhallamarsch. Müde winkend schwankte der erledigte Spaßdoktor in Richtung Garderobe.

Genau in diesem Moment trat ich einem Mann auf den Fuß, ohne es zu merken. Er war nicht dick wie der Biertrinker, der gerade die Show beendet hatte. Er war fett. Aber der Stoß, den er mir mit den Ellenbogen in die Rippen gab, kam überraschend flink.

»Du stehs auf meim Fuß«, schnaubte er.

»Ich bin, ähm, von der Presse«, stammelte ich etwas wirr vor Schmerz.

»Dat is schön für dich. Trotzdem runter von meim Fuß!«

»Äh, ja, Tschuldigung, äh, tut mir leid.«

Als ich den Fuß zur Seite setzte, beruhigte er sich.

»Ich bin Horst«, sagte er. Plötzlich war er ganz freundlich.

»Ich, ähm, Ralf.«

»Na, dat ist doch mal wat. Darauf nehmwer einen, wa? Komma mit. Ich hol uns ’nen Kurzen«, sagte er.

Horst hatte anscheinend nur darauf gewartet, dass ihm irgendwer auf den Fuß tritt, damit er ihn zur Theke zerren konnte. Mit seinen breiten Armen baggerte er eine Gasse frei. Hinter seinem Rücken entstand eine Schneise, durch die ich ihm bequem folgen konnte.

»Machse zwei Große und zwei Lütte!«, rief er über die Schultern zweier Gestalten, die er nicht zur Seite räumen konnte, weil sie sich an der Theke festklammerten. Auch sie schienen auf Getränke zu warten, aber sie protestierten nicht. Sie reichten die Bierhumpen und die Pinnchen sogar freundlich nach hinten durch, als die Frau am Zapfhahn sie auf die Theke knallte.

»Proouust!«, sagte Horst.

Ich nippte am Pinnchen. Horst kippte den Wacholder runter und löschte mit Bier nach. Der Schaum verfing sich in seinem Vollbart.

»So, nu erzähl ma. Und du bis vonne Zeitung?«

»Joa.«

»Intresssannnt. Den Fred kenn ich ja auch ganz gut.«

»Friedbert Brohmschulte? Mein Chef? Ah ja, ich werd’s ihm ausrichten. Der freut sich.«

»Nee, nee, lass ma ruhig. Den, äh, seh ich selbst noch die Woche«, sagte Horst, tätschelte mir die Schulter und rief rüber zur Theke: »Machs uns zwei Wacholder!« Dann wandte er sich wieder mir zu.

»Und wie findset hier? Karneval is doch ’ne feine Sache, wa?«

»Ja, is schön hier. Witzig. Und super Stimmung.«

»Siehse, dat mein ich doch.« Er gab mir wieder einen Klaps auf die Schulter und lachte jovial. Dann sagte er unvermittelt: »Hömma, wenn du ma ’ne gute Story machen wills, dann kannse ma über meinen Laden schreiben. Wir ham grad ’n neues Lager gebaut. Dat is ’n feines Ding.«

»Ja, äh, ich bin ehrlich gesagt erst seit heute da. Aber ich werd’s mal in unserer Konferenz vorschlagen.«

»Ach, nix inne Konferenz. Dat machen wir zwei nächste Woche. Komms mal vorbei. Dann zeich ich dir dat.«

Er griff in seine Innentasche und steckte mir seine Karte zu. »Höllermann Beton. Horst Höllermann. Geschäftsführer«, las ich.

»Ich schreib mal meine Handynummer drauf. Rufse mich Montach mal an«, sagte er und kritzelte die Nummer auf die Rückseite.

»Werd’ ich machen. Und schönen Dank«, sagte ich, drehte mich um, winkte und peilte den Ausgang an.

Unterwegs traf ich Dennsmann, der so sehr schwankte, dass er sich an der Wand festhalten musste. Er sagte, es sei dann doch alles noch ganz schön geworden. Jedenfalls glaubte ich, das verstanden zu haben. »Fand ich auch«, sagte ich. Dummerweise ging mir der Satz beim Schreiben später nicht mehr aus dem Kopf.

Die Sonderseite sah ungefähr so aus: Über dem Text hing das Foto vom grinsenden Hans mit den Vögeln auf seiner Mütze, daneben drei Bilder mit Hinterköpfen auf schwarzem Grund, Archivbildern von der Mädchengarde und dem DJ Steffen Schindler, der auf dem Foto so rote Augen hatte, dass er aussah wie der Teufel.

In den Text schrieb ich, dass vierhundert Leute ziemlich gut gefeiert hätten und die Stimmung ganz ordentlich gewesen sei. Es war gelogen, aber es war ein Kompromiss.

Ich dachte lange nach, wie ich Dennsmanns Formulierungen vom Waschzettel so ändern konnte, dass sich zumindest Schnittmengen mit der Realität ergaben. Aber es gab kaum eine Möglichkeit. Dennsmann hatte vorgeschlagen: »Der Komiker Hans versetzte das Publikum mit seinen Showeinlagen ins Staunen. Das begeisterte Narrenvolk belohnte ihn mit Raketenbeifall und einem Scha-la-la-la-Liedchen.« Ich schrieb Hansens besten Gag auf und schenkte ihm das Wörtchen »viel«. So stand später im Artikel, er habe viel Applaus bekommen.

Trotzdem hatte ich kein gutes Gefühl. Es klang alles bei weitem nicht so euphorisch wie der Text aus dem Jahr davor. Das versuchte ich damit aufzufangen, dass ich am Ende noch die Brauerei Wimmerländer erwähnte, die alles bezahlt hatte.

Brohmschulte änderte die Überschrift kurz vor Redaktionsschluss in »Borkendorf völlig närrisch«. Das war zwar ungefähr das Gegenteil von dem, was ich gesehen hatte, aber es kam so gut an, dass der übel verkaterte Dennsmann am nächsten Tag sogar anrief und sich zu mir durchstellen ließ. »Sensationelle Überschrift«, sagte er. Aber die Fotoseite – die sei wirklich noch besser.

In der Konferenz fragte ich, ob schon mal irgendwer über die neue Lagerhalle vom Betonwerk Höllermann geschrieben habe.

»Höllermann?«, fragte Brohmschulte. Dalia Bauer verdrehte die Augen. Karl lächelte wissend. Carsten kramte in seiner Hemdtasche und winkte grinsend mit Horsts Karte.

»Neu ist in dem Fall relativ«, sagte er, »die steht jetzt seit zwei Jahren da, ist aber auch kaum größer als eine Garage – also eher nichts für die Zeitung«.

»Aber er versucht’s immer wieder«, sagte Karl. Brohmschulte nickte.

Heinis Weihnachtsfeier

Immer dienstags nach der Morgenkonferenz saß Heini Rehers auf dem Stuhl neben dem Eingang. Auf dem Schoß seinen Cordhut, auf dem Hut seine Hände. Rehers kam immer so rechtzeitig, dass er auf uns warten musste. Und wenn sich gegen kurz nach zehn die Tür zum Konferenzraum öffnete, stand er auf, um einem von uns den Zettel mit den Terminen seiner Laufsportgruppe auszuhändigen, den er jeden Dienstag mitbrachte. Die Termine schrieb er mit Bleistift auf ein Blatt, das auf der einen Seite schon bedruckt war. Auf die andere kritzelte er Zeit und Treffpunkt, ein paar Eckdaten der Route, die Länge der Strecke sowie eine Telefonnummer für die Anmeldung. Sie liefen immer donnerstags und samstags, deswegen war es wichtig, dass die Termine am Mittwoch in der Zeitung standen. Allerdings fiel mir schon nach wenigen Wochen auf, dass der Treffpunkt und die Zeit sich eigentlich nie änderten.

Meistens nahm Norbert das Blatt entgegen. Er saß in der Konferenz oft neben der Tür und kam als Erster heraus. Außerdem musste er die Meldung später schreiben, denn sie stand auf seiner Seite sieben – auch wenn er sie da nicht haben wollte. Norbert kannte die Laufsportfreunde. Daher wusste er, dass sie nicht liefen, sondern gingen, dass sie meistens nur zu dritt unterwegs waren, und vor allem: dass sich auf die Ankündigung in der Zeitung noch nie jemand bei ihnen gemeldet hatte.

Rehers fragte Norbert öfter, ob er nicht Lust hätte, mal mitzukommen. Aber der hatte kein Interesse. Norbert lehnte jede Form von Sport ab, ganz besonders »Langlauf ohne Skier«. Er fand die Stöcke, die sie neben sich herschleiften, lächerlich. Und er sprach von »Saufsport-Freunden«, weil er wusste, dass der eigentliche Zweck des Treffens der Umtrunk danach war. Saufsport-Freunde sagte er allerdings erst, wenn Heini Rehers wieder verschwunden war. Und das konnte dauern. Als Rentner hatte er ja Zeit und in der Redaktion auch Gesellschaft. Manchmal blieb er bis Mittag.

Heini Rehers konnte einem mächtig auf die Nerven gehen, obwohl er gar nicht viel machte. Er war nur da, aber auch wenn er nichts sagte, fühlte man sich von seinen Blicken verfolgt. Manchmal waren wir kurz davor, ihn rauszuwerfen. Aber das war nicht möglich, denn Heini Rehers organisierte einmal im Jahr unsere Weihnachtsfeier.

Warum das so war, konnte mir keiner erklären. Es war schon immer so gewesen. Oder jedenfalls so lange, dass keiner mehr wusste, wer ihm den Auftrag gegeben hatte. Natürlich war die Weihnachtsfeier auch ein Grund dafür, dass wir seine Laufsport-Meldungen in die Zeitung setzten, obwohl sie dort eigentlich nicht gebraucht wurden. In diesem Jahr allerdings war etwas passiert, das den gewohnten Ablauf in Gefahr brachte. Es gab ein Terminproblem.

Anfang Februar hatte Carsten in der Konferenz gefragt, ob einer mal was von der Weihnachtsfeier gehört hätte. Hatte aber keiner. Ich war trotzdem überrascht, dass sie so vorausschauend Dinge planten, die noch zehn Monate in der Zukunft lagen. Irgendwie war ich auch begeistert, denn das kannte ich gar nicht aus Redaktionen. Bis ich begriff, dass es noch immer um die letzte Weihnachtsfeier ging. Wir hatten Anfang März. Ein Termin war noch immer nicht in Sicht.

Es war ein Dienstag, deswegen wartete nach der Konferenz Heini Rehers vor der Tür. Carsten fragte: »Heini, gibt’s schon was Neues wegen der Feier?« Heini antwortete mit einer Geste, die wohl so viel bedeuten sollte wie: Hör mir bloß auf damit.

Dabei war eigentlich nicht viel zu tun. Rehers musste sich lediglich mit dem Kinderheim verständigen, wann wir dort in den Keller konnten. Der Leiter war ein alter Freund von ihm. Ohne Heini hätten wir den Keller nicht mieten können.

Das Kinderheim war in einer alten Kaserne untergebracht. Die Kegelbahn im Keller, ein Relikt aus Wehrmachtszeiten, wurde das Jahr über kaum gebraucht. Alle paar Wochen feierte ein Kind dort seinen Geburtstag. Nur um die Weihnachtszeit herum war es schwer, die Bahn zu bekommen, weil der Kinderheimleiter viele Freunde hatte, die dort alle gerne feierten.

Das Kinderheim hatte den Nachteil, dass es weit draußen im Wald lag, so dass man später mit dem Taxi zurückfahren musste. Aber es gab auch Vorteile, und die überwogen ganz eindeutig. Einer der größten Vorteile war, dass die Zivildienstleistenden in der Großküche Grünkohl für uns kochten und abends die Theke machten. Das war sehr bequem, weil so niemand zum Zapfen abgestellt werden musste, was eh nicht geklappt hätte. Außerdem war es deutlich billiger als in irgendeiner Kneipe. Und die Zivis freuten sich über das üppige Zubrot, denn wenn die Redakteure betrunken waren, gaben sie reichlich Trinkgeld.

Zwei Wochen später hatten wir noch immer keinen Termin. Carsten vermutete, dass der Verzug auch damit zu tun hatte, dass Heini mittlerweile auf die achtzig zuging. Er war etwas tüdelig geworden. »Wir können dem das hier ruhig sagen. Wenn der zu Hause ist, hat der das wieder vergessen«, sagte Carsten. Und ganz falsch lag er wohl nicht, denn es war nicht davon auszugehen, dass der Kinderheimleiter inzwischen so viele Freunde hatte, dass deren Weihnachtsfeiern die komplette erste Jahreshälfte ausfüllten.

Ein paar Tage darauf rief Carsten Heini zu Hause an. »Heini, für die Weihnachtsfeier ist’s ja nun schon ’n bisschen spät. Wir hatten überlegt, ob wir vielleicht dies Jahr ’ne Radtour machen«, sagte er. Dann hörte ich, wie Carsten »Alles klar« sagte und auflegte. Noch am gleichen Nachmittag stand Heini in der Redaktion. Er trug ein gelbes Sportdress, weil er auf dem Weg zum Laufen war. Das Leibchen schlackerte vor seinem Bauch wie eine Gardine vor einem offenen Fenster. Er stand immer etwas gebückt. Man konnte sich kaum vorstellen, dass dieser Mann noch in der Lage war, Sport zu treiben. Aber es schien zu gehen.

Heini war in Eile. »Wir wär’s diesen Freitag?«, fragte er.

Carsten brauchte einen Moment, um zu verstehen, worum es ging, dann strich er sich über den Kopf und sagte: »Das is jetz aber arg kurzfristig.« Er überlegte und kam zu dem Schluss, dass er erst die anderen fragen müsse.

»Ihr müsst et wissen. Freitag würd’s gehen«, sagte Heini und war schon wieder auf dem Weg nach draußen.

Carsten verschränkte die Hände hinter seinem Kopf und blies die Wangen auf. Bis Freitag. Das waren zwei Tage. Unwahrscheinlich, dass sich die schwerfällige Truppe zu so was Kurzfristigem überreden ließ. Und genauso war es. Dalia tippte sich an die Stirn und sagte »Flötepiepen«. Pohlmann schüttelte den Kopf und sagte: »Auf keinen Fall«. Noch nie vorher hatte er so klar eine Meinung formuliert. Als ich auch noch Rita Hemberger aus ihrer Ecke »Nee, nee, nee« meckern hörte, hielt ich das Vorhaben für gescheitert. Aber als Carsten am nächsten Morgen in großer Runde einwandte, dass ja auch der Zuschuss vom Verlag verloren ginge, wenn die Weihnachtsfeier ausfiele, sagte erst Dalia: »Wenn’s gar nicht anders geht, müssen wir’s eben doch Freitag machen.« Dann schlug auch die Meinung der anderen um. Am Ende waren alle dafür. Nur Franjo, der Fotograf, sagte ab.

Es gab aber noch ein Problem, und das war vor allem Norberts Problem. In den Jahren davor hatte er die Werbegeschenke besorgt, die nach dem Kegeln als Preise verteilt wurden. Den ganzen Kram zu beschaffen, war offenbar gar nicht so schwer – jedenfalls nicht, wenn man für die Zeitung anrief. Aber die Firmen brauchten Wochen, um überhaupt zu reagieren.

»Zur Not gibt’s dann halt Kugelschreiber«, sagte Norbert.

Und Karl frotzelte: »Du kannst dich ja ausnahmsweise mal anstrengen.«

Für Norbert war damit immerhin schon mal klar, dass er in diesem Jahr ein Geschenk weniger besorgen musste.

Als Brohmschulte von dem Problem hörte, sagte er: »Wartet mal, ich hab da auch noch was.«

Wir dachten an Büroartikel, Krimskrams, vielleicht eine Flasche Wein. Aber dann stellte er uns einen Stapel ungeöffneter Postpakete auf den Tisch. Wir fanden darin unter anderem einen Mixer, eine Digitalkamera und in einem Brief von einer Versicherung zwei Karten für das Fußballspiel Gladbach gegen Bremen. Auf die Frage, wo das denn alles her sei, sagte Brohmschulte, das habe ihm irgendwer zugeschickt. Es war allerdings wohl schon etwas länger her. Die Eintrittskarten waren zwei Jahre alt.

Keiner wollte Norbert sagen, dass seine Dienste in diesem Jahr nicht gebraucht wurden. Am Freitagmorgen klapperte er ein paar Firmen ab, obwohl die Korruptionsartikel in Brohmschultes Kartons allein für mindestens zwei Weihnachtsfeiern gereicht hätten. Zum Glück kam bei Norberts Streifzug nicht viel zusammen. Er war erleichtert, dass wir Ersatz hatten.

Am frühen Abend erlebten wir ein Phänomen, das wir schon kannten, für das aber keiner eine Erklärung hatte. Immer stöhnten alle, dass so wahnsinnig viel zu tun sei. Und immer hatten alle auch wahnsinnig viel zu tun – jedenfalls sah es für die anderen so aus. Aber wenn wir um 17 Uhr fertig sein mussten wie an diesem Tag, waren alle bis auf Pohlmann schon um 16 Uhr fertig und wussten nicht, was sie mit dem Rest der Zeit anstellen sollten. Pohlmann war nur dann eine Stunde früher fertig, wenn alle anderen viel zu tun hatten. Auch dafür gab es keine Erklärung.

Um kurz vor fünf hupte das Großraumtaxi vor der Tür. Es sah nicht so aus, als sei mit Pohlmann noch zu rechnen. Er starrte auf ein großes weißes Textfeld unter einer Überschrift. Die hatte er immerhin schon geschrieben. Carsten und Dalia nahmen ihre Jacken vom Haken. Das Taxi hupte ein zweites Mal.

»Ich glaub, ich schaff’s heut nicht«, sagte Pohlmann.

Karl geriet in Rage: »Seit zwei Tagen weiß der, dass er heute pünktlich sein muss, und jetzt sitzt er da und hat noch nicht mal die Hälfte fertig«, schnaubte er. Dann stampfte er kopfschüttelnd raus und schwang sich durch die Seitentür ins Taxi. Pohlmann tat, als hätte er nichts gehört.