Die Wüste - Chaim Noll - E-Book

Die Wüste E-Book

Chaim Noll

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Beschreibung

Wüsten, Trockengebiete und Steppen der Erde breiten sich aus, jedes Jahr um eine Fläche, die ungefähr der Größe Deutschlands entspricht. Die fortschreitende Wüstenbildung führt zur Flucht der ansässigen Bevölkerung, zum Teil mit spürbaren Auswirkungen auf das Leben in Europa. Auch sonst erzwingt Wüste als Landschaft und Schauplatz historischer Entwicklungen immer stärker unsere Teilnahme. Das Buch des bekannten Schriftstellers Chaim Noll hält anhand literarischer Texte von der Entstehung der Schrift bis zur Gegenwart Themen und Leitmotive einer Urlandschaft des Menschen überblicksartig fest. Viele der alten Hochkulturen entstanden, wo Wüste auf besiedelbares Land trifft. Als zentrales Motiv erweist sich die Widersprüchlichkeit der Wüste: Sie steht zugleich für Dürre und Aufblühen, für Mangel an Wasser und Überfülle an Sonne, für Niedergang und Erneuerung, für deprimierende Einförmigkeit und spirituellen Höhenflug, für Tod und Leben, Gut und Böse, Realität und Mythos.

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Chaim Noll

Die Wüste

Literaturgeschichte einer Urlandschaft des Menschen

EVANGELISCHE VERLAGSANSTALT

Leipzig

Chaim Noll, ehemals Hans Noll, geboren 1954 in Berlin als Sohn des DDR-Schriftstellers Dieter Noll, lebte von 1961 an in Ost-Berlin. Er studierte Mathematik an den Universitäten Jena und Berlin sowie Kunst und Kunstgeschichte. 1980 verweigerte er den Wehrdienst, stellte 1983 einen Ausreise-Antrag und übersiedelte mit seiner Frau und seinen beiden Kindern 1984 nach West-Berlin. Später lebte er in Stuttgart, wo seine ersten Bücher erschienen, deren Manuskripte zum Teil aus Ost-Berlin in den Westen geschmuggelt worden waren. Er arbeitete von 1988 bis 1991 als Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin (Literatursoziologie), ging aber 1992 nach Rom, wo er bis 1995 freiberuflich tätig war. 1995 übersiedelte er mit seiner Familie nach Israel und seit 1997 lebt er in der Wüste Negev. Seitdem war er bis 2019 Writer in Residence und Dozent am Center for German Studies an der Ben Gurion University, Beer Sheva, Israel, und hatte Gastdozenturen an verschiedenen ausländischen Universitäten inne. Noll hat zahlreiche Buch- und Medienveröffentlichungen aufzuweisen und ist freier Mitarbeiter vieler deutscher Zeitungen, Zeitschriften und Rundfunksender (Die Welt, FAZ, Rheinischer Merkur, stern, taz, Jüdische Allgemeine Wochenzeitung, Merkur, Lettre, Liberal, Sinn und Form, Sender Freies Berlin, Süddeutscher, Bayerischer, Westdeutscher, Saarländischer Rundfunk u. a.).

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2020 by Evangelische Verlagsanstalt GmbH · Leipzig

Printed in Germany

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Das Buch wurde auf alterungsbeständigem Papier gedruckt.

Cover: Anja Haß, Leipzig

Coverbild: © Roi Dimor/unsplash.com

Abbildungen: © Victor Zscharnt, Berlin

Satz: 3W+P, Rimpar

Druck und Binden: BELTZ Grafische Betriebe GmbH, Bad Langensalza

ISBN Print: 978-3-374-06357-4

ISBN E-Book (EPUB): 978-3-374-06359-8

www.eva-leipzig.de

Vorwort

Ich lebe in der Wüste. Freiwillig. Und habe nicht vor, diesen Ort wieder zu verlassen. 1997 wurde ich von der Ben Gurion-Universität in Beer Sheva, Israel, eingeladen, an der Gründung eines Zentrums für deutsche Studien in der Wüste Negev mitzuarbeiten. Als geborener Großstädter wusste ich so gut wie nichts über das Leben in der Wüste, seine Besonderheiten, Gefahren und Wirkungen auf die menschliche Psyche. Ich fuhr eines frühen Morgens hinaus in die unendlich scheinende, leere, mysteriöse Landschaft, erlebte den Sonnenaufgang und beschloss, das seltsame Angebot anzunehmen. Es war Liebe auf den ersten Blick.1

Vom ersten Augenblick an hat mich die Wüste motiviert und literarisch inspiriert. Ihre Leere und Weite schien mir eine grandiose Herausforderung zum Überleben und Schreiben. Auf mich wirkte die Wüste nicht abschreckend, nicht als Ort, den Menschen fliehen müssen, sondern als eine Landschaft der Möglichkeiten, der Entwicklung, der Zukunft. Zugleich begann ich mich dafür zu interessieren, was andere Schreiber, Dichter, Chronisten und Schriftsteller im Lauf der Zeiten in Wüsten erlebt, gefühlt und gedacht haben. Zunächst war es Neugier: Was lässt sich in leerer Landschaft erleben und erzählen? Wie verhalten sich Menschen in einem Milieu des Mangels, der Gefahren, der Extreme? Dann wurde mir klar, dass Literatur ein Teil der Wüstenforschung ist: Das Studium literarischer Texte – sogar weit zurückliegender wie sumerischer Keilschriften oder hebräischer Prophetenbücher – hat Forscher, Wissenschaftler und Politiker zu wegweisenden Experimenten und Entdeckungen angeregt. Moderne Wüstentechnologie wird nicht selten von aus der Antike überlieferten Kenntnissen und Erfahrungen angeregt, die in der Zwischenzeit vergessen wurden,2 und der Schlüssel zu solchen Entdeckungen liegt im Medium der Überlieferung, der Literatur.

Meine ersten Studien führten zu der im Rahmen der Sommeruniversität 2000 in Beer Sheva gehaltenen Vorlesungsreihe Die Wüste als literarischer Topos von der Bibel bis zur Moderne, in der ich zum ersten Mal einen ungefähren Überblick über das Thema zu geben versuchte.3 Mit der Literatur der Wüste beschäftigten sich auch meine im Jahr 2006 an der Universität Jerusalem gehaltene Vorlesung Beyond the Catastrophes. Desert Research as a Human Concept4 und der vom Internationalen PEN in London veröffentlichte Aufsatz Desert as a Metaphor of Human Life.5

Dieses Buch enthält die Ausbeute von mehr als zwanzig Jahren Materialsuche und Lektüre. Nicht alles Material konnte in den Text einfließen. Die Literatur zum Thema Wüste erwies sich, vor allem seit der frühen Moderne, als fast unüberschaubar, so dass ich zu meinem großen Bedauern manche Textanalyse beiseite lassen musste. Absicht war ein Streifzug durch die Literaturgeschichte von den Urzeiten des Schriftlichen bis in die Gegenwart – ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Es ging um das Nachvollziehen der wichtigsten literarhistorischen Motive eines der ältesten literarischen Themen der Menschheit. Da die frühen Schriftkulturen in Wüstengebieten entstanden – in Mesopotamien, dem alten Ägypten und dem Mittelmeerstreifen Kanaan –, war Wüste seit Bestehen schriftlicher Aufzeichnungen ein zentrales Thema der Literatur.

Heutige Wissenschaft neigt zu übermäßiger Spezialisierung, deshalb versucht dieses Buch Überblick und Zusammenhang zu schaffen. Leitmotive der Wüstenliteratur, die erneut von aktueller Bedeutung sind – etwa die seit dem altbabylonischen Gilgamesch-Epos überlieferte Dichotomie Stadt-Wüste – können so durch die Jahrtausende aus ihren Ursprüngen bis ins 20. Jh. verfolgt und nachvollzogen werden. Eine Methode, die man vor hundert Jahren »Problemgeschichte« nannte und als Ausweg aus einer drohenden Parzellierung der Humanwissenschaften verstand: statt zeitlich beschränkter Spezialstudien auf immer engeren Forschungsgebieten, ein durch die Jahrhunderte offenes Nachvollziehen der »gedanklichen Zusammenhänge der Probleme«.6

Aus Sicht der Literaturwissenschaft ist das Thema Wüste weitaus komplexer, als es zunächst scheint. Die literarische Bewertung dieser Landschaft schwankt zwischen den Extremen totaler Ablehnung und begeisterter Schwärmerei.7 Als zentrales Motiv erweist sich die Ambivalenz dieser einzigartigen Landschaft: Sie steht zugleich für Dürre und Aufblühen, für Katastrophe und Neubeginn, für Mangel (an Wasser) und Überfülle (an solarer Energie), für Niedergang und Revitalisierung, für deprimierende Profanität und spirituellen Höhenflug, für Realität und Mythos. Für die alten Ägypter war Wüste – namentlich die libysche, die »Westwüste« – schlicht der Ort des Todes, ein Synonym für die Unterwelt. In den Mosaischen Büchern erfolgte die Transformation in einen Ort göttlicher Gnade, ein Symbol des Überlebens, indem der biblische Gott, nach einer in der Wüste erfolgten Offenbarung, das Volk Israel an diesem tödlichen Ort eine vierzigjährige Wanderung überstehen ließ. Dieses hoffnungsbetonte Konzept der Wüste wurde vom Christentum übernommen und ausgebaut, zu einem symbolischen Ort der Gottesnähe und spirituellen Vervollkommnung des Menschen. »Der Grund Gottes ist Wüste«, befand der christliche Mystiker Eckhart von Hochheim im 10. Jh.8

Dagegen war Wüste in der griechisch-römischen Literatur weitgehend negativ konnotiert: Die gefährlichsten Feinde der griechischen Stadtstaaten und des Imperium Romanum kamen aus Wüsten. So blieb das Bild der Wüste in der europäischen Literatur schwankend zwischen biblischem Überlebenskonzept und griechisch-römischem Wüstenpessimismus. Aufklärung, Forschungsreisen, koloniale Eroberungen und der Niedergang des Osmanischen Reiches brachten die ambivalente Landschaft näher, machten sie zugänglicher, lösten zeitweilig Wellen der Begeisterung in Europa aus. Auch die amerikanische und russische Literatur wandten sich ab dem 19. Jh. der Wüste zu.

Um den Umfang dieser Studie überschaubar zu halten, musste mancher bedeutende Text in einer Kürze abgehandelt werden, die ihm kaum gerecht werden kann. Daher wurden Hinweise auf wichtige weiterführende Literatur in den Fußnoten vermerkt und auf ein gesondertes Literaturverzeichnis konnte verzichtet werden. Inzwischen sind viele der zitierten Bücher im Internet zugänglich. Andererseits zitiere ich Bücher, die weitgehend vergessen sind und die aus so abgelegenen Bereichen auftauchen, dass sie sich im Internet nicht finden lassen. Man möge mir dennoch glauben, dass sie existieren.

Während der Arbeit an diesem Buch hat sich das Verhältnis der westlichen Länder zur Landschaft Wüste grundlegend verändert. Noch vor zwanzig Jahren schien das Thema abwegig und von marginalem gesellschaftlichen Interesse. Inzwischen wissen die meisten Menschen in der westlichen Welt, dass vieles, was in der nordafrikanischen Sahelzone oder in den syrischen Wüstengebieten geschieht, direkte Auswirkungen auf die Situation in Europa hat. Desertifikation und Überbevölkerung lösen Fluchtbewegungen nach Norden aus, Sandstürme aus den rasant wachsenden Wüstengebieten Chinas vergiften das Klima asiatischer Nachbarländer und sollen bis Kalifornien messbar sein. Die Zunahme der Wüstengebiete der Erde hat globale Auswirkungen. Alles, was zum Verständnis dieser Landschaft und ihrer Bewohner beiträgt, nicht zuletzt die literarischen Zeugnisse, sollte gerade jetzt aufmerksam studiert werden.

Neben den literarischen Quellen gibt es eine Reihe Menschen, die für die Entstehung dieses Buches entscheidend waren. Dem inzwischen verstorbenen Kenner babylonischer Keilschriften Chaim Cohen, Universität Beer Sheva, verdanke ich unvergessliche Gespräche über die Literatur des alten Mesopotamien. Mit dem Arabisten Alexander Borg verbindet mich das Projekt der Übertragung von Beduinengesängen in europäische Sprachen, er weckte mein Verständnis für altarabische Dichtkunst und empfahl mir entscheidende Literatur. Dem Völkerkundler Gideon Kressel vom Blaustein-Institut für Wüstenforschung in Sde Boqer und dem ehemaligen Militärgouverneur der Wüste Negev Sasson Bar-Zvi, Sammler von Artefakten und Gebrauchsgegenständen nomadisch lebender Stämme, verdanke ich entscheidende Einsichten in das Alltagsleben von Wüstenvölkern. Der verstorbene Literaturwissenschaftler und Papyrologe Carsten Peter Thiede von der Theologischen Hochschule Basel war mir während seiner Gastdozenturen in Israel wichtiger Gesprächspartner über Texte des Neuen Testaments und die frühe christliche Literatur. Wüstenforscher wie der Solarphysiker David Faiman oder der Botaniker Pedro Berliner vom Blaustein-Institut verhalfen mir zu wesentlichen Einsichten in die Probleme heutiger Desertifikation. Dem Romanisten Manuel Karasek, Berlin, verdanke ich augenöffnende Diskussionen über Literatur des 19. Jh.s, dem Slawisten Nicolas Dreyer, Universität Bamberg, wichtige Hinweise zur russischen Wüstenliteratur. Mein Dank gilt den Mitarbeitern der Universitätsbibliothek Beer Sheva und der Bibliothek des Blaustein-Instituts, besonders der Abteilung Man in the Desert. Ich danke Christel Keller-Wentorf für die Vermittlung dieses Buches an die Evangelische Verlagsanstalt und deren Leiterin Annette Weidhas für die verständnisvolle Begleitung.

Meine besondere Dankbarkeit gilt meiner Frau, der Künstlerin Sabine Kahane-Noll, die seit mehr als zwei Jahrzehnten mein Leben in der Wüste teilt und hier auf einzigartige Weise künstlerisch arbeitet.9 Sie stand dem aufregenden Projekt mit großer Anteilnahme zur Seite und war wie immer die erste kritische Leserin.

Chaim Noll Beer Sheva, Israel, 1. September 2019

Inhalt

1.Mesopotamien

1.1Sehnsucht nach Struktur: Entstehung erster literarischer Texte aus der Mythologie

1.2Der »Fruchtbare Halbmond«: Frühe Literaturen der Wüste

1.3Fragmentierte Welt: Brüche im Etana-Mythos

1.4Begegnung von Stadt und Wüste, Innerhalb und Außerhalb, Stadtbewohner, Steppenmensch: Das Gilgamesch-Epos

2.Altes Ägypten

2.1»Schwarzes« und »rotes« Land: Das Ägyptenbild des Herodot

2.2»Wüste und Fruchtland sind in Frieden« – Darstellungen in der frühen ägyptischen Literatur

2.2.1Das »Außerhalb« als Zufluchtsort: Die Geschichte des Höflings Sinuhe

2.2.2Wüste als Symbol der Ambivalenz unseres Daseins: Die Fabel von Katze und Affe im Mythos Sonnenauge

2.2.3Wüste als Metapher für Asozialität: »Tanzen in der Wüste«

3.Die hebräische Bibel

3.1Wüste als Ort der Befreiung: Die mosaischen Bücher

3.1.1Semantische Nähe von »Wüste« und »Wort«

3.1.2Der midbar als Dichotomie

3.1.3Abrahams Erschließung des »Fruchtbaren Halbmonds«

3.1.4Parabel zur Einführung des Topos midbar: Hagars Rettung

3.1.5Metapher »Brautzeit«: Israel in der Wüste

3.1.6Ort des Todes – Ort der Gnade

3.2Wüste als Quelle der Inspiration: Die biblischen Propheten

3.3Poesie der Wüste: Die Psalmen

3.4Wüste als Sinnbild von Tod und Werden: Das Hohelied

4.Die apokryphen Bücher

4.1Überleben in der »Wildnis«: Zweites Buch Makkabäer

4.2Wüste als Ort des »bösen Geistes«: Das Buch Tobit

4.3Nacherzählung von Israels Wüstenwanderung in den Büchern Judith und Weisheit Salomos

5.»Rufer in der Wüste«: Die Evangelien

5.1»Der Hebräer Jesus«

5.2Zwei entgegengesetzte Konzepte prophetischen Auftritts: Jesus und Johannes

5.3»Voll heiligen Geistes«: Jesus in der Wüste

5.3.1Die Sündenbock-Metapher

5.3.2Freiheit und Sicherheit als Antipoden: Dostojewskis »Gespräch mit dem Großinquisitor«

5.4»Die Kaufleute auf Erden werden weinen«: Die Offenbarung des Johannes

6.Griechische Literatur

6.1Früher Wüstenschock: Die Argonauten in Libyen

6.2Libyen als extraterrestrisches Gebiet: Herodots Historien

6.3Militärischer Minimalismus: Xenophon, Anabasis

6.4Wüste als Chiffre für Despotie: Sophokles, Antigone

6.5Zwei gegenläufige Aussagen in Platon, Politeia (Der Staat)

6.5.1Wüste als Ort der Enthumanisierung

6.5.2Wüste als Symbol für Revitalisierung: Die Geschichte des Er

7.Römisches Reich

7.1Wüste als Horror Vacui: Lucanus, De Bello Civili

7.1.1Alptraum des Adels

7.1.2»Rednerischer Schmuck der Diction«: Beurteilung durch Zeitgenossen und Spätere

7.1.3Lucanus’ Poem als Ausdruck menschlicher Wüstenfurcht

7.2Wüste als Schlachtfeld: Josephus Flavius

Annex:Lion Feuchtwanger,Josephus-Trilogie

8.Wüstensehnsucht: Der Talmud

8.1Gefürchtete Gemara: Gründe ihrer Entstehung

8.2Basisdemokratische Bewegung: Die Pharisäer

8.3Ort der »zehn Prüfungen«: Wüste im Talmud

9.Wüste als Raum eines anti-sozialen Entzugs: Anachoreten und Koinobiten

9.1Vorgeschichte in älteren Religionen

9.1.1Buddhismus, Taoismus, Hinduismus

9.1.2Judentum und Urchristentum

9.1.2.1Nasiräer

9.1.2.2Essener und Therapeuten

9.1.2.3»Trenne dich nicht ab ...«: Rabbinische Überlebensstrategie

9.2Fast weißer Fleck: Jüdisch-christliche Übergangszeit

9.3Frühchristliche Eremiten in Judäa und der Wüste Negev

9.4Einsetzen der abendländischen Wüstenliteratur: Die Wüstenväter

9.4.1»Fürchte dich nicht vor der Einsamkeit der Wüste«: Origenes

9.4.2Die Macht der Askese: Tertullian

9.4.3Entwurf einer weltliterarischen Figur: Die Vita Antonii des Athanasius von Alexandria

9.4.3.1Freiwilliger Rückzug in die Wüste als heroische Tat

9.4.3.2Das »Dämonische« als neues literarisches Motiv

9.4.3.3Reflexion innerchristlicher Zerrissenheit: Die Antonius-Figur bei Gustave Flaubert

9.4.3.4Hilarion von Gaza als »Advocatus diaboli«

9.4.3.5Bannen der »Dämonen« durch Sprache: Sigmund Freuds Flaubert-Lektüre

9.4.4»Wer nicht versucht ist, wird auch nicht erlöst«: Die Sprüche der Wüstenväter

9.5»Gehorsam, die Rettung der Getreuen«: Koinobiten und Klöster der Wüste

9.5.1Spektakuläre Formen der Askese: Säulensteher, Schlaflose, Hungerakrobaten

9.5.2Demut als gottgefällige Tugend: »Engelsregel« des Pachomius

9.6Nördliche Variante des Eremitentums: Die Wüste im Wald

9.6.1Wüste und Askese als »semantischer Konnex« des europäischen Christentums

9.6.2Thomas von Aquins Aufhebung des Antagonismus von vita contemplativa und vita activa

9.6.3Mönche und Nonnen als »Antiquare Gottes«

9.6.4»Waldwüste«: Neben- und Miteinander von Kloster und Eremitentum

9.6.5Die Figur des Einsiedlers in der europäischen Literatur

9.6.5.1»Waldwüste« als Ort der Menschwerdung: Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen, Der abenteuerliche Simplicissimus

9.6.5.2Der Einsiedler als Krieger: Walter Scott, Ivanhoe

9.6.5.3Einsamkeit als elitäres Selbstverständnis: Robert Louis Stevenson, Der Pavillon in den Dünen

Annex:Einsamkeit als Metapher für Befreiung aus Sklaverei: Naomi Mitchison,The Delicate Fire

9.7Das eremitische Leben als Inspiration für Literatur: Der Dichter Tao Yüan-ming

10.Arabische Literatur

10.1Vorislamische Poesie

10.1.1Transition und Bewegung: Die Vokabel Arabien

10.1.2Der Stamm als Eremit: Wüstenleben im Kollektiv

10.1.3»Gesetzlose Freiheit« – Die Beziehungen zwischen den Stämmen

10.1.4Schmähgedicht und Elegie: Funktionen arabischer Dichter in der Stammes-Hierarchie

10.1.5Das Metrum der Kaside: Poesie der Wüste als Gesang

10.1.5.1Verwüstetes Lager, verlassene Geliebte: Erster Teil der Kaside (nasib)

10.1.5.2Das zentrale Ereignis der früharabischen Poesie: Der Wüstenritt (rahil). Exkurs über das Kamel

10.1.6Abkehr vom Stammeskrieg: Die Ode des Zuhair

10.1.7Einender Gott, um vereint zu kämpfen: Mohammeds rettende Idee

10.2»Als er sein Volk in den Sanddünen warnte«: Der Koran

10.2.1Der Koran als Werk der »Rezeptivität«

10.2.2Strategeme eines Stadtbewohners: Mohammeds Umgang mit den Arabern der Wüste

10.2.3»Lass ab davon und trinke guten alten Wein ...« – Die Shu’ubija als Emanzipation der unterworfenen Völker

11.Literatur der europäischen Pilger, Reisenden und Kreuzfahrer seit der Spätantike

11.1»Fehlt noch der Blick in die Ferne ...«: Geringe Wahrnehmung der Landschaft in der frühen abendländischen Literatur

11.2Früheste Pilgerliteratur

11.2.1Exakte Vermessung: Der Pilger von Bordeaux

11.2.2Bewunderung der biblischen Landschaft: Egeria oder »die Spanische Nonne«

11.2.3Weitere Pilgerinnen, ihre Vorbildwirkung, Gefahren und ihr päpstliches Verbot

11.2.4Das »Heilige Land« als Sehnsuchtsort: Eucherius von Lyon und sein »Lobpreis der Wüste«

11.3Pilgerliteratur als Genre und Institution

11.3.1Erster Umriss: Der Pilger von Piacenza

11.3.2Land der Wunder, Fabelwesen: Topographie des Nahen Ostens nach biblischen Ereignissen

11.4Authentische Kenntnis durch offene Konfrontation: Die Kreuzzüge

11.4.1Kreuzzugschroniken als erste Form literarischer Reflexion

11.4.2»Kaum jemand weiß, wo der Weg geht ...« – Reiseberichte der Kundschafter: Burchardus von Straßburg, Wilbrand von Oldenburg

11.4.3Jüdische Selbstvergewisserung im Schatten der Kreuzzüge: Benjamin de Tudela, Petachja von Regensburg, Ovadia di Bertinoro

11.4.4»Löwen in großer Zahl«: Die Umwege des Magisters Thietmar

11.4.5Ein aus dem Leid geborenes Trotzdem: Zunahme der Pilger- und Reiseliteratur nach den Kreuzzügen

11.4.6Einfluss der Pilgerliteratur auf europäisches Denken: Burchardus de Monte Sion, Wilhelm von Boldensele, Ludolf von Sudheim

11.4.7»Sie ist ein trockenes Gelände ...«: Der innere Konflikt zwischen Troubadour und Kreuzfahrer

11.5Transformation in exotische Räume: Marco Polo, Jean de Mandeville

11.6»Der Grund Gottes ist Wüste«: Meister Eckhart

12.Sufismus

12.1Milieu der Entrückung: Erste Sufi im Zweistromland

12.2»Nur die es verdienen, finden ihre Wüste«: Jalal al-Din Rumi und die persische Sufi-Szene

12.3Wüstenreise zur »Entdeckung der Geheimnisse Gottes«: Ibn-Arabi

13.Welterkenntnis und Wissenserwerb: Reisen des Spätmittelalters

13.1Rhinozeros oder Einhorn: Wüstenbilder bei Hans Tucher, Bernhard von Breydenbach, Felix Fabri

13.2Pionier der Afrikanistik: Leo Africanus

13.3Aufdämmernde Aufklärung: Pietro della Valles ausgedehnte Pilgerreise bis Indien

13.4Reisen zu den Reichtümern Indiens:Jean-Baptiste Tavernier

13.5Inspiration aus dem Hebräischen: John Milton, Paradise Lost

13.6Forschungsreisen: Palmyra-Gruppe, Richard Pococke, Frederik Ludvik Norden

13.7Entstehung des Wüstenbildes der Moderne

13.7.1Die Wüste als Aufruf zur Revolution: Comte de Volney

13.7.2Entschlüsselung antiker Schriften: Carsten Niebuhr

13.7.3Verkleidet nach Mekka und Medina: Johann Ludwig Burckhardt, Richard Francis Burton und andere

Annex:Märchen aus dem »Morgenland«

1.Die Märchen aus Tausendundeiner Nacht

2.»Morgenländisch, das ist einfach, groß und edel«: August Jacob Liebeskind,Palmblätter-Erzählungen

14.Romantisierung des Morgenlandes im Abendland

14.1Orientreise als écriture de soi: Chateaubriand, Alphonse de Lamartine, Hermann Fürst von Pückler-Muskau, Benjamin Disraeli

14.2Mosaische Religion als »Teil der Aufklärung«: Friedrich Schiller, Die Sendung Moses, Johann Wolfgang Goethe, Israel in der Wüste

14.3Autobiographie in Wüstenbildern: Clemens Brentano, Ich bin durch die Wüste gezogen, Ludwig Tieck, Trauer

14.4»Wüster immer, öder werden da die Menschen ...«: Friedrich Hölderlins spätes Fragment Vom Abgrund

14.5Sehnsucht nach niegesehener Ferne: Wilhelm Hauff, Die Karawane

14.6Transparenz des Himmels und der Gefühle: Honoré de Balzac, Une passion dans le désert

14.7»Weltgeheimnis Schicksal«: Adalbert Stifter, Abdias

14.8»Ein Leichnam – lag ich in der Wüste«: Mehrdeutigkeit des Topos im Werk russischer Dichter

14.8.1»In finstrer Wüste zog ich hin ...«: Gogol, Schukowski, Puschkin, Lermontow

14.8.2»Ich bin eine Wüste«: Die Symbolisten und Iwan Bunin

14.8.3»Immer dasselbe: Himmel, Ebene und Hügel«: Anton Tschechow, Die Steppe

15.Öffnung eines fest konnotierten Topos: »Wüste« in der Literatur der Moderne

15.1Überwindung der Trägheit: Gustave Flaubert Reise in den Orient, Salambo, Herodias

15.2Jules Verne, Fünf Wochen im Ballon

15.3Wüste als Modethema der besseren Gesellschaft: Fanny Lewald, Diogena, Ida Gräfin Hahn-Hahn, Orientalische Briefe

15.4»Es ist das Historische, das fesselt«: Mark Twain, The Innocents Abroad

15.5Illusion der Freiheit im Raum: Karl May, Durch Wüste und Harem

15.6Apotheose des Wüstenmenschen: Friedrich Nietzsche, Zarathustra, Wüsten-Fragment

15.7»Außerdem ist es mein Herz«: Stephen Crane, In der Wüste

16.Zwanzigstes Jahrhundert: Die versuchte Verwüstung der Welt

16.1»Die Wüste ist nur ein Tor«: Rainer Maria Rilke, Tagebücher aus der Frühzeit

16.2»Sterbliche Glorie, unerträgliche Pracht«: André Gide, L’Immoraliste

16.3Missverstandene Allegorie: Franz Kafkas Erzählung Schakale und Araber. Mit kurzem Exkurs über den Schakal

16.4Biblische Bilder in den Trümmern der Neuzeit: T. S. Eliot, The Waste Land

Annex:Ringelnatz, Blake, Longfellow, Freiligrath und die Faszination des Sandes

16.5Neuordnung des Nahen Ostens

16.5.1Wüste als »großer Raum, bereit zum Empfang einer grandiosen Gesellschaft«: Gertrude Bell, Persian Places

16.5.2Rückkehr der Wüste in die Weltgeschichte: Thomas Edward Lawrence, Seven Pillars of Wisdom

Annex:Agatha Christie, Inspiration bei Ausgrabungen im Nahen Osten und ein passender Ehemann

16.6Schatten der Shoa: Wüste im Werk deutscher Emigranten

16.6.1»Staub und Stein waren verklärt ...«: Wüstenlandschaften im Werk Thomas Manns

16.6.2»Wüstensturm« als Metapher für den Genozid: Franz Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh und Höret die Stimme

16.7Mann der Messungen: Sven Hedin, Durch Asiens Wüsten

16.8Mystik, Unterbrechung, Therapie: Drei amerikanische Autoren über den Topos Wüste

16.8.1Versuch einer Formel: Joseph Wood Krutch, The Mystique of the Desert

16.8.2Landschaft als Unterbrechung: Jack Kerouac, On the Road

16.8.3Im Sand Kriechen als Therapie: Edward Abbey, Desert Solitaire

17.»Ort der Zuflucht« – Wüste als Möglichkeit der Zukunft

17.1Reise ohne Rückkehr: Else Lasker-Schüler, Das Hebräerland

17.2Verwandlung ins Paradiesische: Antoine de Saint-Exupéry, Der kleine Prinz und Wind, Sand und Sterne

Annex:»Plötzlich strich der Schatten unseres Flugzeugs ...«: Annemarie Schwarzenbach,Sonnenaufgang über der Wüste

17.3»Vielleicht wird man nur noch in der Wüste atmen können« – Henry Millers Vision einer suizidalen Menschheit

17.4Rückfall in die Wüste: Jorge Luis Borges, Der Unsterbliche und Die zwei Könige und die zwei Labyrinthe

17.5»Er fühlte sich dadurch als Pionier«: Paul Bowles, Himmel über der Wüste

17.6Begegnung mit Anubis: Albert Camus, Die Ehebrecherin

17.7»Da lag sie, mit ihren in der Sonne glitzernden Türmen« – Die Stadt als Abbild der Wüste

17.7.1»Bereit, uns zu verschlingen«: James Baldwin, Heimkehr aus der Wüste

17.7.2Erkundung des Topos durch sein Gegenbild: Elias Canetti, Die Stimmen von Marrakesch

17.8Wüste als »Heilanstalt«: Ingeborg Bachmann, Der Fall Franza

Annex:»Und fühl noch den Brand auf den Wangen« – Paul Celan,Ein Lied in der Wüste

17.9Flucht nach Europa und zurück in die Wüste – Jean-Marie Le Clézio, Le Desért

Annex:»Irgendwann werd’ ich wieder da sein« – Kurdo,Verbrecher aus der Wüste und Heimweh

Epilog: »Verwüstung« als globale Herausforderung

Bildteil

1.Mesopotamien

1.1Sehnsucht nach Struktur: Entstehung erster literarischer Texte aus der Mythologie

Die Wüste war das »Außerhalb« der sumerischen Stadtstaaten. Dagegen stand – in den Gründungsmythen für die Ordnung der Welt – die Stadt, ein der Wüste abgerungener, vergleichsweise sicherer Ort. Ein ummauerter Raum, in dem der Herrscher des Gebietes seinen Sitz hatte, die Priesterschaft der Heiligtümer, der Markt zum Austausch zwischen Stadt und Außerhalb. Aus den Mythen der Stadtgründung gingen Götter-Hymnen, Oden, erste Dichtungen hervor, auf Tontafeln fixiert, um bei passendem Anlass öffentlich gesungen zu werden. Auch die Gegenform entstand, Klagelieder über die Abwendung der Götter und dadurch ausgelöste Katastrophen wie die Zerstörung der Städte Ur oder Akkad: »Die heilige Innana verließ wie eine Jungfrau, die ihr Gemach verlässt, das Heiligtum Akkad.« Oder: »Die Zeit zu ändern, die Regeln umzustürzen, verschlingt das böse Wetter alles wie ein Orkan.«10

Schrift fungierte als Medium der Kommunikation mit den göttlichen Sphären. Im Grunde ist es die gleiche Idee, die später – nur in umgekehrter Richtung – die Erteilung eines verbindlichen göttlichen Gesetzes an die Menschen in Schriftform zur Folge hatte. Frühes Beispiel ist der auf eine Diorit-Stele gemeißelte Gesetzeskodex des babylonischen Königs Hamurabi (um 1800 v. Chr.).11 Das Schriftliche gab den Geboten und Regularien die Verbindlichkeit göttlicher Aufsicht und Anteilnahme. Am deutlichsten konsolidiert sich diese Praxis bei den Hebräern, einem früh bezeugten Volk,12 das schließlich eine Schriftrolle zum Zentrum seines Gottesdienstes machte, als Symbol seines Bundes mit einem schriftlich sich äußernden Gott. Die darin enthaltenen »Zehn Gebote« (vgl. Kapitel 3.1.5), auch Dekalog genannt (2. Mose 20,2–17 und 5. Mose 5,6–21), wurden über die Vermittlung des Christentums zum Grundbaustein universaler Ethik.

Schrift als Medium des Gesetzes, das Gesetz als Mittel der Ordnung. Auch in der sumerischen Literatur »erscheint als ein bestimmendes Moment immer wieder die Sehnsucht nach möglichst gleich bleibender Ordnung auf Erden«.13 Diese Ordnung im Kosmos zu wahren, galt als die eigentliche Aufgabe der Götter. Sie wurde festgeschrieben, damit keiner sie vergaß: weder Gott noch Mensch. Analog hatte der von den Staatsgöttern determinierte Staat »die Ordnung gegen Störungen im Innern sowie gegen die ordnungsfeindlichen Mächte der Steppe« zu sichern.14 Denn »der Staat«, den diese Texte beschreiben, ist ein kleinräumiger, ummauerter Stadtstaat, umgeben von durch Kanäle bewässerten Feldern und Farmen, die zu seiner Versorgung nötig sind, und um diese herum ein Gebiet des Übergangs, der Steppe, der Halbwüste, saisonal als Weidegrund für Herden geeignet, doch allmählich ins Trockene, Nicht-mehr-Nutzbare übergehend und damit ins Feindliche, Außer-Staatliche und Außer-Weltliche. Gruppen von Menschen, die sich dort, im gesetzlosen »Außerhalb«, bewegten, schweifende Nomaden oder aus der Ferne eindringende fremde Völker, wurden zunächst nur unter dem Gesichtspunkt einer die eigene Ordnung bedrohenden Gefahr wahrgenommen. Ihre bloße Existenz gefährdete die gedachte Anordnung der Welt, weshalb man sie soweit wie möglich ausschloss.

1.2Der »Fruchtbare Halbmond«: Frühe Literaturen der Wüste

Schon die älteste Literatur Mesopotamiens – bewahrt auf Tausenden mit Keilschrift-Zeichen beschrifteten, in Bibliotheken gesammelten Tontafeln des sumerischen und akkadischen Reiches, später des babylonischen und assyrischen – ist in ihrem Ursprung mit der Wüste verbunden. Die glorreiche Zivilisation, aus der sie hervorging, war in einem zwischen Wüstengebieten liegenden, durch das nahe Beieinander zweier großer Flüsse und ihrer Mündungsgebiete gebildeten fruchtbaren Landstreifen entstanden. Ähnlich verhält es sich mit dem Ursprungsland der altägyptischen Literatur: Zwei Wüsten flankieren ein langgestrecktes Flusstal und sein gewaltiges Delta. Das zwischen beiden Uralt-Zivilisationen sich aufspannende Gebiet nannte der amerikanische Ägyptologe James H. Breasted Ende des 19. Jh.s anschaulich den »Fruchtbaren Halbmond« (Fertile Crescent).15

Diese bogenförmige Landmasse besteht zum überwiegenden Teil aus Wüsten.16 Sie schließt auch das dritte Gebiet ein, das um diese Zeit eine eigene Schrift und Literatur hervorbrachte: Kanaan, später Phönizien, Judäa und Israel – die Gegend, in der, nach Keilschrift und Hieroglyphen, eine weitere, noch effektivere Form der zeichenhaften Chiffrierung des Gesagten und Gedachten entstand, das erste Buchstaben-Alphabet der Menschheit.

Während die Schriften der altsumerischen und altägyptischen Kulturen auf sogenannten Ideogrammen beruhen, Zeichen für bestimmte Begriffe, die jeweils eine Sache, einen Tatbestand oder eine Idee verbildlichen, ist das kanaanitische Alphabet ein System wechselnder Zeichen, die einen bestimmten Laut repräsentieren und dadurch wie Bausteine zur Bildung beliebig vieler Begriffe beitragen können. Der Vorteil der Ideogramme bestand in ihrer internationalen Verwendbarkeit, ihrer visuellen Lesbarkeit und Erlernbarkeit auch für Fremde, da das Bild das gleiche bleibt, wie immer der betreffende Begriff in dieser oder jener Sprache gesprochen wird. Folglich waren die sumerischen Schriftzeichen im gesamten Mittleren Osten verbreitet, bei Akkadern, Babyloniern, Assyrern, Elamitern, Hethitern, Persern und anderen Völkern.17 Ihr Nachteil lag in der kaum überschaubaren, ständig wachsenden Vielzahl von Schriftzeichen, Keilschrift-Gebilden oder Hieroglyphen, von denen jedes jeweils auf ein und denselben Begriff fixiert blieb. Dagegen zeigte sich der revolutionäre Gewinn der Buchstaben-Alphabete in der von vornherein begrenzten, relativ kleinen Zahl ihrer Zeichen. In immer anderer Kombination konnten sie beliebig viele Begriffe abbilden, so dass sich mit fortschreitender Entwicklung dem Sprach-Fundus immer neue Tatbestände hinzufügen ließen, ohne jedes Mal ein neues Schriftzeichen erfinden und einführen zu müssen.18

Das System der Ideogramme war in relativ starr organisierten Stadtstaaten entstanden, wo die Zahl der Begriffe im Rahmen einer sich nicht verändernden Ordnung überschaubar blieb. Doch für sich bewegende Völker – wie die seefahrenden Phönizier oder die lange umherwandernden Hebräer – ergab sich die Notwendigkeit, immer neue Realitäten in ihr Denken einzubeziehen, folglich neue Begriffe zu bilden. Im Zuge dieser Entwicklung wandelte sich auch die sumerische Keilschrift in eine Silbenschrift, aus der später eine phonetische Konsonanten-Schrift, die ugaritische Schrift, hervorging. Sie wurde dennoch – da diese Entwicklung vermutlich später als anderswo erfolgte – durch andere Schriftformen, vor allem durch die im Land Kanaan entstandene sogenannte phönizische Schrift verdrängt. Letzte Keilschrifttexte sind aus seleukidischer Zeit um 300 v. Chr. bekannt. Auf Dauer erwiesen sich die alphabetischen Schriften als flexibler, innovationsfreudiger, ausdrucksstärker und nuancenreicher als die ideographischen und setzten sich im Verlauf der Jahrhunderte durch. (Zu dieser Theorie gibt es ein gewichtiges Gegenbeispiel: die chinesische Schrift. Auch chinesische Schriftzeichen sind Logogramme, mehrere Tausend Jahre alt und dennoch bis heute in Gebrauch. Sie bilden zweifellos das am längsten ununterbrochen genutzte Schriftsystem der Welt. Allerdings sind Chinesen, die mit Ausländern kommunizieren wollen, zugleich zum Erlernen eines Buchstaben-Alphabets gezwungen.)

Allen drei Entstehungsorten früher Hochkultur ist gemeinsam, dass sie Randgebiete von Wüsten sind, Landschaften, in denen große Gewässer auf Trockengebiete treffen, die Ströme Euphrat und Tigris in Mesopotamien, der Nil in Ägypten, die vegetationsreiche Mittelmeerküste im Land Kanaan. Hier kamen mit Sonnenenergie versorgte, potenziell fruchtbare Landmassen mit dem lebenspendenden Medium Wasser in Berührung, so dass die nährstoffreichen Wüstenböden für hochentwickelte Landwirtschaft genutzt werden konnten.

Der Begriff »Randgebiet von Wüste«, kürzer »Wüstenrandgebiet« sei hier festgehalten als der entscheidende terminus technicus zur Erläuterung des Problems. Nicht mitten in Wüsten oder abseits von Wüsten entstanden die frühen Hochkulturen, sondern an ihren Rändern, in Zonen des Übergangs und der Verwandlung zwischen diesen beiden menschlichen Daseinsformen, dem fixierten Gebiet der Siedelnden und dem offenen Land der nomadisch Schweifenden. Metamorphose, das Nebeneinander und der Übergang von einem zum anderen Zustand, erweist sich als die eigentlich kreative Situation des Menschen. So erscheint bereits in der frühen sumerischen Reflexion der Wüste eines der Leitmotive, das den Gegenstand bis heute charakterisiert: seine Ambivalenz.

Sie zeigt sich in der Dichotomie zwischen aridem Ödland und fruchtbarem Anbaugebiet, zugleich in der schon früh beobachteten Einheit dieser beiden gegensätzlichen Zustände, da beide Landformen, wenn auch zu anderen Jahreszeiten, an ein und demselben Ort in Erscheinung treten können. Dieses Bild radikalen Wandels bildet die eigentliche Spannung des Topos Steppe oder Wüste in der Wahrnehmung durch die frühen Hochkulturen. Den dramatischen Wechsel innerhalb desselben Biotops erklärte man sich als göttliche Einwirkung. Von den Sumerern wurde die Dürre und Degradation fruchtbaren Gebiets in Trockenland als »Strafe der Götter« verstanden, als »der Fluch, erlassen von der göttlichen Macht, um ihr Missfallen zu zeigen«.19 Der gegenläufige Prozess galt entsprechend als Zeichen göttlicher Gnade. Da jedoch die betreffenden Ländereien immer die Neigung hatten, ins Unfruchtbare und Todbringende zurückzufallen, sahen die alten Sumerer die Wüste als »Wohnstätte der bösen Mächte«.20 Sie nannten diese Landschaft edin. Der Terminus meinte eher Steppe oder von Dürre bedrohte Ebene als Sandwüste, eher »Halbwüste« oder »Wüstenrandgebiet«, die Zone des Übergangs, des Ineinander, des Doppelt-Möglichen.

Der Begriff edin, ideographisch festgehalten in einem eigenen Keilschrift-Zeichen, erfuhr weite Verbreitung, da Ideogramme von Völkern verschiedener Sprachen verstanden wurden. Der Terminus edin erscheint in den berühmten Gudea-Zylindern, die eine Hymne anlässlich der Erbauung eines Tempels im sumerischen Stadtstaat Lagash überliefern. Auch der jüdisch-christliche Begriff »Eden« (biblisch: gan eden, Garten Eden) ist auf das altsumerische edin zurückgeführt worden.21 Durch Nennung der das Gebiet umgrenzenden Flüsse, darunter des Euphrat, gibt die biblische Schöpfungsgeschichte eindeutig Mesopotamien als Standort des Gartens Eden an (1. Mose 2,10ff.).

Der sumerische Terminus edin enthält – mythologisch motiviert – die Ambivalenz des Topos Wüste, die in der Literaturgeschichte immer wieder auftauchen wird: ein und dasselbe Wort kann wüstes wie kultiviertes Land bezeichnen, letzteres, wenn im Winter der Gott Dumuzi, Gott des Getreides und des Bieres, darin wohnt. In der Überlieferung der altbabylonischen Neujahrsriten wurde er jedoch im Sommer von Wüstendämonen in die Unterwelt entführt, worauf seine Schwester Gestianna, Göttin der himmlischen Weinreben, eine liturgische Klage anstimmte: »In der Steppe überwältigt vom Sturme!/ In der Steppe eingeschlossen […],/ In der Steppe der Unterwelt […]«.22 Auffallend ist, dass in der Wüste oder Steppe die »Unterwelt« liegen soll und dass man sich dort »eingeschlossen« fühlte, nicht etwa in der Stadt, wo man es tatsächlich war.

Nach Dumuzis Entführung in die Unterwelt verwandelt sich edin, eben noch frühlingshaft grünes Weideland, plötzlich in unfruchtbare Wüste. Erst nachdem der Gott im Herbst aus der Unterwelt zurückkehren kann (Innana, die altsumerische Liebesgöttin, beschließt, an Stelle ihres Geliebten Dumuzis ein halbes Jahr in die Unterwelt zu gehen, weshalb dieser in die obere Welt zurückkehren darf), zeigt sich edin erneut als blühendes Land.23 Durch die Verbannung und Rückkehr von dort wird zugleich der periodische Aufenthalt in der Wüste mit dem Ereignis einer Wiedergeburt oder Erneuerung verbunden. Alfred Jeremias führte das sich später, in der Bibel, zum Leitmotiv historischer Umstürze entwickelnde Konzept einer durch Aufenthalt in der Wüste erfolgenden »Befreiung« auf die Dumuzi-Geschichte zurück, schriftlich überliefert durch die Hebräer, die ihre Abkunft mit Abraham, einem Flüchtling aus der babylonischen Stadt Ur, symbolisieren.

Die Dumuzi-Inanna-Geschichte demonstriert zum ersten Mal literarisch die Wandelbarkeit der Wüste. Das Land, dem die Gottheit ihren Segen entzieht, fällt der »Verwüstung« anheim, der Desertifikation. Aus der sumerischen Mythologie ging Dumuzi in akkadische, babylonische und assyrische Religionen über, in akkadischer Sprache wandelte sich sein Name in Tamuz. Mit diesem Namen blieb im hebräischen Schrifttum auch dessen Botschaft bewahrt: die rhythmische Bipolarität der Wüste im Zyklus der Zeiten. Ihr Wechselspiel findet sich als Leitmotiv in den hebräischen Psalmen, die – im Original oder in Übersetzungen in fast alle Sprachen der Welt – bis in unsere Tage ständig gelesen werden.

1.3Fragmentierte Welt: Brüche im Etana-Mythos

Der sumerische Etana-Mythos wird auf die Zeit um 2400 v. Chr. datiert. Von diesem Text sind nur fragmentarische Stücke erhalten, schriftlich niedergelegt in weit auseinander liegenden Perioden.24 Rätselhaft bleibt der Zusammenhang zwischen den zwei verschiedenen Teilen des Mythos, der zu Anfang berichteten Gründungsgeschichte einer sumerischen Stadt und der im Weiteren erzählten Fabel vom Adler und der Schlange – einzige Verbindung ist das Erscheinen der Figur Etana in beiden Stücken.

Ein Text, der den Übergang zwischen beiden Fragmenten herstellt, ist schwer vorstellbar, denn der fehlende Zusammenhang beruht nicht nur auf der technischen Fragmentierung durch zerbrochene Schrifttafeln, sondern auch auf einem fragmentierten Denken. Die Kultur der alten Babylonier war eine geschlossene Stadtkultur, bestimmt vom »Gegensatz zwischen dem gesicherten, wohlorganisierten Gemeinwesen in den Mauern der Stadt gegenüber einem ungesicherten, chaotischen Leben in den Marschen des Südens und den Wüsten des Westens«.25 Der erste Teil des bruchstückhaften Mythos betrifft Ereignisse innerhalb der Mauern, der zweite Teil, die Adler-Schlange-Erzählung, spielt dagegen im »Außerhalb«, im Steppen- und Wüstenumland des neu gegründeten Stadtstaates.

Der Herrscher über die Stadt, Etana, wurde vom Himmel gesandt, um den Ort seiner Sendung zu regieren – das Urbild des »Gottesgnadentums«. Umso seltsamer mutet es an – im Sinne des gebotenen Gehorsams gegenüber den Göttern fast rebellisch –, dass er im zweiten Teil wieder in den Himmel zurückkehren will. Getragen von jenem Adler, der zuvor an einem außerhalb der Stadt liegenden Ort – in der Steppe oder Wüste – eine heftige, ins Gewaltsame übergehende Auseinandersetzung mit einer großen Schlange hatte. Wie kam der Herrscher ins »Außerhalb«? Die sumerische Königsliste überliefert Etana als den ersten König des Stadtstaates Kisch: »Etana, der Hirte, der zum Himmel aufstieg, der alle Fremdländer stabilisierte, wurde König«.26 Er war Gründer einer Dynastie, sein Sohn Balich ist nach ihm in der Königsliste aufgeführt. Und dieser Sohn – besser gesagt: die Sorge um sein Ausbleiben – war offenbar der Grund für die Himmelfahrt mit dem gefallenen Adler, von der im zweiten, scheinbar zusammenhanglosen Teil des Mythos erzählt wird.

König Etana, so überliefert das Fragment, betrieb mit großem Aufwand die Suche nach einem »Gebärkraut«, als seine Gattin nach geraumer Zeit noch immer keinen Thronfolger zur Welt gebracht hatte. Wahrscheinlich ging er zu diesem Zweck in die Wüste. Dort traf er den Adler, der sich erbot, ihn zur Erlangung des gesuchten Krauts in den Himmel zu befördern. Das hieß, der König, als er in Not geriet und eines besonderen Mittels bedurfte, um sich, die Dynastie und die Zukunft seines Staates zu sichern, verließ die ummauerte, sichere Stadt und ging hinaus ins »ungesicherte, chaotische« Umland, in die Steppe, die Wüste. Zur Sicherung seiner Herrschaft, seines Stadtstaates wagte er, mit den Worten der Orientalistin Annette Zgoll, »eine Grenzüberschreitung, die über das Menschenmögliche und dem Menschen Geziemende hinausgeht«.27

Dieser Vorgang, dieses Hinausgehen und Entfernen vom Eigenen, symbolisiert durch eine »Himmelfahrt«, die das Vertraute ferner und ferner, kleiner und kleiner erscheinen lässt, ist so ungeheuerlich, dass Etana den ersten Versuch abbricht. Es folgt eine Lücke in der Tontafel, dann, mit wieder einsetzendem Text, ein zweiter Anlauf. Etana wurde durch einen Traum in seinem Vorhaben bestärkt. Er erreicht den Himmel, und obwohl hier wiederum der Text des Fragments abbricht, spricht die in der sumerischen Königsliste dokumentierte Existenz eines Sohnes und Nachfolgers für ein Gelingen des zweiten Versuchs.

Literaturgeschichtlich gesehen handelt es sich um einen bedeutsamen Vorfall: Der Herrscher der Stadt, der von der Göttin Ishtar eingesetzte König, durchbricht das bisherige Muster einer eingehegten Existenz und geht hinaus in die Wüste, um die ausgesperrte Fremde in sein Dasein einzubeziehen. Um des Überlebens willen muss die Fragmentierung der Welt, in der man sich eingerichtet hatte, die überlieferte Dichotomie von Stadt und Wüste, von Innen und Außen, Eigenem und Fremdem überwunden, die Grenze zum »Außerhalb« überschritten werden.

1.4Begegnung von Stadt und Wüste, Innerhalb und Außerhalb, Stadtbewohner, Steppenmensch: Das Gilgamesch-Epos

Noch einen Schritt weiter, was die Öffnung der Stadt für die umgebende Wüste betrifft, geht das Gilgamesch-Epos. Es handelt vom jungen König von Uruk, einem zwischen Ur und Lagash liegenden sumerischen Stadtstaat, und seinem alter ego, Enkidu, einem Steppen-Menschen. Diese frühe poetische Konfrontation von Stadt und Wüste überlebte in mehreren fragmentarischen Keilschrift-Versionen, die Mitte des 3. Jt.s entstanden und am Ort der früheren sumerischen Stadt Ninive gefunden wurden: in der großangelegten Tontafel-Bibliothek des assyrischen Königs Assurbanipal. Das Bild der Wüste, genauer des Wüstenrandgebiets edin, das in diesem alten Text entworfen wird, umkreist Uruk im Zweistromland zwischen den Flüssen Euphrat und Tigris: eine große Stadt mit einem Palast, zahlreichen Wohnhäusern und Straßen, eindrucksvoll angelegten Plätzen, Palmenhainen, duftenden Obstgärten und einem Hafen am Fluss. Und wie die Stadt – glänzend, stark und schön – so ihr junger König: Gilgamesch. Er erwies sich jedoch als unbedacht und rücksichtslos, so dass die Frauen der Stadt bei der Göttin Ishtar Klage gegen ihn erhoben.

In ihrem Protest deutet sich das Motiv einer Infragestellung der bestehenden Ordnung an, als Vorbereitung des Kommenden. Denn im weiteren Verlauf formt die Göttin Aruru den Enkidu, einen Gegenspieler des Gilgamesch, und erweckt ihn zum Leben. Und er lebt, anders als der junge König, im »Außerhalb«: »Nun steht er da, am ganzen Körper behaart, allein in der Steppe. Wie beim Weibe wallt sein Haupthaar herab. Wie Weizen streckt sich sein Haar. Nichts weiß er von Land und Leuten. […] Gewaltig ist seine Kraft, er treibt sich umher in der Steppe beständig.«28 Damit ist die dramatische Konstellation des Epos vorgezeichnet, die Anordnung der handelnden Komponenten: Stadtmensch und Wüstenbewohner.

Gegen die bedrohliche Gegenkraft aus der Wüste versucht sich Gilgamesch durch räumliche Trennung der Sphären abzugrenzen, durch den Bau einer Mauer, die Uruk sichern und schützen soll.29 Die Stadt zeigt ihre antagonistische Bestimmung gegenüber dem umliegenden edin durch demonstratives Wohlergehen. »Bunte Teppiche«, heißt es im Text, »sind auf den Straßen gebreitet. In weißen Kleidern, die Binde ums Haupt, gehen die Menschen einher. Harfen klingen von ferne, es tönen die Flöten. Ein Fest wird gefeiert bei Tag und bei Nacht. Schön gestaltete Mädchen tanzen vorbei, Fülle des Lebens in allen Gliedern«.30 Auch der Wüstenbewohner Enkidu wird sich des Gegensätzlichen bewusst, als er sich bewegen lässt, das »Außerhalb« zu verlassen und das Gegenbild seiner Sphäre, die Stadt, zu betreten. Erstaunlich, wie anders sein Bild von diesem Ort ausfällt als oben in der Selbstdarstellung der Städter: »Er verwünscht das Weib, das ihn in die Stadt geführt hat […] Die Straße sei deine Wohnung, hausen sollst du im Winkel der Mauer […] Bettler, verworfene, ausgestoßene Leute, werden auf deine Wangen dich schlagen. Hunger leide ich nun, und der Durst peinigt mich. Weil du die Lust in mir wecktest, wollte ich wissen und wurde entfremdet den Tieren. Weil du mich von meinem Felde führtest hinweg in die Stadt, darum seist du verflucht.«31

Die Stadt als Falle, als Ort des Lasters und der Verworfenheit, des Verbrechens, des Elends, der erniedrigenden Armut mitten im Reichtum – ein, wie der Text belegt, seit Beginn des Literarischen bestehendes Motiv. In der Bibel sind die Söhne Kains, des Brudermörders, die Gründer der ersten Städte (1. Mose 4,17), wodurch Kains Verworfenheit auf diese Daseinsform übertragen wird. Das auch später, etwa bei den biblischen Propheten, spürbare Misstrauen gegenüber der Stadt setzt sich im Neuen Testament fort, am deutlichsten in der Johannes-Apokalypse, dann in der Literatur des frühen Christentums, bei Hieronymus, der vom »Kerker« der Städte spricht, »in denen die Gedanken dem Irdischen verhaftet sind und nicht ungehindert zu Gott emporsteigen können«.32 Auch römische Autoren wie Marcus Terentius Varro erklärten die Stadt zur Antipode des »Göttlichen«33 – ein Motiv, das durch die Jahrhunderte immer wieder aufgenommen wird34 und im zwanzigsten, in der Epoche der Monster-Metropolen, im Werk vieler Schriftsteller eine Rolle spielt: von Rilkes 1905 veröffentlichtem Gedicht Denn Herr, die großen Städte sind/ verlorene und aufgelöste …35 bis zu den bedrückenden Bildern der Stadtangst, der Verödung und des Schmutzes, gesehen mit den Augen dorthin verschlagener Kinder der Wüste, in Jean-Marie Le Clézios 1980 erschienenem Roman Désert.36

Da die Schreiber des Gilgamesch-Epos Städter waren, bedeutet die anti-urbane Stimme, die sie in der Figur des Steppenmenschen Enkidu auftreten lassen, einen frühen Beleg für die Duldung literarischer Kritik durch einen Fremden. Die Figur Enkidu wird im weiteren Verlauf in die Vorgänge städtisch-menschlichen Lebens eingeweiht, er lernt Brot und Bier als Nahrung zu schätzen, auf übliche Weise zu denken und zu sprechen, sich gesittet zu betragen, und jede dieser Weihen macht ihn in den Augen der Städter ein wenig menschlicher. Die Annäherung gedeiht bis zur Freundschaft, zum Bündnis zwischen Gilgamesch und Enkidu, die nach dem Plan der Götter eigentlich als Gegenspieler gedacht waren.

Kaum in der Stadt assimiliert, stirbt Enkidu an einer Krankheit. Gilgamesch bestattet den Freund am siebenten Tag und verlässt die Stadt Uruk. Er irrt durch die Weiten des »Außerhalb«, wo ihn neue Abenteuer erwarten (darunter, in der elften Tafel, die berühmte Flutkatastrophe, in Übersetzungen »Sintflut« genannt). »Wehklagend eilt er hinaus in die Steppe«, heißt es im Text. Und weiter, die Stimme des Gilgamesch aufnehmend: »So jage ich in der Steppe umher gleich einem Räuber der Wildnis.«37 Damit ist die Umkehrung perfekt: Während Enkidu einen Prozess der »Verstädterung« durchlaufen hat (der bezeichnenderweise mit seinem Tod durch Krankheit endet), wird der Städter Gilgamesch aus einer heftigen Gefühlsbewegung zum »Räuber der Wildnis«. Ein Muster reziproker Verschränkung des Textes – haltbar für Jahrtausende. Denn beides, wie das Epos zu erzählen weiß, bleibt im Menschen angelegt: das Sesshaftwerden in der Sicherheit der umgrenzten Siedlung und das Verwildern in der Freiheit der Wüste. Diese beiden gegenläufigen Bewegungen ereignen sich bis heute immer wieder zeitgleich vor unseren Augen.

Was trieb Gilgamesch wirklich in die Steppe? Aus der engen, urbanozentrischen Perspektive der Überlieferer früher Wahrnehmungen der Wüste, die sich im Gilgamesch-Epos niederschlägt, muss es eine edle, sozusagen »städtische« Regung sein, die rituell nach einem Gefühlsausbruch verlangt und eine so heftige Reaktion wie das »Hinauslaufen« entschuldigt. In diesem Fall: Trauer. Denn aus der innerstädtischen Perspektive, die in der sumerisch-babylonischen Literatur die vorherrschende bleibt, gäbe es nur Anziehendes in der Stadt für die Wüstenbewohner, nicht auch umgekehrt eine Attraktivität der Wüste für Städter. Die unermessliche Weite der Steppen und Wüsten, in der sich die räumlich kleinen Stadtstaaten verloren, muss auf die dort lebenden Schreiber furchterregend gewirkt haben. Auch wenn sie Enkidus Stadtangst getreulich wiedergeben, empfinden sie selbst genau entgegengesetzt: Ihre Angst gilt dem »Außerhalb«.

Dennoch konnte Gilgamesch, nachdem er einmal in die Wildnis »hinausgelaufen« war, nicht widerstehen und drang immer tiefer in sie vor: bis es nicht mehr weiterging, bis zum Gebirge Masu, gedacht als »Ende der Welt«, wo der Sonnengott Samas seinen Ein- und Ausgang nimmt. Die letzten Tafeln der Zwölf-Tafel-Version des Gilgamesch-Epos gelten den im »Außerhalb« zu bestehenden Abenteuern des städtischen Helden. Eine Rückkehr in die Stadt und die Wieder‐Aufnahme der eigentlichen Rahmenhandlung vollzieht das Epos nur zögerlich und erst gegen Ende – ein unfreiwilliges Eingeständnis der Faszination des »Außerhalb«, die den Städter hinauslockt und in der Wüste festhält. Durch die Figur des Enkidu wird daran erinnert, dass der urbanisierte Steppenmensch, der in der ummauerten Sicherheit des Stadtstaates Zivilisierte, ursprünglich von dort kommt: aus der tödlichen Freiheit der Wildnis. Und dass ihn eine mit Neugier auf die Wüste und auf sich selbst gemischte Macht der Erinnerung immer wieder dorthin zieht.

So verlässt auch Gilgamesch in der zwölften und letzten Tafel des Epos Uruk, die sichere Stadt mit den von ihm errichteten hohen Mauern, um das »Gesetz der Erde« zu erfahren. »Gilgamesch wandert zur großen Wüste«, heißt es gegen Ende des Textes, »zu den Pforten der Unterwelt.«38 Erst nachdem er sich nochmals dem »Außerhalb« ausgesetzt und Enkidus Schatten beschworen hat, kehrt er in die Stadt zurück, um dort zu sterben.

2.Altes Ägypten

Eine erste zusammenhängende Darstellung der Geographie Ägyptens gab der griechische Schriftsteller Herodot im 5. Jh. v. Chr. Herodot wurde im antiken Rom, wie Cicero festhielt, »Vater der Geschichtsschreibung« (pater historiae) genannt, zweifellos ein Ehrenname, der über Jahrhunderte Herodots Zuverlässigkeit als wissenschaftlich fundierte, glaubhafte Quelle bezeichnete. Dabei bilden Novellen und andere Texte fiktiver Prosa einen nicht unerheblichen Textanteil in seinem einzig überlieferten Werk, den Historien, die als Panorama der damals aus griechischer Sicht bekannten Welt gedacht waren und außer einem Abriss der Geschichte Griechenlands auch ein Buch über Ägypten, ausgedehnte Passagen über Libyen, Persien, das Gebiet der Skythen und – als für die Zeitgenossen interessantesten und politisch verwertbaren Teil – eine ausgedehnte Darstellung der Perserkriege enthalten.

Herodot nutzt eine Fülle möglichst vieler verblüffender Neuigkeiten, um die Wissbegier seiner Leser zu erwecken und ihre Fantasie zu fesseln. So offeriert er eine ausgiebige, detailreiche Beschreibung der Landschaften Ägyptens, mitsamt Maßen und anderen Angaben, als deren Quelle er die ägyptische Priesterschaft nennt.39 Er erweckt den Eindruck, er sei selbst in Ägypten und anderen in seinen Historien beschriebenen Ländern gewesen. Von fachwissenschaftlicher Seite wird dagegen Zweifel erhoben, bis hin zur Behauptung, das Material von Herodots Texten sei zum erheblichen Teil frei erfundene Fiktion.40 Doch sein Vorgehen scheint komplizierter. Robert Koldewey, der Neu-Entdecker der Stadt Babylon, konnte Herodots Angaben über diesen Ort41 »zum Teil widerlegen, zum Teil jedoch auch glanzvoll bestätigen«.42

2.1»Schwarzes« und »rotes« Land: Das Ägyptenbild des Herodot

Seine Kapitel über Ägypten beginnt Herodot (im zweiten Buch seiner Historien, genannt Euterpe) mit einer allgemeinen Beschreibung des durch Nil-Delta und Schwemmland gebildeten fruchtbaren, kulturträchtigen Gebiets zwischen zwei Wüsten, der arabischen im Osten und der libyschen im Westen, dessen Scholle sich bereits auf den ersten Blick, in Farbe und Konsistenz, von den angrenzenden Trockenland-Böden unterscheidet: »Das Erdreich in Ägypten ist nicht so wie in den Nachbarländern […], sondern es ist schwarz, tiefgründig und schlammig, weil es aus Schlick und Bodensatz besteht, den der Fluss zu Tal geführt hat. Libyen hat bekanntlich rötlichen und sandigen, Arabien und Syrien aber tonigen und steinigen Boden.«43

Die Benennungen »schwarzes« und »rotes Land« für die zwei Arten von Landschaft, die ihre »Heimat« vereinte (wobei mit »Heimat« das ins Wir-Gefühl eines Volkes eingeschlossene Gebiet gemeint sein soll), folgt dem Sprachgebrauch der Ägypter dieser Zeit.44 »Schwarzes Land« und »Rotes Land« korrespondieren mit anderen Bezeichnungen für »eigentliches Ägypten« und angrenzendes »Außerhalb«, welche ihrerseits Wertungen enthalten: So wird Ägypten auch »geliebtes Land« genannt, in offensichtlicher Unterscheidung zur altägyptischen Vokabel für »Fremdland, Bergland, Wüste«.45 Der altägyptische Name des »schwarzen Landes« war kemet (eine spätere Versprachlichung der drei Hieroglyphen durch Einfügung des Füllvokals e), zugleich bis heute ein Synonym für Ägypten.

Desheret (gleichfalls gefüllt mit dem Verlegenheits-Vokal e) heißt dagegen das »rote Land«, die Wüste.46 In seiner Kulturgeschichte Ägyptens und des Alten Orients erklärt Egon Friedell summarisch: »Was nicht zum flachen Fruchtland gehörte, war für den Ägypter die Fremde: er bezeichnete Gebirge, Wüste und Ausland mit demselben Wort und derselben Hieroglyphe«.47 Diese Hieroglyphe war »ein aus drei Hügeln bestehendes Gebirge, das darüber hinaus im Ägyptischen auch als Determinativ zur Kennzeichnung von Horizont, Nekropole, Mine und Steinbruch dient«48 – allesamt Objekte, die in antiker Zeit außerhalb des Nilstreifens im »roten Land« lagen, die Steinbrüche und Minen in der »Ostwüste«. Offenbar gingen die Ägypter bei der Einbeziehung ihres Umlandes einen entscheidenden Schritt weiter als andere Völker: Die Wüsten wurden als Rohstoff-Quelle erkundet und ausgebeutet, was infrastrukturelle Erschließung, ein weit ausgelegtes Straßennetz und hoch entwickelte Transportmittel erforderte, die von anderen frühen Hochkulturen, etwa der mesopotamischen, nicht überliefert sind.

Der altägyptischen Zuordnung der Farbe rot für das wüste oder außerhalb liegende Land sind Texte späterer Zeiten gefolgt. Möglicherweise liegt auch dem althebräischen Wort Edom für das Gebiet östlich der Jordansenke, das früh in einem ägyptischen Hieroglyphen-Text erscheint,49 neben der von der Bibel verliehenen Bedeutung (nach den roten Haaren Esaus, der als Stammvater der Edomiter gilt; 1. Mose 25,25) diese überkommene Zuordnung zugrunde. Ihre Verwendung bedeutete nicht zuletzt das Eingeständnis, mit dem altägyptischen Konzept von zwei grundsätzlich verschiedenen, dennoch eine Einheit bildenden Arten Land vertraut zu sein. Der Grieche Herodot ist diesem Muster wie selbstverständlich gefolgt. Auch spätere europäische Literatur übernahm die Farb-Metapher durch die Jahrhunderte, noch in Boleslaw Prus’ 1897 erschienenem Roman Pharao, wird sie im altägyptischen Sinn zur Kennzeichnung der Wüste benutzt: »Auf dem rötlichen Wüstensande […] sahen die grünen Palmen, Bäume und Strauchinseln wie verirrte Reisende aus.«50

Auf der ersten Seite des Romans von Prus findet sich übrigens in einem suggestiven Bild die prägnanteste Kurzbeschreibung der Landschaft des antiken Ägypten: »Ägypten ist ein fruchtbarer Hohlweg zwischen der Libyschen und der Arabischen Wüste. Es liegt einige hundert Meter tief eingebettet, die Länge beträgt einhundertdreißig Meilen und die mittlere Breite knapp eine Meile. Die Wände dieses Korridors, in dessen Tiefe der Nil strömt, sind von West her die sanften libyschen Höhen, während auf der Ost-Seite die fast senkrecht abfallenden und zerklüfteten arabischen Felsen liegen.«

Dabei folgte Prus dem antiken Muster, nur das Flusstal selbst als Ägypten, die Wüste dagegen als »Außerhalb« anzusehen, auch wenn Teile der Libyschen und Arabischen Wüste ins erklärte Staatsgebiet Ägyptens einbezogen und mit einigem Aufwand – aus Sicherheitsgründen und wegen der unentbehrlichen Rohstoffe – als Pufferzone und offizieller Teil des Reiches aufrecht erhalten wurden, markiert durch ferne Grenzposten im Wüstensand. Der griechische Historiker Diodor (im 1. Jh. v. Chr.) war einer der Ersten, der diese Schutzfunktion der Wüste erklärte: »Aegypten zieht sich größtentheils gegen Süden hin und durch seine natürliche Befestigung und die Trefflicheit des Bodens, scheint es vor anderen zu einem Reiche abgegrenzten Landschaften nicht unbedeutende Vorzüge zu haben. Denn gegen Westen ist es durch die Libysche Wüste geschützt, die voll wilder Thiere ist; sie bildet weithin das Grenzland, und wegen des Mangels an Wasser und an allen Nahrungsmitteln ist ein Zug durch dieselbe nicht nur mit Mühe, sondern auch wirklich mit Gefahr verbunden.«51

Die fernen, in der Wüste liegenden Grenzposten waren den Ägyptern, zumindest den gebildeten, stets bewusst, wie aus der noch zu betrachtenden Erzählung vom Höfling Sinuhe hervorgeht. Altägyptische Dokumente und Inschriften bringen eine selbstverständliche Einbeziehung der Wüstengebiete in den strategischen Herrschafts- und Hoheitsbereich zum Ausdruck, etwa diese Beschriftung eines Obelisken der Königin Hatschepsut aus der achtzehnten Dynastie in der Zeit zwischen 1479 und 1458 v. Chr. im Tempel von Karnak: »[Ich bin sein] vortrefflicher Erbe, geliebt von seiner Majestät [gemeint ist der Gott Amun]; er hat [mir] die Königsherrschaft übertragen; das schwarze Land, das rote Land und alle Fremdgebiete sind vereinigt unter meinen Sohlen.«52

Zweifelhaft an Prus’ präzisem Text ist allenfalls die Angabe der mittleren Breite des Niltales, die sich nach neueren Messungen richtet, aber in antiken Zeiten beträchtlicher gewesen sein soll als heute. Wissenschaftler gehen von einem Rückgang der Wüstenrand-Vegetation aus, folglich von einem deutlichen Schrumpfen des »schwarzen«, für bewohnbar erklärten Landes seit der Antike. Neuere archäologische Funde bestätigten die Darstellungen auf Jagd-Bildern in Grabmälern, nach denen es sich bei heute für Wüste geltenden Gegenden »zur Zeit des Alten Reiches um eine Wüstensavannen-Vegetation und noch nicht um eine Vollwüste handelte wie zu späterer Zeit.« Überhaupt hätte das Land weitaus mehr Grün gezeigt, sowohl entlang des Nil, als auch in heute verschwundenen oder verkümmerten Oasen in der Ost- und Westwüste.53

2.2»Wüste und Fruchtland sind in Frieden« – Darstellungen in der frühen ägyptischen Literatur

Die Westwüste, auch Libysche Wüste genannt, ist ein flaches Tafelland und macht heute rund zwei Drittel des ägyptischen Staatsgebiets aus. Die Ost-Wüste oder Arabische Wüste ist schmaler und wird von einem durch Wadis zerklüfteten Gebirgszug dominiert, der eine Höhe von 2.000 Metern erreicht und den westlichen Teil einer Aufwölbung bildet, deren Mitte im Tertiär eingebrochen ist und von Meerwasser geflutet wurde – der 1000 Meter tiefe Graben des Roten Meeres. Beide Wüsten unterscheiden sich stark in Gestalt und traditioneller Bedeutung. Auch Herodot betonte ihre generell verschiedene Beschaffenheit und wählte als Metapher die unterschiedlichen Böden. Die Westwüste bestünde aus »rötlicher und sandiger« Erde, die Ostwüste aus »toniger und steiniger«. Er ging in seiner Beschreibung zugleich davon aus, Ägypten sei »neu entstandenes Land«54, gebildet durch Anschwemmung von im Flusswasser bewegter Wüstenerde, woran zu erkennen ist, dass er unter »Ägypten« nur das Tal mit dem Flusslauf des Nil und das – allerdings riesige, in damaliger Weltsicht vermutlich einzigartige – Delta des Flusses verstand. Die Wüsten bezog er in seinen Begriff von »Ägypten« nicht ein.55 Wie sich zeigen wird, ist das Außer-Betracht-Lassen der Wüste, die Ausschließung dieser Landschaft aus dem Bereich des Denkbaren, eher griechische als ägyptische Sichtweise. Die Ägypter hatten von alters her ein differenzierteres Verhältnis zu diesem »Außerhalb«, das zwar im Wesentlichen unbewohnbar, in vielem feindlich und gefahrvoll, zugleich jedoch zum Erhalt ihres fruchtbaren, dabei schmalen und fragilen Niltales lebensnotwendig war.

Die flache Westwüste, weitläufiger und monotoner als die östliche, erhielt die Bedeutung als »Reich der Toten« oder »Unterwelt«. In den Bildreliefs der Königsgräberwird sie als Aufenthaltsort der Dämonen dargestellt, zugleich als Land der Finsternis, das die Sonnenbarke auf ihrer nächtlichen Fahrt durchqueren musste.56 Sowohl Nacht als auch Wüste gehörten nach ägyptischer Vorstellung zum »chaotischen Teil der Welt« und befanden sich im »Außerhalb«, das heißt, sie lagen nach allgemeinem Lebensgefühl »außerhalb Ägyptens Grenzen«.57 In der ägyptischen Religion wurde das Chaos nicht (wie in der biblischen) durch göttlichen Eingriff bezwungen und durch eine in der Schöpfungswoche in ihren Grundzügen errichtete Weltordnung abgelöst, sondern nur nach »Außerhalb« verbannt, wo es als immer währende Bedrohung fortbestand.

Da die Wüste zum strukturlosen Teil der Welt gehörte – von dort kamen die unberechenbaren Plagen des Lebens wie Sandsturm, wilde Tiere, räuberische Nomaden, kriegerischer Überfall –, lebten die Ägypter der Pharaonenzeit umgeben von einem gefühlten Chaos, inmitten ständiger Infragestellung der gewohnten Ordnung. Die Bedrohung war immer sichtbar, immer sinnlich wahrnehmbar. Wenn der sein Feld im Niltal bestellende Bauer aufblickte, sah er die Hügelzüge der umliegenden Wüste und wusste sich als glücklicher Bewohner eines engen, geordneten, fruchtbaren Bereichs, umringt von einer Welt des Chaos und des Todes.

Wie in der sumerischen Literatur, wo die »Pforte zur Unterwelt« in der Wüste lag, wird auch in der altägyptischen die Wüste als Totenreich verstanden – daher die Hieroglyphen-Gleichheit von Wüste und Nekropolis, dem Bezirk der Gräber.58 Als Gegenbild zum Reich des Gottes Horus, das für »Ordnung« stand, verkörperte das Reich seines Bruders Seth Unordnung und Tod. Seth galt als Wüstengott, bildlich dargestellt mit menschlichem Körper und dem Kopf eines Tieres. Die gleiche Grundfigur findet sich in der Darstellung des Gottes Anubis, in seinem Fall ist der Tierkopf der eines Schakals oder wilden Hundes. Auch Anubis, traditionell der Begleiter der Toten ins Schattenreich, galt als Gott der Wüste. Mochten die Wüstengebiete auf diese Weise vom Leben abgegrenzt sein, so beschäftigten sie dennoch – wie eine gedankliche Spiegelung, ein Schatten des Eigentlichen – die Phantasie der Bewohner im inneren Teil der ägyptischen Welt. Das im »Außerhalb« liegende Schattenbild entbehrte all dessen, was eigentlich Leben ausmacht: »Was soll es«, heißt es in einem der ägyptischen Totenbuch-Sprüche, »dass ich zur Wüste des Totenreiches dahineilen soll? Sie hat kein Wasser, sie hat keine Luft, sie ist ganz tief, ganz finster, ganz unendlich […]«.59

Das spirituelle Verständnis der Wüste als »Totenreich« zeigt sich auch in praktischen Anordnungen: zunächst in der, die Wüste als Grabstätte für die im »Innerhalb« Verstorbenen zu nutzen, als Nekropolis oder Totenstadt, was sich parallel in der erwähnten Verwendung als Determinativ60 für die Hieroglyphe dieses Begriffs niederschlug. In den Ausgrabungen von Amarna wurde die Anordnung sichtbar: Die Stadt lag an einer Biegung des Flusses mit Insel, hinter ihr, nach Osten, am Rand der Arabischen oder Ost-Wüste, drei Totenstädte, eine südliche, eine nördliche, dazwischen eine für die Fronarbeiter, die – als Fremde und Unfreie – abgesondert von den Ägyptern beerdigt wurden. Die heute bekannte, von mehreren hunderttausend Menschen bewohnte Totenstadt von Kairo ist jüngeren Datums, aus islamischer Zeit, doch auch sie demonstriert die ewige Präsenz des Todes, die alle Nekropolen ausstrahlten, damit auch der Wüste, in deren die Stadt berührenden Ausläufern sie angelegt waren. Ein fremder Besucher empfand das besonders deutlich. So notierte etwa Rainer Maria Rilke während seiner kurzen Ägyptenreise:61

»Wie eine Vision liegt die flache, weiße Stadt da in ihren rundzinnigen Wällen, mit nichts als Ebenen und Gräbern um sich, wie belagert von ihren Toten, die überall vor den Mauern liegen und sich nicht rühren und immer mehr werden.« 62

Dennoch zeigt sich im alten Ägypten eine deutlichere Tendenz zur Einbeziehung dieser Sphäre ins eigentliche Leben als in Mesopotamien. Die schon von Herodot erwähnte wirtschaftliche Ausbeutung der Wüste nahm Ausmaße an, die für den allgemeinen Lebensstandard entscheidend wurden: Man bezog von dort – namentlich aus der Ostwüste – das Material für Häuser und Straßen, Grab- und Tempelbauten, Statuen und Sarkophage, für Waffen, Gerät und Schmuck. Eine vom British Museum veröffentlichte Aufstellung63 gibt eine Übersicht über die in der Ostwüste in großen Mengen abgebauten Rohstoffe: Marmor und Kalkstein, Alabaster, Basalt und Sandstein, Granit und Quarzit, Schiefer, Serpentinite wie Grüne Brekzie, Diorit (woraus schon im alten Sumer Statuen geschlagen wurden), Speckstein und andere. Die großen Bergwerke im Wüstensand lieferten Erze und Edelsteine für die berühmten ägyptischen Schmuck- und Luxusartikel, Granat und Achat, Chalcedon, Jaspis, Amethyst, Türkis und Gold. Ständige Erkundungen und Suche nach Bodenschätzen der Wüste gehörten zu den laufenden Aufgaben der Regierung. Die Funde erwiesen sich als reich, nur wenige Materialien mussten aus anderen Ländern importiert werden, etwa Silber oder Lapislazuli.

Eine weitere, immer spürbare Wirkung der Wüste war ihr wohltuender Einfluss auf das Klima des Landes. »Die Luft Ägyptens ist in Folge der doppelten Nachbarschaft der Wüste von wunderbarer Reinheit und Trockenheit«, schrieb Egon Friedell 1936 in seiner Kulturgeschichte.

»Sie bewirkt, dass auch die größte Hitze ohne Beschwer ertragen wird, da die Körperfeuchtigkeit sofort auf angenehm kühlende Weise verdunstet. Aus dem selben Grunde behält auch das Wasser in porösen Tongefäßen eine erquickende Frische. Die Nächte sind immer kühl und gegen Morgen kann es sogar empfindlich kalt werden. Die Trockenheit ist auch die Ursache, warum sich in Ägypten Mumien, Papyrusrollen, Gewebe, Wasserfarbenmalereien und andere vergängliche Objekte in so staunenswerter Unversehrtheit erhalten haben.«64

Nicht zuletzt die Segnungen der Wüste verhalfen dem inneren Ägypten, dem fruchtreichen, schmalen Streifen Land im Niltal, zu einem für die damalige Zeit legendären Wohlergehen. »Gleichwohl ist Ägypten von allen Völkern mit Recht als ein Paradies angesehen worden«, behauptete Friedell,65 und obschon diese Wahrnehmung zumindest für alle jene zu bezweifeln ist, die in Ägypten Fron- und Sklavenarbeit verrichten mussten, so sind zugleich die Klagen der ausgewanderten Hebräer überliefert, die dem Verlust der »Fleischtöpfe« galten, deren sie offensichtlich auch als Fronarbeiter in Ägypten teilhaftig geworden waren (2. Mose 16,3 u. a.).

Ganz anders klingen dagegen die Darstellungen des Klimas in den großen ägyptischen Städten nur wenige Jahrzehnte nach Friedells Darstellung, etwa in diesem Brief von Lawrence Durrell an Henry Miller:

»Aber die Atmosphäre ist dumpf, hysterisch, sandig, und der Wind aus der Wüste treibt alles zur Raserei. Liebe, Haschisch und Knaben sind für jeden, der hier länger als einige Jahre steckenbleibt, die einzige Lösung.«66

»Paradiesische Landschaften« des alten Ägypten schildert noch Ende des 19. Jh.s Boleslaw Prus in seinem Roman Pharao, wobei er Wüste und Fruchtland zu Bildern der Eintracht vereint:

»Vor ein Uhr morgens, die Stunde entspricht unserer sechsten, färbten sich die Wüstenhöhen violett. Hinter ihnen schaute die Sonne hervor. Das Land Gosen wurde von Morgenröte überflutet, und die Städtchen und Tempel, die Paläste der Magnaten und die Bauernhütten erschienen wie Funken und Flammen […] Bald schien der westliche Horizont in Gold getaucht, und es war, als ob das grüne Land Gosen in Gold zerfließe und die wenigen Kanäle anstatt Wasser geschmolzenes Silber führten.«67

Diese von Prus beschworene Harmonie von Wüste und eigentlichem Ägypten entspricht einem antiken Bild. Trotz aller Betonung des Dualismus von innerem und äußerem, fruchtbarem und trockenem, schwarzem und rotem Land tendierte die altägyptische Literatur zu einer gedachten oder erhofften Harmonie zwischen beidem. »Wüste und Fruchtland sind in Frieden«, heißt es in einem der Sprüche des Totenbuches.68 Als Belege der immer bestehenden Konnexion dienen Angaben über Karawanenstraßen, Transportwege für Güter und Berichte über Expeditionen, die zur weiteren Erschließung der Wüstengebiete unternommen wurden. Schon in Grabmalereien des Alten Reiches war die Wüste stets in Bilder der Landschaften Ägyptens einbezogen, besonders gern ließen sich die »Grabherren«, die Auftraggeber der künstlerisch gestalteten Monumente, bei der Jagd darstellen. Hintergrund dieser Jagdbilder war nicht selten die offene Wüste, wo man Gazellen, Antilopen und Löwen erlegte.69 Die Wüste als Jagdrevier – ein Motiv, das sich schon in Keilschrift-Texten des alten Sumer andeutete und über die Zeiten fortleben wird: in Xenophons Anabasis, in früharabischer Dichtung, in den Märchen aus Tausendundeiner Nacht, bis zu Alphonse Daudets 1872 erschienener Roman-Burleske Tartarin von Tarascon.

2.2.1Das »Außerhalb« als Zufluchtsort: Die Geschichte des Höflings Sinuhe