Dunkeltraum - Jamila Butz - E-Book

Dunkeltraum E-Book

Jamila Butz

4,7

Beschreibung

An ihrem 16. Geburtstag beginnt alles mit einem einzigen Traum. Rose entdeckt eine magische Welt und erfährt, dass sie kein normaler Mensch ist. Sie ist eine Träumerin, eines der mächtigsten Wesen der Erde. Eine rätselhafte Macht, Werwölfe, Vampire, ein Schatten und andere Monster jagen Rose. Auf ihrer langen Flucht fangen ihre Gefühle für zwei junge attraktive Vampirbrüder an, sich zu regen. Eine dunkle Vergangenheit verfolgt die beiden Brüder und an eine gemeinsame Zukunft ist gar nicht zu denken. Denn Roses Tod ist vorprogrammiert. Es beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit…

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Prolog: Gefunden

Fließer, er kommt von der Seite. Der Träumer betrachtet ihn aus dem Augenwinkel. Dumm, dass man Fließer nicht direkt ansehen kann, sonst würden sie verschwinden und hinter seinem Rücken auftauchen. Innerlich lacht er auf. Diese seltenen Ge­schöpfe, zwar unscheinbar aber dafür umso tödlicher. ER betrachtet aus dem Augenwinkel den Schleim, der über den Boden fließt. Lebende Masse. Nun türmt sie sich auf und er sieht, wie sich der Schleim in eine Gestalt formt. Einen Menschen. Und hinter sich riecht er einen seiner Diener. Im abendlichen Dämmerlicht sieht er die Rosette des Fließers im Schatten stehen. Er verneigt sich vor ihm und krächzt mit seiner kratzigen tiefen Stimme: „Wir haben sie gefunden.“ Ein boshaftes Lächeln huscht ihm übers Gesicht. Diese Nacht verspricht vieles.

Kapitel 1. Träume

Ich liege im Bett. Meine langen braunen Haare hängen über den Bettrand. Unruhig wälze ich mich umher. Auf die eine Seite, dann auf die andere. Ich schwitze und mir ist unglaublich heiß. Ich werfe die Bettdecke von mir. Es war ein schöner Geburtstag. Ich bin sechzehn geworden. Und ich habe mit vielen Freunden gefeiert. Normalerweise kann ich immer sofort einschlafen, wenn ich im Bett liege. Doch heute ist es zum ersten Mal nicht so. Mir ist schwindelig. Und mir gehen die Ereignisse durch den Kopf, die in der letzten Woche passiert sind. Der Streit mit Leiley und mir. Meiner besten Freundin und Kai, meinem Freund. Endlich schlafe ich ein. Und vermische Traum mit Realität.

Kai und ein zweiter Junge, den ich nicht identifizieren kann. Kai sieht aus wie immer. Ein rotes Kapuzenshirt und eine blaue Jeans hat er an. Der Fremde jedoch ist anders. Sein Gesicht ist von den Schatten des Tageslichts verdeckt. Mich beunruhigt, dass ich sein Gesicht nicht sehen kann. Sonst ist er genau so groß wie Kai. Er hat ebenfalls eine Jeans an. Ich bin in einem Thronsaal. Ich stehe an einem Fester. Es ist hoch und spitz. Dann, als ich mich umdrehe, wandert mein Blick wieder zurück zu Kai und dem Fremden. Und ich sehe, wie die Beiden Schwerter in der Hand halten. Sie blitzen gefährlich im grauen Tageslicht auf. Mein Herz fängt an zu klopfen. Immer schneller, immer lauter. Ich habe Angst. Ich habe Angst um die Beiden. Obwohl ich den Anderen nicht kenne.

Dann fangen sie an zu kämpfen. Ein Schlag auf den anderen. Mein Herz barst fast vor Angst. Ich höre keine Geräusche, nicht das kleinste Klirren. Nur ein hohes Fiepen in meinen Ohren. Ich erkenne das wutverzerrte Gesicht von Kai nicht mehr. Von dem sanftmütigen, ruhigen und beherrschtem Kai. Die Beiden hacken aufeinander ein. Wie Geister, die nur noch einen letzten Kampf austragen müssen, um sich danach für immer niederzulegen. Ich sehe den Beiden zu. Der Fremde ist geschmeidiger, schneller und wendiger. Er weicht den Schlägen von Kai geschickt aus. Und verpasst ihm zuerst einen Schnitt am Bein. Kai schlägt nach ihm, doch er weicht wieder mit einer geschickten Drehung aus und zieht Kai das Schwert quer übers Gesicht. Aus dem tiefen Schnitt perlen rote Blutstropfen, wie aus einem Wasserhahn das Wasser. Der Fremde zieht ihm das Schwert über den Arm und Kai knickt am verletzten Bein ein. Doch Kai ist nicht schwach. Er schlägt mit dem Schwert abermals nach dem Fremden. Diesmal trifft er. Der Fremde fällt auf den Bauch. Genau vor Kai. Sein Schwert schlittert über den Boden und bleibt genau vor meinen Füßen liegen.

Mich durchläuft ein Zittern. Ich weiß, was jetzt kommt und ich muss irgendetwas unternehmen. Kai hebt das Schwert und will dem Hilflosen den Todesstoß geben. Doch mit einem spitzen Schrei werfe ich mich dazwischen und hebe die Hände über den Kopf, um mich und den Fremden zu schützen. „Nein Kai!", schreie ich. Seine Augen blitzen, und für einen Moment denke ich, er wird seinen Hieb durchführen. Doch im nächsten Moment lässt er das Schwert fallen. Ich lasse meine Arme sinken. Kai sieht mich mit seinen warmen braunen Augen an, in die ich mich verliebt habe. Der Fremde richtet sich auf. Sieht mir nicht direkt ins Gesicht. „Du musst dich entscheiden", sagen beide wie aus einem Munde mit der gleichen ausdruckslosen Stimme.

Dann wache ich auf. Merke, dass ich weine. Kann nicht mehr schlafen. Weine. Tränen tropfen von meinen Augen und laufen über meine Wangen. Warten. Bis ich in den Alltag zurückfinde. In die Realität.

Kapitel 2. Rose

In der zweiten Nacht, nichts. Kein Traum, nur quälende Unruhe. Dämmerschlaf. In der nächsten Nacht fangen die Träume wieder an. Kai. „Streit mit Leiley", schießt es mir wieder durch den Kopf. „Wieso?" Schließe die Augen. Bin unendlich müde. Doch das, was mich wachhält, ist die Angst, ich könnte wieder träumen. Schlafe nach Stunden ein. Und das, was ich nicht weiß, ist, dass das Grauen schon auf mich wartet.

Bin in einer Disco. Ich sehe wie Leiley auf dem Schoß des Fremden sitzt. Sie knutschen heftig. Eifersucht durchschießt mich. Ich kann das Gesicht des Fremden immer noch nicht sehen. Denn, es ist vom Gesicht meiner besten Freundin verdeckt. Neben ihnen auf dem Tisch steht eine Vase mit einer roten Rose. Rot. Denke ich. Die Farbe der Liebe. Ich gehe an ihnen vorbei und stoße die Vase samt Rose vom Tisch. Ich gehe weg. Und ich komme wieder. Leiley und der Fremde sind immer noch da. Und die Rose samt der Vase steht unversehrt auf dem Tisch, so als hätte ich sie nicht heruntergestoßen. Ich versuche wieder wegzugehen. Doch irgendetwas hält mich an der Stelle. Hilflos muss ich Leiley und dem Fremden zusehen. Ich werde wütend. „Hört auf!", tobe ich. Doch es ist als hörten sie mich nicht. Sie machen unbeirrt weiter. „Nein", stöhne ich. Die Eifersucht, dass Leiley „meinen" Typen küsst, zerfrisst mich von innen. Einen Typen, den ich nicht einmal kenne, geschweige denn weiß, wie er aussieht. Vor Wut ziehe ich mich an meinen Haaren und sinke auf die Knie. Ich stoße die Vase erneut vom Tisch. Und als die Vase auf dem Boden zersplittert, zersplittert mein Traum.

Ich wache auf. Von dem Geräusch einer zerbrochenen Vase. Verwirrt sehe ich über den Bettrand. Haben mich meine Träume schon in der Wirklichkeit eingeholt? Tatsächlich. In den Scherben der Vase, die in meinem Traum auf dem Tisch stand, liegt durchnässt aber genauso schön die rote Rose. Ich hebe sie hoch. Steche mich an ihren Dornen und lasse sie wieder fallen. Ein Tropfen Blut fließt über meinen Finger und tropft auf die Rose. Der Schmerz betäubt mich. Die Hitze der Eifersucht kommt zurück. Ich schwitze. Ich habe das Gefühl, dass ein Feuer an mir zehrt, meine Kraft aussaugt, durch meine Adern mit meinem Blut fließt, und versucht mein Herz zu erreichen. Ich schreie. Die Hitze ist unerträglich. Feuer, überall Feuer. Und so schnell wie der Schmerz, die Hitze und das Feuer gekommen sind, verschwinden sie auch wieder. Mit dem Gedanken an die Rose und der Unmöglichkeit, wie sie hierherkommen konnte, schlafe ich ein.

Ich sitze in einem Auto. Mir gegenüber der Fremde. Sein Gesicht liegt wieder im Schatten. Ich schaue ihn an, will gerade etwas sagen, doch da beugt er sich vor und sieht mir direkt ins Gesicht. Ihm rutscht seine Kapuze vom Kopf und mich haut es glatt um. Er hat braune Augen, einen blassen Teint, sein Gesicht ist rund, er hat weiche Züge. Er hat blonde, fast schon weiße Haare. Kurz geschnitten. „Wie heißt du?", frage ich zaghaft. Vor Angst, er könnte einfach verschwinden, wenn ich etwas Unbedachtes tue. Er sieht mich lange mit seinem durchdringenden Blick an. „Alles nur ein Missverständnis", sagt er. Dann verschwindet er, sein Gesicht, das Auto. Alles löst sich auf. Das Letzte, was ich höre, ist sein Name „Noel".

Ich wache auf. Feuer. Hitze. „Autsch!", stöhne ich. Schon wieder dieser unerträgliche Schmerz. Ich warte bis das dumpfe Pochen und das Feuer vorbei sind. Nicht weinen. Ist nicht real. „Aber was ist mit der Rose?", spuckt es mir durch den Kopf. Halb sechs. Orientierung verloren. Nach einem Moment wiedergefunden. Wieso kann das nicht aufhören? Angst. Ich habe Angst, ich könnte Realität und Traum vermischen. Zweimal habe ich nun geträumt. Zweimal reicht mir. Ich kann nicht mehr. Will nicht nochmal von Noel träumen, der mit diesem Traum meinem Herzen ein Stückchen nähergekommen ist. Schlafen kann ich auch nicht mehr.

Kapitel 3. Runen

Unruhig wälze ich mich in meinem Bett hin und her. Der erste Sonnenstrahl scheint durch mein Fenster und kitzelt mich an der Nase. Ich stehe auf und fluche als mir ein plötzlicher Stich durch den Fuß schießt. Ich bin in die blöde rote Rose gestiegen. Ich schüttle meinen Fuß und hüpfe im Kreis herum, bis ich mir den Dorn rausgezogen habe. Ich drehe mich um und betrachte die Stelle, wo die Rose gelegen hat. Dort, wo sie in der Nacht aufgetaucht war, ist ein großer Aschekreis. Ich setze mich in die Hocke und fahre mit dem Finger durch den Kreis. Als ich mit dem Finger die Asche durchbreche, höre ich so etwas Ähnliches wie ein leises Klingeln. Ich drehe mich um, die Rose ist verschwunden. Nichts als ein einzelnes rotes Rosenblatt, das gerade zu Boden segelt, ist noch von ihr übrig.

Ich gehe ins Bad und betrachte mich im Spiegel. Ein Schreck durchfährt mich. Mir sieht ein Mädchen entgegen, das ich nicht mehr kenne. Meine braune Mähne ist wie immer, lockig, unnachgiebig und starr. Doch der Rest von mir sieht plötzlich ganz anders aus. Ich bin dünner geworden, meine Wangen sind ein wenig eingefallen und ich habe tiefe dunkle Augenringe unter meinen satten, dunkelgrünen Augen. Dunkelgrün. Ich habe seit Tagen nicht mehr geschlafen. Meine Augenfarbe ist etwas Außergewöhnliches. Die habe ich von meiner Mutter geerbt. Sie hatte auch dunkelgrüne Augen. Leider kenne ich meine Mutter nur von Fotos. Sie ist kurz nach meiner Geburt gestorben. Jetzt lebe ich mit meinem Vater zusammen. Allein.

Ich gehe in mein Zimmer und hole mein Schminkzeug aus meinem Schminktäschchen. Ich stelle mich vor den Spiegel im Bad und tusche mir vorsichtig meine Wimpern. Dann überschminke ich mir die Augenringe mit Make-up. Als ich fertig bin, sehe ich fast aus wie immer. Meine dunkelgrünen Augen schauen mich aus dem Spiegelbild an. Ich öffne eine Schublade in meinem Schrank und hole zwei Kontaktlinsen heraus. Ich setze sie mir ein. Ich blinzle kräftig bis die Tränen nachlassen. Jetzt schauen mich riesige braune Augen an. Ich hasse diese Dinger und ich liebe meine eigene Augenfarbe. Ich liebe die Außergewöhnlichkeit. Doch mein Vater zwingt mich die Kontaktlinsen zu tragen damit ich, Zitat „unauffällig" bin. Was soll schon passieren? Ich werde wohl nicht von Außerirdischen entführt? Ich gehe die Treppe hinunter und frühstücke schnell. Mein Vater schläft und ich mache vorsichtig seine Schlafzimmertüre zu.

Dann fahre ich mit dem Bus zur Schule. An der Bushaltestelle der Schule erwartet mich schon meine Freundin. Ich denke, es steht Leiley dort, doch zu meiner Enttäuschung ist es Mila. Sie bestürmt mich sofort mit einer Umarmung. Während sie mich umarmt, steigen Leute aus dem zweiten Bus aus, der gerade die Türen öffnet. Wie in Zeitlupe registriere ich, wie jemand aussteigt, jemand, der mir auf seltsame Weise Vertraut vorkommt. Er steht da und blickt sich um. Unsere Blicke treffen sich. Die durchdringenden braunen Augen, das falkenähnliche Gesicht, die blonden Haare. Ja, ich kenne ihn. Es ist der Junge aus meinen Träumen. Ich kenne ihn und sehe, wie auch in seinem Gesicht, Schreck, Überraschung und Triumpf aufleuchten. Es scheint, als haben mich meine Träume eingeholt, als hätten sich die Naturgesetzte verschoben, als habe sich mein Traum verfestigt.

Alles dreht sich und mir wird glühend heiß. Ich kann meinen Blick nicht von dem Jungen abwenden. Mila sagt irgendetwas, doch ich verstehe sie nicht. Sie hält mich an meinen Schultern von sich weg und sieht mich prüfend an. „Du siehst ein wenig blass aus", sagt sie, „geht’s dir gut?" Ich schüttle wie in Trance den Kopf. Mila folgt meinem Blick und stößt mir mit dem Ellenbogen in die Rippen. „Ah, jetzt verstehe ich. Ist der neu hier?“ „Keine Ahnung“, sage ich. Mir ist heiß, ich brenne, stehe in Flammen. Der sengende Schmerz frisst sich wieder durch meine Adern. Und dieses Mal hält mein Blut das Feuer nicht auf. Es frisst sich durch bis zu meinem Herzen. Ich stöhne, reiße mich aber zusammen, um nicht zu schreien. „Was ist los?“, fragt mich Mila nochmal. Ich schüttle mich und fasse mir an den Kopf. Meine Stirn ist schweißüberströmt. „Komm, gehen wir zur Schule“, sage ich. Meine Stimme klingt schwach und brüchig. Als wir die ersten zwei Schritte gehen, geben meine Beine unter mir nach, ich strauchle und falle hin. Ich stoße mir den Kopf, dann werde ich ohnmächtig. Schwärze. Plötzlich wird mir bewusst, dass ich gar nicht mehr ohnmächtig bin. Ich träume. Schon wieder.

Ich laufe. Schneller, schneller. Blätter schlagen mir ins Gesicht. Links, rechts, links, links. Hinter mir ist etwas. Jemand. Schritte. Atem. Ich keuche. Ich stolpere über einen dicken Ast und schlage mir meine Knie auf. Meine Seite brennt. Ich rapple mich wieder auf. Laufe weiter. Panik. Ich schlage mich durch das dichte Gestrüpp eines Dschungels. Hinter mir schnelle Schritte. Ich stolpere, rutsche aus und falle eine Böschung hinunter. Ich schaue mich um. Ich bin in einer Senke. Bäume ringsherum. Ich versuche mich zu beruhigen, bis ich es höre, „scchhhh, schhhhhhhhhh, schhhhh“. Ein Wispern. Ein Rauschen. Die Bäume zittern. Wispern mir Wörter, Sätze zu. Sie singen. Plötzlich wird der Wind stärker, fegt durch die Bäume. Blätter streifen mein Gesicht. Dann… Stille. Nichts mehr.

„Du weißt doch, dass du mir nicht entkommen kannst“, höre ich die Stimme des Jungen. Wo ist er? Ich sehe ihn nirgendwo. Als hätte er meine Gedanken gehört, ruft er: „Ich bin hier oben.“ Ich blicke hinauf. Hinter mir ein Baum. Dort ist er. Ich erkenne ihn sofort an seiner Statur. Ich hätte ihn überall erkannt. Weiß sofort, wo er ist. Das ist ein Traum, mein Traum. Ich kann aufwachen. Als hätte er meine Gedanken erneut erraten, spricht er: „Oh, dies ist DEIN Traum. Aber ich kann, wann immer ich will, dort einbrechen. Außer du sperrst mich aus. Da du aber nicht weißt, wie das geht, wird es Dir nicht möglich sein.“

„Was willst du von mir?“, frage ich. „Ich kann dich nicht alleine lassen. Du bist meine Vergangenheit. Sie hat mich eingeholt. Du bist in Gefahr. Ich will dich nur warnen. Gehe auf keinen Fall nach Hause. Bleib in der Schule.“ „Wieso soll ich dir gehorchen?“, frage ich. „Mir ist es gleich“, meint er. In seiner Stimme liegt etwas, was ich überhaupt nicht leiden kann. Er ist sehr frech und klingt… amüsiert und belustigt. „Wenn du nach Hause gehst, könntest du dir genauso gut ein Messer ins Herz rammen.“ Was denkt sich der eigentlich? Soll ich diesem Jungen glauben? „Lass mich in Ruhe. Du hast mir nichts zu sagen.“ „Gut, viel Spaß… zu Hause“, sagt er, lächelt und verschwindet.

Ich wache auf der Liege des Sanitäterzimmers unserer Schule auf. Ich fühle mich unheimlich schwach, so wie nach einem langen Marathon. Ich setze mich auf. Ein seltsamer Schwindel erfasst mich. Neben mir sitzt Mila. „Hi, ganz langsam“, sagt sie und nimmt besorgt meine Hand. Ich fasse mir an den Kopf, ich spüre einen dicken Verband. „Als du gefallen bist, hast du dir ordentlich den Kopf gestoßen“, sagt sie mit einem unerklärlichen Ausdruck auf ihrem wunderschönen, puppengleichen Gesicht. „Was ist?“, frage ich. „Deine Augen.“ Mila schüttelt sich, so als ob ihr etwas Widerliches über ihr Gesicht gekrochen wäre. Verständnislos sehe ich sie an. „Was?“, frage ich. „Die… Kontaktlinsen. Sie sind weg“, meint Mila zögerlich. Sie kennt meine grünen Augen und findet sie cool. Auch Leiley kennt sie. Ach Leiley. „Sie…“, Mila bleibt mitten im Satz stecken. Langsam werde ich ärgerlich. „Jetzt sag mir, was Sache ist!“, antworte ich. Mila deutet hinüber zu einem der Spiegel, der an der hinteren Wand steht. Ich stehe auf, gehe schnellen Schrittes auf ihn zu und stelle mich davor. Was ich sehe, schockiert mich zutiefst. Die Kontaktlinsen sind wirklich weg. Die Überraschung. Meine Pupillen sind zu senkrechten Schlitzen verengt, wie bei einer Katze. Und als ich in meine Augen schaue, fängt mir plötzlich die Haut in meinem Gesicht zu kribbeln an. Und weitet sich über meinen ganzen Körper aus. Langsam wird es unangenehm und fängt an zu brennen. Ja, buchstäblich, ich brenne. Die Flammen fressen sich tief in mein Fleisch, dünne Linien bilden sich auf meinem Gesicht. Formen sich zu Mustern und breiten sich aus. Ich schreie auf und schrecke vor meinem Spiegelbild zurück. Oh Gott, was passiert mit mir?

Ich spüre Milas Hand auf meiner Schulter. „Ich hole jemanden“, sagt sie panisch. Ich höre ihre Schritte über den Boden klacken und eine Tür zuschlagen. Ich schlage mir die Hände vors Gesicht, so als ob ich die Flammen aufhalten könnte, die sich nun von meiner Stirn, über meine Wangenknochen, über meine Lippen runter zu meinem Kinn fressen. Die Flammen tropfen weiter, laufen über meinen Hals über meine Schultern, meinen Rücken, meine Brust und bleiben bei meinem Herzen stehen. Mir ist noch nie so heiß gewesen, das Kribbeln des Feuers pulsiert durch meine Adern und ich spüre wie es mein Herz berührt. Es hüpft wie ein aufgescheuchter Vogel. Dann bleibt es für einen Moment stehen. Ich atme. Ein. Aus. Nur noch das zählt. Ein. Aus. Dann spüre ich noch einen letzten Stich und alles ist vorbei.

Nach Luft ringend und mich auf beide Hände stützend, lege ich mich auf den Boden. Den harten kühlen Stein unter meinen Fingern zu spüren gibt mir Trost. Ich fühle mich besser. Ich bleibe noch eine Weile sitzen, bis ich mühsam die Willenskraft aufbringe und zum Spiegel wanke. Ich will nicht hinsehen. Aber meine Neugier siegt und ich weiß in diesem Moment, dass ich den Blick in den Spiegel bereuen werde. Und doch. Ich betrachte mein Spiegelbild.

Rote, dünne Linien ziehen sich über mein ganzes Gesicht. Sie kräuseln sich auf der Stirn, drehen sich auf meinen Wangenknochen zu Spiralen, züngeln hinab über mein Kinn und über meinen Hals, meine Schultern. Ich reiße mein Hemd auf und kann sehen, wie sich die Linien weiter hinabkräuseln und in einer Flammenspirale über meinem Herzen endet. Meine Locken sind nicht mehr länger braun. Sie sind nun Rot. Rot, wie das Blut, das mir vom Finger getropft war, als ich mich an der Rose gestochen habe. Genauso meine Lippen. Ich ringe nach Luft. Es ist schön und beängstigend zugleich. Ich habe mich verändert. Sehr. „Wie kommt das? Was ist da passiert? So was ist nicht möglich! Wieso hat sich mein Körper so verändert? Mache ich eine Verwandlung durch?“, schießt es mir durch den Kopf. Das Mädchen, das ich im Spiegel betrachte, kenne ich nicht. Nur noch die Form meiner Augen wirkt auf mich vertraut. Meine Augen sind nicht mehr grün, sondern bernsteinfarben. Ich bin das nicht mehr. Die Pupillen der Katze machen mir Angst. Ich habe diesen gehetzten Ausdruck in den Augen, den ich nicht verbergen kann. Ich wende den Blick ab. Da höre ich Schritte und mit einem Mal werde ich in die Realität zurückgeholt.

Mila ist mit der zur Hilfe geholten Person unterwegs. Schnell laufe ich zur Tür und drücke meine Hand unter die Klinke, damit sie von außen nicht geöffnet werden kann. „Rose? Bist du da drin?“, höre ich Milas Stimme. Rose. Eigenartig, dass mir das nicht gleich aufgefallen ist. Der englische Name Rose. Rote Rose. Rose. Doch mir bleibt jetzt keine Zeit zum Nachdenken. „Rose?“, höre ich auch Kais Stimme. „Ist sonst noch jemand bei euch?“, rufe ich und lausche. „Nein!“, höre ich nach einigen Sekunden Mila. „Wartet einen Moment! Nicht reinkommen!“, rufe ich. Dann sehe ich mich panisch um. Ich muss die Tätowierungen, – oder waren es Zeichnungen, oder was eigentlich –, unbedingt vor meinen Freunden verstecken. Da! Auf der Krankenbare liegt ein Kapuzenpulli. Ich rase hinüber und ziehe ihn mir über den Kopf. Dann verstecke ich meine roten Haare unter der Kapuze und binde mir den halb durchsichtigen Schal über mein Gesicht. Ich gehe schnell zum Spiegel und sehe mich an. Nichts zu sehen. Ich bin vollkommen verschleiert. Ich haste zur Krankenliege zurück und lege mich hin. „Okay, könnt kommen!“ Mila und Kai treten ein. Kai kommt zu mir und setzt sich neben mich auf die Bettkante. Mila bleibt an der Tür stehen und beobachtet uns misstrauisch. „Sie hat doch nichts von diesen eigenartigen roten Linien gesehen? Hoffentlich nicht.“

Kai und ich. Schon seit einigen Monaten, machen wir zusammen Hausaufgaben, lachen und necken uns. Und waren schon einige Male kurz davor uns zu küssen. Dazu kam es aber nie. Er sieht mich an. Ich senke den Blick, erstens, weil es mir unangenehm ist ihm in seine grauen Augen zu sehen und zweitens, weil mir gerade eingefallen ist, dass meine Augen immer noch Ähnlichkeiten mit einer Katze zeigen. „Ich lass euch mal allein“, meint Mila und geht.

Als sie die Tür hinter sich geschlossen hat, ist es ganz still. Kai und ich sitzen schweigend da und sehen uns an. Oder, er sieht mich an, ich glotze immer noch auf den Boden. Die Stille zieht sich unheimlich in die Länge, drückt und zieht an meinen Nerven, bis ich es nicht mehr aushalte und ihn frage: „Was ist?“ „Du bist so schön“, flüstert er. Sein Mund ist dicht an meinem Ohr und ich erschauere, als mir sein Atem über mein Gesicht streicht. Langsam hebe ich den Kopf und sehe ihn an. Es ist mir egal, was er sieht, ich will nur noch in seinen kühlen, blauen Augen versinken. Ich hoffe, dass der Schal dicht genug ist und er meine Verwandlung nicht sehen kann. Sein Gesicht ist so nah an meinem. Nur noch der hauchdünne Schal trennt unsere Lippen voneinander. Er schließt die Augen und zieht mir den Schal vom Gesicht. Unsere Lippen berühren sich sanft. Es ist nur ein Hauch, ein… zaghafter Kuss, doch er löst so viel in mir aus.

Plötzlich beginnt mein Gesicht abermals zu brennen. Zuerst, ganz leicht, so dass ich es nicht bemerke, dann immer stärker. Das Brennen geht von meiner Stirn über meine Wangenknochen bis hinunter zu meinen Lippen. Plötzlich schnellt Kai von mir weg. „Au, du hast mich verbrannt!“, sagt er und sieht mich verwirrt und verletzt an. Das holt mich in die Gegenwart zurück und ich bekomme Angst. Angst, Kai würde die hauchzarten, dünnen, nicht übersehbaren Linien sehen, die mein ganzes Gesicht ausfüllen. Schnell verstecke ich sie wieder hinter dem Schal. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass meine Verwandlung niemand sehen darf. „Kai, kannst du bitte weggehen?“, frage ich, so unangenehm es mir auch ist. „Warum?“, fragt er und schaut mich an. „Ich muss nachdenken, okay?“, sage ich und fühle mich langsam unwohl in meiner Haut. „Kannst du nicht später nachdenken?“, fragt er. Ich muss nervös lachen. „Nein“, sage ich. Nicht auf meine Aussage eingehend, nähert er sich mir wieder und will mich küssen, doch der Schal ist immer noch im Weg. Mir bleibt die Luft weg, so sehr will ich ihn. Und doch macht mich das Brennen in meinem Gesicht wieder darauf aufmerksam, dass das jetzt nicht geht. „Kai…“, protestiere ich schwach. Mein Satz wird beendet als er den Schal nochmal wegzieht und sich seine Lippen erneut auf die meine legen. Ich küsse ihn heiß und innig, meine Finger gleiten über seinen Rücken. Sein Mund erkundet den meinen forschend, fordernd. Ich streichle ihm den Rücken, dränge mich gegen ihn, um ihm noch näher zu sein. Seine Hände vergraben sich in meinen Haaren. Die Kapuze rutscht mir von meinen roten Locken, ich stehe da und gebe ihm volle Sicht auf mein Gesicht und meine Haare. Doch er bemerkt es nicht und küsst mich weiter. Der Schreck hat mich in die Gegenwart zurückgeholt.

Ich küsse ihn weiter. Aber nicht mehr wegen meiner Liebe zu ihm, sondern weil er meine Haare und mein Gesicht nicht sehen darf. Das sagt mir mein Instinkt, der schreit, dass ich fliehen soll, mich verbergen und alles daran setzten muss, dass Kai mich nicht sieht. Oder anfasst. Nicht so, wie ich jetzt bin. Ich muss weg hier. Weg, von Kai, weit, weit weg. „Nach Hause“, schießt es mir durch den Kopf. Aber kann ich überhaupt noch nach Hause? Dieser Junge hatte mich gewarnt. Oder war das nur ein dummer Traum? Nein, meine Haare und mein Gesicht sind kein Traum. Oder? Kai will sich von mir lösen, doch ich drücke meine Lippen umso fester auf seine. Nur noch einmal kurz ergebe ich mich dem fiebrigen Verlangen, genieße den Kuss, dann mache ich die Augen auf und sehe ihn, so gut es geht an. „Lass…die…Augen…zu…“, murmle ich zwischen vier Küssen und ich spüre wie er nickt. Dann löse ich mich sanft von ihm. „Was…?“, fragt er. Doch ich lege ihm einen Finger auf die Lippen und flüstere: „Lass die Augen zu, bis du nichts mehr von mir hörst“. Er nickt, ohne nachzufragen warum. Ich küsse ihn noch ein letztes Mal ganz leicht und sanft, wie ein Schmetterling, dann schleiche ich mich zur Tür auf den Flur hinaus. Als ich die Tür leise hinter mir geschlossen habe, renne ich los, so schnell mich meine Füße tragen.

Kapitel 4. Fesseln

Ich laufe durch die Gänge der Schule, raus aus dem Gebäude, zur Bushaltestelle. Als ich in den Bus steige, schaut mich der Busfahrer nur einmal kurz mit einem komischen Blick an. Zugegeben, ich sehe nicht gerade gewöhnlich aus, mit einem Schal, der mein ganzes Gesicht verdeckt. Aber mit den Zeichen im Gesicht kann ich nicht in der Öffentlichkeit herumlaufen. Als ich mich hinsetzte und eine ruhige Minute zum Nachdenken habe, überspült mich plötzlich Panik. „Was zum Teufel mache ich hier? Warum mussten die Tätowierungen genau einen Tag nach meinem Geburtstag auftauchen? Was ist das in meinem Gesicht überhaupt? Eine Krankheit? Oder ein Infekt? Oder ein Ausschlag? Warum träume ich Dinge und warum um Himmels Willen werden sie dann wahr?“ Ich habe Angst. Tränen steigen mir in die Augen. Nicht weinen. Doch Tränen der Verzweiflung kullern meine Wangen hinab. Ich reiße mich zusammen und wische mir kurz das Gesicht ab. Dann steige ich aus dem Bus aus und gehe die Straße entlang zu mir nach Hause. Als ich die Tür aufschließe überkommt mich plötzlich ein mulmiges Gefühl. Es ist so still. Langsam schließe ich die Tür hinter mir, sie fällt knarrend ins Schloss. Ich reiße mir den Schal vom Gesicht und ziehe den Kapuzenpulli aus. Endlich wieder frei atmen. Die Stille lässt mich stutzen. Sie ist unerträglich… drückend. Langsam gehe ich zur Küchentür, nur das Knarzen der Dielen unter meinen Füßen. Alle meine Sinne sind aufs Äußerste angespannt. Der Geruch von verbranntem Fleisch steigt mir in die Nase. Meinem Vater passiert es oft, dass er etwas anbrennen lässt. Doch ich rieche noch etwas Anderes, das so gar nicht hierhergehört. Etwas, das metallisch und zugleich süßlich riecht. Und ich begreife, es ist Blut. Eine knochige Hand legt sich auf meinen Mund und erstickt meinen Schrei, den ich gerade ausstoßen will. Ich höre eine leise Stimme neben meinem Ohr und rieche den süßlich, fauligen Geruch des Todes. Die Stimme ist leise wispernd, bedrohlich und doch rau. „Warum hört man euch eigentlich immer schreien, wenn ihr kurz vorm Sterben seid?“ Dann wird mir schwarz vor Augen.

Ich wache mit einem brummenden Schädel auf. Ich sitze aufrecht an den Kühlschrank gelehnt und schaue mich vorsichtig um. Nichts regt sich. Als ich aufstehen will, werde ich brutal von einer langen, dünnen silbernen Kette zurückgerissen. Ich zerreiße sie, aber sie fügt sich immer wieder zusammen. Jedes Mal, wenn ich sie zerreiße, zieht sie sich ein Stück enger zu. Vor Wut schreie ich laut auf. „Du kannst sie nicht zerreißen“, höre ich eine Stimme links von mir. Kaum, dass sie gesprochen hat, zieht mir wieder dieser faulige Gestank in die Nase. Mir laufen eiskalte Schauer über den Rücken. „Was bist du?“, flüstere ich. Er sieht mich ungläubig an. Dann lacht er leise auf. „Hat dein Vater dir überhaupt etwas erzählt, oder beigebracht?“, fragt er. Leise, schmeichelnd. „Was soll mein Vater mir beigebracht haben?“ frage ich mit zittriger Stimme. Er kommt näher, geht mit langsamen schleichenden Schritten über den Boden. Kein Geräusch ist zu hören. „Er hat dir wirklich nichts gesagt. Gute Arbeit. Aber das spielt jetzt keine Rolle mehr, dein Vater ist tot.“ Langsam leckt er sich über die Lippen. Dieser Satz lässt mich zu Eis erstarren. Tot? Das ist so absurd, ich kann es nicht glauben.

Das „Ding“ geht vor mir in die Hocke. Es haucht mich an, der Gestank lähmt mich. Ich kann mich nicht bewegen. Und auch nicht verhindern, wie es mir langsam, mit seinen knochigen Händen über die Wange streicht. Langsam zieht es die roten Linien mit seinen Fingern nach, von meiner Stirn über die Nase, Wange bis zum Mund. Sein langer spitzer, schmutziger Nagel kratzt über meine Haut. Als es von mir ablässt, kann ich wieder atmen. „Ich bin ein… Diener“, sagt es. „Mein Meister hat mich beauftragt, dich zu holen. Was ich bin? Willst du das wirklich wissen?“ Ich nicke. „Na gut“, zischt es. „Dann werde ich es dir sagen. Ich bin ein… Schatten.“ Ich schaudere. Dieser Name kommt mir irgendwie Vertraut vor. „Schatten…“ Woher kenne ich diesen Namen? Ich habe ihn doch schon mal gehört. Es ist wie in einem Tunnel. Ich laufe und laufe hindurch, finde aber die Nische meiner Erinnerung nicht. „Oh, ja. Schreie, quicke wie ein abgestochenes Schwein. Wenn dich jemand retten kommt, sind wir schon längst weg.“ Er lächelt ein abscheuliches Lächeln. Ich sehe in seinem Mund lange, spitze, verdreckte Zähne. Er kommt mir wieder so nah. Zu nah. „Leider muss ich dich lebend ausliefern. Sonst würde ich dich mit Haut und Haaren fressen. Schon habe ich die Schreie vermisst, den Geschmack vom Blut der Träumer auf meiner Zunge vergessen, zu lange habe ich meine Zähne nicht mehr in euer zartes Fleisch geschlagen und den Angstgeruch in meiner Nase aufgesaugt.“ Seine Nasenflügel blähen sich, als er schon wieder näherkommt, seine schwarze Zunge aus seinem Mund fährt und er sich über die rauen Lippen leckt. Er kommt mir so nahe, als ob er mir seine Lippen aufdrücken will.

„Ich glaube nicht, dass mein Meister es schlimm finden würde, wenn ich mich an deinen Schreien ergötze.“ Und wieder haucht er mich an. Ich bin immer noch wie gelähmt. Eine Träne kullert über meine Wange. „Das kann nicht sein! Das gibt es nicht! Das kann nicht wahr sein!“, schreit es in mir. Doch er ist da. Ich bin da. Der Finger des Schattens streicht mir über die Wange und wischt mir die Träne weg, hebt den Finger zu seinem Mund und leckt sie genüsslich ab. Er drückt mir seinen schwarzen Fingernagel erneut in eine meiner roten Linien auf meiner Wange. So fest, dass es wehtut. Ein Tropfen Blut hängt an seinem Nagel und erneut steckt er sich seinen Finger in den Mund und kostet genüsslich mein Blut. Weitere Tränen laufen über meine Wangen. Ich will zu Papa. Stumm weine ich. Der Schatten zieht mir seinen scharfen Nagel über meine Schulter bis zu meinem Handgelenk hinunter. Ein langer roter Striemen zeigt sich und schon läuft mir Blut über den Arm. Als er sich herabbeugt und es aufzusaugen beginnt, fange ich an zu schreien. Ich schreie und schreie, bis meine Lungen brennen. Ich will mit jeder Faser meines Körpers weg von diesem Ding, das über mir kauert und mein Blut trinkt. Als er fertig ist, fühle ich mich ganz schwach, als hätte ich mindestens fünf Liter Blut verloren. Wahrscheinlich habe ich das auch. Ich kann nicht mal mehr meinen Arm heben. „Wusstest du, dass Schatten unglaublich starkes schwarzes Gift in ihren Nägeln haben?“, fragt er belustigt. Ich sage nichts, ich kann nichts sagen. „Das deute ich als Nein. Jedenfalls wird dich das Gift innerhalb von acht Stunden töten. Keine Sorge…“, sagt er und streicht mir fast liebevoll über die unverletzte Wange, „…du wirst nicht sterben, weil mein Meister gleich hier ist. Aber ich darf dich so lange quälen.“ Er lacht. Abscheu überkommt mich. Ekel.

Ich schließe die Augen, als plötzlich sein Lachen abrupt erstirbt. Stattdessen höre ich einen dumpfen Knall. Unwillkürlich öffne ich meine Augen wieder. Das Bild, das sich mir bietet, ist nichts für schwache Nerven. Der Junge aus meinen Träumen hat den Schatten rücklinks zur Seite geworfen. Nun steht er da, breitbeinig mit einem entschlossenen Funkeln in den Augen. Der Schatten, der zu seinen Füßen kauert, knurrt auf, bleckt die Zähne, greift mit seiner Hand nach dem Bein meines Retters und zieht ihn ebenfalls von den Füßen. Der Junge stürzt sich auf ihn und die beiden rollen auf dem Boden hin und her. Der Junge gewinnt die Oberhand und setzt sich auf den Schatten. Die Hände an seinem Hals versucht er ihn zu erdrosseln. Der Schatten bringt irgendwie die Beine unter seinen Bauch und stößt den Jungen mit übermenschlicher Kraft von sich weg. Der kracht in die Wand, Mörtel, Ziegel Schutt und Asche brechen über ihm zusammen. Als Beide auf die Beine kommen, ist der Schatten kaum verletzt, aber der Junge hinkt, seine Lippe ist aufgeschlagen und er hat eine riesige Platzwunde an seinem Kopf. Das Blut tropft ihm übers Gesicht und in seine Augen. Der Junge knurrt. Und bleckt seine Zähne. Mir fällt auf, dass die Eckzähne so spitz sind, wie die des Schattens. Bei einem zweiten Blick bemerke ich, dass die Wunden des Jungen, wie durch ein Wunder verschwunden sind. Wie…?

Der Schatten nähert sich dem Jungen und zieht ein merkwürdig gekrümmtes Messer aus seinem Gürtel. Langsam umkreisen sich die Beiden. Dann stürzt sich der Schatten auf den Jungen und hackt, schneller als das menschliche Auge folgen kann, mehrmals auf den Jungen ein. Der jedoch weicht geschickt aus, ist aber trotzdem nicht schnell genug. Innerhalb von zehn Sekunden hat er einen Tiefen Schnitt an der Wange, bluttriefende Schnitte an seiner Seite und mehrere kleine Schnitte am Oberschenkel. Unglaublich, aber sie verheilen in Sekundenschnelle.

Der Junge schreit auf, drängt sich gegen den Schatten und versucht den Arm mit dem Messer zwischen ihren Körpern einzuklemmen. Für einen Moment scheint es so, als würde er siegen, doch sein Gegenüber befreit seinen Arm und hackt erneut mit dem Messer auf seinen Widersacher ein. Der Junge versucht die Hand des Schattens abzufangen und ihm das Messer zu entwinden. Endlich hält er das Messer in seinen Händen. Mit einem schnellen Hieb durchsticht er die rechte Seite des Schattens. Er fällt auf den Boden. Der Junge beugt sich zu ihm hinunter und flüstert ihm etwas ins Ohr, das ich nicht verstehen kann. Die Augen des Schattens weiten sich. Doch bevor er schreien kann, stößt der Junge dem Schatten das Messer ins Herz. Er zuckt und regt sich nicht mehr. Im nächsten Moment ist der Schatten zu Staub zerfallen, vereint sich mit dem Schutt und dem Staub, der überall im Zimmer verstreut liegt.

Kapitel 5. Träumer

Für einen Moment steht der Junge keuchend da. Er lässt das Messer fallen und kommt zu mir herüber. Er wischt sich seine Klamotten ab, so gut es geht. Er sieht sich noch einmal im Zimmer um und blickt auf den Fleck, wo der Schatten verschwunden ist. „Was für eine Schande. Habe ich dir nicht gesagt, du sollst nicht hierherkommen?“, stellt er fest, mit einem amüsierten Unterton. „Du wusstest es“, sage ich. Es ist eine nüchterne Feststellung. Sie macht mich unheimlich sauer. „Ja. Ich wusste es.“

Der Junge macht sich an meinen Fesseln zu schaffen. „Du kannst sie nicht Zerreisen“, sage ich, mit Genugtuung in der Stimme, die ich mir selbst nicht erklären kann. Er lacht überlegen. Er holt ein Messer aus seiner Seitentasche und zerschneidet die Fesseln. „Nun my Lady, darf ich sie bitten sich aufzustellen und mir zu folgen?“, fragt er, belustigt über meinen wütenden Ausdruck im Gesicht und will mir seine Hand geben. Als ich meine Hand in seine lege fährt ein Kribbeln durch sie hindurch. „Au“, entfährt es dem Jungen. „Ihr habt mich verbrannt.“ Er lächelt frech. „So ein böses Mädchen.“

Ich funkle ihn an, freue mich aber, dass er sich an mir verbrannt hat, als er mich anfassen wollte. „Fass mich nicht an“, zische ich. Er verbeugt sich. „Wie ihr wünscht.“ Auf irgendeine Weise macht er mich sauer. Und er weiß das. Ich stehe auf und wische mir, so gut es geht, den Dreck von meinen Klamotten. „Komm“, sagt er und will mich erneut am Arm mitziehen. Doch als er mich anfasst, flammt für einen kurzen Moment meine Haut auf und verbrennt ihn erneut. Es scheint ihm nichts auszumachen und er zieht mich mit sich. Ich wehre mich und will ihn abschütteln. Er hält mich nur noch fester. Ich brülle ihn an, er solle mich loslassen, aber er beachtet mich nicht. Bis ich ihm eine Ohrfeige gebe. Er schaut mich verdutzt an. Und als ich ihm noch eine geben will, schnellt seine Hand hoch und hält meine fest. Mit einer unglaublichen Schnelligkeit packt er mich an den Schultern und ehe ich mich versehe, finde ich mich an die Tür gedrückt. „Versuch es nicht noch einmal“, droht er. Seine Hand liegt an meinem Hals. Er erwürgt mich fast. Er hebt mich bestimmt zehn Zentimeter vom Boden hoch. Mit einer Hand. Und ich sehe, dass an seiner Hand alle Wunden wieder verheilt sind.

Ich bekomme Angst. „Was bist du?“, frage ich. Er starrt mich an. „Ich bin etwas, dem du noch nie in deinem Leben begegnet bist.“, lautet seine Antwort. Erneut keimt Angst in mir auf. Jetzt weiß ich jedenfalls, warum ich in meinem Traum vor ihm weggelaufen bin. „Ich will dich, verdammt nochmal beschützen und du machst es mir nicht gerade leicht.“, sagt er. Und fährt sich mit der Zunge langsam über die Lippen. Ich nicke. Ich kann einfach nicht anders. Dann lässt er mich los. Ich falle auf den Boden, sinke in mir zusammen und schnappe keuchend nach Luft.

Als ich mich erholt habe, kratze ich meinen Mut zusammen und frage: „Wohin bringst du mich?“ Er bleckt die Zähne. Warum auch immer. Nach einiger Zeit antwortet er: „Dorthin, wo du dich nicht in Gefahr bringst.“ Er lächelt spöttisch. „Wobei das in deinem Fall wohl kaum möglich ist.“ Dann packt er mich am Arm und zieht mich wieder mit sich. Plötzlich habe ich das Gefühl, dass mein Kopf zerplatzt. Ich fasse mir an die Stirn. Mir läuft kalter Schweiß herunter. Mir zieht es den Boden unter den Füßen weg. Ich stolpere und stürze. Mir ist so heiß. Schon wieder. Ich bleibe stillliegen. Spüre, wie mir das flüssige Feuer durch die Adern pulsiert. „Mach, dass es aufhört!“, sage ich. Weiß allerdings nicht, wen ich damit meine. Den Jungen? Hauptsache der Schmerz geht vorbei. Kalte Tränen laufen mir über die Wangen. Plötzlich spüre ich, wie mich starke Hände vom Boden aufheben und mich aus der Wohnung tragen. Draußen wird es besser. Ich sauge die kühle Luft in mich ein. Wieder überrollt mich eine Hitzewelle. Panik und Angst steigen in mir auf. Was passiert mir da? Als ich aufschreie, explodiert etwas neben uns. Feuer. Überall Feuer. Ich spüre, wie ich auf etwas Hartes abgelegt werde. Ich spüre Hände, die mein Gesicht umfassen. „Schhhhh…, Rose, sieh mich an“, höre ich eine Stimme aus weiter Ferne. „Sie mich an.“ Langsam mit schierer Anstrengung öffne ich die Augen. Ich sehe in das Gesicht von… wie hieß der Junge gleich nochmal? Ach ja. Noel. Seine braunen Augen starren mich durchdringend an. „Atme ein und aus. Ein, aus. So ist‘s gut.“ Der Schmerz wird erträglicher. Ich liege auf einer Bank am Marktplatz. Überall gehen Leute umher, zur Arbeit, zum Einkaufen oder zum Eis essen. „Sie mich an“, sagt er zu mir. „Du darfst keine Panik bekommen oder schreien. Das würde die Aufmerksamkeit der Leute auf uns ziehen.“ Ich schlucke, dann nicke ich.

Plötzlich werde ich von einer weiteren Welle überrollt. Als ich aufschreie, explodiert neben uns ein Haus. Ich werde von der Bank geschleudert. Noel ruft etwas, dann taucht er in den Schatten der Häuser. Panik macht sich unter den Menschen breit. Ich höre Schreie und wie die Leute im Laufschritt den Marktplatz überqueren. Dann löst sich noch ein Schrei aus meiner Brust. Ein weiteres Haus explodiert. Und noch eins und noch eins. Ich unterdrücke meinen nächsten Schrei. Hitze umfängt mich. Ich höre nur noch von fern das Geschrei der Menschen, die sich zu retten versuchen. Noch zwei Häuser explodieren. Ich spüre, wie abermals flüssiges Feuer durch meine Adern fließt. Und wieder nähert es sich ein Stück meinem Herzen. Mit einem Mal wird mir schwarz vor Augen. Ich habe meine Kraft in meinen Muskeln verloren. Ich habe meinen Vater verloren. Wie kommt es, dass einem an einem einzigen Tag, alles genommen werden kann?

Als ich aufwache, spüre ich etwas an meinem Hals. Doch meine Augen sind zu schwer, um sie zu öffnen. Ich liege in etwas Weichem. Vermutlich in einem Bett, bei Noel zu Hause? Ich spüre die Stelle an meinem Hals. Es ist kein Jucken mehr, sondern ein Ziehen. Das Ziehen wird zu einem dumpfen Schmerz. Und ich fühle mich… leer. Wieder falle ich ins Schwarze.

Das zweite Mal als ich aufwache, spüre ich wie mir ein Arm an den Mund gepresst wird und mir etwas Heißes in den Mund läuft. Es schmeckte metallisch. Trotzdem finde ich Gefallen daran. Es schmeckt mir und ich genieße es. Dann werde ich abermals ohnmächtig.