Ein Commissaire geht baden - Julie Masson - E-Book

Ein Commissaire geht baden E-Book

Julie Masson

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Beschreibung

Strahlender Sonnenschein, azurblauer Himmel Farbige Wimpel flattern im Wind. In Hossegor an der französischen Atlantikküste ist internationales Publikum versammelt, jeder feuert sein Team der Surfweltmeisterschaft an. Der Jubel verwandelt sich in Entsetzen, als einer der Lokalmatadoren plötzlich über Schwindel klagt und wenig später tot im Sand liegt. Commisaire Lefevre glaubt nicht an einen Zufall und beginnt zu ermitteln. In der Hippie-Welt der Surfer, die von der ultimativen Welle träumen, und der Arena des Leistungssports, wo Wettbetrügereien, Doping und Sponsoring die kriminellsten Blüten treiben. Lefevre ahnt bald, dass er noch einige Gläser Pastis trinken muss, bis er wirklich alle Fäden dieses Falles in der Hand hält. «Liebevoll und mit all seinen Schrullen schildert die Autorin ihren Ermittler.» (Main Echo)

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Julie Masson

Ein Commissaire geht baden

Kriminalroman

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Strahlender Sonnenschein, azurblauer Himmel.

 

Farbige Wimpel flattern im Wind. In Hossegor an der französischen Atlantikküste ist internationales Publikum versammelt, jeder feuert sein Team der Surfweltmeisterschaft an. Der Jubel verwandelt sich in Entsetzen, als einer der Lokalmatadoren plötzlich über Schwindel klagt und wenig später tot im Sand liegt.

Commisaire Lefevre glaubt nicht an einen Zufall und beginnt zu ermitteln. In der Hippie-Welt der Surfer, die von der ultimativen Welle träumen, und der Arena des Leistungssports, wo Wettbetrügereien, Doping und Sponsoring die kriminellsten Blüten treiben.

Lefevre ahnt bald, dass er noch einige Gläser Pastis trinken muss, bis er wirklich alle Fäden dieses Falles in der Hand hält.

 

Über Julie Masson

Julie Masson, geboren 1975 in einem kleinen Dorf am französischen Atlantik, studierte Germanistik und Literatur an der Sorbonne in Paris. Während eines Auslandssemesters an der Freien Universität Berlin verliebte sie sich nicht nur in die deutsche Sprache – und blieb. Nach dem Studium verfasste sie diverse Sachbücher, die in mehrere Sprachen übersetzt wurden. Heute lebt die Autorin mit ihrer Familie in der Nähe von Frankfurt. Die Kindheitserinnerungen an die Bewohner der Küste mit all ihren Eigenheiten inspirierten die Autorin zu den Verstrickungen, die ihren Commissaire Lefevre viele Nerven kosten.

 

Inhaltsübersicht

Der Wein verwandelt ...Prolog1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. KapitelEpilogLeseprobe: Der Commissaire kochtProlog1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel

Der Wein verwandelt oft die schmutzigsten Spelunken

In Schlösser voller Märchenpracht,

Und Säulenhallen er vor uns erstehen macht

Aus rotem Dunst und gold’nen Funken,

Wie eine Sonne, die versinkt in Nebelnacht.

 

Das Opium weitet aus, was ohne Grenz’ und Schranken,

Es dehnt die Unermesslichkeit,

Es höhlt der Wollust Rausch, vertieft das Meer der Zeit,

Und mit Genüssen, schwarzen, kranken

Macht es die Seele übervoll und weit.

 

Nichts aber gleicht dem Gift aus deinen grünen Augen,

Den tiefen Seen, drin gramerfüllt,

Verzerrt und zitternd malt sich meiner Seele Bild,

Aus denen durstige Träume saugen

Die tiefe Bitternis, die Qualen weckt und stillt.

 

Nichts aber gleicht dem Gift, dem Gift von deinem Munde,

Das in mir wühlt und mich verzehrt,

Die Reue tötet und schamlos Vergessen lehrt,

Den Wahnsinn träufelt in die Wunde

Und mit dem irren Geist taumelnd zur Hölle fährt.

 

Charles Baudelaire

«Das Gift»

Prolog

Lucien seufzte. Das tat er oft in letzter Zeit. Meistens seufzte er, weil er genervt oder gelangweilt war. Doch jetzt seufzte er in vollkommener Zufriedenheit mit der Welt im Allgemeinen und mit sich im Speziellen, als er darüber nachdachte, wie gut sich alles in seinem Leben gerade fügte. In Gedanken ließ er noch einmal das Gespräch mit seinem Vorgesetzten Revue passieren, das er am Morgen geführt hatte.

«Allô, Lucien. Meine Hochachtung. Wie ich höre, haben Sie den Mordfall schnell und effektiv aufgeklärt. Ich wusste doch, dass Ihnen nur ein fester Tritt in den Arsch gefehlt hat, um Sie wieder in die alte Form zu bringen.»

Lucien schaute seinen Vorgesetzten überrascht an. Musste René denn immer noch darauf herumreiten, dass sich Lucien für eine Versetzung hinter den Schreibtisch entschieden hatte? Ein toter Partner reichte Lucien vollkommen, um seine Entscheidung nicht zu hinterfragen, doch Commissaire Divisionnaire Pontarrasse war anscheinend felsenfest davon überzeugt, dass er sich nur aus Bequemlichkeit im Büro verkroch.

Lucien verkniff sich einen Gegenkommentar und nickte mit einer angedeuteten Verbeugung auf das sehr spezielle Kompliment.

«Stets zu Diensten, Monsieur Commissaire Divisionnaire», nuschelte er betont höflich.

«Wie gesagt: Die frische Luft bekommt Ihnen außerordentlich gut. Ich habe gehört, Sie haben in Contis viele neue Freunde gefunden», zwinkerte er ihm anzüglich zu, «und eine ganz persönliche Art der Zeugenbefragung durchgeführt.»

Das Blut schoss Lucien in den Kopf. Von wem hatte er nur diese Information schon wieder her. Als wenn er sich nicht schon selber über seine Unprofessionalität ärgerte, mit der Schwester eines Mordopfers eine Affäre angefangen zu haben. Nicht, dass ihm die Liaison mit Sophie leidtat, im Gegenteil. Aber es war ganz entschieden ein Verstoß gegen sein eigenes Berufsethos, während der Ermittlung etwas mit einer Zeugin anzufangen.

«Na, na. Sie brauchen sich nicht künstlich aufzuregen», kommentierte Pontarrasse Luciens offensichtliches Unbehagen. «Ich sag immer: Wo die Liebe hinfällt. Ich wollte Sie gar nicht damit aufziehen, sondern Ihnen die erfreuliche Nachricht überbringen, dass Sie nun wahrscheinlich mehr Zeit für Ihr Techtelmechtel mit der Deutschen haben.»

Das über Luciens Kopf schwebende Fragezeichen war geradezu greifbar.

«Monsieur? Ich verstehe nicht ganz. Sie wollen mich deswegen vom Dienst suspendieren?»

«Suspendieren? Mon Dieu, Lefevre, wie kommen Sie denn darauf? So ein Quatsch. Nein, nein, ich habe mich da vielleicht etwas missverständlich ausgedrückt. Sehen Sie.» René drehte sich auf seinem wuchtigen Bürostuhl und griff nach einem Stapel Papier, der nachlässig auf der linken Ecke des großen Holzschreibtisches lag. «Wo hab ich den Brief denn nur …» Unwirsch blätterte er die unsortierten Notizen mehrmals durch. «Ach hier.» Er zog ein Anschreiben mit dem Stempel der Polizeistation von Lit-et-Mixe heraus, den Lucien sofort erkannte. Er hatte ja schließlich erst vor kurzem ein paar Tage in dem Küstenort verbracht, um die Leitung des Mordfalls zu übernehmen. Interessiert beugte er sich vor und griff nach dem formellen Anschreiben, das René Pontarrasse ihm entgegenhielt.

Rasch überflog er die Zeilen und schaute zu seinem Vorgesetzten auf.

«Sous-Brigadier de Police André Lepoutre geht in den Ruhestand? Das war zu erwarten. Aber was hat das mit mir zu tun?»

«Eigentlich nichts – das stimmt –, aber auch irgendwie alles», orakelte Pontarrasse grinsend in sich hinein und drehte sich mit seinem Stuhl so, dass er aus dem Fenster sehen konnte. Offensichtlich genoss er die Verwirrung, die sich deutlich auf Luciens Gesicht ablesen ließ.

«Ja?», versuchte Lucien seinen Vorgesetzten zum Weiterreden zu animieren.

«Sehen Sie mal, mein lieber Lucien.» Oh weh, wenn René auf jovialen Vorgesetzten machte, konnte dies nur Unannehmlichkeiten bedeuten. Lucien rutschte unruhig auf die Kante seines Sitzes.

«Ich habe Sie zu mir gerufen, um mit Ihnen über die Zukunft der Polizeiwache von Lit-et-Mixe zu sprechen. Sie wissen ja, dass wir durch die internationale Finanzkrise nicht besonders gut dastehen. Unsere große Nation kann es sich einfach nicht mehr leisten, jede kleine Polizeistation zu besetzen. Dennoch nimmt die Gewaltbereitschaft auf dem Land zu, und die Staatsmacht muss Präsenz zeigen. Um es kurz zu machen: Wir benötigen einen neuen Stationsvorsitzenden für Lit-et-Mixe, Julien-en-Born und die angeschlossene Wache von Contis. Da die beiden lokalen Polizisten nur über die nötigste Qualifikation verfügen, ist die Wache zurzeit, sagen wir mal vorsichtig ausgedrückt, führungslos. Ich habe der zuständigen Direction in Paris daher vorgeschlagen, dass Sie sozusagen kommissarisch die Station leiten könnten, bis einer der beiden Sergeanten sich durch eine Beförderung qualifiziert hat, die Leitung langfristig zu übernehmen.»

Lucien erstarrte. Er sollte sein vollklimatisiertes, modernes Büro aufgeben und dauerhaft in dieses Kaff gehen, in dem auf der Wache gehäkelte Gardinen in den Fenstern hängen?

«Aber, Monsieur, mit Verlaub, ich bin die nächste Zeit hier nicht abkömmlich. Wie Sie wissen, war ich jetzt fast vier Wochen nicht mehr in meinem Büro und habe jede Menge Altlasten aufzuarbeiten», entrüstete sich Lucien.

«Lucien, erstens ist diese, sagen wir mal, Beförderung nicht in Frage zu stellen, da ich sie schon genehmigt habe, und zweitens würde ich mich mit meinem Protest etwas bedeckt halten. Die Haushaltslage ist ernst.»

Lucien schluckte. Er strich sich das Haar aus der Stirn, obwohl es wie immer tadellos saß, um sich einen Moment zu fassen.

«Monsieur Pontarrasse, verstehe ich Sie richtig? Sie verbannen mich ins Exil?»

«Aber nein, Lucien. Was denken Sie denn von mir? Sehen Sie, die Sache ist die: Ich muss die Stelle augenblicklich besetzen, da die Bürokraten in Paris alle kleineren Wachen, die keine Leitung haben, aus Kostengründen umgehend schließen. Das muss auf alle Fälle verhindert werden, da uns sonst das Hoheitsrecht, das wir für das Gebiet bis Biarritz haben, entzogen würde. Wenn wir dieses Gebiet südlich von Bordeaux verlieren, dann wird auch die Zentrale personelle Kürzungen zu befürchten haben. Lucien, ich rede mit Ihnen Klartext, um die Sache mit dem nötigen Ernst zu versehen. Sollte die Entwicklung in diese Richtung gehen, würden wir in Bordeaux ungefähr zwanzig Prozent unserer Angestellten entlassen müssen. Natürlich betrifft dies in erster Linie den Innendienst, denn wir müssen ja weiterhin starke Präsenz auf der Straße zeigen. Also Lucien, wenn Sie nicht bereit sind, nach Lit-et-Mixe zu gehen, dann habe ich vielleicht zukünftig für Sie auch hier keine Verwendung mehr. C’est tout, mehr gibt es dazu nicht zu sagen.»

Nachdenklich rutschte Lucien auf seinem unbequemen Holzstuhl, der vor dem prächtigen Schreibtisch seines Vorgesetzten stand, hin und her.

Zum einen war er erleichtert, dass die Zwangsrekrutierung keine Strafaktion war, zum anderen hatte er den ansonsten stets sehr umgänglichen René Pontarrasse noch nie so aufgebracht erlebt.

«Natürlich habe ich noch andere Kandidaten, die ich für diesen Posten vorschlagen könnte, aber Sie müssen zugeben, dass es sehr naheliegt, erst einmal Sie zu fragen, da Sie sich bereits in die Örtlichkeiten eingearbeitet haben. Soweit ich weiß, haben Sie sich dort sogar eine Dependance zugelegt und könnten bereits in den nächsten Tagen Ihren neuen Posten antreten.»

Commissaire Lucien Lefevre sah vor seinem geistigen Auge die unverputzte Betonfassade seines Strandhäuschens, das er sich vor kurzem gekauft hatte. Die Wohnung am Meer war im Moment noch mehr oder weniger im Rohbau und taugte bestimmt noch nicht als ständiger Wohnsitz.

«Also gut. Sie zahlen mir aber sicherlich eine Prämie und einen erhöhten Spesensatz für die mir durch den Umzug entstehenden Kosten und zwei Wochen bezahlten Urlaub, um alles zu regeln. Dann erkläre ich mich bereit, die Leitung der Wache provisorisch zu übernehmen, bis meine Ablösung kommt. Wie lange brauchen Sie, um für einen der beiden Sergeanten den Antrag auf Beförderung einzureichen?»

«Aber Lucien, wie stellen Sie sich das vor? Haben Sie vergessen, dass die Regierung sparen muss? Allerhöchstens kann ich die Übernahme der Kosten für den Umzugswagen genehmigen, ansonsten beziehen Sie selbstverständlich Ihr ganz normales Gehalt. Nehmen Sie sich meinetwegen den Rest der Woche frei, aber mehr nicht. Nächsten Montag stehen Sie pünktlich in Lit-et-Mixe auf der Matte.»

Lucien kommentierte dies mit einem Knurren, das Pontarrasse als Zustimmung auffasste.

«Also dann hätten wir das ja geklärt. Sie wissen doch, wie schwer es ist, befördert zu werden, das muss man sich erarbeiten und kann man nicht nur in Dienstjahren absitzen. Die Ernennung wird erteilt, wenn sich einer der beiden Kandidaten für eine Beförderung empfohlen hat, und dies geschieht in der Regel durch eine herausragende Leistung. Vielleicht haben Sie ja Glück, und das Meer lädt Ihnen einen Fall frei Haus am Strand von Contis-Plage ab.» René Pontarrasse rollte seinen Stuhl zurück und stand auf. Ein unmissverständliches Zeichen dafür, dass das Gespräch von seiner Seite aus beendet war. Lucien sah allerdings noch weiteren Gesprächsbedarf und blieb stur sitzen.

«Monsieur Pontarrasse, bei allem Respekt, aber das ist doch nicht Ihr Ernst! Wenn ich an die kriminalistische Qualität der beiden Dorfpolizisten denke, sitze ich ja noch in hundert Jahren an der Küste fest.»

«Mein lieber Lucien, dann sollten Sie sich ranhalten und möglichst schnell einen dicken Fisch an die Angel bekommen. Aber nicht, dass Sie auf dumme Gedanken kommen und selber einen Mord begehen, nur um die beiden loszuwerden.» Pontarrasse lachte lauthals über seinen eigenen Witz und ging mit festem Schritt Richtung Tür. Entschlossen legte er seine kräftige Hand auf die Türklinke, um zu verdeutlichen, dass die Audienz nun endgültig vorbei war. Er drückte die Klinke hinunter und drehte sich zu Lucien um.

«Ich erwarte in spätestens vier Wochen Ihren ersten Bericht über die Lage vor Ort. Dann entscheide ich, wie sich die Sache weiterentwickelt.»

Lucien erhob sich stumm. Nickte seinem Vorgesetzten kurz zu und ging an ihm vorbei aus dem Büro, ohne sich förmlich zu verabschieden.

Als sich die Tür des schmucklosen Büros hinter ihm geschlossen hatte, erlaubte er sich seinen Gefühlen freien Lauf zu lassen und zog die Mundwinkel zu einem verschmitzten Lächeln bis zu den Ohren hoch. Das war ja großartig gelaufen. Jetzt konnte er seinen Sommerurlaub an der Küste auf Staatskosten verlängern. Nicht dass es ihm ums Geld ging, das war kein Problem, er stammte aus einer wohlhabenden Familie. Es ging ihm ums Prinzip. Sie wollten ihn an die Küste schicken? Dann sollten sie ihn dafür auch bezahlen. Großartig, so konnte er die nächsten Wochen in Ruhe seine neue Ferienwohnung einrichten, jeden Tag baden und am Meer spazieren gehen und sich zum Mittagessen im «La Belle» einen gekühlten Pastis Feuille Morte mit Grenadine und einem Schuss Pfefferminzsirup gönnen.

1. Kapitel

Begierig sog Lucien die kalte, feuchte Morgenluft ein. Andächtig blickte er über die gläserne Umfassung der Terrasse hinunter auf das tobende Meer und ließ dann seinen Blick über den Horizont gleiten, der noch im trüben Dunst des anbrechenden Tages lag. Ein tiefes Glücksgefühl breitete sich in seiner Brust aus und strömte warm durch seine Adern. Er war endlich zu Hause. Er war angekommen an dem unbewussten Sehnsuchtsort seiner Seele. Obwohl er erst seit ein paar Tagen auf der Düne von Contis wohnte, fühlte er sich vollkommen eins mit der sich vor ihm ausstreckenden Landschaft. Mit den Geräuschen des Atlantiks, dem Kreischen der Möwen, dem salzigen Geschmack der Gischt, der auch hier oben auf der Düne, rund zehn Meter über dem Wasserspiegel, noch zu schmecken war. Noch einmal atmete er tief ein, bevor er sich auf den weißen Korbstuhl neben dem kleinen gusseisernen Bistrotisch setzte und sich die erste Zigarette des Tages gönnte. Genussvoll sog er den Rauch ein, der sich mit den Aromen des Meeres zu einer interessanten Mischung verband. Seufzend lehnte er sich zurück und rührte in seinem Espresso.

Zu dieser frühen Morgenstunde hatte er das Privileg, nahezu alleine auf der abgelegenen Düne zu sitzen. Es war kurz nach sechs, und die meisten Menschen in Contis schliefen noch. Nur ein paar Jugendliche kamen mit ihren Brettern unterm Arm an den Strand und sprangen in die Wellen. Um diese Uhrzeit waren die Wellen besonders hoch und die Konkurrenz im Kampf um den besten Platz geringer. Lucien konnte die Autos hören, die sich hinter seinem Haus die steile Düne hochquälten, kurz anhielten, Surfer und Bretter rauswarfen und wieder wegfuhren, da auf der Düne das Parken verboten war. Außer man hatte einen Privatparkplatz, grinste Lucien in sich hinein. Er dachte vergnügt an sein zitronengelbes Schätzchen, das er vor kurzem erstanden hatte. Seinen geliebten ’72er Porsche, den er normalerweise fuhr, hatte er vorsichtshalber in der Garage seines Hauses, in Bordeaux gelassen. Die salzige Luft, die starke Sonne und vor allem die mikroskopisch feinen Sandkörner waren Gift für seinen wertvollen Oldtimer. Daher war er vernünftigerweise mit seinem kleinen Dienstwagen hergekommen, um die tägliche Strecke von Contis-Plage zur Polizeiwache von Lit-et-Mixe zu fahren. Doch bereits am Umzugstag war er auf der Landstraße nach Contis an einer stillgelegten Tankstelle vorbeigekommen, wo einige ausrangierte Autos vor sich hin oxidierten. Der Commissaire war erst vorbeigefahren, hatte aber spontan gebremst und war umgekehrt. Ein zitronengelber Citroën Méhari, eine Art Jeep, der zwischen dem verrostenden Schrott mit leuchtender Strahlkraft herausstach, hatte seine Aufmerksamkeit gefesselt.

Im Slalom umkurvte Lucien einige schrottreife Autos und Motorräder. Er blieb vor dem Citroën stehen und strich sanft über die verstaubte Kühlerhaube des Wagens. Die gelbe «Plastikbadewanne» war das perfekte Auto für die raue Küste. Leicht, rostfrei, sparsam im Verbrauch, auf der anderen Seite natürlich nicht schlechtwettertauglich oder unfallsicher. Kein Metall, keine Knautschzone, kein Komfort, kein festes Dach oder Fenster, dafür aber jede Menge Spaß.

Lucien hatte bereits sein Handy gezückt und die Nummer des Verkäufers gewählt, die auf dem handgeschriebenen Zettel stand, der in der Windschutzscheibe klebte. Während Lucien auf das Freizeichen lauschte, überflog er noch einmal die Eckdaten des Wagens: Baujahr 1980, 1837 Kilometer auf dem Tacho und die «Contrôle Technique» war laut Aufkleber noch über ein Jahr gültig.

Wie sich herausstellte, gehörte die alte Tankstelle dem Abschleppunternehmer Gilbert Montabour, den der Commissaire bereits kannte. Daher waren sie sich rasch einig geworden, zumal Gilbert noch eine Frei-Haus-Lieferung angeboten hatte. Der Abschleppunternehmer hatte ständig in der Gegend zu tun, da immer wieder Touristen im Halteverbot am Strand parkten und dann entfernt werden mussten. Das war ein ziemlich einträgliches Geschäft, bei dem er natürlich auch von der guten Beziehung zur Polizei profitierte, die ihn und nicht die Konkurrenz aus Mimizan mit dem Abschleppen beauftragte.

Eine Hand wäscht die andere. Das galt besonders für die eingeschworene Gemeinschaft an der Küste, wie er damals leidvoll erfahren hatte, als er versucht hatte, den Mord an dem deutschen Thomas Schumacher aufzuklären.

Seitdem akzeptierten ihn die Bewohner von Contis weitestgehend. Lucien machte sich aber keine Illusionen hinsichtlich der Motive der Freundlichkeit ihm gegenüber. Es war weniger sein kriminalistischer Spürsinn gewesen, der ihnen Respekt abnötigte, sondern vielmehr die Tatsache, dass er die im Rahmen der Ermittlung enthüllten Geheimnisse der Dorfbewohner für sich behalten hatte.

 

Genüsslich atmete er den letzten Zug ein und drückte den Stummel gründlich im Aschenbecher aus. Er seufzte, als er daran dachte, dass heute sein erster Arbeitstag war und er die Handwerker unbeaufsichtigt lassen musste.

Lucien war im Rahmen seiner Ermittlungen auf dieses Haus gestoßen. Architektonisch entsprach es genau seinen Vorstellungen. Ein geradliniges Flachdachhaus im Bauhausstil, mit einer durchgehenden Glasfassade im Unter- und Obergeschoss. Der Vorbesitzer, ein Investor, hatte Angst vor einem finanziellen Verlust gehabt, als das Gerücht die Runde machte, dass die sich gerade im Neubau befindlichen Wohnungen eventuell dem geplanten Naturschutzgebiet weichen müssten, und hatte den Rohbau schnell abstoßen wollen. Lucien wusste dagegen, dass zwar ein Großteil der Neubauten abgerissen würde, aber der fast fertige Komplex auf der linken Seite der Strandwache stehen bleiben durfte. Er hatte daher schnell zugeschlagen und sich gleich den ganzen Rohbaukomplex für einen Spottpreis gesichert, bevor die Bebauungsgrenze öffentlich bekanntgegeben wurde. Da ihn nach dem Kauf leider die Ermittlungen in Périgueux festhielten, hatte er den ansässigen Architekten Broché mit dem Innenausbau beauftragt. Gemeinsam hatten sie stundenlang die Rohbaupläne seinen Vorstellungen angepasst und aus den vier Einheiten eine einzige gemacht.

Lucien erinnerte sich mit Schaudern an das letzte Telefongespräch mit Broché, in dem er seinen anstehenden Umzugstermin mitteilte. Der Architekt bestätigte ihm erneut, dass die Wohnung bezugsfertig sein würde. Begeistert orderte Lucien den Umzugswagen und schickte die Möbel zu der neuen Adresse. Voller Freude fuhr er die Strecke mit seinem Auto voraus, um noch vor den Möbelpackern im Haus zu sein. Doch er staunte nicht schlecht, als der Parkplatz vor dem Haus noch mit diversen Handwerkerfahrzeugen besetzt war. Das Gelände sah aus wie ein Schlachtfeld. Leere Kabeltrommeln lagen neben Baustahl und Fliesenbruch. Lucien musste über lose verlegte Bretter klettern, um ins Haus zu gelangen. Mit Grauen dachte er an seine wertvollen Einrichtungsgegenstände, die schon auf dem Weg waren.

Die provisorische Bautür aus Sperrholz stand weit offen und ermöglichte einen ungehinderten Blick auf die große Glasfront. Lucien war von dem weiten Ausblick überwältigt, bis ihm mit einem Schlag bewusst wurde, dass hier eigentlich eine Wand stehen müsste, die den Eingangsbereich und die Gästetoilette vom Wohntrakt abtrennen sollte. Schlagartig ernüchtert schaute er sich um. Die Wand war nicht das Einzige, das fehlte. Lucien sah ungläubig auf die offenliegenden Stromleitungen ohne Steckdosen und die Lichtschalter, an denen die losen Kabelenden aus der Wand hingen. Immerhin war der Boden verlegt und die Armaturen in Küche und Bad angeschlossen. Lucien durchmaß rasch Raum für Raum und machte sich bereits gedanklich eine Liste der zu beanstandenden Baumängel. Seine kurze Bestandsaufnahme fiel katastrophal aus. Kein einziger Raum war bezugsfertig. Die meisten Türen fehlten und teilweise auch die Wände. Den Vogel schoss aber das Obergeschoss ab. Lucien blieb wie vom Donner getroffen in der türlosen Öffnung zum großzügigen Schlafraum stehen.

Die Fensterfront öffnete sich auch hier zum Meer hin und versprach, trotz der verschmutzten Scheiben, einen atemberaubenden Ausblick. Doch wurde dieser durch den mitten im Raum aufgestellten Kaminschacht behindert. Lucien erinnerte sich vage daran, dass er die Wand zum Bad zugunsten eines größeren Schlafzimmers im Nachhinein um einen Meter nach rechts verschoben hatte. Anscheinend hatte der Architekt seine Bauaufsicht nicht sehr ernst genommen und nicht bemerkt, dass Trockenbauer und Kaminsetzer verschiedene Versionen des Bauplans hatten. Die Fußbodenverleger hatten anschließend, um den einen Meter neben der Wand im Raum stehenden Schacht herum, sorgfältig das Parkett aus alten Bootsdielen verlegt.

 

Lucien stieß einen Fluch aus, der sicherlich noch am Strand zu hören war, und stürmte auf der Suche nach dem Verursacher dieses Chaos nach draußen. Wutentbrannt nahm er die Treppe mit zwei Schritten und rannte durch die Haustür ins Freie. Doch als er ungestüm über die Bretter rannte, gerieten die losen Dielen auf dem Schotter ins Rutschen und mit ihnen Lucien. Vollkommen überrascht machte er einen beherzten Ausfallschritt, um nicht zu stürzen. Dabei knickte er mit dem rechten Fuß um und fiel wie ein gefällter Baum der Länge nach auf den Boden.

Verdammt, tat das weh. Lucien drehte sich um und versuchte aufzustehen. Doch der Schmerz im Fuß hielt ihn am Boden.

«Das sind bestimmt die Bänder», meldete sich nun einer der Elektriker zu Wort, der an seinem Wagen lehnte und sich eine kleine Pause von der anstrengenden Installation der Steckdosen gönnte. «Hatte ich auch schon mal. Tut verdammt weh und dauert mindestens vier Wochen, bis Sie den Fuß wieder belasten können.»

Na großartig. Lucien fluchte und bat den Mann, ihm sein Handy aus dem Wagen zu holen. Er bestellte einen Krankenwagen auf die Düne, der ihn in das nächstgelegene Krankenhaus brachte, das in dem gut 50 Kilometer entfernten Städtchen Dax lag. Zum Glück musste er nicht lange warten und wurde umgehend behandelt, was eventuell an der mehrmaligen Betonung seines Dienstranges lag.

Dabei stellte sich heraus, dass der Handwerker mit seiner Spontandiagnose genau richtig lag. Lucien konnte die Schmerzen bei der Untersuchung kaum aushalten und war sich sicher, dass, falls die Bänder vorher nur angerissen waren, sie spätestens nach der Behandlung durch die wenig zimperliche Krankenschwester Isabella, die den Fuß grob in die Position zwängte, gerissen sein würden.

Erst Stunden später spuckte der Krankenwagen Lucien samt Verband, Schmerzspritze und Krücken auf der Düne wieder aus. Die Handwerker hatten inzwischen Feierabend gemacht. Verständlich, es war schließlich schon später Nachmittag.

Lucien humpelte vorsichtig über die neu verlegten Bretter. Die Spedition hatte Wort gehalten und seine Möbel heute angeliefert. Da sie aber weder die Küchenzeile aufbauen noch die Schränke aufstellen konnten, hatten sie in friedlicher Eintracht beschlossen, alles einfach verpackt zu lassen und in möglichst kurzer Entfernung von der Tür abzustellen.

Lucien seufzte. Er konnte noch nicht einmal aus eigener Kraft den Rückzug antreten, da er in seinem Zustand nicht selbst fahren konnte. Entweder er nahm ein Taxi zurück in seine 120 Kilometer entfernte Wohnung in Bordeaux oder ließ sich in dem kleinen Hotel im Ort absetzen. Mürrisch humpelte Lucien ein paar Schritte weiter durch die Wohnung. Beide Optionen gefielen ihm überhaupt nicht. Verdammt, verdammt, verdammt. Was für ein Riesenschlamassel.

Sein Blick blieb an der zusammengerollten Matratze hängen. Er versuchte die Schmerzen auszublenden und legte die Krücken neben die Matratze, zog die Folie ab und rollte sie auf dem staubigen Boden direkt vor dem bodentiefen Panoramafenster aus. Zum Glück hatte er seine Bettwäsche aus Bordeaux separat mitgebracht. Einbeinig hüpfte er zur Sporttasche, in die er seine Utensilien für die erste Nacht in einem, wie er selber fand, Anflug von Genialität hineingeworfen hatte. Erschöpft ließ er sich auf die Matratze fallen und bezog kniend das Bett. Danach zog er eine Flasche Pastis und Evian aus der Tasche, nahm gleich zwei Schmerztabletten aus seinem Jackett und schluckte sie mit lauwarmem Mineralwasser hinunter. Die Pastisflasche stellte er gefrustet beiseite. Ohne Eiswasser war sein Lieblingsgetränk nun wirklich ungenießbar.

Da fiel sein Blick auf die provisorische Armatur in der Küche. Er zog sich unter Schmerzen wieder hoch, nahm die Krücken und die leere Evianflasche und ging zum Wasserhahn, unter dem ein Plastikeimer stand. Skeptisch ließ er kaltes Wasser in den Eimer laufen und prüfte die Temperatur mit dem Finger. Dann hielt Lucien die Plastikflasche unter den Strahl, ging zu seinem provisorischen Nachtlager zurück und mischte sich einen Pastis.

Gierig ließ er den ersten Schluck Anisschnaps seinen Gaumen befeuchten und die Kehle hinunterlaufen. Seine Augen ruhten auf der atemberaubenden Aussicht. Am Strand waren noch vereinzelte sonnenhungrige Menschen, doch der Strom der Touristen, die den Strand verließen, nahm beständig zu. In der Ferne konnte man schon die Dämmerung erahnen. Das Geräusch der sich brechenden Wellen drang durch die geöffneten Fenster und verband sich mit der Kakophonie der kreischenden Möwen zu einer Geräuschkulisse, die Lucien, noch mit dem nahezu vollen Glas in der Hand, in einen unruhigen Schlaf hinübertrug.

2. Kapitel

Ein Hupen riss Lucien aus seinen Gedanken an das Chaos der vergangenen Tage. Mittlerweile hatte er, oder eher gesagt, die Handwerker, zumindest das Schlafzimmer provisorisch eingerichtet.

Mit einem schmerzvollen Laut stemmte sich Lucien aus dem Korbsessel und humpelte mit Hilfe seiner Krücken von der Terrasse ins Wohnzimmer und durch die Sperrholzhaustür nach draußen. Sergeant Chevalier saß am Steuer des kleinen Dienstwagens und konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen, als er seinen Vorgesetzten auf sich zuhumpeln sah.

«Bonjour, Monsieur le Commissaire. Schön, Sie so bald wiederzusehen», begrüßte François ihn herzlich. Er sprang eifrig vom Sitz, umrundete den Wagen, öffnete die Beifahrertür und half ihm beim Einsteigen.

Lucien schob den Sitz mit einem kräftigen Ruck nach hinten, um mehr Platz zu haben.

«Bonjour, mein lieber François.» Lucien verstaute seine Krücken auf der Rückbank und zog die Beifahrertür zu.

«Danke fürs Abholen. Ich werde wohl die nächsten Wochen noch öfters Ihre Dienste als Chauffeur in Anspruch nehmen müssen.» Lucien konnte die Begeisterung darüber auf dem offenen Gesicht des Sergeanten ablesen. Die sonnengebleichten Haarsträhnen fielen dem jungen Mann in wilden Locken ins Gesicht und vermittelten den Eindruck, dass er mehr Zeit am Strand als auf der Wache verbrachte, womit Lucien wahrscheinlich nicht ganz falschlag.

«Das mach ich gerne. Schön wohnen Sie hier. Die Aussicht ist ja atemberaubend», stichelte François mit Blick auf den zerstörten Vorgarten und legte den Rückwärtsgang ein.

«Warten Sie, bis ich mit dem Verursacher dieses Chaos fertig bin. Dieser Feigling von einem Architekten geht weder an sein Telefon, noch traut er sich auf die Baustelle. Wenn er noch mehr Aufträge so vergeigt, würde es mich nicht wundern, wenn er der Nächste wäre, den wir aus dem Meer ziehen. Apropos, gab es irgendetwas Neues während meiner Abwesenheit?» Lucien versuchte es sich trotz schmerzhaftem Knöchel für die kurze Fahrt so bequem wie möglich zu machen. «Und wären Sie so freundlich, auf dem Weg kurz beim Tabac zu halten und mir Zigaretten zu kaufen?»

«Na klar, mach ich.» Sergeant Chevalier schwante, dass seine spontane Zusage, den Chef herumzufahren, ganz schön anstrengend werden könnte. Aber der Blick in das angesäuerte Gesicht seines Kollegen Yves Dubertrand, der seinerseits gerne selber diesen bequemen Job gemacht und sich damit einen Vorteil Richtung Beförderung ausgerechnet hatte, war es allemal wert gewesen. Es war reiner Zufall, dass er zuerst zum Hörer gegriffen und direkt mit seinem alten und jetzt neuen Vorgesetzten gesprochen hatte. Da war es natürlich naheliegend gewesen, die Gelegenheit zu ergreifen. Zudem ist es allemal besser, durch die Gegend zu fahren, als auf der Wache herumzusitzen und Formulare auszufüllen.

«Also, außer der guten Neuigkeit, dass Sie nun wieder bei uns sind, ist eigentlich nichts Erwähnenswertes passiert. Wir hatten die üblichen Falschparker. Außerdem eine Gruppe von Zigeunern, die am Strand campieren wollten. Dann noch einen Ehestreit, bei dem es einen Verletzten gab, und einige Diebstähle auf dem Campingplatz. Sie sehen, alles beim Alten.»

Lucien seufzte. Wie er schon befürchtet hatte: Weit und breit kein Fall, der eine Beförderung rechtfertigte. Das würden beschauliche Tage werden. Lucien war sich noch nicht ganz sicher, ob er die Zeit würde genießen können, solange sein Knöchel schmerzte und sein Haus einem Trümmerfeld glich.

 

François lenkte den Dienstwagen nach dem kurzen Zwischenstopp am Tabac geschickt auf den Parkplatz neben der Polizeiwache in Lit-et-Mixe. Lucien öffnete die Tür und schälte sich mühsam aus dem Auto, in dem Versuch, den verletzten Fuß so wenig wie möglich zu belasten. Ungelenk humpelte er an der blassrosa gestrichenen Fassade und den gehäkelten Vorhängen entlang zum Eingang der Wache.

«François, bevor ich es vergesse.» Lucien drehte sich zu dem Sergeanten herum, der hinter ihm ging. «Beauftragen Sie doch bitte umgehend einen Maler damit, der Fassade einen vernünftigen Anstrich zu verpassen. Diese Farbwahl kommt für eine ordentliche Dienststelle absolut nicht in Frage. Und dann sorgen Sie als Nächstes bitte dafür, dass wir in der Station neue Jalousien bekommen und diese gehäkelten Teile in den Müll wandern.»

«Pardon, Monsieur le Commissaire. Die Vorhänge hat Marianne – die kennen Sie doch noch, oder? Die Freundin von Yves –, gerade letzte Woche alle gewaschen. Ich glaube nicht, dass sie begeistert wäre, wenn wir die nun wegschmeißen. Außerdem hat sie die Fensterbänke neu dekoriert.»

Lucien seufzte, das fing ja großartig an. Seine erste Kompetenzrangelei betraf gleich die fleischgewordene Dorfzeitung. Er hatte ganz vergessen, wie provinziell hier alles war. Vielleicht war es doch keine so geniale Idee gewesen, die Stelle hier anzunehmen. Er musste auf jeden Fall dafür sorgen, dass seine Untergebenen möglichst schnell eine richtige Herausforderung bekämen und ihm nicht permanent auf den Geist gingen.

«Na gut», nuschelte Lucien, der keinerlei Lust verspürte, sich mit dem Vollweib Marianne anzulegen. «Dann lassen wir die Vorhänge halt erst einmal hängen, ist ja auch ganz gemütlich, so ein Wohnzimmer-Ambiente. Aber den Fassadenmaler rufen Sie bitte umgehend an. Ich kümmere mich dann um die Genehmigung der Kosten.» Sollte sich doch sein Chef in Bordeaux darum kümmern, Pontarrasse hatte ihm die Suppe schließlich eingebrockt und konnte ja schlecht etwas dagegen haben, dass Lucien seine Aufgabe als Stationsleiter ernst nahm.

«Bonjour, Monsieur le Commissaire. Wie schön, Sie so bald wiederzusehen. Darf ich Ihnen mit der Treppe helfen?» Yves hielt die Tür sperrangelweit auf und wollte Lucien unter die Arme greifen.

«Die zwei Stufen schaffe ich schon noch alleine. Ich bin verletzt, aber nicht invalid!», raunzte Lucien unwirsch, der sich durch die Orthese schon genug in seiner Männlichkeit beeinträchtigt fühlte. Von dem schmächtigen Sergeanten gestützt zu werden wie ein alter Greis, war absolut inakzeptabel.

«Dubertrand, erstellen Sie mir bitte auf der Stelle eine Liste der Fälle, an denen Sie gerade arbeiten, und legen Sie mir diese umgehend an den Platz.»

Dubertrand zog den Schreibtischstuhl hinter dem Tisch vor und wollte ihn Lucien anbieten.

«Danke, ich komme schon zurecht. Dubertrand, ich muss sagen, Marianne tut Ihnen gut, wenn ich Sie so anschaue.»

Überrascht sah Dubertrand auf. Mit einem Kompliment aus dem Munde seines stets leicht aufbrausenden Vorgesetzten hatte er nicht gerechnet.

«Sie kocht gut, Ihre Marianne, oder? Sie haben ein bisschen zugelegt.»

Dubertrand zuckte zusammen.

«Also, Dubertrand, ich warte auf Ihren Bericht.» Lucien ließ sich schwer seufzend in den Stuhl fallen und zog einen Karton heran, um sein Bein hochzulegen. Dubertrand setzte sich beleidigt an seinen Tisch und kramte in dem Zettelhaufen, der sich auf seiner Ablage türmte. Lucien kniff die Augen zusammen, als er ihn dabei beobachtete. Es war wirklich höchste Zeit, dass hier wieder jemand für Ordnung sorgte. Voller Tatendrang überlegte er, wie er am besten die gesamten Akten dieser Wache digitalisieren konnte. Vielleicht würden sie ja dabei sogar auf einen alten, noch ungelösten Fall stoßen, mit dem er in Bordeaux glänzen konnte.

«Ich habe gerade mit Serge Larousse gesprochen, dem einzigen Maler hier in Lit-et-Mixe.» Lucien schaute erwartungsvoll zu François hoch, der noch den dunkelgrünen Telefonhörer des alten Festnetztelefons in der Hand hielt.

«Er sagt, dass er gerade an einem Haus auf der Düne arbeitet, aber wenn Sie darauf bestehen, könnte er die Arbeit daran auch einstellen und erst einmal die Wache streichen.» Ein kaum merkliches Zucken seiner Mundwinkel verriet Lucien, dass sich der junge Mann diebisch über diese Entwicklung freute, die seinen Chef in die Zwangslage brachte, den Handwerker vom eigenen Haus abzuziehen. Dabei hatte der Tag so friedlich begonnen. Lucien wünschte sich schon jetzt auf seine Terrasse zurück, wo er in Ruhe eine Zigarette rauchen könnte. Am besten wäre es wohl, den ersten Arbeitstag zeitlich ein wenig flexibel zu gestalten und sich früh wieder zurückfahren zu lassen, dann könnte er auch den Handwerkern ein bisschen Dampf machen.

«Chevalier, sagen Sie dem Mann, dass er selbstverständlich erst einmal seinen aktuellen Verpflichtungen nachkommen und sich danach möglichst zeitnah an die Fassade der Wache machen soll. Und Dubertrand, wenn Sie mir jetzt bitte die Unterlagen fertig machen würden. Mein Bein schmerzt doch sehr, ich würde die Akten dann gerne mit nach Hause nehmen und dort sichten.»

Dubertrand schaute überrascht hoch.

«Sie wollen schon wieder gehen? Wir hatten gehofft, dass Sie mit uns nach Hossegor fahren. Da beginnen diese Woche die Surfweltmeisterschaften.»

«Und was wollen Sie da? Vielleicht mitsurfen? Oder liegt Ihnen etwa ein offizielles Amtshilfeersuchen der dortigen Wache vor?», fragte Lucien skeptisch.

«Wenn ich ehrlich sein soll, wollen wir eigentlich nur zuschauen. Aber wenn Sie darauf bestehen, könnten wir ja die Kollegen fragen, ob wir gebraucht werden», warf Dubertrand kleinlaut ein.

«Ach bitte, Chef. Auf diese Woche freuen wir uns das ganze Jahr. Sie glauben nicht, was ab heute in Hossegor los ist», quengelte der junge François wie ein kleines Kind, das mit seinem Papa auf den Jahrmarkt will. «Die Touristen kommen aus der ganzen Welt, dazu das Fernsehen, echte Promis und die schönsten Mädchen im Bikini.»

«Kommen Sie, Chef. Da fahren wir jedes Jahr hin und passen auf, dass sich in dem Getümmel keine Diebe einfinden oder radikale Basken Bomben legen», schob Dubertrand diese offensichtlich fadenscheinigen Begründungen nach.

«Also gut, meinetwegen können Sie heute Nachmittag dorthin fahren, aber jetzt wird erst mal gearbeitet», kürzte Lucien genervt die Debatte ab und schob seinen Stuhl näher an den Tisch.

Dubertrand nickte eifrig, packte den unordentlich zusammengelegten Zettelstapel und klopfte ihn sporadisch auf den Tisch.

«Hier habe ich Ihnen ein paar alte Fälle herausgesucht. Das sind zwar alles kleine Fische, mit denen sich ehrlich gesagt hier keiner beschäftigen wollte, aber wenn Sie Interesse haben, sich in den Streit zwischen Jacques Albi und der Fischereibehörde einzumischen oder den zwischen Monsieur Leblanc und seiner Frau, wünsche ich Ihnen viel Spaß.» Yves drehte sich mit den Papieren zu seinem Vorgesetzten um und ließ den Stapel vor ihm auf den Tisch fallen.

Seufzend nahm Lucien die spärlichen Akten. Hier hatte sich in der Tat nichts verändert. Dabei hatte er gehofft, den beiden ein bisschen mehr Arbeitsmoral beigebracht zu haben. Lucien hatte seinen Beruf aus Leidenschaft gewählt, doch nach dem Tod seines Partners, der bei einer Festnahme eine Kugel gefangen hatte, hatte er sich in den Innendienst versetzen lassen. Erst vor kurzem war er wieder «auf der Straße» und kam nur schlecht mit dem Alltag der Dorfsergeanten zurecht, der in der Tat hauptsächlich aus Streitereien und Verkehrsdelikten bestand.

Er schob Dubertrand die Akten wieder zurück. «Ich verlass mich auf Ihr Urteil, mein Lieber. Dann bleibt für mich ja erst einmal nichts mehr zu tun. Ach, und noch eins: Kennen Sie zufällig jemanden, der bei mir kurzfristig ein wenig Ordnung schaffen und für mich einkaufen und kochen könnte?»

Dubertrand nickte dienstbeflissen. Lucien schwante Böses.

«Klar, ich könnte Marianne fragen!»

Mon Dieu. Lucien verschlug es kurz die Sprache. So hatte er das natürlich nicht gemeint. Sergeant Yves Dubertrand verstand das Schweigen anscheinend als Zustimmung, fackelte nicht lange und zückte sein Handy.

«Allô, Mäuseschnute … ja, ich vermisse dich auch … auf dem Bügelbrett?» Dubertrand bekam zusehends rote Ohren, offensichtlich waren die Ausführungen seiner Freundin nicht unbedingt für die Ohren des Commissaires bestimmt. Lucien wurde ganz anders bei dem Gedanken an die vollschlanke Dorfpatronin, die stets in ausladenden Seidenröcken und rosa Blusen herumlief.

«Ja, ja, ich unterbreche dich nur sehr ungern, aber ich bin doch auf der Wache … Ja, ja, ich weiß, aber der Commissaire aus Bordeaux ist da … ja, genau der … genau. Aber deswegen ruf ich nicht an. Hör mal, du wolltest doch gerne wieder arbeiten. Ich hätte da eine Anstellung für dich … Natürlich zahlt er gut, er ist schließlich mein Chef … ja, daran habe ich auch schon gedacht. Natürlich, das wäre von Vorteil … Okay, dann sage ich ihm Bescheid. Ja, ich regele die Details … Nein, er ruft dich dann direkt an … Nein, ich muss jetzt Schluss machen … Ja. Natürlich. Ich rufe dich gleich noch mal an … In Ordnung … was, ach so, du musst gleich aus dem Haus … ja, ich verstehe … natürlich könnte ich ihn dir auch jetzt geben.»

Mit gewaltiger Willensanstrengung gelang es dem Sergeanten, den Hörer vom Ohr zu nehmen und strahlend seinem Vorgesetzten hinzuhalten. Er war sehr zufrieden mit seiner Idee, würde sie ihm doch bestimmt Vorteile bei der anstehenden Beförderung verschaffen, nachdem François sich schon den Fahrdienst unter den Nagel gerissen hatte.

Lucien fluchte leise vor sich hin. Wie kam er nur aus dieser Nummer wieder raus. Die personalisierte Dorfzeitung war nun wirklich die letzte Person, die er in seiner Nähe haben wollte. Verdammt, warum war Sophie nur in Berlin. Es wäre alles so einfach, wenn sie da wäre. Sie hatte ihren Besuch für nächste Woche angekündigt, bis dahin war er auf sich allein gestellt.

Lucien war versucht, die plumpe Aufforderung zu ignorieren, griff aber nach kurzem Zögern nach dem Hörer. Er konnte die unangenehme Sache auch gleich jetzt und hier beenden.

«Allô, hier spricht Commissaire Lucien Lefevre, diensthabender Leiter der Abteilung für Kriminalität und Verbrechensbekämpfung in Bordeaux und kommissarischer Leiter der Station de Police in Lit-et-Mixe, am Apparat.» Lucien versuchte seine ganze Autorität in die Stimme zu legen, um sich gegen den zu erwartenden Angriff der zwar recht hübschen, aber sehr scharfzüngigen Frau zu wappnen.

Doch Marianne zwitscherte ein zuckersüßes «Bonjour, Monsieur le Commissaire» in den Hörer. «Es ist ja so eine Freude, Sie wieder hier im Dorf zu haben. Und welche Ehre, dass ein so gutaussehender und wichtiger Mann wie Sie gerade mich auserwählt hat, Ihnen in Ihrer misslichen Lage beizustehen.»

Noch bevor Lucien für eine Erwiderung auch nur Luft holen konnte, säuselte Marianne bereits weiter. «Mein lieber Monsieur le Commissaire, Sie werden Ihre Entscheidung nicht bereuen. Yves kann Ihnen bestätigen, dass ich die beste Köchin weit und breit bin. Sehen Sie ihn sich doch nur mal an. Zufrieden wie ein dicker Kater. Ich komme dann gleich morgen früh um acht Uhr und räume erst einmal bei Ihnen auf, dann gehe ich einkaufen und mache die Wäsche. Dann koch ich, und um ein Uhr wird gegessen. Ich bestehe darauf, dass Sie zu Hause essen und nicht in diesem schrecklichen Bistro, wo Yves immer hingeht. Das reinste Gepansche, nichts gegen echte Hausmannskost. Dann mache ich die Küche wieder sauber, hänge die Wäsche ab, bügle und bereite das Abendessen vor, bevor ich gehe. Arbeitszeiten sind täglich von 8 bis 16 Uhr, viermal die Woche. Freitags nur bis zwölf, da muss dann selbstverständlich das Essen ausfallen. Sie können ja schließlich nicht von mir erwarten, dass ich dafür extra länger bleibe.»

Lucien konnte nur ergeben nicken. Er hatte Verbrecher gejagt, seinen Partner zu Grabe getragen und Leichen gesehen, denen Möwen die Lippen abgefressen hatten, aber dieser Frau gegenüber fühlte er sich einfach vollkommen unterlegen. Resigniert gab er den Hörer weiter und nickte nur stumm, während die körperlose Stimme durch den Hörer noch ihre Gehaltsvorstellungen vorbrachte. Er wollte nur noch in sein Bett.

3. Kapitel

Vereinzelte Sturmwolken am Horizont kündigten das Unwetter an, das den kleinen Ort an der französischen Atlantikküste noch bis zum Abend erreichen würde. Doch noch war der Himmel über Contis azurblau und trug in sich die trügerische Hoffnung, dass dieser Tag wunderschön werden könnte. Katalin fröstelte trotz des strahlenden Sonnenscheins und zog ihre dünne Strickjacke, die sie über dem leichten Sommerkleid trug, fester um ihre Schultern.

Es war einer der letzten warmen Sommertage im September, in denen noch die Hitze des Sommers melancholisch mitschwang, bevor sich der Herbst mit seinen heftigen Stürmen an der Atlantikküste austobte. Doch noch war von der Melancholie des Herbstes nichts zu spüren. Die junge Frau betrachtete die fröhlichen Menschen um sie herum. Als sie in das strahlende Gesicht ihres jüngeren Bruders schaute, fielen die dunklen Gedanken von ihr ab, und sie ließ sich von der ausgelassenen Stimmung anstecken. Routiniert schob sie Xaviens klobigen Rollstuhl durch die sich nicht immer freiwillig teilende Zuschauermasse in Richtung der neu angelegten Strandpromenade. Das beschauliche Dörfchen Hossegor hatte sich im Laufe der letzten Jahre zu einer richtigen Kleinstadt entwickelt und war mit der benachbarten Stadt Capbreton zusammengewachsen. Ein großer Sportyachthafen bildete nun die geographische und optische Grenze zwischen den beiden Ortschaften. Nach dem großen Ansturm im Sommer war Hossegor fast schon in seinen Winterschlaf gefallen, aus dem es nun vorübergehend wachgeküsst wurde. Während der alljährlichen Surfweltmeisterschaften verwandelte sich die Küstenstadt vom Insidertipp für Surffreaks zum internationalen Hotspot für Jetsetter und Surfgroupies.

Von der Promenade führten Bohlenwege durch die Dünen an den Strand, der sich in beide Richtungen unendlich weit zu erstrecken schien. Am bewachten Abschnitt tummelten sich bereits sonnenhungrige Badegäste. Schaulustige strömten aus der Stadt mit ihren vielen kleinen Geschäften an den Strand. Der ganze Ort schien vom und für das Surfen zu leben. Unweit der neugebauten Touristeninformation und des asphaltierten Parkplatzes war ein Surfladen neben dem anderen entstanden. Sämtliche international bekannten Labels hatten sich hier niedergelassen und ihre Schaufenster mit Shortboards und Strandoutfits dekoriert. Mädchen, die wie kalifornische All-American-Girls aussahen, flanierten lachend in Flipflops und Espadrilles in leuchtenden Farben über die Straße. Im «Café de Paris» saßen die Menschen bei einem späten Frühstück und ließen sich von der sommerlichen Stimmung tragen. Der Wochenmarkt, der sich neben dem alten Kino «Le Rex» immer mehr in die umliegenden Gassen hinein ausdehnte, pulsierte und spuckte immer neue Besucher aus, die sich durch die überfüllten Straßen und Autokolonnen quetschten. Von der Einkaufspassage schlängelte sich ein Fußweg über den Canal d’Hossegor, durch das wunderschöne Villenviertel, bis hinunter zur Promenade. Je näher man dem Strand kam, desto einfacher und hässlicher wurden die Häuser. Waren die Gebäude der Innenstadt in kräftigen roten oder blauen Farben gehalten, glichen sie sich in Strandnähe mit ihren Sand- und Erdtönen und den verblichenen Fensterläden der Umgebung an. Blumen, Rasen und angelegte Gärten wichen versandeten Parkplätzen. Das raue Klima des Atlantiks leckte mit gieriger Zunge an den Gebäuden auf seinem sandigen Reich. Doch heute spielte das Meer fast zärtlich mit den Menschen und sandte eine sanfte Brise über den Strand, die sich in den Sonnenschirmen der Strandgäste verfing und die gestreiften Windräder der Kinder drehte.

 

Katalin saugte die ausgelassene Stimmung um sie herum förmlich ein. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und versuchte über die Menschenmenge hinwegzuschauen, die sich bis hinunter zur Promenade du Front de Mer ergoss. Ihr Blick blieb an einem der einfachen Gebäude hängen, die direkt an der Strandgrenze standen und sich Richtung Meer öffneten. An der Seitenwand war ein großes Graffito entstanden, das die gesamte Fläche des zweistöckigen Gebäudes mit einer überdimensionalen Welle bedeckte. Am Strand selber waren noch die Überreste der deutschen Besatzer zu erkennen. Da die Bunkeranlage aus dem Zweiten Weltkrieg jeglichen Versuchen, sie zu sprengen, standgehalten hatte, war sie von Jugendlichen mit bunten Graffiti «entmilitarisiert» worden. Der ganze Ort strahlte eine lässige Lebensart aus.

Katalin, die hier aufgewachsen war, wusste allerdings, dass der Alltag in dem kleinen Ort alles andere als leicht war. Doch im Moment verscheuchte sie diese trostlosen Gedanken. Heute begannen die Surfweltmeisterschaften. Ein Meer von bunten Fahnen markierte die Zelte der Sponsoren, die von Surfern, Teammitgliedern und Fans umringt waren. Obwohl der feine Sandstrand an dieser Stelle fast fünfzig Meter breit war, ließen die zahllosen Handtücher der Touristen kaum einen Durchgang bis zum Brandungssaum frei. Das Geräusch der sich brechenden Wellen bildete die ideale Hintergrundkulisse für die fröhlichen Geräusche des Sommers: Hupende Autos, die sich im Schneckentempo durch die schlendernden Touristen schoben; das begeisterte Lachen der Kinder, die in der Brandung tobten und hell aufschrien, wenn eine Welle auf sie zurollte; und der Duft von süßen Crêpes, kandiertem Zucker und geschmolzener Schokolade, der in ihre Nase stieg, als sie an einem kleinen mobilen Stand vorbeikamen.

Katalin verlangsamte ihren Schritt in Erwartung von Xaviens Bestellung, doch entgegen seiner üblichen Vorliebe für Crêpe mit Banane und Schokolade, griff er stattdessen ungeduldig in die Reifen, um die Fahrt zu beschleunigen. Kopfschüttelnd ließ sie den Griff los und gab ihrem Bruder die Gelegenheit, alleine vorzufahren. Strahlend drehte sich Xavien am Strandaufgang nach ihr um und wartete, bis sie wieder zu ihm aufgeschlossen hatte.

«Allô, du Wildfang. Was ist denn mit dir los, an der kleinen Crêperie von Monsieur Toutou kommen wir doch sonst nie vorbei, ohne eine doppelte Portion zu bestellen.»

Xavien strahlte seine ältere Schwester an. Bewundernd betrachtete er die Lichtreflexe in ihrem kurzgeschnittenen, brünetten Haar, das dieselbe Farbe hatte wie ihre dunklen Augen. Seine Schwester schien sich ihrer Schönheit jedoch kaum bewusst zu sein. Nach seinem Unfall hatte sie sich komplett aus der Welt zurückgezogen. Obwohl Katalin erst zwanzig war, stellte sie die Pflicht, für ihre Familie da zu sein, über alles. Von einem Tag auf den anderen hatte sie im vergangenen Jahr ihr Studium abgebrochen, um Xaviens Pflege zu übernehmen, obwohl sie mit viel Mühe einen der hart umkämpften Plätze für Jura an der Sorbonne ergattert hatte.

«Vielleicht später, ich will jetzt nur an den Strand. Hilfst du mir durch den Sand zu kommen? Das ist echt schwer.»

«Denkst du, ich lass dich hier oben einfach stehen und gehe alleine zu deinen Freunden?»

Sie ließ sich nur allzu gerne von der guten Laune ihres Bruders anstecken, obwohl sie ein zwiespältiges Verhältnis zu den Surfweltmeisterschaften hatte. Denn genau hier war es im letzten Jahr zu dem folgenschweren Unfall gekommen, der ihren Bruder an den Rollstuhl fesselte. Und mich mit, dachte sie resigniert, während sie sich abmühte, Xavien durch den Sand zu schieben. Sie hatte sich so sehr auf ihr Studium in Paris gefreut und die letzten Tage vor dem Semesterbeginn noch mal bei ihrer Familie in Hossegor verbracht. Doch diese verhängnisvolle Nacht hatte alles verändert. Xavien hatte überlebt, doch in dieser Nacht war weit mehr als nur seine Wirbelsäule gebrochen. Ihre Mutter fiel in eine Depression, aus der sie weder die Familie noch die Ärzte befreien konnten, und ließ sich in einen verheerenden Strudel aus Alkohol und Beruhigungstabletten ziehen. Ihr Vater bemühte sich nach Kräften seine Familie zusammenzuhalten. Er nahm einen zweiten Job an, um die Arztkosten und den behindertengerechten Umbau in ihrem kleinen Haus zu finanzieren. Nach seiner Arbeit in der kleinen Schreinerei von George Douberé fuhr er auf direktem Wege, ohne sich eine Pause zu gönnen, in den Supermarché, um die Regale aufzufüllen. Katalin sah ihren Vater daher meist erst kurz vor Mitternacht, wenn er von seiner Schicht und einem kurzem Besuch bei seinen Freunden im Dorf erschöpft nach Hause kam. Da ihre Eltern genug mit sich selber zu tun hatten und sie sich keine Pflegekraft leisten konnten, blieb alles an ihr hängen.

Doch inzwischen hatte sie sich mit den Umständen arrangiert und schämte sich für ihr egoistisches Selbstmitleid. Denn im Gegensatz zu seiner verzweifelten Familie hatte Xavien seine Lebensfreude nicht verloren, obwohl er nie wieder würde laufen können. Der sportliche Junge arrangierte sich recht schnell mit seiner Situation und versuchte das Beste daraus zu machen. Vor allem ließ er sich nicht von seiner größten Leidenschaft abbringen, dem Surfen. Katalin war tief gerührt von der Einstellung ihres Bruders gewesen: Nicht das Meer, sondern sein eigener Leichtsinn hätte ihn beinahe umgebracht, hatte er gesagt, und dafür könnten die Wellen ebenso wenig wie eine Straße für einen Motorradunfall. Aus diesem Grunde unterstützte sie ihn nach Kräften dabei, wenn er seine täglichen Ausflüge ans Meer machte, um den anderen beim Wellenreiten zuzuschauen. Die Weltmeisterschaft war natürlich etwas ganz Besonderes, und er freute sich darauf, seine Freunde aus der internationalen Surfszene wiederzusehen.

 

Die bunten Zelte der Sponsoren und unzählige Pavillons bildeten eine Art Zeltstadt. Der appetitliche Geruch nach Grillfleisch, der aus dem Verpflegungszelt kam, ließ den Besuchern das Wasser im Munde zusammenlaufen. Daneben zogen die Shops für Equipment und Kleidung zahlreiche Bummler und Käufer an. Vor den kommerziellen Shops lagen weiße Sitzsäcke aus wetterfestem Stoff im Sand und luden zum Chillen ein. Basslastige Lounge-Musik dröhnte in voller Lautstärke aus den Boxen.

Die Zelte der Teams, die am Wettbewerb teilnahmen, standen ein wenig abseits, und dort herrschte eine andere Stimmung. Hochkonzentriert präparierten die Techniker die Trainings- und Wettkampfbretter und überprüften das Equipment. Zwischen den Materialzelten hatten die Sportler ihren Privatbereich. In dem abgeschotteten Areal konnten die Teilnehmer ihre persönlichen Gegenstände in offenen, weißen Holzschränken unterbringen, ihre Neoprenanzüge zum Trocknen aufhängen und ungestört von den Fans auf den Beginn des Wettkampfs warten. Die Rennleitung hatte in diesem Strandbereich einen wetterfesten Kunstrasen ausgelegt, damit die Teilnehmer möglichst sandfrei und damit reibungsfrei in die enganliegenden Surfanzüge steigen konnten.

Auf der Promenade, hoch über der provisorischen Zeltstadt, thronte das leuchtend blaue Zelt der «Beach Marshalls», die über die korrekte Durchführung der Wettkämpfe wachten, die obligatorischen Dopingtests durchführten und die Punkte vergaben. Daneben stand das weiße Zelt der Moderatoren, die jeden Teilnehmer vor seinem Durchgang vorstellten und dessen Performance kommentierten sowie die Wertung der Punktrichter verkündeten. Das Team des Lokalsenders aus Biarritz baute gerade seine Kamera auf dem Dach eines Jeeps auf, um jederzeit mobil zu sein, denn die Wettkampfstrecke wurde jeden Tag neu festgelegt. Über dem ganzen Areal lag eine relativ gelöste Stimmung, da heute nur Trainingsdurchgänge absolviert wurden, um den verschiedenen Teams die Möglichkeit zu bieten, sich mit den Bedingungen vertraut zu machen.