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Pastis für den Commissaire E-Book

Julie Masson

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Beschreibung

Was für ein herrlicher Sommertag! Als eine Leiche gefunden wird, sinkt Lucien Lefevres Laune allerdings schnell unter den Gefrierpunkt. Da alle Kollegen im Urlaub sind, muss der Commissaire auf sein Feierabendritual – den geliebten Pastis – verzichten. Ausgerechnet in dem beschaulichen Küstenort Contis-Plage hat das Meer den Körper eines Mannes freigegeben, der erkennbar nicht freiwillig gestorben ist. Lefevre macht sich auf die Suche nach der Wahrheit. Und steht einer eingeschworenen Dorfgemeinschaft gegenüber, in der jeder seine eigenen Geheimnisse hat ...

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Julie Masson

Pastis für den Commissaire

Kriminalroman

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Was für ein herrlicher Sommertag!

Als eine Leiche gefunden wird, sinkt Lucien Lefevres Laune allerdings schnell unter den Gefrierpunkt. Da alle Kollegen im Urlaub sind, muss der Commissaire auf sein Feierabendritual – den geliebten Pastis – verzichten. Ausgerechnet in dem beschaulichen Küstenort Contis-Plage hat das Meer den Körper eines Mannes freigegeben, der erkennbar nicht freiwillig gestorben ist.

Über Julie Masson

Inhaltsübersicht

Du freier Mensch, ...PROLOG1. KAPITEL2. KAPITEL3. KAPITEL4. KAPITEL5. KAPITEL6. KAPITEL7. KAPITEL8. KAPITEL9. KAPITEL10. KAPITEL11. KAPITEL12. KAPITEL13. KAPITEL14. KAPITEL15. KAPITEL16. KAPITEL17. KAPITEL18. KAPITEL19. KAPITEL20. KAPITEL21. KAPITEL22. KAPITEL23. KAPITEL24. KAPITELEPILOGLeseprobePROLOG1. KAPITEL2. KAPITEL

Du freier Mensch, du liebst das Meer voll Kraft,

Dein Spiegel ist’s. In seiner Wellen Mauer,

Die hoch sich türmt, wogt deiner Seele Schauer,

In dir und ihm der gleiche Abgrund klafft.

 

Du liebst es, zu versinken in dein Bild,

Mit Aug’ und Armen willst du es umfassen,

Der eignen Seele Sturm verrinnen lassen

In seinem Klageschrei, unzähmbar wild.

 

Ihr beide seid von heimlich finstrer Art.

Wer taucht, o Mensch, in deine letzten Tiefen,

Wer kennt die Perlen, die verborgen schliefen,

Die Schätze, die das neidische Meer bewahrt?

 

Und doch bekämpft ihr euch ohn’ Unterlass

Jahrtausende in mitleidlosem Streiten,

Denn ihr liebt Blut und Tod und Grausamkeiten,

O wilde Ringer, ewiger Bruderhass!

 

Charles Baudelaire

«Der Mensch und das Meer»

PROLOG

Als der Wecker um vier Uhr morgens klingelte, verfluchte Jupp de Moi sein leichtsinnig gegebenes Versprechen, mit seinem kleinen Sohn angeln zu gehen. Sie waren mit ihrem Wohnmobil viel später als geplant auf dem Campingplatz in dem kleinen Ort an der französischen Atlantikküste angekommen und hatten nur ein paar Stunden geschlafen. Er überlegte, ob er sich noch mal umdrehen und den geplanten Angelausflug auf den nächsten Morgen verschieben sollte. Aber ein Blick in die leuchtenden Augen seines aufgeregten Sohnes, der bereits neben seinem Bett stand, ließ jeden Widerstand in ihm schmelzen. Gemeinsam zogen sie sich an, nahmen die Fahrräder aus der Heckklappe des Wohnmobils und zockelten verschlafen, aber glücklich den kurzen Weg vom Campingplatz über den befestigten Dünenweg zum Strand.

Sie stellten ihre Fahrräder an der Rettungsstation auf der Düne ab. Jupp band die beiden Räder mit einem Schloss zusammen, während Phillip bereits den asphaltierten Weg zum Strand hinunterrannte. Zum ersten Mal in seinem Leben sah er das Meer, das sich in der beginnenden Dämmerung bis zum Horizont erstreckte. Der fünfjährige Junge drückte fest die Hand seines Vaters, der an seine Seite getreten war, und schaute strahlend zu ihm hoch. Glücklich erwiderte Jupp seinen Blick. Er liebte das Meer und seine Wildheit und hatte sich nach diesem Urlaub mit jeder Pore gesehnt.

Nachdem sie die Gummistiefel angezogen hatten, hängte sich Jupp Angel und Ködertasche um die Schulter. Phillip sprang derweil schon begeistert zwischen den Möwen umher und versuchte sie aufzuscheuchen. Meckernd über die Ruhestörung, erhoben sie sich kurz in die Luft, um dann einige Meter weiter mit wildem Gezeter wieder zu landen. Jupp ging bis zum Brandungssaum. Mit kräftigen Zügen atmete er die gischtfeuchte Meeresluft tief ein. Ein leichter Verwesungsgeruch lag in der Luft. Jupp dachte schmunzelnd darüber nach, dass das Gehirn unliebsame Erinnerungen, wie den Gestank der Papeterie von Mimizan, den man hier manchmal morgens riechen konnte, wenn der Wind ungünstig stand, einfach verdrängte, während er sich an den angenehmen Duft der Pinienwälder oder den salzigen Geruch des Meeres noch sehr gut erinnern konnte.

Er drehte sich um, als Phillip aufgeregt nach ihm rief. Er zeigte auf einen bunten Haufen, der sich in einiger Entfernung gegen den hellen Sand abhob. Das Dämmerlicht tauchte das Objekt in verschwommene Grautöne. Gespannt gingen die beiden gemeinsam an der Brandung entlang und genossen ihre aufregende Schatzsuche. Schließlich hielt es Phillip nicht mehr aus. Er ließ die Hand seines Vaters los und rannte dem Strandgut entgegen. Jupp musste lächeln, als er seinem Sohn hinterhersah. Mein Gott, war das Leben schön. Dieser Moment war ein Geschenk für die Ewigkeit.

Doch der magische Moment zerbrach in tausend Stücke, als ihn Phillips schriller, panikerfüllter Schrei aus seinen unbeschwerten Gedanken riss.

1. KAPITEL

Als Lucien um kurz nach fünf vom melodiösen Läuten seines Festnetztelefons aus dem Schlaf gerissen wurde, hätte ihm eigentlich klar sein müssen, dass so ein früher Anruf nur Ärger bedeuten konnte. Doch er war noch zu verschlafen, um die richtige Konsequenz zu ziehen: sich einfach umzudrehen und das Klingeln zu ignorieren.

«Allô?», meldete er sich verschlafen und versuchte gleichzeitig einen Blick auf die Uhr zu werfen, die auf seinem Nachttisch lag.

«Allô! Spreche ich mit Monsieur Commissaire Lucien Lefevre?» Der offizielle Tonfall ließ ihn schlagartig aufwachen.

«Oui, am Apparat. Mit wem spreche ich?»

«Bonjour, Monsieur Commissaire, entschuldigen Sie den frühen Anruf. Hier spricht Jeanne Perigot, Vermittlungszentrale Dax. Bei uns ist gerade ein Anruf der Gendarmerie von Lit-et-Mixe eingegangen mit der Bitte um Amtshilfe bei einem Leichenfund. Verdacht auf Fremdeinwirkung. Wir sind aufgrund der Urlaubszeit unterbesetzt. In diesem Fall ist, wie Sie wissen, die Abteilung Kriminalität in Bordeaux für die Atlantikküste zuständig. Die Zentrale hat mir Ihre Nummer gegeben und gemeint, Sie würden die Ermittlungen leiten. Ich wollte Sie nur kurz über die Fakten informieren, bevor Sie losfahren.»

«Halt, Moment mal», unterbrach Lucien den monotonen Redefluss der Telefonistin. «Da muss ein Missverständnis vorliegen. Ich habe keine Ahnung, von welchem Fall Sie sprechen. Vielleicht hat man Ihnen die falsche Telefonnummer gegeben. Ich leite keine Ermittlung.»

Doch die Telefonistin beharrte darauf, dass Lucien Lefevre, leitender Commissaire der Police judiciaire, einer Unterabteilung der Police nationale mit Sitz in Bordeaux, für die Ermittlungen zuständig war.

«Vielleicht hat Sie die Zentrale noch nicht erreicht und meldet sich noch bei Ihnen. Mich hat jedenfalls die Gendarmerie von Lit-et-Mixe erneut angerufen und gedrängt, Sie zu kontaktieren. Die Leiche liegt am Strand, etwa vier Meter vom Wasser entfernt, und scheint dort in den frühen Morgenstunden mit der letzten Flut angeschwemmt worden zu sein. Das Wasser steigt schon wieder, und der Anrufer befürchtet, dass Spuren vernichtet werden könnten. Da er als Sergeant keine Befugnis hat, die Leiche zu bewegen, wartet er auf die Anweisung, was er machen soll, falls das Wasser bis zur Leiche steigt. Ich gebe Ihnen seine Handynummer, dann können Sie ihn direkt instruieren.» In ihrer typisch unbeteiligten Warteschleifenstimme leierte die Telefonistin Telefonnummer, Name und Dienststelle des Sergeanten vor Ort, François Chevalier, durch.

Lucien klemmte sich umständlich den Hörer unters Kinn, fischte einen Kugelschreiber aus dem Nachttisch und schrieb automatisch mit.

«Eh bien», brummelte er in den Hörer und starrte auf das Buchcover, das er vor kurzem bekritzelt hatte. Merde, das Buch hatte er sich vor kurzem gekauft und noch nicht gelesen. «Ich melde mich nachher bei ihm, wenn ich mit meinem Vorgesetzten gesprochen habe.»

Seufzend ließ er sich wieder ins Kissen sinken. Eine Leiche vor dem Aufstehen – das hatte ihm gerade noch gefehlt. Leider war er in der Tat während der Ferienzeit für alle eingehenden Mordfälle zuständig. Genauso wie in den vergangenen Jahren auch, mit dem Unterschied, dass es bisher nie einen derartigen Fall gegeben hatte. Ein Franzose besaß schließlich Stil und ließ sich nicht ausgerechnet in den großen Ferien umbringen. Die «grandes vacances» waren für die französischen Familien die Zeit des wahren Lebens. Zu Beginn der acht Wochen dauernden Ferien stellten sich die Franzosen mit überladenen Autos vergnügt am Stauende in Paris an und schlichen dann so lange Stoßstange an Stoßstange mit, bis sie von der Blechschlange am Meer wieder ausgespuckt wurden. Im Staufahren waren alle Franzosen vereint. Ein Land, ein Stau. Während der Ferien blieben eigentlich nur diejenigen übellaunig in der Stadt zurück, die nicht anders konnten. Paris selber wurde großzügig den schwitzenden Sightseeing-Touristen überlassen, während die Franzosen entspannt im Meer plantschten.

Lucien liebte den August. Es war der stressfreieste Monat des Jahres. Da seine Kollegen alle in den Urlaub fahren wollten und er zwar eine teure Scheidung, aber keine Kinder vorweisen konnte, wurde er stets für die Urlaubsvertretung eingeteilt. Im ersten Jahr hatte er zähneknirschend akzeptiert, dass ihm vorübergehend die Leitung der Abteilung überlassen wurde. Nach den ersten Tagen im vollklimatisierten und sehr ruhigen Büro hatte er aber die Vorteile zu schätzen gelernt und freute sich inzwischen schon sehr auf die ereignislosen Wochen hinterm Schreibtisch. Meist nutzte er die Zeit, um immer wieder seinen Schreibtisch aufzuräumen, die Akten nach einem neuen System zu ordnen oder die Bleistifte zu spitzen. Eine Leiche passte ihm überhaupt nicht ins Konzept. Er hatte sich gerade ein neues System der E-Mail-Ablage überlegt. Seine Kollegen waren dagegen seltsamerweise genervt, wenn er während ihrer Abwesenheit die E-Mail-Ordner oder -Verteiler neu organisierte. Auf Unverständnis stieß er auch beim letzten Kartenabend seiner Abteilung vor dem Urlaub, den sie einmal im Monat im Bistro «La Roche» abhielten. Er hatte damit begonnen, die Ergebnisse der einzelnen Spielrunden in eine Exceldatei zu tippen und von seinen Kollegen nur Kopfschütteln geerntet. Sie hatten ihm auf die Schulter geklopft und gemeint: «Tja, der Lucien mit seinen Tabellen», als ob er eine ansteckende Krankheit hätte oder irgendeinen Spleen.

Lucien schloss die Augen und versuchte wieder einzuschlafen. Sollte der Dorftrottel von Polizist doch selbst zusehen, wie er die Leiche vorm Wasser rettete. Er würde sich um alles Weitere kümmern, sobald er im Büro wäre.

Doch bevor er sich wieder in seine gewohnte Schlafposition ruckeln konnte, klingelte das Telefon erneut. Merde, das war bestimmt die Zentrale, oder noch schlimmer, sein Vorgesetzter, René Pontarrasse. Kurz ließ er sich von dem Gedanken verführen, einfach nicht ranzugehen, doch das penetrante Klingeln deutete darauf hin, dass sein Vorgesetzter von seinem Gespräch mit der Zentrale in Dax wusste und es wohl sinnlos war, sich schlafend zu stellen.

«Allô, Commissaire Lucien Lefevre, Diensthabender Abteilungsleiter der Abteilung für Kriminalität und Verbrechensbekämpfung, am Apparat», meldete er sich daher vorschriftsmäßig, um seinen Vorgesetzten zu beeindrucken. Doch er hatte nur eine weitere Telefonistin der Polizeibehörde in Bordeaux in der Leitung, die sich von seinem Rang wenig beeindruckt zeigte. Sie hauchte lediglich ein «Moment, ich verbinde Sie mit dem Apparat von Commissaire Divisionnaire Pontarrasse» in den Hörer.

Immerhin war er nicht der Einzige, der um diese Zeit arbeitete, dachte Lucien, während er den Knackgeräuschen in der Leitung lauschte. Pontarrasse war bestimmt ebenfalls noch zu Hause und sicher auch nicht begeistert über die frühe Störung. Er konnte sich nicht daran erinnern, schon einmal um diese Uhrzeit zu einem Fall gerufen worden zu sein. Normalerweise wurden Leichen tagsüber gefunden, was die Sache doch sehr erleichterte – Und überhaupt, warum diese Eile, ihm war während seiner nun fast zwanzigjährigen Laufbahn noch nie eine Leiche weggelaufen.

«Lucien, grand ami!» Die dröhnende, sonore Stimme seines auf jovial machenden Vorgesetzten riss ihn aus seinen Gedanken. «Wie schön, dass Sie schon wach sind. Tja, unangenehme Sache, zumal gleich die ersten Touristen an den Strand kommen. Aber Sie sind ja in einer halben Stunde in Contis-Plage und können die Spuren sichern, bevor die Schaulustigen über die Absperrung klettern. Das Team von der Spurensicherung ist vor zehn Minuten losgefahren, aber ich denke, die holen Sie noch ein, stehen sowieso im selben Stau.» Das kehlige Lachen hallte durch Luciens weiträumige Wohnung.

Halbe Stunde. Das wäre nicht mal mit der Concorde möglich gewesen! Selbst bei normalem Verkehr brauchte man mindestens zweieinhalb Stunden, um von der Innenstadt von Bordeaux über die verwinkelten Landstraßen nach Contis-Plage zu kommen. Jetzt zum Ferienbeginn waren es eher vier Stunden. Lucien erinnerte sich an den spontanen Ausflug mit seiner Exfrau von Bordeaux nach Biarritz, für den sie ganze neun Stunden gebraucht hatten, schrecklicher Ehestreitszenen inklusive. Diese Fahrt war der Sargnagel für seine Ehe gewesen, und er hatte es seither vermieden, in diese Gegend zu fahren. Fliegen müsste man, dachte er. Bei diesem Gedanken fiel ihm ein, dass die Helis der Polizei doch eh dauernd entlang der Küste Rettungseinsätze hatten und routinemäßig mehrmals täglich von Bordeaux nach Biarritz an der Uferkante entlangflogen.

«Bonjour, Monsieur Pontarrasse. Ja, da haben Sie recht. Mit dem Helikopter könnte ich in einer halben Stunde an der Küste sein. Dann könnte ich den Leichenfundort nach der Spurensicherung schnell wieder freigeben. Und wir hätten auch das Problem mit den Touristen gelöst.»

Lucien freute sich insgeheim, dass ihm spontan diese geniale Lösung eingefallen war. So konnte er schon am frühen Nachmittag zurück sein und sich mit seinen Freunden im Bistro um die Ecke treffen. Dort gab es eine attraktive Kellnerin, die ihm schon öfter aufreizende Blicke zugeworfen hatte. Lucien war sich seiner Wirkung auf Frauen durchaus bewusst, obwohl er zugeben musste, dass ein Teil seiner Ausstrahlung sicherlich von seiner wohlhabenden Herkunft und seinem selbstsicheren Auftreten herrührte. Auch war sein an den Schläfen leicht ergrautes Haar noch recht voll und kräftig und ließ ihn nach eigenem Ermessen ein bisschen wie George Clooney aussehen. Ein Umstand, dem er auch schon mal nachhalf, indem er die Klatschblätter durchsah und seinen Kleidungsstil an dem des Schauspielers orientierte.

«Äh, der Heli?», stotterte sein Vorgesetzter überrumpelt. «Nun, äh, ja, das ist natürlich möglich, da muss ich mal im Dienstplan nachsehen, ob einer einsatzbereit ist. Normalerweise sind die allerdings nicht für den Transport eines Ermittlers zu einem Tatort vorgesehen. Ich denke, Sie machen sich schon mal startklar und packen eine Tasche, falls Sie länger vor Ort bleiben müssen, und ich frag derweil bei dem diensthabenden Einsatzleiter der Hubschrauberbrigade nach.»

Zufrieden legte Lucien auf. Immerhin hatte er so etwas Zeit gewonnen und musste nicht umgehend aus dem Haus stürmen. Er zog sich seinen Bademantel über den gestreiften Pyjama und schlüpfte in die mit Lammfell gefütterten Lederpantoffeln, die er auch im Sommer trug, da der Steinboden in der Küche morgens immer noch empfindlich kalt war. Lucien öffnete zum Schlafen meist alle Fenster, sodass stets eine angenehme Atlantikkühle hereinwehte. Als er die Küche betrat, konnte er noch die nächtliche Feuchtigkeit riechen, die etwas modrig-erdig vom Garten reinströmte. Er stützte sich auf die schwarz gestrichene Fensterbank und lehnte sich in die Morgendämmerung hinaus. Lucien liebte diese Stimmung, wenn die Welt noch schlief. Es war eine Art elitärer Stolz, etwas beizuwohnen, das die meisten Menschen (und er zugegebenermaßen in der Regel auch) verschliefen. Die hohen Pinien schwankten kaum merklich in der leichten Brise, die vom nahen Meer her wehte. Sie ließ das silbrige Laub der Zitterpappeln zerbrechlich knistern. Das melancholische Geräusch erinnerte ihn an seinen Onkel George. Lucien hatte als Kind oft die Ferien bei ihm verbracht. Sonnengebräunt, mit salzigen Haaren und Sand in jeder Körperritze hatten sie bis spät in die Nacht im Garten gesessen und sich in der milden Luft Geschichten erzählt und die Sterne angeschaut. Er hatte seinen Onkel vergöttert und heftig getrauert, als er bei einem Unfall ums Leben kam. George hatte ihm, dem gerade mal neunjährigen Neffen, sein Haus vererbt, doch Lucien konnte es lange nicht über sich bringen, zu diesem Ort zurückzukehren, der voller Erinnerungen steckte.

Lucien ließ das Haus leerstehen und kehrte erst zurück, als er seiner Frau seine Idee, das Haus zu einer Ferienwohnung für sie beide umzubauen, präsentieren wollte. Aufgeregt wie ein kleines Kind hatte er seine elegante Frau an die Hand genommen und war mit ihr den verwilderten Weg von der Straße zum Haus gelaufen und erst vor der großen Doppelflügeltür aus alter Eiche zum Stehen gekommen. Andächtig hatte er die Tür geöffnet und war erwartungsvoll eingetreten. Die alte klassizistische Villa am Stadtrand von Bordeaux hatte hohe Decken, bei denen noch Teile der prächtigen Stuckverkleidung erhalten waren. Doch der jahrelange Leerstand hatte ihr etwas Morbides verliehen, das seine damalige Frau Amélie abgeschreckt hatte. Distinguiert hatte sie ihn mit vernichtendem Schweigen angeschaut. Die Idee vom Ferienhaus an der Küste war schlagartig gestorben. Da er mit Amélie eine sehr schicke Stadtwohnung in der Nähe des Louvre bewohnte, wollte sie unter keinen Umständen auch nur einen Cent in die heruntergekommene Bruchbude stecken. Hier würde sie bestimmt nicht den Sommer verbringen, zumal ihr eher ein Beauty-Urlaub in St. Barth vorschwebte.

Später, als ihre kostspielige Ehe gescheitert war, schien ihm dagegen die heruntergekommene Villa ein perfekter Fluchtpunkt vor Amélie und der gehobenen Pariser Gesellschaft zu sein. Er begann damit, das vernachlässigte Gebäude Zimmer für Zimmer zu renovieren und war inzwischen ganz zufrieden mit dem Ergebnis. Die Küche war einigermaßen funktionstüchtig, das Bad halbwegs fertiggestellt, abgesehen vom Wasserboiler, der abwechselnd kochend heißes oder eiskaltes Wasser über ihn ergoss, und der Heizung, die nachts klopfte, als wäre der Keller voller Gefangener. Für den großzügigen Wohnzimmerbereich hatte er alle Zwischenwände rausgerissen. Die restlichen Zimmer blieben vorerst in ihrem maroden Zustand, bis er wieder Lust auf weitere Handwerkerdiskussionen und nervenaufreibenden Baulärm hätte.

Zufrieden ließ er den Blick über den schwarz-weiß gefliesten Küchenboden gleiten, den er erst vor kurzem hatte legen lassen, während er das frischgemahlene Arabica-Mocca-Pulver in seine chromglänzende Espressomaschine schaufelte. Das Gas zischte und flammte kurz auf, als er es mit einem langen Streichholz entzündete. Mit lässiger Bewegung warf er das glühende Hölzchen in die Edelstahlspüle, wo es mit einem leisen Zischen erlosch. Der Duft von frischem Kaffee stieg ihm in die Nase. Geräuschvoll klapperte die Tasse auf der Untertasse, als er sich genüsslich an den gusseisernen Marmortisch setzte. Er griff nach einer Zigarette. Einer der Vorteile, wenn man Single war. Früher musste er zum Rauchen immer auf den Balkon gehen, da Amélie Rauch in der Wohnung hasste. Lucien hatte große Probleme mit dieser Regelung gehabt und sie immer wieder gebrochen. Zufrieden blies er nun den Rauch in die Küche. Vom Fenster drangen Geräusche des beginnenden Tages herein, die Welt erwachte langsam aus der nächtlichen Stille.

Ein Zweitakter knatterte mit überhöhter Geschwindigkeit am Fenster vorbei und wurde vom wütenden Gebell des Nachbarhundes begleitet.

«Merde», entfuhr es Lucien, als das Telefon klingelte. «Commissaire Lucien Lefevre, Diensthabender Abteilungsleiter der –»

«Ja, ja, schon gut», fiel ihm sein Vorgesetzter ungeduldig ins Wort. «Also, die Hubschrauberbereitschaft ist nur für einen Einsatz im Notfall bemannt und kann keine Personalflüge übernehmen. Es bleibt Ihnen also nichts übrig, als sich ins Auto zu setzen und umgehend loszufahren. Ich hoffe, Sie sind inzwischen angezogen und können sofort starten. Rufen Sie von unterwegs den zuständigen Sergeanten an, er wartet immer noch auf Ihre Anweisung. Und ein bisschen mehr Einsatz, wenn ich bitten darf. Ich weiß, dass Sie schon länger nicht mehr aktiv ermitteln, aber es wird Zeit, dass Sie den Hintern mal wieder hochkriegen, bevor Sie hinter Ihren Ordnern verstauben und Fett ansetzen.»

Noch bevor Lucien etwas erwidern konnte, beendete sein Vorgesetzter das Gespräch. Pontarrasse hatte anscheinend einen ordentlichen Einlauf vom Brigadechef verpasst bekommen wegen der Idee mit dem Hubschrauber. Nur so konnte Lucien sich den plötzlichen Stimmungswechsel seines Vorgesetzten erklären.

Fett ansetzen. Pfft. Lucien war stolz auf seinen immer noch sportlichen Körper, obwohl er schon bald die magische Fünfzig erreichen würde. Ein Blick in den Spiegel hätte ihn wahrscheinlich mit der nicht mehr ganz so straffen Realität konfrontiert, aber in seiner persönlichen Wahrnehmung war er noch der athletische Mann, der die Frauenblicke auf sich zog. Kritisch schaute Lucien an sich herab. In der Tat wölbte sich trotz Trainings ein minimaler Bauchansatz über dem Bund seiner gestreiften Pyjamahose. Er sollte noch mehr Sport treiben oder das Essen reduzieren oder beides. Genervt drückte er die Zigarette aus, nahm noch einen Schluck Kaffee und schüttete den Rest direkt in den Abfluss.

«Sachen packen», schnaufte er verächtlich. Glaubte René Pontarrasse wirklich, dass er für mehrere Tage in diesem Kaff an der Küste bleiben würde, wenn er innerhalb von zwei Stunden wieder zu Hause sein könnte? Er hatte Contis gerade gegoogelt. Dieses Dorf bestand eigentlich nur im Sommer und war im Winter verlassen. Nur eine überschaubare Gruppe von Leuten lebte dort das ganze Jahr. Im Sommer strömten dann die Franzosen und ausländischen Touristen ans Meer und überrannten das Dorf förmlich. Jeder Bewohner, der ein Stück Land übrig hatte, witterte das große Geschäft, bot einen Zeltplatz an und bezeichnete seinen Acker großspurig als Campingplatz. Hatte das Kaff überhaupt ein Hotel, wo er im Notfall bleiben könnte?

Lucien holte seine elegante Reisetasche aus dem Schrank, wo sie seit dem Einzug lag, und begann lustlos eine Hose und zwei Hemden zu falten und sorgfältig in die Tasche zu legen. Vielleicht sollte er noch eine weitere Ersatzhose mitnehmen und einen etwas schickeren Anzug, falls er in einem guten Restaurant essen würde. Zum Schluss zog er den cremefarbenen Trenchcoat über seinen hellen Anzug, obwohl die Temperaturen schon jetzt einen heißen Sommertag ankündigten. Er schnappte sich die Reisetasche, nahm seine Aktentasche, kontrollierte sein Aussehen noch kurz im Spiegel und setzte zum Schluss die neue Sonnenbrille auf, die auch «Georgie Boy» trug, wie er sein Alter Ego liebevoll nannte.

Mit Schwung rannte er die Treppe runter und musste sich eingestehen, dass er sich trotz der Umstände sogar ein wenig auf das Meer freute. Als er die Garage betrat, verharrte er unschlüssig vor dem kleinen blauen Dienstwagen. Lucien hatte wie alle anderen Ermittler einen passablen Kleinwagen zur Verfügung, der im chaotischen Stadtverkehr von Bordeaux durchaus praktisch war. Aber die Vorstellung, jetzt mehrere Stunden in dieser Büchse ohne Klimaanlage zu verbringen, frustrierte ihn. Er kannte jedoch die Vorschriften: Im Einsatz war er verpflichtet, den Dienstwagen zu benutzen. Lucien hielt sich immer strikt an die Vorschriften, wenn ihm nicht gerade eine vielversprechende Sonderregelung einfiel, mit der er die Anweisung elegant umgehen konnte. So kam er schnell zu der Überzeugung, dass der Dienstwagen nur für Einsätze im Stadtgebiet von Bordeaux vorgesehen war. Erfreut über diese geschickte Lösung, öffnete er die vordere Klappe seines alten Porsche 911, verstaute die Taschen und warf den Trenchcoat und das Jackett auf den Beifahrersitz. Mit einem lauten Röhren erwachte der Boxermotor. Lucien lächelte unwillkürlich: Eine Fahrt übers Land zum Meer war vielleicht doch nicht so schlecht.

2. KAPITEL

Erschöpft von der langen Fahrt, bog Sophie von der Autobahn ab und freute sich, auf der Landstraße endlich etwas schneller fahren zu können. Auf der Autobahn war sie, seit sie an der Peripherie von Paris vorbeigefahren war, nur im Schneckentempo vorangekommen. Die unzähligen Mautstationen in Frankreich verlangsamten das Tempo noch zusätzlich. Vor Bordeaux hatte sie fast eine Stunde in einer der endlosen Schlangen vor den Automaten gestanden.

An der Abfahrt von der N10 mit dem Hinweis «Morcenx/Onesse et Laharie/Contis-Plage» fuhren die meisten Autos unbeeindruckt vorbei. Für Sophie versprach es das Ende ihrer langen Reise. Sie kurbelte das Fenster runter und sog begierig die nach Pinien und würzigem Dünengras duftende Luft ein. Ihr Herz schlug vor Vorfreude höher. Der Geruch weckte längst vergessene Erinnerungen in ihr.

Sophie liebte die französische Atlantikküste. Seit sie fünf war, hatte sie mit ihrer Familie die Sommerurlaube auf dem Campingplatz von Contis-Plage verbracht. Sie waren jedes Jahr hierhergekommen, bis die Eltern aus gesundheitlichen Gründen die lange Fahrt nicht mehr antreten wollten. Später war sie noch einige Male mit ihrem vier Jahre älteren Bruder Thomas hergekommen und hatte die freieste Zeit ihres Lebens gehabt. Ihr war die entspannte und teilweise auch verruchte Zeit unter kiffenden Surfern, alternden Aussteigern, sonnenhungrigen Touristen und knackigen Rettungsschwimmern wie ein Befreiungsschlag vom strengen Regiment ihrer Eltern vorgekommen. Sie wunderte sich bis heute, dass ihr konservativer Vater seiner sechzehnjährigen Tochter das erlaubt hatte. Zum Glück hielt ihr Bruder dicht und hatte ihren Eltern nie erzählt, was in dieser Zeit alles passiert war. Die Diskretion ließ sich Thomas zwar teuer bezahlen, aber dafür hatte sie viel Spaß gehabt.

Vor zwei Jahren hatte ihr Bruder spontan seinen Beruf als Hauptschullehrer hingeworfen, nachdem ihn einer seiner Schüler mit dem Messer bedroht hatte, weil er ihm eine schlechte Note geben musste. Er hatte sein Erspartes genommen und einen alten Bauernhof im Hinterland von Contis-Plage gekauft, den ihm alte Surffreunde vermittelt hatten. Seit seinem Umzug hatte sie ihn nicht mehr gesehen, sondern nur ab und zu am Telefon gesprochen. Sie musste sich eingestehen, dass sie neben ihrem Beruf als Psychologin auch für diesen letzten familiären Kontakt kaum Zeit abzweigen konnte. Ihre Eltern waren bereits vor längerem verstorben, und ihr Bruder war nun ihre ganze Familie.

Am Abend, als Frank sich von ihr trennte – am Tag vor ihrer Hochzeit –, hatte sie ihn in ihrer Verzweiflung angerufen und ihr Herz ausgeschüttet. Thomas hatte ihr sofort vorgeschlagen, alles stehen und liegen zu lassen und zu ihm zu kommen. Das Gespräch mit ihm war so herrlich leicht gewesen, dass sie spontan zugesagt hatte zu kommen, sobald sie alle Formalitäten abgewickelt, die Hochzeitstorte, den Blumenschmuck, das Fünf-Gänge-Menü im romantischen Waldschlösschen und vieles mehr abgesagt hätte. Sie hatte dann mehrmals versucht, ihn telefonisch zu erreichen, um ihm zu erzählen, dass sie nun losfahren wollte, ihn aber nie ans Telefon bekommen. Da dies aber bei der chaotischen Art ihres Bruders nichts Ungewöhnliches war, hatte sie einfach ihre Sachen ins Auto geworfen und sich auf den Weg an die fast 2000 Kilometer entfernte Atlantikküste gemacht.

 

Die schmale Straße schlängelte sich durch dichte Pinienwälder. Napoleon hatte einst die sumpfige Heidelandschaft mit Hilfe von durstigen Piniensetzlingen entwässert und damit bewohnbar gemacht. Sophies Vater hatte ihnen oft die Geschichte erzählt, dass Napoleon die einzelnen Parzellen als Altersruhesitz an verdiente Veteranen verschenkt und so als Vorbild für den Asterix-und-Obelix-Band «Das Geschenk Cäsars» gedient hatte. Inzwischen bildeten die dichten Pinienwälder ein riesiges homogenes Gebiet und standen unter strengem Naturschutz. Sophie strich sich einige widerspenstige Haarsträhnen zurück, die sich im Fahrtwind befreit hatten, und drehte das Radio lauter. Das französische Geplapper und der vertraute Geruch ließen sie wehmütig werden. Sie spürte ein Heimweh nach diesem Ort, von dem sie keine Ahnung gehabt hatte, dass sie es in sich trug. Oder war es vielmehr ein Sehnen nach den vergangenen Zeiten und ihrer Kindheit? Mist, sie ertappte sich schon wieder bei der Selbstanalyse. Schluss damit, du hast jetzt frei, tadelte sie sich selbst und schaute auf die Straße. Die Kreuzung, auf die sie gerade zufuhr, kam ihr sehr bekannt vor.

Tatsächlich erspähte sie kurz darauf das vertraute Hinweisschild für den Campingplatz im dichten Wald vor dem Dörfchen Lit-et-Mixe. Sie bremste den Wagen ab, blieb am Wegesrand stehen und betrachtete das verrostete Schild: «Camping ‹Le Tuc›, Calme & Confort, a 500 m». Hier hatten sie ihre gemeinsamen Urlaube verbracht. Vor ihrem geistigen Auge sah sie sich wieder um sechs Uhr morgens verschlafen hinter ihrem Vater aus dem Zelt krabbeln, nachdem ein Schuss die Stille der Nacht zerrissen hatte. Der surreale Anblick des in voller Jagdmontur ausstaffierten Campingplatzbesitzers, der mit abgesägter Schrotflinte vor einem Maulwurfshügel stand und auf seine Beute wartete, hatte sich für alle Zeiten in ihr Gedächtnis eingebrannt. Thomas hatte neulich doch tatsächlich erzählt, dass Bruno Frecheré immer noch auf Maulwurfjagd ging, obwohl sein Bauch inzwischen die Jacke gesprengt hätte und das Schießen außerhalb der Jagdzeit, ohne Jagdschein und vor allem auf dem Campingplatz zwischen den Campern, streng verboten war, was ihn jedoch nicht davon abhielt.

Ihr Bruder war eine Lästerschwester und liebte es in den kleinen dreckigen Geheimnissen seiner Nachbarn zu stochern. Sie hatte gar nicht mehr aufhören können zu lachen, als er ihr in seiner unverwechselbaren Art den neusten Dorfklatsch erzählt hatte.

«In hundert Metern rechts abbiegen», informierte sie «Frau Schlau», wie Sophie liebevoll ihr Navi nannte. Endlich! An einem alten, abgebrochenen Pinienstamm hing das handbemalte Schild mit dem Hinweis «Rue de La Landes». Darunter war ein neueres Metallschild mit dem Aufdruck «Chateau ‹La Vache qui rit› Ferme biologique» befestigt. Das musste der Hof ihres Bruders sein: Der Name «Die lachende Kuh» für einen Biohof konnte auch nur Thomas einfallen. Als Kinder waren sie süchtig gewesen nach dem französischen Schmelzkäse, den es inzwischen auch in Berlin in jedem Supermarkt gab. Damals hatten sie versucht, sich die runden Käseschachteln ebenfalls an die Ohren zu hängen, so wie die lachende Kuh auf der Schachtel.

Gespannt bog sie in den unscheinbaren Weg ab, der sich zunehmend zu einem sandigen Kiesweg verengte. Unwillkürlich richtete sie sich auf und ertappte sich dabei, wie sie vor Aufregung das Lenkrad mit beiden Händen fest griff und sich fast in die schräge Windschutzscheibe reinlegte, um besser sehen zu können. Der Weg schlängelte sich durch den wildgewachsenen Wald. Durch die dichtstehenden Stämme konnte sie einen hellen Fleck erkennen, auf den sie zusteuerte. Endlich öffnete sich der Blick, und sie stand vor dem Traum einer idyllischen Bauernkate und dem Albtraum eines jeden Besitzers dieser Immobilie. Das Gebäude war nur eine Haaresbreite vom totalen Verfall entfernt. Typisch Thomas, dachte sie desillusioniert, was hatte er sich nur dabei gedacht, diesen alten Schuppen zu kaufen. Und hier soll ich sechs Wochen wohnen, durchfuhr sie die Erkenntnis. Unangenehm aus ihren Tagträumen in die Realität zurückkatapultiert, stellte sie das Auto ab.

Das Meer musste ganz nah sein, dachte sie, als sie beim Aussteigen die salzige Luft einatmete. Sofort spürte sie die wärmenden Strahlen der Sonne auf ihren Schultern. Komisch, hatte Thomas sie nicht kommen gehört? Sie ging auf den verfallenen Schuppen zu und klopfte an. Kein Lebenszeichen. Na ja, wahrscheinlich machte er noch Einkäufe in letzter Minute, das würde zu ihm passen. Sie ging zu einem der Fenster. Zunächst konnte sie kaum etwas im Inneren erkennen. Langsam gewöhnten sich ihre Augen an die Dunkelheit, und sie realisierte, dass das Gebäude als Scheune und vor allem als Geräte- und Fahrzeugschuppen genutzt wurde. In der einen Ecke konnte sie nun sogar die stromlinienförmige Silhouette von Thomas’ schwarzem Citroën DS erkennen, auf den er so stolz war. Sie musste lachen, dass sie sich in Gedanken schon in der Garage einquartiert hatte. Kopfschüttelnd schaute sie sich um. Der unscheinbare Weg führte tatsächlich noch weiter in den Wald hinein. Erneut setzte sie sich hinter das Steuer und fuhr auf dem sandigen Waldweg weiter in die Tiefen des Pinienhains hinein.

3. KAPITEL

Wie Fliegen auf einem Kuhfladen, dachte Lucien beim Anblick der ersten Surfer am Morgen, die schon jetzt um die besten Wellen kämpften. Vom höchsten Punkt des Dünenkamms waren in der Tat nur kleine schwarze Flecken auf dem Wasser zu erkennen, die im sanften Spiel der Wellen auf und ab hüpften.

Commissaire Lucien Lefevre ließ den Blick über den Horizont gleiten. Der vom Meer kommende Wind spielte mit seinen kurzen Haaren. Er atmete die gischtfeuchte Luft tief ein. Leise summte er die Melodie von «La Mer» von Charles Trénet. Obwohl es noch früh war, flimmerte die Luft schon über dem aufgeheizten Sand. Lucien rückte seine dunkle Sonnenbrille zurecht. Der Ärger über das unsanfte Wecken und die nervige Autofahrt, die natürlich doch fast vier Stunden gedauert hatte, löste sich bei diesem Anblick sanft auf. Sein Blick schweifte über das endlose Meer, wanderte über den Strand an der Brandung entlang bis zu der Surfstation und dem Süßwasserpool für Schwimmanfänger. Und blieb schließlich auf seinen neuen italienischen Designerschuhen aus zartem Kalbsleder hängen, die schon nach den ersten Schritten vom Sand zerkratzt waren. Merde, er hatte vergessen, andere Schuhe anzuziehen. Der Tag fing wirklich gut an. Selber schuld, schimpfte er in sich hinein, er hätte ja nicht ans Telefon zu gehen brauchen. Er überlegte kurz, ob er es mit seiner Würde als leitender Ermittler vereinbaren konnte, die Schuhe und Socken auszuziehen, die Anzughose umzukrempeln und barfuß zum Fundort zu gehen, entschied sich aber rasch dagegen. Eine Leiche erforderte schon ein wenig Respekt.

Lucien sah in einiger Entfernung einen Gendarmen in blauer Kleidung, der ihm aufgeregt winkte. Unwillkürlich richtete Lucien sich zu seiner vollen Größe auf und zog die Schulterblätter nach hinten. Der winkende Mann musste François Chevalier sein, mit dem er unterwegs telefoniert hatte. Neben ihm hockten zwei Männer von der Spurensicherung in weißen Schutzoveralls. Super, es waren ja schon alle da, dann konnte er doch eigentlich erst mal frühstücken gehen. Doch zu spät, der junge Sergeant eilte bereits auf ihn zu und rannte den steilen Dünenaufgang hoch.

Seufzend ging Lucien ihm auf dem mit verrotteten Brettern behelfsmäßig gestützten Weg zum Strand entgegen. Hätte er doch bloß unterwegs noch kurz für ein Frühstück gehalten. Es wäre eh keinem aufgefallen, wenn er für die Strecke noch eine Stunde länger gebraucht hätte. Rasch zog er sich eine Zigarette aus der verknitterten Schachtel und zündete sie im Windschatten seiner Hände an.

«Sergeant François Chevalier, Police muncipale Lit-et-Mixe, Dienstelle Contis-Plage», stellte sich der junge Polizist vorschriftsmäßig, aber vor Anstrengung schnaufend vor. Er schaute Lucien erwartungsvoll aus dunklen Augen an. Aufgeregt wie ein kleines Kind, das eine Zirkusvorstellung besuchte. Offensichtlich freute er sich über die Abwechslung vom Alltag in Form einer Leiche. Lucien konnte an dem Fund eines brutal aus dem Leben gerissenen Menschen hingegen nichts Erfreuliches erkennen und fühlte sich dazu berufen, dem jungen Mann den Ernst der Sache klarzumachen: «Commissaire Lefevre, leitender Ermittler. Stehen Sie hier nicht so grinsend rum. Begleiten Sie mich zu der Leiche und informieren Sie mich derweil über die Fortschritte. Und wenn ich mit meinen Kollegen spreche, besorgen Sie mir einen starken Kaffee und was zu essen», donnerte Lucien und versuchte den sonoren Tonfall seines Vorgesetzten zu imitieren.

Lucien konnte förmlich spüren, wie der junge Mann seinen offenen Blick verschloss.

«Ja, Commissaire, hier lang, bitte», wies er ihm förmlich den offensichtlichen Weg.

«Wo ist eigentlich Ihr Vorgesetzter?», fragte Lucien den jungen Mann, der aus der Nähe mit seinen verstrubbelten, sonnengesträhnten Haaren eher wie ein Surfer aussah.

«Als der Notruf kam, hatte ich Bereitschaft, der Leiter unserer Dienststelle, André Lepoutre, hat einen dringenden Fall, bei dem er nicht gestört werden darf», antwortete der Sergeant kurz angebunden.

«Nun ja, über diese Zuständigkeitsverteilung muss ich wohl mit Ihrem Vorgesetzten noch mal sprechen.» Lucien versuchte einen etwas netteren Tonfall anzuschlagen. «Wissen Sie schon, ob die Leiche hier abgelegt oder angespült worden ist?»

«Nein, außerdem überschreitet es meine Kompetenz, Vermutungen auszusprechen. Fragen Sie doch Ihre Kollegen.»

Ups, anscheinend war Lucien dem jungen Mann ordentlich auf die Füße getreten. Was war denn das für eine Mimose? Vielleicht sollte er lieber wieder zu seinem Surfbrett gehen. Na gut, dachte Lucien, das Spiel beherrsche ich auch.

«Dann halten Sie sich an Ihren Rang und berichten Sie mir noch einmal alles, was wir bislang wissen», befahl Lucien barsch.

«Seit unserem Telefonat hat sich noch nichts Neues ergeben», konterte Chevalier schnoddrig.

«Dann wiederholen Sie doch bitte die Fakten noch einmal für mich.» Lucien hatte das Gefühl, dass sich das Gespräch zu dem Beginn einer wundervollen Feindschaft entwickeln könnte. In der Regel war er seiner Meinung nach ein relativ umgänglicher und charmanter Zeitgenosse, aber er nahm seinen Beruf sehr ernst und vertrat die Meinung, dass hier ein der Sache angemessener Tonfall herrschen sollte.

«Bon!», nuschelte Chevalier. Da passierte endlich mal etwas Aufregendes in seinem Dorf, und dann wurde ihm ausgerechnet so ein spießiger Schnösel aus der Stadt vorgesetzt. Mit monotoner Stimme leierte er die bekannten Fakten herunter:

«Männliche Leiche, um 4:49 Uhr von dem holländischen Touristen Jupp de Moi und seinem kleinen Sohn Phillip entdeckt. Er dachte erst, es handelt sich um eine in ein Fischernetz verhedderte Boje. Als sie erkannten, dass es ein Körper war, rannten sie direkt zur Strandwache, die um die Uhrzeit jedoch noch nicht besetzt war. Der Holländer rief die an der Tür angeschlagene Notfallnummer an, und die Polizei in Lit-et-Mixe wurde verständigt – also ich.» Sie waren mittlerweile bei den beiden Mitarbeitern der Spurensicherung und der Leiche angekommen.

«Na gut, besser als nichts. Und nun stehen Sie hier nicht so untätig rum, sondern riegeln Sie endlich den Strand vorschriftsmäßig ab und sorgen Sie dafür, dass sich keine Touristen hierher verlaufen und über die Leiche stolpern. Dann besorgen Sie uns erst mal einen Kaffee, etwas zu essen und schreiben mir einen Bericht, und zwar ausführlich», wies Lucien ihn barsch an. François schoss die Röte ins Gesicht, was seine vor Wut funkelnden Augen fast schwarz werden ließ. Er drehte sich schnell um, damit die anderen seinen Zorn nicht sahen, und marschierte den Weg zum Parkplatz durch den schweren, noch morgenfeuchten Sand vor sich hin schimpfend zurück.

Luciens Blick blieb schon von weitem angewidert an dem unnatürlich aufgeblähten Körper der Wasserleiche hängen. Ihm entfuhr ein spontaner Seufzer. Das war genau die Art von Arbeit, die er am Außendienst am meisten hasste. Solange er in seinem Büro die Strippen ziehen, Ermittler aussenden und Informationen per Telefon einholen konnte, war er ein engagierter und guter Ermittler, aber mit realen Leichen und Zeugenbefragungen kam er nicht klar. Zum einen hatte er überhaupt keine Geduld mit unsicheren Zeugen. Er wollte eine genaue Aussage und kein «Ich weiß nicht, vielleicht war das Auto grün, vielleicht aber auch rot, aber es war auf jeden Fall ein ausländisches Fabrikat, kein französisches».

Zum anderen hatte er ein ungutes Gefühl als verantwortlicher Leiter einer Mordkommission, denn vor einigen Jahren war er in einen Hinterhalt geraten, bei dem sein Assistent ums Leben kam. Er fühlte sich immer noch verantwortlich für den Tod des jungen Mannes, da er auf eigene Faust gehandelt und nicht die Ankunft des Spezialkommandos abgewartet hatte. Offiziell war er zwar von jedem Vorwurf freigesprochen worden, hatte sich aber seit diesem Vorfall vom aktiven Dienst zurückgezogen. Er hatte damals beschlossen, dass sein Einsatz im Innendienst, auch hinterm Schreibtisch, für die Aufklärung komplexer Fälle hilfreich sein könnte.

Lucien saß nun Tag für Tag im schicken Anzug in seinem klimatisierten Büro, weit weg von jeder Schießerei, und beschäftigte sich mit offenen Ermittlungssachen seiner Kollegen. Dabei verzweifelte er stets am meisten an den chaotischen Berichten und Faktensammlungen der einzelnen Abteilungen. Zeugenbefragungen, Ortsbeschreibungen, Laborberichte, alles war kreuz und quer zusammengeheftet worden, ohne Sinn und Verstand. Als Lucien immer mehr Kollegen ihre Ermittlungsarbeit nicht nur sprichwörtlich um die Ohren schlug, hatte er sich schnell den zweifelhaften Ruf eines «Korinthenkackers» erarbeitet. Mit seiner pedantischen Art legte er den Finger auf Ungereimtheiten, die die Kollegen übersehen, als unwichtig oder lästig empfunden hatten. Er war wie ein Beamter von der Steuerbehörde, der die Unterlagen auf Widersprüche und Fehler überprüfte, bevor er sie neu sortierte, einer strengen Ordnung unterzog und die einzelnen Puzzleteile des Falls wieder neu zusammenfügte.

Seine Kollegen waren darüber natürlich nicht so begeistert. Aber die Schlüsse, die er aus den neusortierten Fakten zog, waren oft brillant und führten nicht selten zur Auflösung des Falls, was ihm den Respekt der Kollegen einbrachte. Inzwischen wurden ihm auch Fälle von anderen Abteilungen und Behörden zugewiesen, die er entwirren sollte. Lucien liebte diese Art zu arbeiten. Er konnte für jeden Fall einen neuen Ordner anlegen, sorgfältig beschriften und anschließend ins Regal stellen. Für die abgeschlossenen Fälle hatte er sich eigens einen Stempel anfertigen lassen, mit dem er in leuchtendem Orange «FIN» auf den Ordnerrücken stempeln konnte.

 

Um die Konfrontation mit der Leiche noch ein wenig hinauszuschieben, beobachtete Lucien den dunkelhaarigen Lockenkopf Khalid al-Saud dabei, wie er vorsichtig das aufgerissene Fischernetz untersuchte, das er bereits von der Leiche gelöst hatte. Lucien hob seine Hand zur Stirn und deutete einen Gruß an. Er kannte den Forensiker mit marokkanischen Wurzeln bereits seit einigen Jahren und mochte seine lässige, aber dennoch hochprofessionelle Arbeitsweise.

«Bonjour, Khalid, habt ihr schon alle Spuren gesichert?»

«Bonjour, Lucien, lange nicht mehr gesehen. Ça va?», begrüßte Khalid ihn mit gutturalem Akzent.

«Ça va bien. Außer, dass ich ewig im Stau saß, aber das ging euch ja bestimmt genauso. Also, wie schaut’s aus? Hast du schon irgendetwas Brauchbares entdeckt?» Lucien hockte sich neben ihn.

«Monsieur le Commissaire, du weißt doch, dass das Netz erst unters Mikro muss, wenn ich irgendwas entdecken will. Aber in der Tat ist schon jetzt etwas ziemlich auffällig. Schau dir das Netz mal genau an.»

Selbst bei der flüchtigen Betrachtung sah Lucien sofort, dass das Netz zwar zerrissen, aber neu war. In den rot gefärbten Seilen hatten sich nur wenige Algen, Muschelscherben, Krabbenarme und Ähnliches verfangen. Es sah nahezu unbenutzt aus. Kontrastreich hob sich das kräftige Karmesinrot gegen den hellen Sand ab. Der Commissaire beugte sich vor, um die einzelnen Fasern der Tauverknüpfungen besser betrachten zu können. Er öffnete seine braune Lederaktentasche und entnahm ihr ein Paar Einmalhandschuhe, die er vorsorglich noch schnell eingepackt hatte. Kurz hielt er inne, als er das vertraute, doch schon fast vergessene Gefühl beim Anziehen der Handschuhe verspürte. Das intensive Gefühl einer Art Déjà-vu überrollte ihn, als ihm klarwurde, wie lange er schon nicht mehr an einem Tatort gewesen war.

Vorsichtig zog er die Fasern an den Knotenpunkten auseinander. Dort hatten sie nahezu die identische Farbe wie das restliche Netz. Ein sicheres Indiz dafür, dass dieses Netz weder der Sonne noch dem Salzwasser lange ausgesetzt gewesen war. Nachdenklich überprüfte er das weitere Netz und blieb an den auffälligen Löchern hängen, an deren Enden die Fasern aufgeribbelt und zerrissen waren.

«D’accord, das Netz ist recht neu. Da stellt sich die Frage: Wurde das Opfer eingewickelt, oder hat es sich beim Baden in dem über Bord gegangenen Netz verfangen und ist dann ertrunken? Vielleicht haben es Fischer wegen der Löcher weggeschmissen?» Er deutete auf die groben Risse im Taugeflecht.

Khalid schüttelte den Kopf.

«Glaub ich nicht. Solche Fischernetze sind echt teuer und werden so lange geflickt, bis sie von selbst auseinanderfallen. Das schmeißt keiner absichtlich ins Meer. Möglich, dass es bei einem Sturm über Bord gespült wurde oder sich beim Fischen losgerissen hat», überlegte er laut. «Meiner Meinung nach sind aber die großen Risse neu und hängen mit der Leiche zusammen. Schau mal hier. Die Enden der gerissenen Fasern sind ausgefranst und enthalten viel mehr Algen und Muschelspuren als die anderen Stellen. Vermutlich ist das Netz am steinigen Meeresboden entlanggescheuert und dabei gerissen. Möglich, dass noch was im Netz war, das durch die aufgerissene Stelle rausgefallen ist.»

«Mh, verstehe. Du meinst ein Gewicht, um die Leiche am Boden zu halten. Das würde für einen vorsätzlichen Mord sprechen. Besteht eigentlich die Möglichkeit, dass es doch nur ein Badeunfall gewesen sein könnte? Immerhin ist der Mann nackt.»

«Das kann ich dir noch nicht sagen. Fehlende Kleidung ist leider kein Indiz für einen Badeunfall. Fast alle Ertrunkenen verlieren im Laufe der Zeit ihre Kleidung. Die Brandung zieht sie einfach vom Körper. Aber Etienne kann dir sicher mehr sagen. Ich hoffe, du hast einen stabilen Magen. Kein schöner Anblick so früh am Morgen.» Er wies mit einem flüchtigen Kopfnicken zu Etienne Bouché hinüber, der sich konzentriert über den aufgeblähten Körper beugte.

Der Commissaire schluckte und wappnete sich innerlich für den unerfreulichen Anblick. Er näherte sich dem aufgedunsenen Leichnam, dessen bestialischer Verwesungsgeruch kaum auszuhalten war. Sein Respekt vor dem Gerichtsmediziner, der gerade routiniert die Leichenflecken des Opfers dokumentierte, wuchs mit jedem Schritt. Mit seinen in weißen Einmalhandschuhen steckenden Fingerspitzen drückte der Forensiker leicht auf einen dunklen Fleck, der sich unter der Haut abzeichnete. Mit der anderen Hand bediente er das Diktiergerät und sprach sachlich seine Beobachtungen auf Band. Als er Lucien registrierte, hielt er inne und schaute zu ihm hoch.

«Bonjour, Lucien, schön, dich mal wieder an der frischen Luft zu sehen. Vor allem, wenn sie so appetitanregend ist.» Der Forensiker gab sich keine Mühe, das Grinsen zu unterdrücken, als er in das angespannte Gesicht des Kollegen aus Bordeaux schaute.

«Bonjour, Etienne. Hast du schon was rausgefunden?» Lucien fokussierte mit seinen Augen das entfernte Spiel der Wellen in der tosenden Brandung.

Der Forensiker rückte ein Stück zur Seite und gab so den Blick auf die gesamte Leiche frei, die er mit seinem Oberkörper verdeckt hatte.

«Eh bien. Auf den ersten Blick kann ich dir nur sagen, dass es sich um eine männliche Leiche handelt. Circa 1,75 Meter groß, wenn man die Vergrößerung des Körpers durch das Aufquellen im Wasser mit einbezieht. Genauer kann ich es dir erst sagen, wenn ich die Knochen im Rahmen der Obduktion exakt vermessen habe. Das Alter lässt sich nicht schätzen, da sich die Haut schon abzulösen beginnt und Alterungsmerkmale wie Falten dadurch nicht mehr zu erkennen sind. Anscheinend haben auch schon ein paar Möwen Gefallen an dem Strandgut gefunden, die Nasenspitze und die Lippen sind abgerissen. Voilà, schau, hier sieht man tiefe Weichteildefekte, verursacht durch Möwenfraß. Sie haben die Haut bis zum unteren Kieferknochen runtergezogen, sozusagen wie eine Orange abgeschält, und die Zähne freigelegt.» Etienne wies unbeteiligt mit dem Finger auf die ehemalige Mundpartie.

«Ah, ja, interessant», murmelte Lucien, den Blick fest auf das kleine weiße Segel einer Yacht gerichtet, das sich wunderschön vom strahlend blauen Himmel abhob und in einiger Entfernung langsam am Horizont entlangglitt.

«Das erschwert natürlich die Identifizierung, aber bei einer Wasserleiche kann man den Todeszeitpunkt eh nur schwer feststellen. Ich kann dir auch noch nichts zur Todesursache sagen, falls du darauf wartest. Ich nehme ihn auf jeden Fall mit nach Bordeaux in die Pathologie. Die Lunge verrät bei einem Ertrunkenen meistens ziemlich viel. Ich würde an deiner Stelle aber mal eher nicht auf einen Badeunfall tippen. Es fehlt der typische Schaumpilz am Mund», führte der Pathologe weiter sachlich aus, ohne auf Luciens offensichtliches Unbehagen Rücksicht zu nehmen.

«Entschuldige, Etienne, was fehlt?»

«Ach so, Pardon, das ist immer das Erste, wonach man bei einer Wasserleiche schaut. Wenn jemand ertrinkt und ums Überleben kämpft, kommt er mehrmals an die Wasseroberfläche. Das Einatmen des Wassers führt zu einem Hustenreiz, bei dem Schleim hochgewürgt wird. Das Ganze vermischt sich zu einem relativ festen Schaum, der sich um den Mund herum sammelt. Aber diese Leiche hier ist schon etwas länger im Wasser, und der Schaumpilz ist nicht sehr stabil und wird bei längerem Verbleib im Wasser einfach abgewaschen», erklärte er Lucien freundlich. Ihm schien die Arbeit an dem grässlich stinkenden Leib nicht das Geringste auszumachen. Im Gegensatz zum Commissaire, der immer noch mit dem Brechreiz zu kämpfen hatte.

«Wie hältst du den Gestank und den Anblick nur aus, Etienne? Das lippenlose Gesicht verfolgt mich bestimmt noch nächtelang in meinen Träumen.»

«Ach, alles Routine. Du kannst mich gerne bei der Leichenöffnung begleiten, Lucien. Wenn ich den Y-Schnitt mache und den Abdomen öffne, entweicht die ganze aromatische Luft auf einmal, und die Plastikschutzbrillen bräuchten einen Scheibenwischer. Wenn das Verwesungsgas schlagartig den Körper verlässt, fliegen ganz gerne noch angrenzende Gewebeteile mit durch den Raum.»

Der Commissaire starrte ihn unsicher an. Nahm ihn der Forensiker jetzt auf den Arm, weil er seinen Ruf als Schreibtischhengst kannte, oder meinte er das wirklich ernst? Er hatte sich in der Vergangenheit schon des Öfteren über den makabren Humor des Gerichtsmediziners gewundert, der kurz vor seiner Pensionierung stand. Wahrscheinlich musste man im Laufe der Zeit diesen trockenen Humor zum Selbstschutz entwickeln, wenn man täglich mit solchen Horrorszenarien konfrontiert wurde.

«Kannst du dir deine ekelhaften Einzelheiten nicht für deinen Bericht aufsparen? Ich will jetzt eigentlich nur wissen, ob es sich um Mord handelt. Den Rest kannst du mir dann ja telefonisch durchgeben.» Lucien wandte sich zum Gehen.

«Vergiss es, Lucien. Aus der Sache kommst du nicht mehr raus. Es gibt schon jetzt zu viele Verdachtsmomente, die auf Fremdeinwirkung hindeuten. Ich fürchte, dass dir dieses hübsche Kerlchen noch ein wenig Gesellschaft leisten wird», erwiderte Etienne nicht ganz ohne Schadenfreude.

«Kannst du zumindest eine ungefähre Todeszeit angeben?», brachte Lucien das Gespräch wieder auf die elementaren Punkte zurück. Er ließ sich vom lautstarken Streit zweier Möwen ablenken, die sich in einiger Entfernung aufgeregt um ein Stück Beute stritten. Lucien betrachtete gedankenlos die laut schimpfenden Möwen bei ihrem Kampf. Erst als ihm klarwurde, um was für ein Stück Fleisch es sich handeln könnte, musste er sich mit aller Kraft konzentrieren, nicht auf der Stelle, vor den Augen des Gerichtsmediziners, seine Würde zu verlieren.

«Mh.» Nachdenklich kräuselte Etienne die Stirn, ohne Luciens Ekel zu bemerken. Sein langes, aber schon etwas schütter gewordenes Haar umspielte im Wind seine Brille, durch die er emotionslos auf den aufgedunsenen Körper schaute.

«Schwierig, sich jetzt schon festzulegen. Ich würde darauf tippen, dass er schon eine Woche im Wasser gelegen hat. Dafür spricht die aufgequollene Waschhaut, die man, wie einen Handschuh, einfach vom Muskelgewebe abschieben kann. Schau, hier ist die Hand wohl in der Brandung über den Sand gescheuert. Dabei ist die Oberhaut einfach abgefallen. Je wärmer die Umgebungstemperatur, desto schneller die Auflösung. Wir haben das Wasser vorhin gemessen. Momentan hat es knapp 17 Grad, aber ich würde sagen, im Durchschnitt hat es bestimmt 18 oder 19, sodass der Verfall relativ schnell geht. Da müsstest du vielleicht noch mal die Strandwache befragen, die notieren ja täglich die Daten. Die Fäulnisgase im Körper sprechen für mindestens sieben und maximal vierzehn Tage im nassen Milieu. Die Gase entstehen, wenn die eigenen Bakterien der natürlichen Darmflora damit beginnen, mangels Futternachschub den Darm und die Organe von innen aufzufressen und nach dem Essen ordentlich Luft abzulassen, d’accord?» Er konnte sich ein schelmisches Grinsen nicht verkneifen.

«Das Gas kann nicht raus, weil die Leiche den Hintern zukneift. Dadurch steigt der Leichnam an die Oberfläche, wie ein bunter Gasballon auf dem Volksfest, und kann, wie hier, angetrieben