Eine halbe Ewigkeit - Ildikó von Kürthy - E-Book

Eine halbe Ewigkeit E-Book

Ildikó von Kürthy

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Beschreibung

Was ist aus uns geworden? Aus unseren Träumen, Plänen und der Liebe unseres Lebens? Vor 25 Jahren schrieb Ildikó von Kürthy ihren ersten Roman, «Mondscheintarif». Nun ist die Heldin von damals zurück. Sie ist auf der Flucht vor ihren Erinnerungen. Schon seit einer halben Ewigkeit. Bis ihr ein altes Tagebuch in die Hände fällt. Es hatte ein Happy End. Doch das Leben ging weiter. Sie heißt Cora Hübsch, ihre Kinder sind groß, und ihre Ehe ist gebrechlich. Zu viel Alltag, zu wenig Abenteuer. Aber an diesem Wochenende spielt ihr Leben verrückt: das vertauschte Kleid, die alte Schuld, die schemenhafte Gestalt auf dem Foto. Ist das Zufall? Oder eine letzte Chance?

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Seitenzahl: 368

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Ildikó von Kürthy

Eine halbe Ewigkeit

Roman

 

 

 

Über dieses Buch

Das ist zu viel. Der Container ist voll, das letzte Kind aus dem Haus, die Ehe öde, und etliche Fragen sind offen, auf die ich immer noch keine Antwort weiß. Ich heiße Cora Hübsch, und mir fallen mein leeres Leben und der Karton mit Altpapier vor die Füße. Im Dickicht aus Zetteln, Zeitungen und Selbstmitleid finde ich ein vergilbtes Buch voller handbeschriebener Seiten: mein Tagebuch, «Mondscheintarif». Geschrieben vor 25 Jahren, vor einer halben Ewigkeit, als ich noch dachte, dass alles gut würde. Schicksal im Altpapier.

Es ist ein Buch voller Erinnerungen. An die Liebe meines Lebens. Und an die Schuld, die bis heute mein Leben bestimmt. Ist die Zeit gekommen, das letzte Kapitel zu schreiben? Loslassen und neu beginnen?

Ein Wochenende am Meer wird zur Zerreißprobe. Ein vertauschtes Kleid, eine dramatische Begegnung und eine Explosion am Strand. Ein altes Glück, alter Schmerz. Und endlich eine Entscheidung.

Die Geschichte geht weiter. Was ist aus Cora Hübsch geworden? Und was ist aus uns geworden: aus unseren Träumen, Plänen und der Liebe unseres Lebens?

Ein Buch über die großen Themen des Lebens: die Freuden und Tücken einer langen Liebe, Abschied, Neuanfang. Ein Buch über Ildikó von Kürthys Themen!

Vita

Ildikó von Kürthy ist Rheinländerin, Mutter von zwei Söhnen, Journalistin und Kolumnistin bei der Brigitte. Sie lebt mit ihrem Mann und den Kindern in Hamburg, und besonders an Karneval hat sie schlimme Sehnsucht nach ihrer alten Heimat. Ildikó von Kürthys Romane wurden mehr als sechs Millionen Mal gekauft und in 21 Sprachen übersetzt. Sie ist eine der meistgelesenen deutschen Schriftstellerinnen, ihr erster Roman «Mondscheintarif» wurde fürs Kino verfilmt, und auch ihre Sachbücher, «Unter dem Herzen», «Neuland» und «Hilde», waren allesamt Bestseller. Zuletzt erschien ihr Roman und Nummer-1-Bestseller «Es wird Zeit».

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Januar 2024

Copyright © 2024 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Covergestaltung büro ident

Coverabbildung Peter Pichler

ISBN 978-3-644-01425-1

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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www.rowohlt.de

Prolog

Ich wusste genau, was ich tat. Und ich stelle mir seither Tag für Tag dieselbe Frage. Selbst mit dem Wissen um all das, was nach diesen neun Minuten und elf Sekunden geschah, in dieser Ewigkeit, die in meinem Leben wie ein Krater zwischen dem Vorher und dem Nachher klafft, lautet meine Antwort auch heute, fünfundzwanzig Jahre später: Ja, ich würde es wieder tun.

Donnerstag 17 Uhr

Jetzt ist es also so weit. Mir war längst klar, dass es passieren würde. Ich wusste nicht, wann, ich wusste nicht, wo – es war nur noch eine Frage der Zeit. Die Hinweise hatten sich gehäuft und waren von mir sorgfältig übersehen worden. Und so war aus etlichen, teilweise winzigen Hinweishäufchen ein kapitales Problemgebirge geworden, an dessen Fuß ich in diesem dann doch unerwarteten und auch irgendwie unpassenden Moment zusammenbreche.

Eigentlich warte ich seit fünfundzwanzig Jahren darauf.

Und jetzt geschieht es ausgerechnet am Altpapiercontainer. Die Trivialität des Ortes ist mir peinlich. An diesem ganz besonders milden Herbstnachmittag entgleiten mir zeitgleich mein Leben und der schwere Karton, den ich die achthundert Meter von zu Hause bis hierher geschleppt habe.

Alles fällt mir vor die Füße. Wie in Zeitlupe neigt sich der Karton zur Seite, kippt in aller Seelenruhe um, und der Inhalt verteilt sich weiträumig über den Gehweg. Ich sehe einem Zettel nach, wahrscheinlich eine Einkaufsliste oder Quittung, den der Wind sanft in Richtung Park weht, und ich beschließe spontan, mich hier und jetzt ebenfalls fallen zu lassen.

Ich kann nicht mehr.

Und es gibt keinen Grund, noch länger so zu tun, als ob.

Hier ist jetzt erst mal Schluss.

Ich gebe meinen nachgebenden Knien nach und setze mich auf den Boden. Mit geschlossenen Augen lehne ich mich an meinen Freund, den Container. Über meinem Kopf der Aufkleber mit dem Slogan: Papier und Pappe hier hinein. Du wirst glücklich sein!

Dieses Mal hat es mit dem Glücklichsein leider nicht geklappt. Normalerweise empfinde ich jede Art von Entsorgung als stimmungsaufhellend und geradezu erlösend. Andere mögen Altpapiercontainer lediglich für seelenlose städtische Mülltonnen halten – aber empathische Gemüter sehen in ihnen das, was sie tatsächlich sind: dramatische Schauplätze tausendfachen Lebewohls. Friedhöfe für Zeitungen von gestern, für Briefe, die niemand mehr lesen wird, für Verpackungen, die, ihres schmucken Inhalts beraubt, wertlos geworden sind.

Altpapier ist für emotionale Menschen wie mich eine hochsensible Materie. Abfall, der voller Geschichten steckt, die nie wieder erzählt werden. Altpapiercontainer sind Abschieds-Großbehälter. Und ich kann nicht leugnen, dass ich eine tiefe Zuneigung für diese oft viel zu wenig wertgeschätzten, tapferen Kameraden hege, die stets zuvorkommend bereitstehen, um mir all das abzunehmen, was ich endlich loslassen kann.

Ich war nie gut im Loslassen.

Ich heiße Cora Hübsch, ich bin vierundfünfzigdreiviertel Jahre alt und gehöre zu der Mehrheit von Frauen, die auch in fortschreitendem Alter noch keinen Frieden mit der Tatsache geschlossen hat, dass alles irgendwann vorbei ist. Ich bin in einer Art Dauer-Melancholie-Schleife gefangen. Im Herbst tut es mir leid, dass der Sommer vorbei ist mit seinem Licht und seiner Energie, und im März fällt mir der Abschied von Wolldecken, langen, gemütlichen Abenden und dem wohltuenden Andante des Winters schwer.

Sitzt mein Haar, weiß ich doch, dass ein geringfügiger Anstieg der Luftfeuchtigkeit meine hübsche Frisur in eine gruselige Kreatur verwandeln wird. Jeder lackierte Fingernagel ist dem Untergang geweiht, denn mein Leben ist keines, in dem Lack, künstliche Wimpern, Lippenstift oder unangebrochene Tüten Knabbergebäck sonderlich lange unbeschadet davonkommen. Angebrochene Packungen mit Dingen, die mir schmecken, sind in unserem Haushalt nicht existent. Ich mache in solchen Angelegenheiten keine halben Sachen, und mir sind Menschen zutiefst suspekt, die aus der Küche heraus Sätze rufen wie: «Möchte jemand ein Stück köstlichen Kuchen vom letzten Wochenende? Ich habe ihn extra luftdicht verpackt!» Außer Stuhlproben habe ich noch nie etwas luftdicht verpackt.

Der Lack auf meinen Fingernägeln überlebt meist nicht mal den halbstündigen Trocknungsprozess, und Lippenstift verflüchtigt sich bei mir oft schon nach wenigen Minuten, in denen ich noch nicht mal was getrunken, gegessen oder mit jemandem geknutscht habe.

Wobei ich auf Anhieb nicht zu sagen wüsste, wann ich das letzte Mal aktiver Teil eines Kussvorgangs gewesen bin, der das Wort «knutschen» verdient hätte. Ich bin seit zwanzig Jahren verheiratet, da vertreibt man sich die Zeit nicht mehr mit Küssen und Fummeln. Trotzdem habe ich mir neulich einen sogenannten «kussfesten Lippenlack» zugelegt. Eine Substanz, die Küsse aushält, so vermutete ich, müsse wohl auch auf erotisch weniger strapazierten Lippen halten. Es funktionierte. Leider.

Der Lippenstift hatte blitzschnell wie Sekundenkleber auf eine geradezu gewalttätige Art mit meinen Lippen fusioniert, war zu einem knackigen Schutzpanzer getrocknet, so dass ich beim Sprechen fürchtete, der Lack inklusive Lippe würde mir in kleinen Stückchen Wort für Wort abbrechen. Der Abschminkvorgang erinnerte mich an die Abbrucharbeiten bei uns im Keller.

Selbst gute Vorsätze stimmen mich wehmütig, weil die meisten von ihnen alte Bekannte sind. Mittlerweile muss ich die Tatsache, dass ich mir Jahr für Jahr dieselben Dinge vornehme, zu meinen schlechten Gewohnheiten zählen. Mein Vorsatz sollte lauten: Mach dir keine guten Vorsätze, und wenn, dann welche, die du noch nicht kennst.

17.04 Uhr

Ich kenne keine reine Freude, denn je größer die Freude, desto schwerer belastet mich das Wissen um ihre Vergänglichkeit. Das Ende des Glücks in der Zukunft liegt wie ein Schatten über dem Glück in der Gegenwart. Ich war nicht immer so. Neun Minuten und elf Sekunden haben aus mir einen Menschen gemacht, der dem Glück mit Vorsicht begegnet. Ich nehme das Ende immer schon vorweg, und so wohnt jedem Anfang in meinem Fall nicht der vielzitierte Zauber inne, sondern ein Zaudern und eine Trauer um das, was schon bald wieder Vergangenheit sein wird.

Und im Moment geht in meinem Leben ganz besonders viel vorbei. Die Abschiede stehen Schlange, geben sich die Klinke in die Hand, und meinem Gefühl nach neigt sich der vergleichsweise erfreuliche Teil meines Lebens gerade rasant schnell dem Ende zu.

Kinder aus dem Haus. Alle drei fast gleichzeitig. Arthrose im rechten Knie. Ehe auch alt. Ich bin von Joggen auf Walken umgestiegen und von Gin Tonic auf Fenchel-Anis-Kümmel-Tee. Mein Beruf erfüllt mich nicht mehr, tags bin ich müde und nachts schlaflos. Ich brenne nicht mehr. Ich schwitze nur noch.

Ja, ich weiß, dass ich zu Übertreibungen neige. Aber jede einzelne Übertreibung fühlt sich einfach so unübertrieben an, dass ich sie sicherheitshalber immer wieder ernst nehme.

Mein Mann ist da anders. Er neigt weder zu Übertreibungen noch dazu, mich ernst zu nehmen, und er spürt auch keine Seelenverwandtschaft zu Altpapiercontainern, Mülleimern oder Recyclinghöfen. Wir sind grundverschieden. Aufklärung trifft auf Romantik, Ratio auf Drama. Er lebt lösungsorientiert. Ich lebe problemorientiert.

Deswegen steht er in diesem Moment an der Sicherheitskontrolle im Flughafen und nicht ich. Wir hatten gemeinsam entschieden, dass er unseren sechzehnjährigen Sohn John ohne mich zu seinem College in England bringen sollte. Letztlich war uns allen daran gelegen, traumatische Abschiedsszenen zu vermeiden.

Ich war schon bei der Abnabelung meiner Kinder, bei ihrer Einschulung sowie bei diversen Krippenspiel-Aufführungen, wo sich alle drei Kinder beharrlich über die Jahre vom Esel zur Muttergottes hochgearbeitet hatten, negativ aufgefallen. Ich kann meine Tränen bis zu einem gewissen Punkt zurückhalten, wenn der jedoch überschritten wird, drehen sich die Leute erschrocken nach mir um.

Ich schaue auf mein Handy. In fünf Minuten startet die Maschine nach London mit meinem Baby an Bord. Mein kleiner Junge, mein Nesthäkchen verlässt das Nest. Und übrig bleibt die zerzauste Henne, die keine Eier mehr zu bebrüten hat und sich ratlos nach einer neuen Tätigkeit umschaut.

Um den Trennungsschmerz bereits im Keim zu ersticken, hatte ich in dem Moment, in dem das Taxi mit Mann und Sohn um die Ecke verschwunden war – selbstverständlich war es mir auch verboten gewesen, die beiden zum Flughafen zu fahren –, geeignete Maßnahmen ergriffen. Ich war dem aufkommenden Gefühl von Leere und Verzweiflung mit einer entschlossenen Entsorgungs-Offensive entgegengetreten, hatte in Windeseile mehrere Umzugskartons mit Kinderspielzeug und Kleidung gepackt und zur Sammelstelle gebracht, ich hatte Bücher und Schuhe aussortiert und einen nahezu unbenutzten Entsafter bei eBay eingestellt.

Dann hatte ich zerfledderte Schulhefte und anderen vergilbten Papierkram aus einer wurmstichigen Kommode im Keller geräumt, die ich ebenfalls verkaufen wollte, und mich damit auf den Weg in Richtung Container gemacht. Dabei hatte ich mir selbst Mut zugesprochen. Cora Hübsch. Resilient und krisenfest. Eine würdevoll gealterte Frau, die den Herausforderungen des Lebens besonnen und tapfer entgegenwalkt. Bestens gelaunt und Herrin der Lage. Sie würde sich nicht zu Selbstmitleid hinreißen lassen, nur weil ihr jüngster Sohn ein Jahr im Ausland verbringt.

Ich war zuversichtlich losgestapft, bereit, meine Sorgen zu entsorgen.

Und dann der Schlag ins Gesicht. Der Altpapiercontainer: Voll! Übervoll. Mein armer Freund hatte ausgesehen, als würde er sich übergeben. Sperrige Pappen hatten aus seinem weit aufgerissenen Maul geragt, und aus dem Schlitz auf seiner anderen Seite war das Papier bis auf die Straße gequollen.

Ich war sprachlos gewesen. Wenn man sich einmal durchgerungen hat, etwas loszulassen, dann gibt es ja quasi nichts Schlimmeres, als dass man es dann nicht loswird! Sollte ich meinen ganzen Seelenmüll etwa wieder mit nach Hause schleppen? In dieses verwaiste Haus, in dem mich keine mütterlichen Pflichten mehr von den unbequemen Fragen ablenkten, auf die ich keine Antwort weiß?

Loslassen?

Vielleicht muss ich viel mehr aussortieren als ein paar Playmobilfiguren und eine Kiste Altpapier.

17.09 Uhr

Ich bemerke entsetzt, wie mir die Tränen aus den Augen quellen und sich jenes brachiale Schluchzen in mir bereit macht, das ich seit Beginn des Tages unterdrücke. Am liebsten hätte ich meinen Sohn angefleht, zu bleiben und mich nicht mit meinem alternden Leben alleine zu lassen. Und mit seinem alternden Vater und einer ebenso alternden Beziehung, von der ich nicht weiß, ob sie ohne die gemeinsamen Kinder noch genug Gemeinsamkeiten hat.

Aber ich war tapfer geblieben, hatte mich pädagogisch einwandfrei verhalten und John mit einem ermutigenden Lächeln in die Welt hinausgeschickt, während meine zusammengebrochen war.

Ich taste nach irgendetwas, was meine Tränenflut noch aufhalten kann, und finde eine fünf Jahre alte Mathearbeit von meinem Sohn Henry in dem Papierhaufen zu meinen Füßen. Eine Vier minus. Diesbezüglich kommen beide Jungs ganz nach mir. Alles, was besser war als eine Fünf, galt in Mathe schon während meiner eigenen Schulzeit als Höchstleistung.

Nur meine Tochter Emma hatte stets einen beunruhigenden Hang zu logischem Denken. Sie ist einundzwanzig und studiert in Aachen Architektur mit einem mir völlig fremden Ehrgeiz und irritierender Zielstrebigkeit. Henry hatte sich nach der Schule ein Jahr lang durch die Welt treiben lassen und sich sehr gut vorstellen können, niemals einem geregelten Beruf nachzugehen. Dann hatte er aber, zeitgleich mit Emmas Studienbeginn, mit neunzehn eine Ausbildung zum Physiotherapeuten in Karlsruhe begonnen – so dass innerhalb von neun Monaten alle meine Kinder ausgeflogen waren.

Und sosehr ich mir in der Theorie gewünscht habe, dass sie zu selbstständigen Menschen heranreifen, so wenig komme ich in der Praxis damit zurecht, keinen Pastinakenbrei mehr kochen und keine Wadenwickel mehr machen zu müssen. Mein Leben verlief nach dem Stundenplan meiner Kinder, mein Jahr war in Schulferien gegliedert.

Und nun? Mein Erziehungsauftrag ist erfüllt.

Was soll mich jetzt erfüllen?

Die Tränen beginnen zu fließen, und ich krame weiter im Müll. Irgendwo wird sich doch wohl ein nicht allzu gebrauchtes Taschentuch finden lassen. Ich erinnere mich an die Zeit, als ich noch nützlich und für den Schnodder meiner Kinder zuständig war. Das macht es auch nicht besser. Alles trieft. Ich glaube, jetzt weint auch meine Nase. Unter Henrys Klausur kommt ein leicht vergilbtes, fleckiges Buch voller handbeschriebener Seiten zum Vorschein. Ich stutze und vergesse kurz, weiterzuweinen.

Das ist meine Schrift. Zumindest erinnert sie daran. Ich brauche ein paar Sekunden, um zu begreifen, was ich da vor mir habe. Ich hatte keine Ahnung, dass dieser Text und die Fotos überlebt haben. Ich habe aus guten Gründen nie danach gesucht.

Ich blättere durch die Seiten und weiß schlagartig wieder, wer ich damals war, wie ich fühlte, dachte und liebte. Cora Hübsch. Dreißig Jahre alt, Fotografin, Single und gerade dem Mann begegnet, der der Mann ihres Lebens werden würde: Daniel.

Eine Liebe fürs Leben. Mein Tagebuch. Schicksal im Altpapier.

Den ersten Satz dieses Zeitdokuments, das in der Keller-Kommode ein Vierteljahrhundert lang auf den Tag seiner Wiederentdeckung gewartet hat, schrieb ich vor fast fünfundzwanzig Jahren um 17 Uhr 12. Ein warmer, sommerlicher Spätnachmittag, so wie jetzt:

Der Fuß ist eine weitgehend unerschlossene weibliche Problemzone.

Ich lächele meinem früheren Ich milde zu, wie eine Mutter einer geliebten Tochter mit tausend Flausen im Kopf. Ich betrachte das Foto auf der ersten Seite. Unscharf und vergilbt. Meine rosigen Füße ragen aus dem Schaum der Badewanne heraus, die Nägel ungeschickt dunkelrot lackiert. Ich war froh, als ich Jahre später die Fußpflege outsourcen und mir eine regelmäßige Pediküre mit Hornhautentfernung und Lack leisten konnte.

Von meiner besten Freundin Johanna hatte ich zum Dreißigsten eine Polaroid-Kamera bekommen und damit einige Monate lang eifrig mein Leben dokumentiert. Meine Füße waren mir damals noch wie eine massive Verunstaltung meines Körpers vorgekommen. Ebenso wie mein unkalkulierbares Kopfhaar und die ersten, kaum sichtbaren Fältchen unter den Augen, die ich für dramatische Vertiefungen hielt und die mich an eine topographische Landkarte erinnerten.

Wie schade, damals wusste ich nicht, dass ich keine echten Probleme hatte. Zumindest nicht im Vergleich zu jenen, die ich noch bekommen sollte. Wie bedauerlich, dass ich meine Haut, meine Gelenke, meine Energie, meine Leidenschaft und meine echte Haarfarbe nicht zu schätzen wusste.

Man sagt ja immer, die Jugend sei unbeschwert. Das ist natürlich völliger Quatsch. Die erste Hälfte unseres Lebens könnte sorglos sein, wenn wir sie mit der zweiten Hälfte vergleichen könnten. Aber du weißt erst, was es bedeutet, einen elastischen Hüftbeuger zu haben, wenn du dir morgens nicht mehr schmerzfrei die Schuhe zubinden kannst.

Du freust dich als leidlich junger Mensch nicht jeden Abend darüber, dass du gut einschläfst, und du dankst nicht dem gnädigen Schicksal, wenn du morgens aufwachst, durchgeschlafen hast und dir nichts wehtut. Warum auch? Du kannst nicht dankbar sein für etwas, was dir erst viel später genommen wird. Und dann tust du gut daran zu lernen, dankbar zu sein für das, was dir noch geblieben ist.

Meine Füße. Gestern und heute. Ich werfe einen kurzen Blick auf meine Zehen, die schief aus meinen Sandalen hervorlugen und immer noch so aussehen, als hätten sie sich nur aus Versehen dort getroffen und würden nicht besonders gut miteinander auskommen. Sie sind mittlerweile wirklich mein geringstes Problem.

Ich schaue auf mein Handy.

Es ist 17 Uhr 12. Eine Einladung des Zufalls, die ich nicht ausschlagen kann. Ich beginne zu lesen.

17.12 Uhr

Der Fuß ist eine weitgehend unerschlossene weibliche Problemzone. Das ist ein grandioser Satz. Ein Satz wie in Stein gemeißelt. Der Fuß ist eine weitgehend unerschlossene weibliche Problemzone. So könnte ein Artikel in einer Frauenzeitschrift anfangen. Oder in «Psychologie Heute». Oder so.

Ich heiße Cora Hübsch, ich bin dreißigdreiviertel Jahre alt und gehöre zu der Mehrheit von Frauen, die auch in fortschreitendem Alter noch kein freundschaftliches Verhältnis zu ihren Füßen aufgebaut hat. Meine Zehen sind krumm wie die Zähne im Mund eines Schuljungen, der sich beharrlich weigert, eine Zahnspange zu tragen. In meiner Bauch-Beine-Po-Gruppe ist eine, deren Zehen sind so kurz, als seien sie ihr in jungen Jahren von einer scharfkantigen Glasplatte guillotiniert worden. Und meine Freundin Johanna hat Füße wie andere Leute Oberschenkel, und in ihren Pumps hätten sich noch einige Zweite-Klasse-Passagiere von der Titanic retten können.

Ich versuche, mich abzulenken. Betrachte angestrengt den Haufen Zehen an meinem Körperende, um nicht über Schlimmeres nachdenken zu müssen.

Darüber zum Beispiel, daß heute Samstag ist. Schlimmer noch, es ist schon fast Samstagabend. Wann beginnt eigentlich der Abend? Gesetzt den Fall, jemand sagt: «Ich rufe dich Samstagabend an.» Was genau meint er dann damit? Heißt das: «Ich rufe dich um 18 Uhr an, um dich zu fragen, ob ich dich um 20 Uhr 30 abholen und zum teuersten Italiener der Stadt ausführen darf»?

Oder heißt das: «Ich klingle gegen 23 Uhr mal durch, um anzutesten, ob du eine vereinsamte Frau bist, die am Samstagabend nichts Besseres vorhat, als auf den Anruf eines smarten Typen, wie ich es bin, zu warten, der sich einmal aus Langeweile dazu hat hinreißen lassen, mit dir ins Bett zu gehen»?

Der Fuß ist eine weitgehend unerschlossene weibliche Problemzone.

Nein, es hilft nichts. Die krummen Gesellen da unten können nicht länger für meine Minderwertigkeitskomplexe geradestehen. Ich heiße Cora Hübsch, bin dreißigdreiviertel und gehöre zu der Mehrheit von Frauen, die sich auch in fortschreitendem Alter hauptsächlich mit einer Problemzone rumschlägt.

Freundinnen, laßt es uns so sagen, wie es ist: Die aller-aller-allerschlimmste weibliche Problemzone heißt: Mann.

 

Ich beneide mein jüngeres Ich um diese vergleichsweise überschaubaren Problemzonen. Was sind schon Füße, was sind schon Männer? Die Vorstellung, dass mein Lebensglück von einer Person mit Y-Chromosom abhängt, habe ich längst als überholt zu den Akten gelegt. Wir haben doch nicht umsonst alle den Bestseller Liebe dich selbst und es ist egal, wen du heiratest gelesen. Selbstliebe lautet das Gebot der Stunde. Meine Zehen bereiten mir schon lange wesentlich weniger schlaflose Nächte als meine Psyche, und die Tatsache, dass mir immer noch nicht egal ist, mit wem ich verheiratet bin, deutet drauf hin, dass bei mir in Sachen Selbstliebe noch sehr viel Aufholbedarf besteht. Mittlerweile haben sich meine Lebensbaustellen vom Außen ins Innen verlagert. Freundinnen, lasst es uns so sagen, wie es ist: Die aller-aller-allerschlimmste weibliche Problemzone bist du selbst.

 

Ich heiße Cora Hübsch, bin dreißigdreiviertel …

 

Ich betrachte das Heft und blättere durch die Seiten. Meine Handschrift hat sich ein wenig verändert, sie ist nachlässiger geworden, müder und gleichzeitig unverkrampfter. Wie ich. Früher war es mir wichtig, dass meine Schrift exzentrisch und individuell aussieht, heute schreibe ich zweckdienlich. Dasselbe gilt übrigens für meine Kleidung. Die diversen Stilettos, in die ich vor einem Vierteljahrhundert noch nächtelang meine schmerzenden Füße quetschte, habe ich bereits vor Jahren entsorgt. Sie haben mir damals das kurze Gefühl von Eleganz und Überlegenheit, auf lange Sicht ein paar dauerhafte Druckstellen und eine chronisch verkürzte Wadenmuskulatur eingebracht.

Wenn ich ehrlich bin, handelt es sich bei vielen meiner Altersbeschwerden um die Spätfolgen meiner Jugendsünden. Ich habe Kette geraucht, um lässig zu sein, in hauchdünnen Tops gefroren, um sexy zu sein, Haschkekse gegessen, um cool zu wirken, und getrunken, um locker zu werden. Innerlich war ich nie lässig, sexy, cool oder locker und hätte am liebsten immer Unterhemden und Rollkragenpullis getragen.

 

Gute Güte! Warum ruft der denn nicht an? Warum gibt es Dinge im Leben einer Frau, die sich niemals ändern? Die Frage, ob man nach einmal Sex bereits Anspruch auf eine Samstagabendverabredung hat, wurde bisher nicht hinreichend geklärt.

 

Ich muss lächeln, als ich mir die wütende, verzweifelte Cora Hübsch von damals vorstelle. Auf der Suche nach der Liebe. Und dabei oft so rührend verblendet. Ich dachte ein paar Mal, ich hätte den Richtigen gefunden, nicht weil ich ihn tatsächlich gefunden, sondern weil ich mir gewünscht hatte, ihn zu finden. Wir sehen, was wir suchen, manchmal ohne Rücksicht auf die Tatsachen. Ich war bemüht, Typen zu gefallen, denen ich heute nicht mal mehr meine Telefonnummer geben würde.

Richard B. zum Beispiel, an den ich mit siebzehn nur allzu gern meine Unschuld verloren hätte und dem ich sie auch mehrfach aufdringlich angedient hatte, sitzt mittlerweile für die AfD im thüringischen Landtag. Und ich habe aus sicherer Quelle gehört, dass sich Martin A., der mich, allerdings unzulänglich, in die Grundzüge des Pettings einwies, wegen Steuerhinterziehung und Unterhaltsbetrug verantworten muss.

 

Mein Tagebuch. Dieser unerwartete Gruß aus einer Zeit, von der ich heute weiß, dass sie ein Countdown war, reißt mir ein Loch in meine ohnehin gerade bröckelige Fassade. Die Fotos. Meine Unbekümmertheit, die sich dennoch wie Kummer anfühlte, meine Leichtigkeit, die mir dennoch schwer vorkam.

Ich sehe ein Foto von mir auf der Alibert-Waage. Wieder sind nur meine Füße zu erkennen. Hier zeigt sich eine tatsächlich auffällige Problemzonenfixierung. Der Zeiger der Waage steht auf fünfundsechzig Kilo. Damals spielten die Zahlen hinter dem Komma noch keine tragende Rolle, während einem heute ja schon mal zweihundert Gramm die Laune verhageln und das digital errechnete Wochendurchschnittsgewicht ruinieren können. Über dem Polaroid steht der von mir in tiefster Verzweiflung hingekritzelte Satz:

 

Weiß jetzt, warum er nicht anruft. Bin zu dick. Bin sehr unglücklich.

 

Fünfundsechzig Kilo. Wenn ich heute fünfundsechzig Kilo wöge, würde sich mein Umfeld fragen, ob ich womöglich nicht mehr lange zu leben hätte.

Fünfundsechzig Kilo. Ich war gertenschlank und hielt mich für zu dick. Ich war jung und hielt mich für zu alt. Ich war klug und hielt mich für zu blöd. Ich dachte, alles sei vorbei, dabei fing doch alles erst an. Ich hatte keine Probleme und nahm sie trotzdem viel zu ernst.

Wieder jung sein. Zurückblättern im Buch des Lebens bis zu der Stelle, wo vielleicht alles hätte anders werden können. Letztlich fehlen immer nur wenige Sekunden zum Glück.

 

Meine Tränen tropfen mittlerweile unkontrolliert auf das Papier in meinem Schoß und vergrößern dort die uralten Wasserflecken. Ich weiß noch genau, dass ich damals in der Badewanne über das Leben, die Liebe und meine krummen Zehen philosophiert und anschließend spontan und mit noch nassen Fingern ein paar Sätze in das Buch geschrieben und das Wannen-Fuß-Foto eingeklebt hatte.

Das Tagebuch hatte mir meine Freundin Johanna ebenfalls zum Dreißigsten geschenkt, weil sie der Meinung gewesen war, wenn wir uns später einmal gemeinsam an unser Leben erinnern wollten, müsste sich eine von uns die Mühe machen, diese Erinnerungen in Bild und Text festzuhalten. Und diese eine sei selbstverständlich ich. Ich sei die Kreativere von uns beiden.

In Wahrheit meinte sie damit, dass sie nicht mal ansatzweise die Zeit dafür hatte, ihr Leben zu leben und parallel auch noch zu dokumentieren. Was sie auf Nachfrage auch bereitwillig zugab. «Du hast das Talent zu Muße und Kontemplation», hatte sie gesagt.

«Du meinst, ich bin faul?», hatte ich gefragt.

«Du schaffst dir Oasen des bewussten Nichtstuns.»

«Sag ich doch, du hältst mich für faul.»

«Du teilst dir deine Lebensenergie sinnvoll ein. Faultiere werden sehr alt.»

«Aber wenn ich sehr alt werde und du nicht, mit wem soll ich dann in diesem Tagebuch blättern und mich zurückerinnern?»

Sie hatte gelacht. Laut, wie es ihre Art war.

Und ich hatte ein paar Monate später den ersten Satz in dieses Buch geschrieben, und dann hatte ich irgendwie nicht mehr aufgehört und in den nächsten Tagen den Beginn dieser Liebesgeschichte akribisch notiert und dokumentiert und mir meine Zweifel, meinen Ärger und meine alters- und geschlechtsspezifischen Minderwertigkeitskomplexe von der Seele geschrieben.

Mein Tagebuch.

MONDSCHEINTARIF hatte ich quer und in dicken Lettern vorne draufgeschrieben. Mir gefiel das Wort. Es klang romantisch und rational zugleich, es klang nach Liebe und Realität. Mondscheintarif.

Es war der Beginn einer Liebesgeschichte, die alles verändern sollte. Geschrieben, während ich auf einen Anruf wartete. Seinen Anruf. Ich hoffte auf ein Happy End. Ich zweifelte, verzweifelte, lachte, weinte, schimpfte, hörte laut Donna Summer und Alphaville und Kurtis Blow, telefonierte mit Johanna, schrieb, rauchte, schrieb, trank Wein, schrieb und aß Nutella direkt aus dem Glas, woran ein Polaroid und ein großer dunkler Fleck gleich unter dem Eintrag von 17 Uhr 22 erinnern.

Der Löffel, das fällt mir jetzt wieder ein, war mir aus der Hand gerutscht, weil das Telefon geklingelt und ich fahrig nach dem Hörer gegriffen hatte. Es war nicht Daniel gewesen, sondern Johanna, die sich bereit erklärt hatte vorbeizukommen, um mich davon abzuhalten, weiter beschwörend den Apparat anzustarren.

Meine Gedanken stolpern über die Erinnerung an Johanna, als hätte ich in der Dunkelheit einen Stacheldraht übersehen. Nicht jetzt. Das ist zu viel. Tut zu weh. Ich rappele mich hoch und eile in die entgegengesetzte Richtung meines Bewusstseins davon, in harmlosere Gefilde.

Festnetz. Ein anrührendes Wort. Wie Kassettenrekorder, MTV, Langspielplatte, Walkman, Raider und Clearasil. Meine Liebesgeschichte begann im letzten Jahrtausend, als es noch Groschen gab und man in Restaurants rauchen durfte. Wir Frauen aus der Hustinetten-Bär- und HB-Männchen-Generation dachten, wir müssten uns in Herzensangelegenheiten an Konventionen und Benimmregeln halten. Ich schrieb damals und meinte es ernst:

Wenn ich ihn jetzt anrufe, wird er glauben, ich hätte Interesse an ihm. Weiß doch jedes Kind, daß man damit jeden Mann vergrault. So was verschreckt sie. Dann ziehen sie sich sofort in ihr Schneckenhäuschen zurück und sind nur durch lang andauernde Mißachtung und Mißhandlung wieder hervorzulocken.

Ich blättere zum letzten Eintrag. Zum Happy End.

Eine Minute nach Mitternacht schrieb ich:

Vorläufiges Ende.

Ich hatte keine Ahnung, dass ich damals an der Schwelle zum «Danach wird nichts mehr so sein, wie es einmal war» stand. Es war das Ende einer Zeit, die für immer «die Zeit davor» sein würde. Wenn ich in Zukunft auf mein Leben zurückblickte, würde ich vor diesem «vorläufigen Ende» und dem, was kurz darauf geschah, immer die Augen verschließen. Mondscheintarif.

Damals hatte das größte Glück meines Lebens begonnen. Und das größte Unglück.

Das Glück hat nicht gehalten. Das Unglück schon. Es hallt bis heute in mir nach, ein dunkler Ton. Tinnitus des Herzens. Ich kann mir die Ohren zuhalten, laut singen oder weinen. Den Klang des Grauens höre ich immer. Er verfolgt mich, ist ein Teil von mir wie ein chronischer Schmerz. Nicht unerträglich, aber eine ständige entzündliche Erinnerung.

Ich hatte das Tagebuch nicht umsonst so gut vor mir selbst versteckt.

Meiner Kehle entschlüpft dieser markerschütternde gutturale Laut, der während der Konfirmation von Henry die Pastorin zum Schweigen gebracht und die versammelte Gemeinde in Aufruhr versetzt hatte. Ich klinge wie ein sterbendes Tier. Wenn ich weine, dann mache ich keine Gefangenen.

Gerade, als ich alle Widerstände aufgeben und mich dem Tränen-Tsunami überlassen will, klatscht mir etwas widerlich Warmes ins Gesicht. Ein Heulen schneidet mir durchs Hirn wie der Warnton aus einem Katastrophenfilm, kurz bevor ein Meteor einschlägt, der sämtliches Leben auf der Erde vernichten wird. Ich reiße die Augen auf und blicke in den schwarzen Schlund des Schreckens.

17.24 Uhr

«Meine Güte, haben Sie uns erschreckt!»

Der Schlund mitsamt lappenartiger Zunge und bedrohlich gesund aussehenden Zähnen entfernt sich von meinem Gesicht. Ich blicke in die traurigen Augen eines großen Hundes mit tiefen Stirnfalten, dahinter eine aufgebrachte Frau. Das Tier jault herzzerreißend, die Frau sagt:

«Was machen Sie hier? Dagmar, sitz!» Der Hund setzt sich direkt vor mich und blickt mich unverwandt an. Jetzt schweigt er, aber er wirkt bekümmert.

«Ihr Hund hat mich angegriffen», sage ich vorwurfsvoll.

«Quatsch. Das alte Mädchen greift niemanden an. Sie ist eine Seele von einem Hund und hat selbst viel zu viel Angst. Dagmar geht jeder Auseinandersetzung aus dem Weg. Haben Sie geweint?»

«Das geht Sie nun wirklich nichts an.»

«Ich frage nur, weil Dagmar es nicht erträgt, wenn jemand weint. Sie dreht dann durch vor lauter Mitleid. Der arme Hund hat wahrscheinlich bloß versucht, Sie zu trösten.»

«Besten Dank.» Ich versuche, meine Augen notdürftig hinter meinen Haaren zu verbergen, und blinzele auf den Boden. Ich habe eine ziemlich genaue und sehr unschöne Vorstellung davon, wie ich im Moment aussehe, mit einer Mischung aus Wimperntusche, Tränen und Hundesabber im Gesicht und den acht Kilo zu viel am Körper, die ich, zusammen mit dem Vorsatz, sie loszuwerden, seit Jahren mit mir rumschleppe. Und ich weiß nicht, was mich mehr runterzieht, mein Gewicht oder mein schlechtes Gewissen. Fünfundsechzig Kilo habe ich mit dreißig gewogen, dass ich nicht lache. Heute wäre die Siebzig eine Zahl, mit der ich sehr gut leben könnte.

Ich habe mir allerdings vorgenommen, nicht mehr über mein Gewicht zu sprechen und nur noch unter strenger Selbstzensur darüber nachzudenken. Ich glaube, es zählt mittlerweile offiziell als Bodyshaming, wenn man sich für zu dick hält und das auch noch laut ausspricht. Als ich mal in einer Runde von Frauen sagte, dass ich aktuell zu viel wiege und deswegen das Tablett mit dem Flying-Nachtisch vorbeifliegen lasse, fragte mich eine von ihnen überlaut und kampflustig: «Wenn Sie sich zu dick finden, was denken Sie denn dann über meinen Körper?»

Tatsächlich war die Dame äußerst üppig und trug, meiner bescheidenen Ansicht nach, ein Kleid, das ihr drei Nummern zu klein war. Das sagte ich natürlich nicht, sondern murmelte beschwichtigend, dass ich an meinen eigenen Körper viel strengere Maßstäbe anlegte und die Beurteilung meines Gewichts ja im Übrigen auch eigentlich meine Privatangelegenheit sei.

Da war aber was los! Jeder Körper sei politisch, wurde ich kreischend belehrt, und jede Abwertung des eigenen, insbesondere des eigenen weiblichen Körpers sei ein frauenfeindlicher Akt, der einem ganzen Geschlecht eine krankhafte Körpernorm aufoktroyiere. Die Würde des Menschen sei unantastbar – auch die eigene, daran solle ich mich gefälligst beim nächsten Mal erinnern, bevor ich einen Frauenkörper der öffentlichen Schande preisgäbe. Sie selbst habe kein Problem mit ihrem Gewicht und lasse sich von einer abgemagerten, genormten Hausfrau wie mir auch keines einreden.

Sie griff demonstrativ nach dem Dessert-Tablett, nahm sich zwei Schokoküchlein mit pittoresker Marshmallow-Deko und streckte mir eins davon provokativ entgegen. «Essen Sie das!»

Es war wie in High Noon. Bloß mit Patisserie statt mit Pistolen. Die Umstehenden hielten den Atem an und ich auch. Was sollte ich tun? Das Wort «abgemagert» hatte mich ebenso verblüfft wie die Bezeichnung «genormte Hausfrau». Ich liege zehn Kilo über dem Gewicht, das die Weltgesundheitsorganisation für ideal hält. Ich bin Hausfrau und Mutter, seit über dreißig Jahren berufstätig, und ich war noch nie mager. Ich lasse mir von niemandem sagen, ich sei schlank.

Ich mag es nicht, wenn man meinen Körper kommentiert. Selbst Komplimente für meine Figur, was selten genug vorkommt, sind mir unangenehm. Denn der Satz «Wow, du hast ja tierisch abgenommen!» beinhaltet den nicht mitgesprochenen Satz «Ich wollte ja nichts sagen, aber letztes Mal hattest du wirklich ein paar Pfunde zu viel drauf». Ich würde mir wünschen, dass mein Körperumfang überhaupt nicht von anderen bewertet wird und sich Komplimente auf meine trendy Frisur, meine überwältigende Ausstrahlung und meinen überragenden Intellekt beschränken. Was ebenfalls in zu vernachlässigender Seltenheit vorkommt.

Das einzige Kompliment, das ich in den letzten Jahren immer wieder gehört habe und das jede Frau an den Rand eines hysterischen Anfalls bringt, lautet: «Super, wie du das wieder alles organisiert hast.»

Eine Bekannte von mir hat an dem Tag die Scheidung eingereicht, als ihr Ehemann bei einem dieser gemeingefährlichen Gesellschaftsspiele, bei denen man ehrlich antworten muss, auf die Frage «Was lieben Sie an Ihrer Partnerin am meisten?» antwortete: «Dass sie immer alles so perfekt geregelt kriegt.»

Die Dame, die mir nicht erlauben wollte, mich zu dick zu finden, stand immer noch mit gezücktem Schokokuchen vor mir. Ehe ich mich aufregte, erinnerte ich mich zum Glück rechtzeitig an die Möglichkeit, mich einfach mal nicht aufzuregen. Eine schöne Reaktions-Alternative, die ich mit zunehmendem Alter immer häufiger anwende.

Sowieso hat sich mein Repertoire an Verhaltensweisen in den letzten Jahren erweitert, und ich mache manchmal so super Erwachsenen-Sachen wie «Etwas einfach mal so stehenlassen» oder «Noch mal drüber schlafen» oder «Nicht aus jeder Mücke einen Elefanten machen» oder «Nein meinen und Nein sagen».

Ich ignorierte also die Nachspeise vor meiner Nase und sagte, um sachliche Freundlichkeit bemüht: «Nein danke. Ich liebe meinen Körper, und deswegen möchte ich ihm sein Leben leichter machen.» Ich ließ Dame und Dessert stehen und beschloss, meinen Body in Zukunft nur noch privat und im Kreise verständnisvoller Freundinnen abzuwerten.

17.25 Uhr

«Bist du das, Cora?»

Ich schaue auf. Im abendlichen Dämmerlicht kommt mir die Frau, die hinter dem gigantischen Hund hervorlugt, zwar bekannt vor, aber ich kann sie gerade nicht einordnen. Als Fotografin habe ich so viele Gesichter vor der Kamera – auf Hochzeiten und Partys, bei Dreharbeiten und Theaterproduktionen –, dass mir mittlerweile fast alle Menschen irgendwie bekannt vorkommen.

«Ich bin Wanda. Du hast letztes Jahr bei uns am Set fotografiert. Skandal auf Sylt. Erinnerst du dich?»

Aber natürlich! Wanda Tomuschat. Großartige Schauspielerin. Klein, stämmig, bärbeißig und herzlich, mit einer einprägsamen rauen Stimme. Sie hat lange ausschließlich Theater gespielt und dann in der ZDF-Reihe Hauptkommissar Hansen die Rolle der wortkargen Gerichtsmedizinerin Anne Alander übernommen.

Ich war im vergangenen Sommer ein paar Tage auf Sylt am Set gewesen, um für den Sender und die Programmzeitschriften Fotos von den Dreharbeiten und den Darstellern zu machen.

Ursprünglich hatte es nur ein kurzer Nachdreh sein sollen, aber der Hauptdarsteller Karl Westphal war überraschend mit einer gebrochenen Nase am Set aufgetaucht. Und während die Drehbuchschreiber hektisch versuchten, über Nacht die Handlung umzustricken, um den Gips im Gesicht des Kommissars zu erklären, war am nächsten Morgen eine Bombe geplatzt.

Die Bunte berichtete unter der Schlagzeile «Der Kommissar geht um» über diverse Vorwürfe gegen Westphal. Er habe mehrfach Affären mit Kolleginnen gehabt, ihnen größere Rollen und gerne auch mal die Ehe versprochen und behauptet, er sei längst geschieden.

Eine der anonym zitierten Frauen erzählte, er habe ihr sogar eine offizielle Scheidungsurkunde gezeigt. Außerdem berichteten etliche Kollegen und Kolleginnen von Westphals unangenehmen Starallüren, von übler Nachrede gegenüber der Neubesetzung Wanda Tomuschat, die er unter Zeugen eine «asoziale Quotenlesbe» genannt haben soll, darüber hinaus von ständigen absurden Sonderwünschen und Anfällen von Jähzorn am Set.

«Skandal auf Sylt!», hatte die Bild-Zeitung schon Stunden später in ihrer Online-Ausgabe getitelt, und das sonst eher behäbige ZDF hatte sich von Karl Westphal alias Hauptkommissar Hansen distanziert und ihn blitzschnell aus der Serie rausschreiben lassen.

Das Finale war furios, und meine Fotos waren die letzten offiziellen Bilder von Karl Westphal, denn gleich nach der Schlussszene war er untergetaucht.

«Natürlich! Wanda, was für eine Überraschung!» Ich rappele mich hoch, und wir umarmen uns herzlich.

«Wie geht es dir, Cora? Du siehst total scheiße aus!»

Ich erinnere mich daran, dass Wanda eine Freundin klarer Worte ist und gern all die Ausdrücke benutzt, die ich meinen Kindern verboten habe. Die wenigen gemeinsamen Tage auf Sylt waren denkwürdig und hatten uns zusammengeschweißt.

«Mir geht’s auch echt mies. Mein jüngster Sohn ist auf dem Weg nach England, wo er ein Jahr bleiben wird. Und außerdem ist der Altpapiercontainer voll. Das hat mir den Rest gegeben. Ach ja, und natürlich Wechseljahre.»

«Scheiße! Das verstehe ich. Mein Sohn war für sechs Monate in Neuseeland. Ich weiß genau, was du durchmachst. Nimmst du denn keine Hormone? Das mit dem Container ist echt hart. Ich schleppe diese verdammte Kiste doch nicht umsonst durch den halben Park!»

«Oben am Pumpwerk sind noch mehr Container. Wollen wir es da versuchen?»

«Wie ätzend. Da muss ich ja den ganzen Weg, den ich gekommen bin, wieder zurücklaufen. Na gut. Ist das dein Zeug?» Wanda deutet auf den umgekippten Karton. «Ich helf dir kurz.»

Wir sammeln das Papier ein und machen uns, beide schwer beladen, auf den Weg. Es ist fast dunkel, und wie immer habe ich das Gefühl, in eine Welt der wohligen Wehmut und der glücklichen Erinnerungen einzutauchen, als wir durch das Eisentor in den Jenischpark treten.

Ich liebe diese Mischung aus Biologie und Technologie, aus Ruhe und Lärm, aus Besinnung und Fortschritt. Uralte Bäume und weite Rasenflächen. Im Hintergrund die Elbe und der Hamburger Hafen mit seinen ewigen Lichtern und den metallenen Geräuschen, die daran erinnern, dass dort immer gearbeitet wird. Es hat mich schon immer beruhigt zu wissen, dass irgendwo in der Nähe noch jemand wach ist.

Hier, auf diesem Weg, haben meine Kinder das Laufen und Fahrradfahren gelernt, auf diesen Wiesen haben wir Picknicks gemacht und Drachen steigen lassen. Von der Rotbuche ist Emma mit sechs heruntergefallen und hat sich den Arm gebrochen. Die Krankenschwester in der Notaufnahme in Altona hatte uns heiter mit dem Satz begrüßt: «Willkommen in der Kammer des Schreckens!» Das hatte Emma jegliche Angst genommen. Selbst an solche Unglücke erinnere ich mich nun mit einem Lächeln.

Dagmar, die Dogge, verschwindet in dem Unterholz, wo ich früher immer meine Weihnachtsbäume beerdigt habe. Oft habe ich es erst im Sommer geschafft, die nadellosen, aber noch lamettabehangenen Gerippe im Schutz der Dunkelheit zu entsorgen.

Mittlerweile bin ich zu einer Frau geworden, die den Weihnachtsbaum, akkurat entschmückt und pünktlich am von der Stadtreinigung bekanntgegebenen Termin, zur Abholung am Straßenrand bereitstellt. Ich bin eine Frau, die ihr Altpapier nicht nur sammelt und wegbringt, sondern Kartons sogar zusammenfaltet, damit sie im Container keinen unnötigen Platz verbrauchen. Ich bin anständig und ordentlich und vernünftig. Eine Richtigmacherin.

Ich wohne schon ewig in dieser Gegend. Mit fünfundzwanzig bin ich in eine kleine Wohnung westlich des Parks gezogen, und nicht lange nach unserer Hochzeit haben wir eine Doppelhaushälfte östlich des Parks im Albertiweg gefunden. Ich gehe also seit dreißig Jahren auf diesen Wegen spazieren, und jeder Baum erzählt mir eine Geschichte, meine Geschichte.

«Was machst du in Hamburg?», frage ich Wanda. «Lebst du nicht an der Ostsee?»

«Ich besuche Freunde, die hier gleich um die Ecke wohnen. Zwei Schwestern. Die eine ist die ehemalige Frau von Karl Westphal, du weißt, der Arschloch-Ermittler aus Hauptkommissar Hansen?»

«Oh Gott, die Arme! Ich habe gelesen, dass sie schwere Depressionen hat. Kein Wunder, wenn man mit so einem Typen verheiratet ist. Ich konnte ihn von Anfang an nicht leiden. Selbstgefälliger Zyniker mit unkontrolliertem Geltungsdrang. Wie geht es ihr?»

«Bestens! Sie ist seit einem Monat glücklich geschieden. Und Depressionen hat sie auch keine. Ganz im Gegenteil. Sie ist froh, dass sie den Wichser endlich los ist.» Ich zucke bei dem Wort innerlich zusammen, finde aber, dass die Bezeichnung in diesem Fall treffend und angebracht ist.

«Dagmar! Hier!», brüllt Wanda plötzlich so laut und unvermittelt, dass mir beinahe zum zweiten Mal meine Altpapier-Kiste entgleitet. «Verdammt, sie hört nicht auf mich. Siehst du sie?»

«Zuletzt war sie da im Gebüsch.»

«Mist, ich wette, sie ist nach Hause gelaufen. Sie geht nicht besonders gern spazieren. Und im Dunkeln hat sie Angst.»

«Sie hat Angst? Vor was sollte so ein riesiger Hund denn Angst haben?» Erschaudernd denke ich an das Gebiss vor meinem Gesicht. Ein Happs, und ich hätte den Kopf verloren.

«Dagmar hat keine Ahnung, wie groß sie ist. Ich glaube, sie hält sich für einen Pekinesen. Sie ist total verschmust und legt sich am liebsten bei ihrem Frauchen auf den Schoß. Von der ist dann nicht mehr viel zu sehen.»

«Dagmar ist nicht dein Hund?»

«Nein, sie gehört Ruth, meiner Freundin. Das ist die Ex-Frau von Karl. Und der war natürlich fuchsteufelswild, als sie damals mit dem Riesenvieh ankam. Im Grunde hatte sich Ruth schon vor dem Skandal innerlich von Karl getrennt. Du legst dir keine Dogge zu, wenn dein Mann Angst vor Hunden hat. Macht es dir was aus, wenn wir kurz nachschauen, ob Dagmar nach Hause gelaufen ist? Es ist gleich um die Ecke.»

«Hoffentlich ist ihr nichts passiert.»

«Keine Sorge. Dagmar hat auch Angst vor Autos, Fahrradfahrern, Springbrunnen, Statuen und Menschen mit Schirmen oder großen Hüten. Sie macht einen Bogen um jede potentielle Gefahrenquelle. Ich wünschte, das könnte ich von meinem Sohn auch sagen.»

Ich seufze verständnisvoll und denke an letztes Silvester, als ich John nachmittags dabei erwischte, wie er das Schwarzpulver aus mehreren Knallern in einem Teeei zusammenmischen wollte. Die frei verkäufliche Ware sei Kinderkram, hatte er behauptet, und ich hoffte einmal mehr, dass die Bundesregierung endlich ein generelles Böllerverbot aussprechen würde. Zum Schutz des Klimas und zum Schutz meines Sohnes. Der anschließende Jahreswechsel ging in angespannter Atmosphäre vonstatten.

17.50 Uhr

Wanda und ich bleiben vor einer alten weißen Villa stehen, an der ich früher oft bei meinen Spaziergängen vorbeigegangen bin und die ich schon immer bewundert habe. Haus Ohnsorg, benannt nach Richard Ohnsorg, dem Gründer des gleichnamigen Theaters. Das habe ich in irgendeinem Buch über den Jenischpark und seine umliegenden Straßen gelesen.

Das Gebäude wirkte immer heimelig, trotz seiner imposanten Größe, nicht einschüchternd, sondern einladend. Manchmal habe ich eine Frau in der Küche am Herd stehen sehen und mir vorgestellt, wie es drinnen nach Hausmannskost und Scheuermittel riecht. Hin und wieder saß ein älterer Herr im Vorgarten zwischen den großen, alten Kastanienbäumen auf einer Bank und grüßte mich freundlich.

Ich bin schon seit Jahren nicht mehr hier langgegangen, aber das Haus hat immer noch dieselbe Wirkung auf mich. Es löst Sehnsucht aus und Behagen und den Wunsch, hier Gast oder gar zu Hause sein zu dürfen. Es scheint mir so, als könne dort nichts Schlimmes geschehen und als gelte der alte Spruch meiner Oma Unter jedem Dach ein Ach jedenfalls nicht für dieses Dach. Ein Haus ohne Sorge. Im Giebelzimmer brennt eine kleine Lampe mit drei Schirmchen, vor der Haustür sitzt Dagmar und freut sich, uns zu sehen.

«Komm doch kurz mit rein. Der Hund bleibt hier, und wir stärken uns mit einem Schnaps für die zweite Etappe des Weges.»

«Ein Schnaps?» Ich muss lächeln und an den letzten Abend mit Wanda und dem Filmteam denken, der in einem kollektiven Rausch endete und dazu führte, dass ich die Mannschaft in ihrem Kleinbus von der Sansibar zum Hotel in Westerland fahren musste.

«Ach stimmt, scheiße, du trinkst ja kaum. Dann kriegst du eben einen Tee. Hast du Zeit?»

«Mehr als mir lieb ist.»

 

Das Haus ist von innen auf fast schmerzhafte Weise genau so, wie ich es mir vorgestellt habe. Es riecht nach Putzmittel, erloschenem Kaminfeuer und einem Ofengericht. Aus der herrschaftlich großen Diele führt eine weiße geschwungene Treppe in die oberen Geschosse. Der Holzboden knarzt unter unseren Schritten. In der geräumigen Küche steht eine blank gescheuerte Tafel, überall hängen Bilder und Fotos an der Wand, nicht nach den präzisen Messungen einer Inneneinrichterin angeordnet, sondern so, wie das Leben sie entstehen ließ.

«Setz dich», sagt Wanda, während sich Dagmar grunzend neben der Tür in einem Körbchen von der Größe eines Schlauchboots niederlässt. «Die anderen müssten jeden Moment zurück sein. Sie holen Ruths Brautkleid ab.»

«Sie ist seit einem Monat geschieden und heiratet schon wieder?»

«Mit Anfang fünfzig hat sie endlich ihre große Liebe gefunden. Wahnsinn, oder?» Wanda grinst.