Eine letzte Mail - Maximilian Dorner - E-Book

Eine letzte Mail E-Book

Maximilian Dorner

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Beschreibung

Im April 1999 lernt Juliane in Paris Leander kennen. Zweieinhalb Tage verbringen sie zusammen. 4320 Minuten. Zweieinhalb perfekte und unvorstellbar romantische Tage.

Wieder zurück in Deutschland, im beschaulichen Tübingen, in der Realität, schreibt Juliane ihm E-Mails. Sie will ihn unbedingt wiedersehen, ihn besser kennenlernen, mehr Zeit mit ihm verbringen. Auf ein Leben gesehen, sind zweieinhalb Tage einfach zu wenig. Doch nichts, keine Reaktion … Jahrelang. Und das obwohl sie ihm wieder und wieder ihr Herz ausschüttet. Ihre Mails werden zu einer Art Tagebuch.

Die Antwort folgt nach vierzehn Jahren. Leander ist inzwischen Diplomat, lebt in Istanbul und möchte Juliane wiedersehen. Doch möchte sie das auch noch? Nach all der Zeit?

Ein moderner Briefroman über die Lieben eines Lebens, über Verluste und die Lust des Neuanfangens.

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Seitenzahl: 302

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Zum Buch

Im April 1999 lernt Juliane in Paris Leander kennen. Zweieinhalb Tage verbringen sie zusammen. Zweieinhalb perfekte und unvorstellbar romantische Tage.

Wieder zurück in Deutschland, im beschaulichen Tübingen, in der Realität, schreibt Juliane ihm E-Mails. Sie will ihn unbedingt wiedersehen, ihn besser kennenlernen, mehr Zeit mit ihm verbringen. Auf ein Leben gesehen sind zweieinhalb Tage einfach zu wenig. Doch nichts, keine Reaktion … Jahrelang. Und das obwohl sie ihm wieder und wieder ihr Herz ausschüttet. Ihre Mails werden zu einer Art Tagebuch.

»Eine letzte Mail« ist ein moderner Briefroman über die Lieben eines Lebens.

Zum Autor

MAXIMILIAN DORNER wurde 1973 in München geboren, wo er auch lebt. Er studierte Dramaturgie an der Bayerischen Theaterakademie und ist seitdem als Autor, Regisseur und Performer tätig.

Maximilian Dorner

Eine letzte Mail

Roman

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Copyright © 2018 by btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Umschlaggestaltung: semper smile, München Covergestaltung: semper smile, München Covermotiv: ©plainpicture/cultura/Tim E White Satz: Uhl + Massopust, Aalen AH · Herstellung: sc ISBN 978-3-641-21337-4 V002
www.btb-verlag.dewww.facebook.com/btbverlag

Şah desen kul desen

Beyhudedir beyhude

Bu dünyanın işleri

Beyhudedir beyhude

Zengin olsan fakir olsan

Aşkın yeri bellidir

Sen sen ol seven ol

Başka alem yoktur

Nenn mich Kaiser nenn mich Diener

Alles ist nichts alles nichtig

Alles auf der Welt

Ist nichts ist nichtig

Ob du reich bist oder arm

Die Liebe bleibt sich gleich

Sei du selbst liebend und geliebt

Nichts andres zählt auf dieser Welt

Mehmet Teoman

1999

Von: Juliane Bauer <[email protected]>

Betreff: zweieinhalb Tage Paris

Datum: 26. April 1999 12:21:01 MESZ

An: Lysander <[email protected]>

Lieber Leander,

vor meinem Fenster blüht ein Kirschbaum, genau wie vor deinem winzigen Apartment im Marais. Allerdings ist er nur halb so groß, denn Tübingen ist auch nur halb so groß wie Paris … Einen Zweig habe ich abgerissen, der liegt nun auf den beiden Opernkarten.

Dass wir auf dem Brunnenrand im Garten des Palais Royal saßen, ist nicht einmal zwei Tage her. Was ist inzwischen nicht alles passiert! Erinnerst du dich noch? Hinter dir spielten ein paar ältere Männer unter den Bäumen Boules. Genau genommen waren es fünf und einer, der auf einer Parkbank geschlafen hat. Eigentlich haben sie gar nicht gespielt, sondern sich nur gestritten. Einer hat den anderen ununterbrochen mit dem Zeigefinger auf die Brust getippt. Schließlich ist ein kleiner Junge durch das Spielfeld gelaufen und hat die Kugeln mit dem Fuß weggekickt. Weißt du, was die Männer gemacht haben? Sie haben gelacht. Einfach nur gelacht. Am liebsten hätte ich jeden von ihnen umarmt. Du hast währenddessen die Libération durchgeblättert, weil die Le Monde ausverkauft war. Plötzlich hast du meine Hand genommen und mich gefragt, ob ich schon einmal in der Oper gewesen sei … Ich musste dich einfach küssen in dem Moment, wegen deiner braunen Augen, wegen der Boule-Spieler, wegen Paris, der Oper, wegen allem. Das war ein vollkommener Moment. Das war das Glück. Die zwei und der halbe Tag mit dir. Ich werde das nie, nie, nie im Leben vergessen. Ich schwöre mit der Hand auf den Tickets.

Seit halb sieben am Morgen bin ich wieder zu Hause. Dennoch habe ich das Gefühl, das Wichtigste in Paris zurückgelassen zu haben. Vielleicht steckt es hinter dem gelben Vorhang mit den Mottenlöchern neben deinem Bett. Oder in deinem nach Lavendel duftenden Kleiderschrank. Oder zwischen den neuen Schuhen und dem Klarinettenkoffer. Oder in der Krone des Kirschbaums, die man von deinem Bett aus sehen kann.

Es war tapfer von dir, trotz meiner überstürzten Abreise mit zum Bahnhof zu kommen. Obwohl das den Abschied noch schwerer gemacht hat, mir zumindest. Dass du mir nur die Hand gegeben hast, tat in dem Moment so weh! Und dann bist du gegangen. Aber ich habe dich ja verstanden, schließlich war ich diejenige, die nicht gleich ehrlich zu dir gewesen war. Aber es war einfach zu schön. Aber – aber – aber.

Hast du dich noch einmal umgedreht? Ich weiß es nicht, denn ich war dafür zu feige. Zu feige zu bleiben, zu feige zu gehen. Wahrscheinlich hast du inzwischen das Bett frisch bezogen und die violette Zahnbürste in den Müll geworfen. Wahrscheinlich hast du mich auf dem Weg zur Uni heute Morgen schon vergessen.

Ach ja, eines noch. Drei Minuten nach der Abfahrt hielt der Zug mit einer Vollbremsung. Mehrere Schaffner versammelten sich vor meinem Abteil. Einer machte für den Lokführer eine Ansage, die ich nicht verstanden habe.

Habe ich die Notbremse gezogen? Oder hätte ich sie viel früher ziehen müssen, noch vor der zweiten Nacht? Dieser wunderbaren Nacht zwischen Traum und Wirklichkeit. Hätte ich dir gleich die Wahrheit sagen müssen? Was wäre dann aus dem gemeinsamen Opernbesuch geworden? Was wäre aus dem vollkommenen Moment im Garten des Palais Royal geworden? Hätte ich es dir sagen müssen, bevor du mich gefragt hast, ob ich meine Doktorarbeit an deinem wackligen Küchentisch zu Ende schreiben möchte? Bevor ich gesehen habe, wie du manchmal im Schlaf zusammenzuckst? Bevor du genau die richtige Zeit gezögert hast auf die Frage des Kellners, ob wir ein Paar wären, und dann mit roten Wangen genickt hast, nachdem er sich schon lange den nächsten Gästen zugewandt hatte …

Als der Zug nach einer Viertelstunde wieder anfuhr, wollte ich den Schaffnern zurufen, dass es die falsche Richtung wäre. Stattdessen biss ich mir auf die Lippen. Und schwieg, bis jetzt.

Zweieinhalb Tage Paris. Wir haben exakt 3366 Minuten miteinander verbracht. Vom ersten Blick auf der Brücke über die Seine bis zum Lebewohl am Gare de l’Est. Ich habe es gerade ausgerechnet, wobei ich unser Kennenlernen auf 14.21 Uhr festgelegt habe, weil die 21 meine Glückszahl ist. Also noch nicht einmal zweieinhalb Tage. Das ist nicht viel, auf ein ganzes Leben gesehen. Und viel zu kurz, um mir auch nur ansatzweise vorstellen zu können, was du an einem ganz normalen Montag machst. Recherchierst du wieder in der riesigen Bibliothek an der Seine? Gibt es am Abend wieder etwas von dem Asiaten? Hast du endlich einmal wieder Klarinette geübt?

Im Zug habe ich beschlossen, nie mehr nach Paris zu fahren, um wenigstens die Erinnerung an diese Zeit mit dir nicht zu gefährden. Also nie mehr durch die engen Straßen des Marais laufen, nie mehr im Garten des Palais Royal Boules-Spieler umarmen wollen, nie mehr Hand in Hand auf dem Balkon der Opéra Garnier stehen … Und nie wieder werde ich durch Stuttgart-Degerloch fahren, ohne an den kleinen Leander auf der morschen Schaukel zu denken …

Alles ist so zerbrechlich, ich werde also gut darauf aufpassen müssen, auf diese zweieinhalb Tage. Wenigstens das verspreche ich dir.

Deine Juliane

P.S. Gerade ist eine Nachbarin vor dem Haus stehen geblieben. Sie deutete auf meinen Kirschbaum und sagte zu ihrem Mann: »Der Birnbaum da wird auch bald eingehen, bei dem sauren Regen.« – Du könntest keinesfalls mit einer Frau glücklich werden, die Birnen nicht von Kirschen unterscheiden kann. Damit tröste ich mich jetzt.

Juliane Bauer, M.A.Rosentalstraße 872070 Tübingen

Von: Bianca <[email protected]>

Betreff: Flamenco por siempre

Datum: 27. April 1999 11:02:21 MESZ

An: Juliane Bauer <[email protected]>

Hola chica,

bist du gut in Tübingen angekommen? Und hat sich dein Knäckebrotfreund wenigstens etwas darüber gefreut, dass du wieder da bist? Ich rate es ihm! Eine Woche kann ganz schön lang sein. Das stelle ich mir als Single-Frau zumindest so vor.

Mensch, waren das wilde Tage in Paris. Auch wenn man dich die letzten kaum gesehen hat. Musstest du dir wirklich jedes Bild im Louvre anschauen? Wo hast du eigentlich dauernd gesteckt? Bitte versprich, in Zukunft nicht wieder ohne Erklärung von der Bildfläche zu verschwinden.

Paris hat mir als Stadt nicht so gefallen. Bisschen arg schnöselig und viel zu teuer. Und erst der Gestank in der Metro – unerträglich!! Nicht gerade der perfekte Ort für einen Flamenco-Workshop. Das nächste Mal geht es besser wieder nach Spanien, olé chica? Nur der Abschlussabend, der war klasse. Besonders, als du auf das französische Gesäusel Karaoke-Flamenco getanzt hast. Der Blick von dem supergockeligen Kellner war unbezahlbar. Wir sind doch eine tolle Gruppe, du, ich, Katti, Flo (na, der weniger) und Erol. Warum bist du eigentlich so schnell aufgebrochen? Das mit den Kopfschmerzen nehme ich dir nicht wirklich ab. Also raus mit der Wahrheit!

Oder hat dich Erol genervt, wie er dir die Zukunft aus seiner Kaffeetasse gelesen hat? Vielleicht sollte er es das nächste Mal mit Bauchtanz probieren. Die nötige körperliche Ausstattung hat er ja …

Das ganze Brimborium mit Tasse umdrehen und deine Kette drauflegen und die Augen verdrehen. Irgendwie hat er es aber auch ernst gemeint, oder? »Du sollst dein Glück packen wie einen davonfliegenden Teppich.« Obwohl das eigentlich sogar ganz süß war, bisschen arg türkisch, aber süß. »Und pack den Prinzen drauf und flieg mit ihm über die Stadt!« Okay, das war vielleicht ein bisschen zu süßklebrig. Trotzdem, ich würde sofort einsteigen. Ob er mir auch die Zukunft vorhersagt? Aber irgendwie habe ich Angst vor dem, was er vielleicht weiß. Die Türken haben für so etwas mehr Begabung, und er meint ja auch, dass du dein Glück in einer großen Stadt in einem fremden Land mit vielen Türmen finden wirst. Vielleicht sogar Istanbul? Ich stell mir das total schön vor, du in weißem Kleid in so einer Moschee!

Ach, ich bin richtig glücklich, dass ich euch zu dem Workshop überredet habe. Das war Flamenco vom Feinsten. Wenn Mercedes wieder einen in Europa gibt, fahre ich sonst wohin. Und ihr dürft auf keinen Fall mit dem Üben aufhören, nur weil ich das Studium geschmissen habe. Versprich mir das! Nie aufgeben! Immer dranbleiben! Mantener la serenidad!

Vielleicht klappt es, dass ich in einem spanischen Lokal jobben kann. Mitten in der Kölner Altstadt. Das wäre für den Übergang gar nicht schlecht.

Puh, die Mail ist ganz schön lang geworden, fast so wie eine von dir.

Besos Bianca

Von: Juliane Bauer <[email protected]>

Betreff: Re: Flamenco por siempre

Datum: 28. April 1999 20:34:51 MESZ

An: Bianca <[email protected]>

Liebe Bianca,

hast du wirklich nicht mitbekommen, dass Erol während des kompletten Flamenco-Kurses an mir herumgebaggert hat? (Das Verb passt in diesem Fall perfekt.) Am Ende hat das wirklich genervt. Wie oft hat er eigentlich jemandem unter die Nase gerieben, dass Erol auf Türkisch Sei-tapfer-wie-ein-Held heißt? Das ist wohl das einzige türkische Wort, das ich mein Leben lang nicht vergessen werde! Der Prinz auf seinem fliegenden Teppich, das war ER, der tapfere Krieger höchstpersönlich. Er hat immer nur sich gemeint!!! Und die große Stadt im fremden Land war PARIS. Seine Kaffeesatzleserei sollte mich einfach nur in sein Bett bringen – oder meines, das war bequemer! Hast du das wirklich nicht mitbekommen? Selig sind die Naiven, denn ihnen gehört das Himmelreich! Es war direkt unverschämt, als er prophezeit hat, dass der Vater meines Kindes einen engen Bezug zur Türkei haben wird. Dabei ist er genauso in Düsseldorf-Herne geboren wie du. Er setzt seine großen braunen Kulleraugen sehr geschickt ein. Vielleicht ist er wirklich ein begabter Kaffeesatzleser. Aber nur zu seinen eigenen Gunsten. Und dass das Ganze ausgemachter, ausgedachter Unsinn ist, hättest du schon daran erkennen können, dass er mir ein Kind mit großen braunen Kulleraugen vorausgesagt hat. Noch Fragen? Ich will keine Kinder! Schon beim Gedanken daran wird mir schlecht. Nichts für ungut! Tante gerne, aber keine eigenen. Und von einem baggernden Türken mit Bauchansatz erst recht nicht.

Hoffentlich reicht das als Erklärung auf deine Fragen.

Deine Juliane

P.S. Außerdem glaube ich, dass Erol und Katti jetzt was miteinander haben … Die lässt bekanntlich nichts anbrennen. Und in der Not frisst der Teufel bekanntermaßen sogar selbstverliebte Türken.

Von: Juliane Bauer <[email protected]>

Betreff: Dein Brief

Datum: 6. Mai 1999 16:23:22 MESZ

An: Lysander <[email protected]>

Lieber Leander,

an der französischen Briefmarke habe ich sofort erkannt, dass du mir geschrieben haben musst. Leider steht auf dem Umschlag keine Adresse. Und ich habe mir nur gemerkt, wie man von meinem Hotel zu deiner Wohnung findet, aber weder Straßennamen noch -nummer. Deswegen diese Antwort per Mail, was mir gar nicht so unrecht kommt. Ich mochte meine Handschrift nie, und Schreibmaschinen verwendet man nur noch auf Ämtern.

Du bist so anders als die Männer hier. Von denen würde sich keiner trauen, mir so etwas zu schicken. So etwas passiert einem nur in Paris, nicht in Tübingen. Genau deswegen tue ich mich so schwer damit. Du musst zugeben, dass man auf ein Gedicht eigentlich nur mit einem Gedicht antworten dürfte. Und dazu habe ich keinerlei Begabung.

»dein in der teetasse sich spiegelndes gesicht« – ganz ehrlich, ich trinke sonst nur Kaffee, hoffentlich habe ich nicht zu verschlafen in deine Tasse geschaut. Gerade merke ich, dass sich in Kaffee mit Milch gar nichts spiegelt. Ist wahrscheinlich besser so.

Drei Zeilen später bin ich dann das Wasser in den »brunnen meines königlichen palais«. Widerspricht sich die Perspektive nicht ein wenig? Wasser kann sich doch schlecht in Tee spiegeln. Sicher sind das Spitzfindigkeiten, um die es dem Dichter gar nicht ging beim Schreiben …

Eher hättest du aus dem Teesatz lesen sollen, dass ich für dich nicht mehr sein kann als eine seit dem zweiten Semester hinreichend glücklich liierte Deutsche, die ausgerechnet in Paris Flamenco lernen wollte. Was für ein Irrsinn! Und jetzt auch noch mit zerrissenem Herzen. Eine, die – wie schon geschrieben – nicht einmal Birnen und Kirschen voneinander unterscheiden kann. Ich weiß nicht einmal, was besser für mich wäre: Paris oder Tübingen. Kirschen oder Birnen. Warum weiß ich immer noch, dass nur du das verstehen kannst?!

Es ist wohl alles falsch, was ich schreibe. Allein deswegen habe ich mich richtig entschieden. Mit uns, das war falsch, von Anfang an. So etwas passiert einem nur in der Fremde.

Du weißt ja, dass ich nicht anders konnte, als die zweieinhalb Tage zu beenden. Niemand kann einfach aus seinem eigenen Leben verschwinden. Und jeder Betrug wird irgendwann schal.

Mach’s gut, Leander! Du wirst bestimmt einmal ein erfolgreicher Diplomat und brauchst deine Unabhängigkeit. Häng dich nicht an jemanden wie mich!

Und danke, dass du den Brief trotzdem abgeschickt hast. Damit hast du zum zweiten Mal mehr Mut bewiesen als ich. Auch wenn trotzdem richtig bleibt, dass sich mein Wassergesicht nicht mehr in deiner Teetasse spiegelt.

Juliane

Von: Juliane Bauer <[email protected]>

Betreff: Der nächste Fehler

Datum: 15. Mai 1999 01:09:53 MESZ

An: Lysander <[email protected]>

Lieber Leander,

genau so fühlt es sich an, wenn man beim Tanzen aus dem Takt kommt. Sobald man darüber nachdenkt, ist es endgültig vorbei. Man schaut auf die anderen, und das macht es noch schlimmer. So geht es mir gerade. Ich habe erfolglos versucht, nach Paris wieder in den Takt zu kommen. Nun ist es zu spät. Das Stück ist zu Ende. Ich bin draußen.

Beim Abendessen ist mir bei meinem Freund eine verräterische Bemerkung herausgerutscht, ausgerechnet über die Pariser Oper. Darauf folgte eine fürchterliche Szene. Und ich hasse Szenen. Wenn es laut wird, denke ich an die Nachbarn und werde noch leiser. Was meinen Freund noch lauter werden lässt … Das Schlimmste war, dass ich dabei dauernd an deine Hand neben meiner auf dem Geländer der Seine-Brücke denken musste. Und an die beiden Chinesen mit dem eingeschweißten Vorhängeschloss in der Hand. Andere Bilder aus den zweieinhalb Tagen tauchten auf, die in dem Moment nichts in meinem Kopf verloren hatten: ein nackter Männerrücken, ein perfekt sitzendes weißes Hemd vor einem strahlend blauen Himmel (Ich habe übrigens noch nie einen Mann kennengelernt, der aus dem Bügeln eines Hemdes so eine Zeremonie macht wie du. Ich hätte dir stundenlang dabei zusehen können …), das Grab von Edith Piaf … ein verheultes Taschentuch im Zug …

Ich habe versucht, dir zu erklären, dass das nichts mit meinem Leben hier zu tun hätte. Paris ist nicht Tübingen. Ich habe mich doch entschieden. Und die zweieinhalb Tage Glück nicht für mein Leben hier eingetauscht.

Warum schreibe ich das gerade dir? Wahrscheinlich, weil ich nichts mehr zu verlieren habe. Ich bin eine jammernde Frau. Etwas Jämmerlicheres gibt es eigentlich nicht. Und weil zwischen uns vom ersten Augenblick alles so selbstverständlich war. Es gab keine Diskussionen, in welches Lokal man geht oder ob man sich auf eine Parkbank setzt. Wir haben dieselben Dinge gesehen. Dieselben Menschen beobachtet. Dieselben Dinge komisch gefunden, das vor allem. Wir brauchten uns dann nur ansehen, und schon wusste ich, was du meinst.

Irgendwann fragte mein Freund mich, ob ich meinen Betrug wenigstens bereuen würde. Hätte ich in dem Moment wenigstens den Mut gehabt zu lügen! Oder wenigstens zu schweigen. Was nutzt einem Ehrlichkeit? Aber nein, ich habe den Kopf geschüttelt. Daraufhin bekam ich ein Glas Rotwein ins Gesicht. Nicht direkt ins Gesicht, sondern auf Hals und Bluse. Ich dachte in dem Moment: Leander würde so etwas nie machen. Oder doch?

Nun bin ich allein. Es musste ja so enden.

Diese Nacht nehme ich den Laptop mit ins Bett – und stolpere morgen früh garantiert über das Modem-Kabel. Vielleicht beweist du ein drittes Mal Mut und schreibst mir, ich denke an dich, ganz fest,

Juliane

Von: Juliane Bauer <[email protected]>

Betreff: Re: Flamenco por siempre

Datum: 17. Mai 1999 21:26:45 MESZ

An: Bianca <[email protected]>

Liebe Bianca,

mein Leben bricht gerade wie ein Kartenhaus im Sturm zusammen. Ich habe mal wieder Streit mit meinem Freund. Dieses Mal ist es allerdings besonders schlimm, er hat stundenlang rumgeschrien. Und ich kann es ihm nicht mal verübeln. – Warum bist du nur in Köln und nicht hier? Warum hat mir Erol diese Katastrophe nicht vorausgesagt? Dann hätte ich mich doch irgendwie darauf vorbereiten können. Aber niemand kann so etwas vorhersehen.

Das Einzige, woran ich mich klammere, sind die Tage in Paris. Das war wie ein Traum von Unbeschwertheit und Frühling. Der intensive Kurs, die Gespräche mit den anderen Teilnehmern. Die Abschlussvorführung von Mercedes. Danke, dass du uns mitgeschleift hast.

Ich hatte danach noch ein traumhaftes Wochenende, ein zu schönes. Das zarte Grün in den Tuilerien tat den Augen gut, nach all dem Schneematsch in den letzten Monaten. Im Marais blühten an jeder Ecke leuchtend weiß die Kirschbäume. Du hast völlig Recht, Tübingen ist zu klein … Am Samstag war ich sogar noch in der Oper im Palais Garnier. Was für ein beeindruckendes Gebäude! In der Pause kann man auf den Balkon raus. Man fühlt sich wie eine Prinzessin, wenn man dort steht. All das muss ich jetzt anscheinend büßen. Ich höre dich schon sagen, dass ich einfach mal etwas genießen soll, ohne den Haken zu suchen. Das sagt sich so einfach.

Auf ganz bald, ja? Vielleicht schaffe ich es rund um meinen Geburtstag nach Köln!

Deine dich schwer vermissende Juliane

Von: Juliane Bauer <[email protected]>

Betreff: nur kurz

Datum: 18. Juni 1999 17:23:22 MESZ

An: Studi3442 <[email protected]

Liebes Brüderchen,

vielen Dank für deine Glückwünsche auf dem AB. Im ersten Augenblick habe ich dich gar nicht erkannt vor lauter Rauschen und Knacken. Das mit diesen Handys scheint noch keine ausgereifte Technik zu sein.

Ich fühle mich nicht nur ein Jahr älter, mein ganzes Leben ist aus dem Takt geraten und das ausgerechnet jetzt, wo ich mich ganz auf die Dissertation konzentrieren sollte. Wohin gehöre ich? Ich weiß es nicht mehr.

Jeden Tag denke ich: Heute passiert was. – Und dann sitz ich doch nur den ganzen Tag in der Unibibliothek und träume von Paris. Nun gut, ich habe noch ein knappes Jahr, aber so langsam muss ich mir Gedanken darüber machen, was danach kommen soll. Langsam verstehe ich, warum unsere Eltern mich immer vor Kunstgeschichte gewarnt haben. So spannend das Studium war, nun bekomme ich die Quittung. Da hast du es mit deiner Informatik, die ich immer belächelt habe (ok, immer noch belächle), viel einfacher.

Bianca hat sich gestern einfach in den Zug gesetzt und ist nach Tübingen gekommen, um meinen Geburtstag mit mir zu verbringen. Auf sie ist eben Verlass. Kaum war sie zur Tür herein, war alles wie immer. Wir sind mit dem Fahrrad und einem vollen Picknickkorb nach Bebenhausen gefahren. Eigentlich wollten wir zu dritt los, doch mein Freund hat in letzter Zeit wenig Interesse an meiner Gegenwart.

Wusstest du, dass der letzte Abt von dem Kloster mit ein paar Getreuen vertrieben wurde? Er streunte einige Jahre mit ihnen durch die Lande, bis er am Ende seines Lebens allein wieder in Bebenhausen landete. Wie die Geschichte mit den zehn kleinen Negerlein. Ganz allein in seinem alten Kloster. Ich bewundere ihn, und gleichzeitig finde ich es unendlich traurig. – Klingt alles ein wenig nach Midlife-Crisis. Dafür bin ich mit 24 zu jung, oder?

Manche Gedanken muss ich einfach aufschreiben. Das E-Mail-Tippen hilft mir beim Denken. Erst wenn ich eine Mail geschrieben habe, weiß ich, wie es mir geht. Es hat etwas von Meditation. Andere zahlen dafür viel Geld. Und ich liebe es, dass jede Mail einen doppelten Boden hat, den man erst erforschen muss.

Aber nun weiß ich noch gar nicht, wie es dir geht. Schreib mir, wovon du dich ernährst ohne mich! Behandeln sie dich gut in der Firma? Jedenfalls bin ich ganz schön stolz auf dich, dass sie dich direkt im Anschluss an das Praktikum übernehmen wollen. Auch wenn die Wohnung ohne dich und deine Pizzakartons ziemlich leer ist.

Liebe Grüße, auch an die Eltern. Du lässt dich bestimmt wieder von Mutti bekochen … dein gerade sehr hungriges

Schwesterchen

Von: Studi3442 <[email protected]

Betreff: Re: nur kurz

Datum: 20. Juni 1999 15:01:31 MESZ

An: Juliane Bauer <[email protected]>

Liebe Juliane!

Hier spricht Deine Mutter.

Diesen elektronischen Brief schreibe ich Dir schon zum zweiten Mal. Hoffentlich klappt es diesmal.

Ich muss achtgeben, dass ich nicht wieder auf einen falschen Knopf drücke. Gerade war auf einmal alles Geschriebene wieder weg. Ich glaube nicht, dass ich das alleine hinbekommen würde. Robert zeigt mir gerade, wie das geht. Er hat angeboten, mir eine Adresse für E-Mails (schreibt man das so?) zu erstellen, aber das ist nichts für mich.

Hast Du denn unser Päckchen mit dem Geburtstagsgeschenk bekommen? Wenn Dir die Bettwäsche nicht gefällt, kann ich sie umtauschen. Die Farbe hast du früher immer gemocht.

Wann kommst Du uns besuchen? Die Magnolie im Garten ist eine Augenweide. Sie blüht wie im Urwald. Das musst Du Dir einmal ansehen.

Robert freut sich, nicht mehr in Tübingen zu wohnen. Vater und mir hat es dort immer sehr gut gefallen. Kommst du denn mit Deiner Doktorarbeit gut voran? Hoffentlich ist das Essen in der Mensa besser geworden.

Jetzt muss ich Robert noch bitten, diesen Brief an dich zu versenden.

Ruf doch mal wieder an, das ist sicherer,

Deine Mama

Hey! Premiere.

Die erste Mail unserer Mom. Gut aufheben! Bob

Von: Juliane Bauer <[email protected]>

Betreff: Bebenhausen

Datum: 18. Juli 1999 19:57:54 MESZ

An: Bianca <[email protected]>

Liebe Bianca,

ich vermisse deine sensationelle Paella mit Meeresfrüchten und die Video-Abende und das Nacktbaden im Neckar. Apropos: Unser Macho-Türke Erol hat immer zufällig keine Zeit, wenn es darum geht, sich einmal auszuziehen … Und natürlich vermissen wir alle hier den Flamenco. Ohne dich wird das irgendwie nichts mehr mit dem Training, leider. Wir haben uns zwar letzte Woche getroffen, sind dann aber in einer Kneipe gelandet. Ohne eine einzige Minute geübt zu haben.

Seitdem du weggegangen bist, kommt mir Tübingen noch kleiner vor. Und noch freudloser. Ich vermisse meine beste Freundin. Komm zurück!

Mein Bruder, den du immer verteidigst – obwohl sein Chaos nicht zu rechtfertigen ist –, hat Anfang des Monats seinen Job in Bochum begonnen. Schon komisch, wenn der kleine Bruder eher Geld verdient als man selbst. Nun habe ich also die Wohnung für mich allein und komme hoffentlich zum Arbeiten. Das wäre auch dringend nötig, denn mit der Diss komme ich nicht voran. Ehrlich gesagt bin ich kurz davor, alles hinzuschmeißen. Das Thema überfordert und langweilt mich gleichermaßen. Ich kapiere schon lange nicht mehr, was mich an Heiligen auf Barockgemälden einmal interessiert hat. Ihr ununterbrochenes Leiden nervt. Können sie nicht einfach ihre Arbeit tun und zufrieden sein? Aber nein, sie müssen sich quälen und umbringen lassen.

Auch das Unileben finde ich immer skurriler. Ich verstehe mittlerweile vollkommen, dass du das Weite gesucht hast. Wie läuft denn die Kellnerei? Findest du den Wirt immer noch so attraktiv? In einem spanischen Lokal zu arbeiten, ist garantiert aufregender, als diesen vertrockneten Kunstgeschichtsprofessoren sonst wohin kriechen zu müssen.

Und von meinem Hilfskraftgehalt kann ich gerade meine Kosmetikartikel bezahlen. Auch das spricht dafür, die Promotion abzubrechen und eine richtige Stelle zu suchen. Ich hasse es, mit 24 immer noch am Rockzipfel der Eltern zu hängen. Aber die finden die Vorstellung einer »Frau Doktor«-Tochter weiterhin unterstützenswert.

Heute Morgen strahlte der Himmel so blau, dass mich plötzlich eine riesige Welle Sehnsucht überspült hat. Aber ich wusste nicht wonach. Schließlich habe ich die neuen Wanderschuhe angezogen und bin los.

Leider war diesmal in Bebenhausen (dankedankedanke für deinen Besuch an meinem Geburtstag!) alles abgesperrt, selbst die Kirche. Auf der Bank vor dem Portal lungerte eine Gruppe Jugendlicher herum. Man sah ihnen an, dass sie auch fortwollten. Alle wollen weg, und keiner weiß wohin. Ist das nicht merkwürdig? Ich bin dann einfach in den Wald gelaufen, wie der letzte Abt: einfach los.

Dabei habe ich viel über Paris nachgedacht und an deine Mahnung, nichts aufzugeben, sondern dranzubleiben. Das sage ich mir immer mit der Stimme unserer Flamenco-Göttin vor. Du hast ja so recht, es ist nicht einfach, aber es lohnt sich.

Obwohl ich es nicht wollte, habe ich nach einer halben Stunde auf einen Wegweiser geachtet, und dann auf den nächsten. Schon hatte ich ein Ziel: Stuttgart. Das ist zwar nicht Rom, aber immerhin. Und auf einmal hatte ich das Gefühl, dass mir nichts passieren kann. Was muss man tun, damit einen das nie mehr verlässt? – Es hat genau fünf Stunden angehalten. Bis ich in der U-Bahn vom SI-Zentrum Richtung Hauptbahnhof beim Schwarzfahren erwischt wurde. Anscheinend sieht man mir so etwas an.

Schreib mir bitte bald oder, noch besser, ruf an! Ich bin die nächsten Abende gut zu erreichen und muss einfach noch mal mit dir über meine vor sich hin bröckelnde Beziehung sprechen.

Deine Juliane

Von: Bianca <[email protected]>

Betreff: Rufe morgen an!

Datum: 19. Juli 1999 22:16:43 MESZ

An: Juliane Bauer <[email protected]>

Schätzelein,

komm doch einfach mal zum Punkt: Du bist unglücklich. Hab mir schon gedacht, dass es irgendeinen Grund gibt, warum ich keine Mails mehr bekomme. Das kennt man gar nicht von dir. Du würdest doch sogar der Feuerwehr eine schreiben, wenn es brennt.

Und ich weiß auch, an wem das liegt. Und du weißt, dass ich es weiß und so fort … Also tu endlich was, schick den Langweiler in die Wüste oder sonst wohin. Nur weil ihr jetzt seit dem ersten Semester zusammen seid, musst du doch nicht bis zum letzten warten, um Tschö zu sagen. Mein Ratschlag dranzubleiben, bezog sich auf das Flamenco-Tanzen und NICHT auf deine verkorkste Beziehung! Du brauchst einen, der auf deiner Wellenlänge funkt und nicht so einen Miesepeter! Im Ernst: Ich hoffe wirklich, dass du diesen Beziehungssaustall bald ausmistest, du kannst doch nicht dein ganzes Leben im Wartesaal verbringen und hoffen, dass es sich irgendwann von alleine regelt. Tu was!

Natürlich erinnere ich mich an den alten Knaben aus Bebenhausen, der mit seinen Männeken los ist. Das war bestimmt auch so eine Drama-Queen wie du. An dem brauchst du dir echt kein Beispiel nehmen.

Deine Bianca, die immer zu dir halten wird, egal was kommt. Oder wer. Vielleicht doch noch der mit den braunen Kulleraugen wie vorausgesagt?

Von: Juliane Bauer <[email protected]>

Betreff: Paris im Frühjahr

Datum: 12. September 1999 22:56:13 MESZ

An: Lysander <[email protected]>

Lieber Leander,

wahrscheinlich wolltest du nichts mehr mit mir zu tun haben nach meiner grauenhaften Gedichtinterpretation. Es tut mir unendlich und ewig leid, dass ich nur an mich und meine Zerrissenheit denken konnte. Völlig zu Recht hast du eine andere Antwort erwartet. Aber ich konnte nicht anders. Ich war schlicht überfordert. Es hat sich alles falsch angefühlt. Mittlerweile sehe ich klarer.

Ein halbes Jahr ist seitdem vergangen. Ein Sommer ist ins Land gegangen seit unserem Opernabend in Paris. Selbst der Kirschbaum vor meinem Fenster verfärbt sich schon. Und es hängen wirklich Birnen dran. Ich summe den ganzen Tag mein Lieblingslied aus Kinderzeiten: Herbst ist da, der Sommer ging hin, leiser die Winde wehn … Kennst du das? – Und ich bin fast schon schweigsam geworden in den letzten Wochen. Du würdest es mögen, glaube ich. Ach Leander, ob du wohl irgendetwas an mir magst? Oder mögen könntest?

Ich habe in Erinnerung, dass du ab Mitte September wieder in Berlin sein wirst. Können wir uns sehen? Bitte! Ich fahre Ende September dorthin, wieder einmal wegen meiner Doktorarbeit. Man glaubt es nicht, aber sogar dort hängen Heilige in den Museen. Seit Paris habe ich mich ins Schreiben gestürzt, trotzdem ist mir nichts geglückt. Immerhin muss ich mir keine Sorgen mehr machen, dass meine Untersuchung zu kurz wird. Momentan sind es 636 Seiten. Maximal 400 dürfen es werden.

Für mich wäre es sehr wichtig, über das zu reden, was zwischen uns geschehen ist, von dem Kennenlernen auf der Seine-Brücke bis zu der Verabschiedung auf dem Bahngleis des Gare de l’Est. Und vielleicht auch darüber hinaus. Es würde mir sehr viel bedeuten.

Bitte melde dich, deine

Juliane – die orientierungslose Flamenco-Dilettantin

aus Tübingen

P.S. Seit Anfang August bin ich Single – das hat aber weder mit dir zu tun noch damit, dass ich mich wieder melde. Nur damit du es weißt.

Von: Juliane Bauer <[email protected]>

Betreff: noch mal ich

Datum: 27. September 1999 21:34:54 MESZ

An: Lysander <[email protected]>

Leander,

bin jetzt in Berlin, in einem Internetcafé. Der Türke an der Kasse starrt mich merkwürdig an, weil ich das mit dem Einwahl-Code dreimal nicht kapiert habe und er das System neu starten musste. Wahrscheinlich steinigen mich die anderen gleich. Hilfe, jetzt zwinkert er auch noch! Anscheinend stehen Türken auf mich, nur ich nicht auf sie!

Ich muss dich wirklich, wirklich sehen. Unbedingt. Ich übernachte in einem Hotel am Wittenbergplatz, komme aber gerne egal wohin. Berlin soll ja nicht so groß sein wie Paris, oder war es genau andersherum? Bitte melde dich, ich bin noch bis Samstag, 2. Oktober (vier Uhr) hier. Sonst verbringe ich den Rest meines Lebens hinter der Theke dieses Internetcafés und verbreite als Gattin des Besitzers schlechte Laune. Das kannst du nicht wollen. Vor allem, weil ich Berlin nicht ausstehen kann, hier ist mir alles zu unpersönlich.

Ich werde jeden Abend um zehn nachschauen, ob du geschrieben hast. Juliane

Von: Studi3442 <[email protected]

Betreff: nur kurz

Datum: 28. September 1999 17:23:22 MESZ

An: Juliane Bauer <[email protected]>

Was ist los? Keine E-Mail mit Anweisungen? Bin bis morgen in der Wohnung in Tü. Blumen gießen 1 oder 0? Sonst hast du mir doch sogar Mails geschrieben, wenn ich im Zimmer nebenan war. Also, was ist los? Was geht ab in Berlin?

Greetzs Rob

Von: Lysander <[email protected]>

Betreff: Re: noch mal ich

Datum: 29. September 1999 21:07:12 MESZ

An: Juliane Bauer <[email protected]>

hallo juliane,

pass auf, sonst schreibt dir der türke auch noch ein schlechtes gedicht …

ich weiß nicht, was es noch zu reden gibt. dein schlechtes gewissen ist ein bisschen wenig. und ehrlich gesagt interessiert mich deine trennungsgeschichte nicht, sorry. aber wenn du darauf bestehst meinetwegen.

am donnerstagabend bin ich im »da lorenzo«, senefelder 37. sitze immer am hintersten tisch rechts, neben der unvermeidlichen david-statue. ab sieben.

lass mich nicht warten. du bist eine frau, die nicht so recht weiß, was sie eigentlich will, aber das mit leidenschaft! den eindruck hast du mit deinen mails jedenfalls hinterlassen. oder täusche ich mich?

beste grüße

leander

Von: Juliane Bauer <[email protected]>

Betreff: Unser Treffen in Berlin

Datum: 7. Oktober 1999 20:41:52 MESZ

An: Lysander <[email protected]>

Lieber Leander,

wie beginnt man eine Mail, wenn man ein so unglaublich schlechtes Gefühl im Magen hat wie ich seit dem 1. Oktober? Meine Heiligen interessieren mich nicht mehr, die Intrigen meines Professors interessieren mich nicht mehr, nicht einmal meine Freunde interessieren mich zur Zeit. Eigentlich kann ich an nichts anderes mehr denken als daran, wie ich mich entschuldigen kann. Irgendwer hat mal gesagt, dass man aus Fehlern lernen würde. – Dieser Satz selbst ist ein Fehler.

War der verfluchte David an allem schuld? Sein gelangweilter Blick hat mich schon immer geärgert. Oder lag es an Berlin? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass unser Treffen komplett gescheitert ist. Warum bist du einfach aufgestanden und gegangen? Und das, bevor wir richtig miteinander sprechen konnten. Ich gebe zu, meine Bemerkung war unbedacht. Sie war nicht nur unbedacht, sondern sogar beleidigend. Aber sie war nicht so gemeint, und das hättest du eigentlich wissen müssen. Insofern war sie vor allen Dingen wohl doch unbedacht. Und noch einmal: Es war nur EIN Satz, da muss man nicht aufstehen und weglaufen!

Als ich reinkam, hast du mit verschränkten Armen dagesessen wie ein Richter, für den das Urteil schon vor der Verhandlung feststeht. Das hat mich völlig verunsichert. Dein Blick war so hart, nicht mehr so warm wie in Paris.

Ich hätte das einfach übergehen sollen und dich zu deinem Geschmack beglückwünschen. Das Lokal war perfekt (bis auf die erwähnte Statue) – für einen erfreulichen Abend!

Schließlich hat mich völlig überfordert, dass du jeden Smalltalk übersprungen hast. Kein »Wie geht es dir?«, kein »Schönes Wetter heute«, nichts!

Stattdessen hast du direkt gefragt: »Worüber willst du reden?«

Worüber wohl? Diese eigentlich total naheliegende Frage hat mich vollends aus dem Konzept gebracht. Ich habe vor dem Treffen über sehr viel nachgedacht, über dich und mich und uns und Paris, aber nicht darüber, welche Überschrift das bekommen soll. Vielleicht deswegen dieser eine blöde Satz.

Worüber willst du reden? Ich gebe zu, »Das ist doch wohl klar« war auch nicht gerade herzlich. Aber warum hast du dann geschwiegen? Warum hast du mir, warum hast du uns nicht aus dieser Situation befreit? Dieses Schweigen war unerträglich.

Dann mein verdammter Satz, den ich bereue wie nichts in meinem Leben!

Ich wusste einfach nicht mehr, was ich sagen sollte. Da ist es doch nicht verwunderlich, wenn man einen absoluten Müllsatz redet. Vielleicht wollte ich meine Unsicherheit mit einem Witz überspielen. Ich weiß es nicht.

Inzwischen frage ich mich, ob es überhaupt irgendeinen Satz gegeben hätte, nach dem du nicht gegangen wärst? Wahrscheinlich nicht.

Dieser verdammte Satz.

Nachdem du weg warst, hat der Kellner dein Mineralwasser vor mich auf den Tisch geknallt. Anscheinend hat er uns beobachtet, und das war sein Kommentar zu uns. Nie zuvor wurde ein Glas so vorwurfsvoll auf einen Tisch gestellt. Ich habe es natürlich nicht angerührt. Noch nie hat mich ein Gegenstand so beleidigt angesehen …

Gibst du mir noch eine Gelegenheit, mich persönlich zu entschuldigen? Wenn es sein muss, telefonisch. Ich kann auch wieder nach Berlin kommen.

Bitte! – Vielleicht gelingt es uns irgendwann, wenigstens drei Tage vollzubekommen. Mehr möchte ich gar nicht. Nur drei Tage.

Bitte melde dich,

Juliane

Von: Juliane Bauer <[email protected]>

Betreff: WEIHNACHTEN

Datum: 25. Dezember 1999 15:46:22 MEZ

An: Lysander <[email protected]>

Fröhliche Weihnachten, Leander!

Die perfekte Gelegenheit, um Menschen, die aus Unsicherheit blöde Sätze sagen, zu verzeihen! Und auch endlich Zeit, liegengebliebene Mails zu beantworten … Oder zumindest mitzuteilen, ob man sie erhalten hat … Es lebt sich für den Absender sehr unangenehm im Unwissen, ob man wenigstens gelesen wird …

Stoff für eine Mail gäbe es genug: Ich möchte alles wissen. Beispielsweise, ob du über Weihnachten bei deinen Eltern in Stuttgart bist. Gehört ihr zur Kartoffelsalat-Würstchen- oder zur Braten-Fisch-Fraktion? Baum oder Nicht-Baum? Kerzen oder elektrisch? Hast du dir etwas Bestimmtes gewünscht, oder gerade nicht? Vielleicht sogar, dass ich keine weiteren Mails schreibe? Diesen Wunsch kann ich dir zumindest für dieses Jahr nicht erfüllen.

Bei uns läuft alles wie gehabt. Meine Mutter lässt sich von der Gans nicht mehr abbringen, obwohl sowohl mein Bruder als auch ich schon seit Jahren kein Geflügel mehr zu uns genommen haben. Sie ignoriert das einfach. Auch so eine Möglichkeit, mit Schwierigkeiten umzugehen. Inzwischen essen wir die Gans wieder, weil das einfacher ist als die ewigen Diskussionen.

Was ich mir wünsche, kannst du dir selbst denken, s.o.

Noch mal fröhliche Weihnachten, lieber Leander. Doppelt hält besser, deine Juliane

2000

Von: Juliane Bauer <[email protected]>

Betreff: Aschermittwoch

Datum: 8. März 2000 15:52:25 MEZ

An: Bianca <[email protected]>