Ich schäme mich - Maximilian Dorner - E-Book

Ich schäme mich E-Book

Maximilian Dorner

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Beschreibung

«Wenn ich mich schäme, erinnert mich das an einen Tierversuch: Immer wieder bekomme ich Stromstöße und weiß nicht wofür. Doch dieses Bild führt in die Irre. Ich bin keine Versuchsmaus. Die geladenen Drähte hat nicht ‹die Gesellschaft› in mir verlegt, auch nicht meine Eltern. Es sind keine Gesetze, die ich in irgendeiner Bibliothek nachschlagen kann. Ich muss die Verantwortung dafür selbst übernehmen. Für meine Scham. Auch das noch.» Maximilian Dorner hat der Scham den Kampf angesagt. Doch wie bezwingt man ein Gefühl, das sich hinter tausend Masken versteckt? Ehrlich und unverkrampft berichtet er von seiner Reise durch die Untiefen eines weitestgehend unerforschten Gefühls.

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Maximilian Dorner

Ich schäme mich

Ein Selbstversuch

Man kann die Weisheit nicht fertig übernehmen, man muss sie selbst entdecken auf einem Weg, den keiner für uns gehen und niemand uns ersparen kann, denn sie besteht in einer bestimmten Sicht der Dinge.

Marcel Proust, Im Schatten junger Mädchenblüte

Eins. Vorgeplänkel

1

«Warum tun Sie sich das an, mit diesem Gerät?»

Sein Atem riecht nach Bier, sodass ich das Gesicht abwende. Er, ungefähr halb so alt wie ich, hat mir die Frage ins Ohr gespuckt und tippt nun mit der Fingerspitze an den schwarzen Gehstock, der zwischen den Barhockern am Tresen lehnt. Ohne mein Gerät würde ich es nicht einmal zu der fünf Meter entfernten Toilette schaffen, die sich mit stechendem Geruch bemerkbar macht.

In der schwacherleuchteten Halle stehen in locker verteilten Grüppchen Jungs und Mädchen, die Hände um Bierflaschen geklammert. Mit Mitte dreißig bin ich einer der Älteren, das allein reichte auch ohne Schwerbehindertenausweis, sich unwohl zu fühlen. Alle scheinen darauf zu warten, dass es endlich losgeht. Und beobachten sich bis dahin argwöhnisch. Keiner bringt den Mut für den ersten Schritt Richtung Tanzfläche auf, obwohl ununterbrochen jemand in rhythmische Zuckungen ausbricht.

Vor ein paar Stunden packte mich unter der Bettdecke ein unbändiger Zorn:

«Jetzt erst recht», murmelte ich wie ein aufgebrachter Kobold und machte mich in einem eingelaufenen T-Shirt auf den Weg. An die weniger mitleidigen denn irritierten Blicke des Türstehers, als ich mich am Geländer festgeklammert herunterhangelte, bin ich mittlerweile gewohnt. Dass ich mich nun aber minütlich zu meinem Mut beglückwünsche, beweist jedoch, was mein Hiersein wirklich an Überwindung kostet.

Den Dämon meiner Krankheit habe ich bislang keine Sekunde aus den Augen verloren, seine Heimtücke war mir von Anfang an bekannt. Den Alltag mit ihm jedoch habe ich unterschätzt. Vor allem die damit verbundenen Nebenbehinderungen: die Verkrampfungen im Umgang, der Verlust von Autonomie. Nur noch wenige Meter laufen zu können und einige andere Einschränkungen behindern mein Leben bereits genug. Darüber hinaus meide ich jeden Ort, an dem ich mit Gehstock auffalle, und das nicht einmal absichtlich. Als wäre es eine Selbstverständlichkeit, als Behinderter nicht mehr auszugehen. Warum schränke ich mich aus freien Stücken weiter ein? Die Antwort geht mir an diesem Abend leicht von der Zunge:

Ich schäme mich.

Wenn ich mich in einem Schaufenster gespiegelt sehe, wende ich den Blick rasch ab. Es ist nicht nur der Stock, auch die unnatürliche, verkantete Haltung, das Stockende jeder Bewegung sind mir kaum erträglich. (Und dennoch wundern sich manche, dass in meiner Wohnung kein Spiegel hängt…)

Darauf solle ich mir besser nichts einbilden, erklärte meine Freundin Veronika. Ihr ginge es genauso.

«Dazu braucht man keine Nervenkrankheit, ein drei Jahre alter Minirock reicht vollkommen aus, um sich dick, hässlich und wie secondhand zu fühlen.»

Vor zwanzig Jahren blieb ich nach stundenlanger Meditation vor dem Spiegel ebenso lieber zu Hause, statt in die Disco zu gehen. Wegen eines Pickels. Dieser stand noch weniger im Verhältnis zu meinem Rückzug als der Stock. Krampfig war das damals auch schon, und verbissen. Nur verschwinden Pickel schneller als eine Behinderung. Und heute schäme ich mich darüber hinaus dafür, dass selbst eine Bagatelle wie ein Disco-Besuch sich zu einer existenziellen Krise auswächst.

Vor drei Jahren, beim Ausbruch des Schlamassels (eine unheilbare Nervenkrankheit – aber das klingt immer gleich nach Leichenschauhaus), hat mein Umfeld noch säckeweise Verständnis für meine Schrullen aufgebracht. Inzwischen würde mein Freund Christian einen Club-Besuch nur mit der Frage quittieren, ob ich in die Wechseljahre käme. – Für diese Entwicklung übernehme ich die volle Verantwortung. Schließlich habe ich sie dazu erzogen, das Ab und Auf meines Gesundheitszustandes nicht zu dramatisieren, am besten nicht einmal zu kommentieren. Wie überdrüssig ich des Ganzen manchmal bin, verschweige ich. Selbst meine rabiate Ablehnung von Selbstmitleid, dem eigenen und dem von Fremden, muss etwas mit Scham zu tun haben. Sonst würde sie nicht so heftig ausfallen.

Mein Gegenüber hat sich inzwischen abgewandt und starrt mit weitaufgerissenen Augen zum Eingang, als gäbe es dort eine Erscheinung zu bestaunen. Ein halbes Dutzend händchenhaltender Mädel mit nabelfreien Tops ist in den Raum geplatzt, sichtlich darum bemüht, einander nicht zu verlieren. Sie verdrücken sich in die nächste Ecke, wie ein aufgeregt gurrender Taubenschwarm. Ein Mädchen mit Netzstrümpfen bricht den Blickkontakt mit dem Burschen neben mir kichernd ab, worauf dieser die Schultern hochzieht und seine Turnschuhe anstarrt.

Obwohl niemand zuhört, sage ich leise zu meinem Stock:

«Ich bin hier, um mir die Scham abzugewöhnen.»

Mein Nachbar nickt einmal, als hätte er mich verstanden. Wieder beugt er sich gefährlich nah zu mir.

«Das wird schon wieder.»

Er verschwindet Richtung Tanzfläche. Dort verbirgt er sich hinter einem Pfeiler. Am liebsten würde ich ihm nachlaufen. Es kann doch nicht so schwer sein, über seinen Schatten zu springen und das Mädchen anzusprechen. Aber die drei geländerlosen Stufen halten mich zurück.

An diesem Abend komme ich nicht gegen die Scham an, der Versuch, sie auszutricksen, hat alles nur verschlimmert. Also breche ich auf. Vor den Stufen zum Ausgang drehe ich mich noch einmal um und sehe ausschließlich Menschen, denen etwas peinlich ist: die Mädchen in der Ecke, die verdrucksten Tänzer, der Typ mit der Bierflasche hinter der Säule… Was soll das?

Niemand hat sich um mich geschert. Niemand hat gedacht: Was will der Trottel mit seinem Stock in einem Tanzlokal? Alle waren vollauf mit dem Verbergen ihrer eigenen Scham beschäftigt. Und trotzdem: Ich habe mich geschämt. Wahrscheinlich sogar vor denselben Menschen, denen ich ohne jede Regung am Nachmittag im Café gegenübersaß. Das ist es, was mich dermaßen erzürnt.

Eines stößt mir vor allem auf: dass Scham einsam macht.

Ich ziehe von dannen mit dem Gefühl eines Skispringers, dessen entscheidender Sprung wegen schlechter Witterung in letzter Sekunde abgesagt wurde.

2

Seit Tagen kommt mir eine Rollstuhlfahrerin nicht aus dem Sinn. Sie ist rund um die Uhr als Behinderten-Funktionärin tätig. Ruht spürbar in sich, mobilisiert, polemisiert. Und doch gestand sie mir unter vier Augen, dass hin und wieder eine Woge der Scham sie hinterrücks überrollt, nicht gesund zu sein, hilfsbedürftig. Niemand wisse besser als sie selbst, wie überflüssig und dumm dieses Gefühl sei, aber dennoch würde sie mit brutaler Regelmäßigkeit deswegen verzweifeln.

Peinlichkeiten taugen manchmal zur Erheiterung auf einer Party. Über die tiefergehenden schweigt man sich in der Öffentlichkeit jedoch lieber aus, beichtet sie, zerknirscht oder ausgelassen, nur der besten Freundin, wenn einem einmal danach ist. Solche modernden Schamleichen gammeln in jedem Keller, manche bereits mumifiziert. Eher ließe man sich die Zunge abhacken, als jemand zu ihnen vorzulassen. Von denen wähnte ich mich eigentlich frei. Ich habe mich wegen der Ruhe auf der Oberfläche in Sicherheit gewähnt, mich davon täuschen lassen, dass Zahnpastaflecken auf dem Pullover angesichts einer unheilbaren Krankheit an Bedeutung verloren haben. Dass ein offener Hosenstall gegen eine Blasenschwäche nicht ankommt. Nicht zuletzt, weil ich bereit bin, an jeder Straßenecke über den Niedergang meines Körpers munter draufloszuplaudern. Auf die alltäglichen Peinlichkeiten habe ich kaum mehr geachtet, da es mir bereits genug Konzentration abfordert, mich überhaupt durch diesen Alltag zu manövrieren. Unterdessen ist die Scham ein Stockwerk tiefer gezogen. In eine der schwer zugänglichen, kaum beleuchteten Katakomben.

Ich schäme mich also für meinen zerbröckelnden Körper, für mein vorgezogenes Greisentum, so viel weiß ich inzwischen. Er missfällt mir, entzieht sich, ist nicht in der Kondition und Form, in der ich ihn gerne hätte. – Schämt sich mein Körper auch für mich? Verweigert er sich deshalb so hartnäckig, weil wir uns abhandengekommen sind?

Eine Bekannte, Susanne, kam mit deformierten Händen zur Welt. Ihr Vater hätte diese am liebsten wegbandagiert, die Mutter jedoch verwahrte sich dagegen. Während der Schulzeit war das Anderssein kaum ein Problem für Susanne. Ein Mitschüler hänselte sie einmal, wurde daraufhin verprügelt und später von ihr geheiratet. Die größte Scham empfand sie wegen etwas anderem: Während der Pubertät wuchs ihr, viel früher als ihren Freundinnen, ein riesiger Busen. Einen ganzen Sommer lang ging sie nur mit vor der Brust verschränkten Armen ins Schwimmbad. Dreißig Jahre lang glaubte auch sie, dass ihre Behinderung keine Rolle spielen würde. Bis sie in den letzten Jahren regelmäßig der Gedanke beschlich, dass ihr beruflicher Erfolg gar nicht zu ihren Händen passen würde. Die Scham hat sie schließlich eingeholt.

Unter der Dusche überlege ich, wie man sie vertreiben könnte. Aber wo finde ich meine Scham, wenn sie sich so hartnäckig versteckt? Sobald ich sie stellen möchte, verhält sie sich still. Um plötzlich aufzutauchen, wenn ich beide Hände voll habe. Und jedes Mal überrascht sie mit einer anderen Verkleidung.

Ich sollte ihr auflauern, wo sie mir zum letzten Mal leibhaftig begegnet ist: im Sanitätshaus. Dort könnte ich mich so lange vor die Rollstühle und Inkontinenz-Artikel stellen, bis sie ihre Fratze zeigt. Das Handy klingelt. Eine halbe Minute später auch das Telefon. Ohne mich abzutrocknen, tappe ich ins Wohnzimmer. Es liegt auf dem Sims des zur Straße gehenden Fensters meiner Erdgeschosswohnung. Davor steht der DHL-Bote und mustert belustigt den nackten Mann. In Andeutung eines Grußes hebe ich die freie Hand. Das wirkt wohl wie eine Entschuldigung, denn er nickt mit einem Nicht-so-schlimm-Grinsen und wendet sich ab.

Um mich gegen die Scham abzuhärten, bleibe ich am Fenster stehen, und wenn der Papst vorbeikäme! In der Leitung ist ein äußerst munterer Bankberater. Ob er stören würde, erkundigt er sich, denn er hätte mir geradezu Unglaubliches über ein neues Finanzprodukt mitzuteilen.

«Wenn es Ihnen nichts ausmacht», antworte ich im Eindruck der letzten Begegnung, «dass ich gerade vollkommen nackt bin.»

Der Berater entschuldigt sich umständlich. Es täte ihm «unendlich leid». Er bringt gerade noch heraus, gleich wieder anzurufen.

Sichtbare Nacktheit scheint weniger peinlich zu sein als die nur vorgestellte. Aber merkwürdig ist es doch, dass meine ihn so verunsichert. Wo er mich nicht einmal nackt kennt, überlege ich beleidigt. Vielleicht ist sie für ihn deshalb kaum erträglich, weil er selbst gerade einen Anzug trägt.

Ich warte eine Stunde lang auf seinen Rückruf. Als dieser ausbleibt, löst dies in mir ein sonderbar schlechtes Gewissen aus und verwandelt den Erfolg, schamlos nackt am Fenster ausgeharrt zu haben, in eine weitere Niederlage.

3

Ob der Kampf gegen die Scham wenigstens auf gleicher Augenhöhe zu führen ist, wo nicht einmal der gegen meinen Körper zu gewinnen ist? Unwillkürlich fällt mir das Sanitätshaus wieder ein. Ein Besuch dort wäre wohl mehr ein Akt der Selbstbestrafung als der geeignete Schauplatz für die nächste Runde. Auf dem Programm stünde dann ein Rollstuhl. Lässt sich Scham vorwegnehmen, wenn ich mich ihr nur oft genug aussetze, als Abschlagzahlung auf kommendes Leid?

Stattdessen könnte ich den Sexshop gegenüber aufsuchen und mich an der verdrucksten Scham der anderen Kunden weiden. (Der Verdacht hat mich bereits mehrfach beschlichen, dass Scham etwas mit Einsamkeit zu tun hat. Inzwischen bin ich mir sicher, dass sie eine uneingestandene Leere füllt.)

Peinlichkeit und Lust liegen nur einen Pulsschlag auseinander. Für diese Erkenntnis hätte ich nur an meinem nackten Körper hinuntersehen müssen. Es ist sicherlich kein Zufall, dass die Zonen der größten Lust mit denen der größten Scham zusammenfallen. Nicht ohne Hintersinn wurde die entsprechende Körperzone benannt: «Schamgegend», inklusive der zugehörigen Hügel und Lippen für Frauen, bei den Männern immerhin der Behaarung. Letztere gehöre genauso selbstverständlich und regelmäßig gestutzt wie die im Gesicht, mahnen seit ein paar Jahren vor allem Frauenmagazine. Dem Thema Intimrasur widmen sie sich mit beunruhigender Regelmäßigkeit, als ob sich damit auch die Scham domestizieren ließe.

Ich sitze mit offenem Hemd auf dem Bett und weiß jetzt schon, dass ich höchstens die Homepage des Sanitätshauses aufsuchen werde. Um mich vom neuerlichen Groll über meine Feigheit abzulenken, blättere ich in einem der verstaubten Uni-Ordner. Mit der Scham habe ich mich schließlich bereits auseinandergesetzt, wissenschaftlich. (Damals hat mich das Thema einzig aus dramaturgischen Gründen interessiert: wie in französischen Boulevardkomödien die Angst vor der Aufdeckung eines Seitensprungs ein knarrendes Räderwerk aus Lügen, Intrigen, Verwechslungen in Gang setzt. Denn der Liebhaber der Frau sitzt immer schon mit am Tisch…)

Nach Jean-Paul Sartre muss es, wenn ich meine zehn Jahre alte Magisterarbeit richtig verstehe, nicht einmal zu einer Entblößung kommen, um sich durch den Blick eines anderen Menschen seiner Nacktheit bewusst zu werden. Man kann also nackter als nur unangezogen sein. Allein die Tatsache, dass es mich gibt, dass ich von dem Anderen angeschaut werden kann, reicht aus. Ob nackt oder angezogen, ist dem Existenzialisten gleichgültig. Allein der Blick des DHL-Boten macht mich zum Objekt, zum morgendlichen Kuriosum des Münchener Westends. Ich bin nicht mehr derjenige, der sein Telefon sucht, sondern «der nackte Mann am Fenster»: ein Witz, eine Provokation, eine Bagatelle, eine Geschmacklosigkeit… Nicht ich befinde darüber, sondern ein Fremder. Sartre: Die Scham ist Scham über sich, sie ist Anerkennung dessen, dass ich wirklich dieses Objekt bin, das der Andere anblickt und beurteilt.

Der Blick sei aber nicht an den Körper gebunden, die bloße Möglichkeit der Anwesenheit des Anderen reicht aus, sich selbst fremd zu werden. Scham ist ein Dauerzustand, eine Bedingung des Daseins, kein Gefühl. Da hilft dann wohl nur: zurückzuglotzen, damit die Schambilanz wenigstens ausgeglichen ist.

Nicht das Angeblicktwerden ist eigentlich schmerzhaft, sondern vor allem, eine Rolle zugeteilt zu bekommen, die ich mir nicht aussuchen kann. Der entkäme ich nicht, selbst mit einem um den Hals gehängten Schild, auf dem steht: «Ich bin nicht nackt, sondern suche nur mein Telefon.»

Scham hat also etwas mit dem Verlust der Deutungshoheit zu tun. Deswegen ist mir mein Gehstock manchmal so verhasst. Weil er eben nicht nur ein Hilfsmittel ist, sondern ein Ausweis der Invalidität. Das peinliche Gefühl entspringt der Unterstellung, andere würden mich für «den» Behinderten halten. Gesagt hat es mir noch niemand.

Der Blick des DHL-Boten macht mir überhaupt erst bewusst, dass ich einen Körper habe, würde Sartre sagen. Den ich mit Kleidung zu verhüllen habe. Den ich seinen Blicken entziehen muss, wenn ich als «Ich». (als Empfänger von Paketen) anerkannt werden möchte. Durch den Blick des Andern erlebe ich mich als mitten in der Welt erstarrt, als in Gefahr, als unheilbar.

Obwohl dies ein wenig streng nach säurehaltigem Papier muffelt, legen sich seine Gedanken wie ein flauschiger Morgenmantel um mich. Je länger ich über Sartre nachdenke, desto mehr verschwindet das peinliche Gefühl gegenüber dem DHL-Boten:

Der Andere ist der versteckte Tod meiner Möglichkeiten, insofern ich diesen Tod als mitten in der Welt versteckt erlebe.

«Hirnwichserei», sagt Veronika trocken, als ich ihr – angezogen – einen kurzen Vortrag über den Blick des DHL-Boten aus Sartres Perspektive gebe. «So kommst du nicht weiter, wenn du dir die Scham abgewöhnen willst. Da musst du dir mehr einfallen lassen, als den Nackedei des Viertels zu geben.» Und dann fragt sie in mein peinlich berührtes Schweigen, ob der DHL-Bote wenigstens hübsch gewesen sei. Wäre ihr die Sache passiert, würde sie sich ausschließlich vor einem hässlichen genieren. – Die Magisterarbeit möchte sie sich ganz unabhängig davon einmal ausleihen, vorausgesetzt, sie enthielte genug nackte Haut und andere Schweinigeleien.

Der entblößte Körper ist und bleibt Fixpunkt aller Peinlichkeit und Scham. Die argentinische Präsidentin ließ unlängst in einem Interview verlauten, dass nicht einmal ein Bombenangriff auf ihr Haus sie am Morgen vom Schminken abhalten könnte.

4

Statt Sexshop und Sanitätshaus besuche ich meine Großmutter im Pflegeheim. Auch so ein Unort, an dem man nur mit gedämpfter Stimme spricht wie in der Kirche. Ihr ginge es nicht gut, behauptet mein Vater, und diesmal wirklich. Davon bemerke ich allerdings nicht viel. Sie sitzt, sorgfältig gekleidet wie jeden Vormittag, in dem zitronengelbgetünchten Aufenthaltsraum unter einer grotesk geformten Neonröhre und ist einigermaßen überrascht von meinem Erscheinen. Obwohl sie keinen Besuch erwartet hat, ist die Perücke ordentlich frisiert, die bis zum Hals zugeknöpfte Bluse gebügelt und der Rock gestärkt. Ganz im Gegensatz zum Erscheinungsbild ihres Enkels. Die Tage, an denen ich ohne Zahnpastaflecken oder Bartstoppeln unterwegs bin, lassen sich an einer Hand abzählen. Jedes Mal sagt Magdalene deshalb zur Begrüßung:

«Es hat wohl heute nicht mehr zum Rasieren gereicht. Hast wieder so viel um die Ohren?»

Ich nicke dann halbherzig.

Vor ihr liegt die aufgeschlagene Programmzeitschrift. Mit einem undurchschaubaren Ankreuz- und Unterstreichsystem bereitet sie sich auf den Abend vor. Ob ich am Samstag nichts Besseres zu tun habe, als sie zu besuchen, fragt sie ganz beiläufig, sodass ich jeder Antwort enthoben bin. Stattdessen erkundige ich mich nach ihrer peinlichsten Erfahrung in der letzten Zeit. Sie ziert sich ein wenig, bis sie nach einer bedeutungsvollen Pause mit gesenkter Stimme gesteht:

«Vorgestern habe ich vor dem Einschlafen vergessen, den Fernseher auszuschalten.»

Ich warte. Aber es kommt nichts mehr. Was daran peinlich sei, frage ich.

«Man kann durch das Fenster sehen, wenn er läuft. Wegen dieser Lamellen, die bekommt man einfach nicht dicht. Und jetzt meint jeder, die Alte würde die ganze Nacht die Glotze anlassen. Wie die auf der geschlossenen.» Sie sieht mich voll flammender Entrüstung an. Mit einer abschätzigen Geste weist sie auf eine Mitbewohnerin im Rollstuhl. Diese starrt mit leeren Augen auf eine verstummte Biene Maja. Meine Hand tätschelnd, fährt Magdalene fort: «Hast du endlich Jalousien in deinem Wohnzimmer?» Ich schüttle verneinend den Kopf. «Aber du wohnst doch im Erdgeschoss. Da kann dir ja jeder Passant hineinschauen, eine Zumutung ist so was.»

Ein Peinlichkeitsdetektor müsste wohl für jeden Menschen aufs Neue geeicht werden… Sobald meine Freunde sich wegen irgendetwas schämen, bemühe ich mich nach Kräften, sie zu verstehen. Magdalenes Scham hingegen belächle ich, nehme sie ihr nicht ganz ab. Dabei erlebt sie diese wahrscheinlich ebenso brutal wie ich die meine, auch wenn mir ihre wie aus einem quietschbunten Heimatfilm entsprungen scheint.

Nach dem Essen bringe ich sie durch einen nicht endenden Flur mit Handläufen an den Wänden zurück in ihr Zimmer. Das gut einsehbare Bett, direkt gegenüber der Tür, hat sie mit Dutzenden von Kisschen und Häkelwerk ausgemauert. Den Vorschlag, es an die gegenüberliegende Wand zu schieben, wischte sie beiseite. Solange etwas «praktisch» ist, und sei es auch nur für andere, stellt Magdalene es nicht zur Disposition. In dem Regal über dem Bett stehen, links und rechts neben dem Kreuz, fünf Bücher. Drei Romane von Johannes Mario Simmel auf der einen Seite, auf der anderen neben der Bibel auch der Knigge in einer Clubausgabe aus den Sechzigern. Das Buch sieht unberührt aus.

«Hast du mal darin geblättert?», frage ich.

«Ach, der olle Knigge», sagt meine Großmutter, «den brauchst du nicht zu lesen. Solange man weiß, was drinsteht.»

Auf dem Heimweg lümmeln zwei Türkenjungs auf der Rückbank des Busses, rutschen aber sofort zur Seite, um mir Platz zu machen. Der eine wirft einen abschätzigen Blick auf das Handy seines Kumpels und ruft feixend:

«Wie peinlich ist das denn!»

Der andere klappt es zu, schiebt es in die Hosentasche und bemüht sich mitzulachen. Bei der nächsten Station steigen sie aus. Der mit dem peinlichen Gerät zuletzt. Auf der Straße wischt er sich mehrere Male die Hände an den Hosenbeinen ab und folgt schließlich seinem Freund. Kurz bevor sich die Türen des Busses schließen, höre ich, wie er ihm auf die Schulter schlägt und schreit:

«Du Spast!»

Ich werde rot. – Warum ich schon wieder?

Seit meinem gescheiterten Ausgehversuch bewege ich mich in einer Wolke aus Peinlichkeiten. Sobald man darauf achtet, ist die Scham so allgegenwärtig wie eine seltene Krankheit. Plötzlich kennt zumindest jeder jemanden, der auch davon betroffen ist. Peinlichkeiten sind ansteckend und hartnäckig wie eine Erkältung. Seitdem ich irgendwo gelesen habe, dass eine Hollywood-Diva bei den Dreharbeiten Mundgeruch hatte wegen maßlosen Verzehrs von Erdnussbutterbroten, kann ich ihr als Pretty Woman nicht mehr ohne ein unangenehmes Gefühl zusehen. Bei jeder Annäherung der Schauspieler zucke ich zusammen.

Wie wäre es wohl, in einer schamfreien Welt zu leben? Die Achtundsechziger müssten zumindest eine Idee davon gehabt haben. Aus lauter Trotz gegenüber den eigenen Eltern. – Mit diesem Klischee bin ich groß geworden. Doch Trotz ist auch nichts anderes als grell überschminkte Peinlichkeit. Und ganz so weit her war es mit der Schamlosigkeit nicht. Den Kommunenfotos haftet beim Betrachten vierzig Jahre später etwas Verdruckstes an. Aber ich kann daran nur mein eigenes, gegenwärtig gültiges Peinlichkeitsverständnis ablesen. Selbst wenn man ein objektives Messinstrument konstruieren könnte, hätte man Probleme, die Skala richtig zu justieren. (Das macht Kulturgeschichten der Peinlichkeit nur beschränkt haltbar.)

Ein solcher Peinlichkeitsdetektor hätte wohl Ähnlichkeit mit einem Geigerzähler. Er wäre zuerst zu programmieren auf die schier unendlichen sprachlichen Erscheinungsformen der Scham. Allein diese Ausschläge würden ein konstantes Grundrauschen erzeugen. Als Nächstes müsste man das Gerät auf alle körperlichen Symptome einstellen: das Erröten, das Blickabwenden oder Kopfsenken, das leichte Anheben der Schultern, die verschränkten Arme und gefalteten Hände… Schon wären die Ausschläge wesentlich deutlicher.

Aber zuverlässig wäre das Gerät dennoch nicht. Es knatterte zwar ununterbrochen, doch in der nächsten Sekunde ist die Peinlichkeit bereits wieder zerfallen wie eine radioaktive Substanz. So entzieht sie sich jedem direkten Nachweis. Und was vollzieht sich wohl erst alles unsichtbar? Scham kann die Grundfesten einer Existenz zerstören, sie aufschlitzen wie der Eisberg einen Schiffsrumpf. Ein Peinlichkeitsdetektor misst bei Temperaturen unterhalb des Gefrierpunktes nichts.

Ebenso versagt der Apparat beim Nachweis all dessen, was aus Scham unterlassen, eben nicht gesagt oder getan wird. Die meisten Peinlichkeiten bleiben irgendwo zwischen Galle und Hasenherz stecken. Jeder obszöne Gedanke auf der Straße, die Gewaltphantasien in einem überfüllten Kaufhaus, die Verwünschungen beim Autofahren – wenn sie alle ruchbar würden, gäbe es einen Eklat. Alle zwischenmenschlichen Beziehungen gerieten ins Wanken.

Menschen, die nicht einmal vor sich selbst eingestehen würden, was sie alles aus vorauseilender Peinlichkeit unterlassen, weil ihnen selbst peinlich wäre, dass es ihnen peinlich ist, schlagen um den Detektor einen weiten Bogen. Und schließlich gibt es sogar Zeitgenossen, die aus Stolz niemals eingestehen würden, dass ihnen etwas peinlich wäre. Wie Christian. Er versteckt seine Schamhaftigkeit hinter Noblesse: Nie würde er das Haus mit ungeputzten Schuhen verlassen. Was ihn nicht davon abhält, sich über eine trotz hochsommerlicher Temperaturen tiefverschleierte Muslima zu mokieren.

Peinlichkeit verursacht wenigstens Hitze. Sie ist weniger leicht zu übersehen, an sich und bei anderen. Die Scham hingegen verbirgt sich so überaus raffiniert, dass man wohl erstaunt wäre, worin sie überall ihre eiskalten Finger stecken hat.

Vor lauter Begeisterung über meine Erfindung habe ich zu lange herumgetrödelt. Fünfzig Meter von meiner Wohnung entfernt passiert es: Der dunkle Fleck breitet sich auf der hellblauen Jeans rasch aus. Da mich, schon wegen des Stockes, kaum jemand von oben bis unten mustert, wird dies wahrscheinlich unbemerkt bleiben. Versuche ich mir einzureden. Dennoch gleicht der restliche Weg – fünfzig Meter können sehr lang sein, wenn man nicht laufen kann – einem Spießrutenmarsch. Wie gut, dass mir das nicht bei Magdalene passiert ist, denke ich. Schockiert wäre sie wahrscheinlich weniger als meine Freunde. Zu befürchten steht eher, dass sie mich in ihr Koordinatensystem der Peinlichkeiten einordnen würde. Da säße ich dann direkt neben der dementen Heimbewohnerin im Rollstuhl und sähe Biene Maja.

Endlich daheim, die Tür von innen zweimal abgesperrt. Schlagartig wird mir klar, dass ich keinen Peinlichkeitsdetektor brauche.

Ich bin selbst einer.

5

Die Waschmaschine läuft. Im Bett liegend, im Adamskostüm – wie Magdalene es ausdrückt, wenn sie sich trotz aller Verrenkungen nicht mehr um «nackt» herumdrücken kann – fische ich nach der Bibel. (In meinem Freundeskreis ist eine griffbereite Bibel am Bett anrüchiger als ein Stapel Pornohefte. Deswegen verstecke ich Erstere darunter.)

Dass die Erschaffung der Scham in der Genesis just am Tag danach stattfindet, also am Montag nach dem großen Schöpfungsrausch, ist nicht weiter verwunderlich. Peinlichkeit gehört zu einem Kater wie Kopfschmerzen.

Beide, Adam und seine Frau, waren nackt, aber sie schämten sich nicht voreinander. – Dieses verdruckste «aber» macht mich stutzig. Zumindest der Erzähler ahnt also bereits das dicke Ende voraus. Wo doch angeblich alles perfekt ist im Paradiesgarten. Adam und Eva tollen nackt herum, der Schöpfer hat derweil anderswo zu tun. Allein, es kommt, wie es kommen muss, die beiden essen – verführt durch die listige Schlange – von dem verbotenen Baum, dessen Früchte hellsichtig machen für Gut und Böse. Nichts dergleichen geschieht: Keine Genieblitze, keine Erfindungen überkommen sie, nicht einmal ein schlechtes Gedicht fällt ihnen ein. Ihnen dämmert lediglich, nackt zu sein. Also basteln sie sich einen Schurz aus Feigenblättern. (Besonders frohgemute Kommentatoren preisen dies als Ausdruck von Kreativität.) Selbst diese Erkenntnis ist verbunden mit Scham. Und schlechtem Gewissen. Denn als Gott von seinem Ausflug zurückkehrt, verstecken sie sich vor ihm. Obwohl Adam ganz genau weiß, wessen er sich eigentlich schämen sollte, versucht er es mit einer Notlüge: Er hätte sich versteckt, weil er nackt sei. Als ob der Schöpfer dies nicht selbst sähe!

Schuld, Nacktheit, Lüge und Scham, alles klebt wie die Feigenblätter des Schurzes aneinander. Gerade diese Verquickung bedeutet für die Zukunft der Menschheit viel Leid. Dies vorausahnend, ist Gottes Antwort ebenfalls nicht frei von Scheinheiligkeit:

«Wer hat dir gesagt, dass du nackt bist?» – Wer wohl?

Ich werde auch beim wiederholten Lesen den Eindruck nicht los, dass Gott es mit der Aufstellung des Baumes, dem ausgesprochenen Verbot und der wie zufällig herumkriechenden Schlange genau darauf abgesehen hatte, dass seine Schützlinge das Gebot missachteten. Er wollte sich selbst die Hände mit dem Sündenfall nicht schmutzig machen. Auch eine Möglichkeit, der Scham auszuweichen, indem man sie anderen an den Schurz bindet.

6

Seit Wochen versorge ich mich im Internet mit den Details eines Betrugsfalles. Eine wohlhabende Unternehmertochter wurde mit zweifelhaften Videos von einem windigen Liebhaber erpresst. Umzugskartons voller Geld sind in einer Tiefgarage übergeben worden. Zunehmend dreister ging dieser zu Werke, bis es ihr zu viel wurde und sie ihn schließlich anzeigte.

Selbst die Zusammenfassung der Vorkommnisse ist mir unangenehm, gerade weil ihre Angelegenheit mich nichts angeht. Dieses Gefühl, einen Übergriff zu begehen, verursacht auf allen Seiten ein schlechtes Gewissen. Und dieses ist ohne Scham nicht zu haben. Um es zu übertönen, wird der Skandal mit erhobener Stimme vom Boulevard zelebriert. Die seriösen Zeitungen zehren davon, indem sie in Anführungszeichen dasselbe berichten. Leitmotiv und eigentlicher Ausgangspunkt der Geschichte bildet das Geld der Frau. Nur wegen diesem wird sie überhaupt erzählt, wieder und wieder, ohne dass es eine neue Wendung gäbe. (In den meisten Fällen hat der Vorwurf von Schamlosigkeit oder Unverschämtheit mit Geld zu tun. Dass sich jemand bereichert hat, betrogen hat oder wurde. Ein Mischmasch aus heimlicher Bewunderung, Abscheu und Respekt. Meist schwingt auch unüberhörbar Neid mit, dass sich jemand «so etwas» traut.)

«Die Peinlichkeiten nehmen kein Ende», schreibt eine Zeitung. Und die nächste über eine dritte, um sich nicht selbst die Finger schmutzig zu machen: «Eine italienische Zeitschrift hat ein Vernehmungsprotokoll ins Internet gestellt, aus dem nun wiederum deutsche Medien zitieren.»

Um die Fallhöhe zu vergrößern, wird behauptet, es hätte ihr auf Erden nichts Peinlicheres zustoßen können. – Eine Unterstellung, denn die Dame schweigt beharrlich. Ihre Sicht der Dinge interessiert niemanden, da die Zaungäste auch so zu wissen glauben, wie sie sich fühlt. Dies geht wegen der vielen Millionen, die im Spiel sind, umso leichter über die Lippen.

Plötzlich fühle ich mich der Betrogenen unsagbar nahe, möchte mich neben sie an den Pranger stellen, sie abschirmen. Ich sollte ihr einen Brief schreiben, als Zeichen des Verständnisses, eine Solidaritätsadresse von gleich zu gleich:

Sehr geehrte Dame, ich bin gerade dabei, mir die Scham abzugewöhnen, was Sie vielleicht interessieren könnte. Ohne es wirklich