Engel & Heilige - Eliot Weinberger - E-Book

Engel & Heilige E-Book

Eliot Weinberger

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Beschreibung

Wie viele Engel gibt es ? Mehr als Sterne am ­Himmel, als Sand am Meer, heißt es. Andere haben nach­gerechnet: genau 301.655.722 – oder doch 399.920.004 ? So oder so: Wir sind von Engeln durch­drungen und umzingelt. Was aber wissen wir über diese himmlischen Wesen ? Woher kommen sie, woraus sind sie gemacht, wie kommu­nizieren sie miteinander, können sie hören, ­riechen, schmecken, fühlen ? Die Antworten kennt Eliot Weinberger. In seinen eleganten ­Essays ­kondensiert er theologische Schriften aus vielen Jahrhunderten zu einer poetischen Vermessung der himmlischen Heerscharen und berichtet anschließend vom Leben ihrer irdischen Gegenstücke: den Heiligen. »Eines der genialsten Bücher, die ich in den letzten Jahren in der Hand gehalten habe.« Hans Ulrich Obrist in der Basler Zeitung

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EliotWeinberger

ENGEL&HEILIGE

Aus dem Englischen vonBeatrice Faßbender

I.ENGEL

II.HEILIGE

III.DAS JENSEITS

ÜBER DEN AUTOR

I.

ENGEL

Engel

1.

Als bewaffnete Männer kommen, um Jesus gefangen zu nehmen, zückt einer seiner Anhänger ein Schwert und schlägt dem Knecht eines Hohepriesters das Ohr ab. Jesus fordert ihn auf, das Schwert einzustecken. »Oder meinst du, ich könnte meinen Vater nicht bitten, dass er mir sogleich mehr als zwölf Legionen Engel schickte?« Eine römische Legion zählte damals fünftausend Mann, doch Origenes von Alexandrien zeigte im 3. Jahrhundert, dass eine himmlische Legion 6666 Engel umfasst. Zwölf solcher Legionen wären ein Bruchteil dessen gewesen, was die Bibel als »himmlisches Heer« bezeichnet. Die Offenbarung spricht von »zehntausendmal zehntausend und vieltausendmal tausend« Engeln. Im Hebräerbrief ist lediglich von einer unzähligen Menge die Rede. Bernhardin von Siena sagte im 15. Jahrhundert, es gebe mehr Engel als Sterne am Himmel, als Sand am Meer, als alle fassbaren Dinge. Indem sie Worte in Zahlen verwandelten, kamen Kabbalisten des 14. Jahrhunderts auf exakt 301.655.722 Engel, obwohl laut dem Zohar am zweiten Schöpfungstag 600 Millionen und später noch weitere erschaffen wurden. Marsilio Ficino führte im 15. Jahrhundert Origenes weiter aus und sagte, in der Tat gebe es 6666 Engel pro Legion und 6666 Legionen pro Ordnung sowie neun Ordnungen, die Gesamtzahl aber (die sich andernfalls auf 399.920.004 beliefe) bleibe unermesslich. Eine der größten Schätzungen findet sich im apokryphen 3. Buch Henoch, wo jeder der sieben Erzengel 496.000 Myriaden anführt und jede Myriade 10.000 Engel umfasst: insgesamt 34.720.000.000 Engel. William Cross sagte im 18. Jahrhundert schlicht: »Ihre Zahl zu computiren, übersteiget das Vermögen der Arithmetik«. Andere haben sich gefragt, wie Engel – körperlose Wesen – wohl zu zählen seien.

Erstaunlich wenig war zunächst über die Engel bekannt. In der Bibel werden sie keine zweihundert Mal und meist nur beiläufig erwähnt. (Und sobald im Alten Testament ein überirdisches Wesen in Erscheinung tritt, handelt es sich oft womöglich um Jahwe selbst.) Sie erscheinen oder agieren, doch die Substanz ihres Daseins wird nicht erläutert. Augustinus von Hippo sagte im 4. Jahrhundert, es sei leichter zu wissen, was Engel täten, als was sie seien. Thomas von Aquin erklärte im 13. Jahrhundert, Moses rede deshalb nicht von den Engeln, denen er begegnet sei, weil er »zu einem ungebildeten Volk sprach, das noch nicht imstande war, körperlose Wesen zu begreifen«.

Werden sie doch einmal beschrieben, sehen die biblischen Engel meist aus wie junge Männer – und nicht, wie in der späteren Ikonografie, wie junge Frauen oder Androgyne oder Knaben oder Kleinkinder. Nur bestimmte Engel haben Flügel. Als zwei Engel auf der Suche nach zehn Gerechten nach Sodom kommen, fühlen die Sodomiten sich von ihnen angezogen und wollen sich über sie hermachen. Ein Engel mit gezücktem Schwert war für Bileam unsichtbar, nicht aber für dessen Eselin. Der Engel, der Simsons bis dahin unfruchtbarer Mutter mitteilt, sie werde ein Kind empfangen, hat eine »sehr schreckliche« Gestalt. Ein Engel mit einem Gesicht wie ein Blitz und einem Gewand weiß wie Schnee rollt den Stein von Jesu Grab, um zu zeigen, dass er fort ist. (Oder, so ein anderes Evangelium, die Menschen rollen den Stein selbst vom Grab und finden darin einen weißgekleideten jungen Mann vor. Oder, so ein wieder anderes Evangelium, sie finden zwei junge Männer vor.)

Der Puritaner Increase Mather sagte, Engel seien unsichtbar, nur Dämonen zeigten sich. Doch 1685 sah sein Sohn Cotton in Boston einen Engel mit seltsam asiatisch anmutenden Accessoires:

Nach Gebetsströmen voller Inbrunst und strengstem Fasten erschien ein Engel, dessen Antlitz strahlte wie die Mittagssonne. Seine Züge waren die eines Mannes und bartlos; sein Haupt eingefasst von einer prächtigen Tiara; an seinen Schultern waren Flügel; seine Kleider waren weiß und glänzend; sein Gewand reichte ihm bis zu den Knöcheln; und um seine Lenden war ein Gürtel, nicht unähnlich den Leibriemen der Völker des Ostens.

Dreißig Jahre zuvor hatte der Universalgelehrte Athanasius Kircher in Rom einen anderen, seine Interessen widerspiegelnden Engel erblickt:

Sein Haupt und Antlitz strahlten hell, seine Augen funkelten wie Juwelen, sein ganzer Leib war in ein exotisches Gewand gehüllt, und Federn in allen nur denkbaren Farben schmückten seine gefalteten Flügel. Seine Hände und Füße waren schöner als jeder Edelstein. In seiner Rechten hielt er einen Globus, der die Bahnen der Planeten zeigte, darauf kleine Sphären aus bunten Edelsteinen: ein wundersamer Anblick. In seiner Linken trug er einen juwelenbesetzten Messstab, herrlich kunstvoll gefertigt und verziert.

Zur gleichen Zeit wurden in England auf dem Land mehrfach vogelartige Engel gesichtet. Manche waren von »bläulicher Farbe und wohl der Größe eines Kapauns, mit Gesichtern wie Eulen«. Andere waren »in ihrer Gestalt wie Vögel, groß wie Truthähne und mit christengleichen Gesichtern, indes die lieblichsten Kreaturen, die Augen je erblickt«. Zwei andere erschienen schlicht in Form einer Taube und eines Rebhuhns. Ein spiegelbildliches Pendant dazu gab es etwas früher im eroberten Mexiko: Traditionell stellte man sich die yolia – die Lebenskraft, die, in etwa der christlichen Seele vergleichbar, dem Körper innewohnt und ihn im Tod verlässt – als Vogel vor. Als Ureinwohner also die kolonialspanischen Bilder der Jungfrau Maria sahen, umgeben von blassen, geflügelten Engeln, glaubten sie, es handele sich dabei um Gelbkopfamazonen.

In Irland hatten Engel überhaupt keine Gestalt, sondern waren blendende Lichter. »Weh dem«, schrieb ein Dichter im 15. Jahrhundert, »der beim Anblick der strahlenden Sonne nicht an das Strahlen der Engel denkt.«

Johannes von Damaskus sagte im 8. Jahrhundert, ein Engel sei »eine stets bewegliche vernünftige Substanz«, und in der Jahrhunderte währenden Debatte über das Wesen der Engel wurde allgemein geglaubt, dass Engel weder über einen biologischen Körper verfügten – obwohl sie einen himmlischen Duft verströmen –, noch dass sie gänzlich körperlos seien. Origenes sagte, es sei »Gottes Merkmal allein, frei von jeglicher materiellen Substanz und ohne jede körperliche Beigabe zu existieren«. Bernhard von Clairvaux – der die Kirche von Foigny von einer Fliegenplage befreite, indem er die Tiere exkommunizierte, Autor des berühmten »Gebets zur Schulterwunde Christi« und Dantes letzter Führer durch das Empyreum – sagte im 12. Jahrhundert ganz ähnlich: »Ordnen wir Gott allein Körperlosigkeit zu, wie wir auch Unsterblichkeit ihm allein zuordnen, bedarf doch seine Natur allein weder um ihrer selbst willen noch aufgrund von irgendetwas anderem des Beistandes irgendeines körperlichen Organs. Dagegen bedarf jeder geschaffene Geist offenkundig einer körperlichen Substanz.«

Augustinus löste das Dilemma mit der Behauptung, Engel träten »mit angenommenen Körpern« in Erscheinung. Thomas von Aquin, bekannt als Doctor angelicus, pflichtete ihm in seiner ihm eigenen Rhetorik bei: »Es steht nicht im Widerspruch zur Wahrheit der heiligen Engel, dass sie durch ihre angenommenen Körper als lebendige Menschen erscheinen, obwohl sie es nicht sind.« Er ergänzte: »Die Engel bedürfen eines angenommenen Körpers nicht für sich, sondern unserthalben; damit sie den Menschen, indem sie auf vertraute Weise mit ihnen umgehen, von der geistigen Gesellschaft zeugen, die sie im künftigen Leben mit den Engeln erwarten.«

Damit kam die Frage nach der Beschaffenheit des angenommenen Körpers auf. Diejenigen, so Thomas von Aquin, die gegen Körper annehmende Engel argumentieren, sagen, dass »Engel keine Körper aus Erde oder Wasser annehmen, sonst könnten sie nicht unversehens verschwinden; ebenso wenig aus Feuer, andernfalls würden sie alles, was sie berühren, verbrennen; ebenso wenig aus Luft, denn Luft hat weder Form noch Farbe«. Sie glauben, Engel erschienen nur in Visionen, wobei Thomas von Aquin darauf hinweist, dass sie in der Bibel für mehrere Personen zugleich sichtbar seien. Bonaventura, bekannt als Doctor seraphicus, meinte im 13. Jahrhundert, Engel seien eine Mischung aus Luft und einer Anhäufung von Elementen. Der angenommene Körper besaß allerdings nicht die Reinheit des engelhaften Wesenskerns. (Wie John Donne es im 17. Jahrhundert formulierte: »Wie Engel Schwingen und Gesicht / Von Luft hat, zwar nicht engelrein, doch rein, / Kann deine meiner Liebe Sphäre sein.«) Thomas von Aquin dagegen sagte, sie bestünden aus Luft allein: »Im Zustand der Verdünnung hat Luft zwar weder Form noch Farbe; verdichtet aber kann sie durchaus sowohl geformt als auch farbig sein, wie sich an den Wolken zeigt. Solcherart nehmen die Engel Körper an, indem sie die Luft kraft göttlicher Macht so weit verdichten, als es zur Ausformung des angenommenen Körpers erforderlich ist.« Zudem seien sie, hielt er fest, vollkommen durchsichtig.

In der Bibel essen und trinken sie – als Gäste Abrahams und bei anderen Gelegenheiten –, doch da sie Luftwesen sind, scheinen sie nur zu essen und zu trinken. Thomas von Aquin nannte dies »sinnbildlich für spirituelles Essen«. Im halbapokryphen Buch Tobit erläutert es der Erzengel Raphael Tobias genauer: »Es schien wohl, als äße und tränke ich mit euch; aber ich brauche unsichtbarer Speise und eines Trankes, den kein Mensch sehen kann.« Doch einen menschlichen Leib anzunehmen oder so zu tun, als würde man essen oder trinken, ist eine Form von Täuschung. Das war ein theologisches Rätsel: Dämonen täuschen natürlich, aber sind Engel, die durch und durch gut sind, der Täuschung fähig? Manche meinten, ihre Täuschung diene einem höheren Zweck; andere meinten, entgegen sämtlichen Belegen aus der Bibel, sie hätten deutlich gemacht, dass sie Engel seien und keine Menschen.

Pragmatische Protestanten lösten oder umgingen die Frage mit der Beteuerung, bei den angenommenen Körpern der Engel handele es sich um echte Körper, und sie äßen tatsächlich – wobei manche behaupteten, sie nähmen »Engelsnahrung« zu sich. Johannes Calvin im 16. Jahrhundert: »Ich hege keinen Zweifel, dass Gott, der die ganze Welt aus nichts geschaffen hat und der sich bei der Ausgestaltung seiner Geschöpfe als wundervoller Meister zeigt, ihnen zeitweise Leiber gab, in denen sie die ihnen anvertraute Aufgabe erfüllen konnten. Und da sie wahrhaftig gingen, sprachen und andere Dienste verrichteten, komme ich zu dem Schluss, dass sie ebenso wahrhaftig aßen.« Im 17. Jahrhundert tat John Milton die Idee, Engel äßen nicht, als »Meinung gottgelahrter Herrn« ab. Die Engel in Das verlorene Paradies haben einen kräftigen Appetit und sogar – wenn auch nicht näher beschriebene – Verdauungsorgane.

Von Anfang an sahen sich die frühen und mittelalterlichen Gelehrten mit vielen verzwickten Fragen konfrontiert. Ätherische Wesen können vermutlich über keine Körper- oder Sinnesorgane verfügen. Falls es also die sprichwörtlichen »Engelszungen« nicht gibt, wie sprechen sie dann zu den Menschen und zu einander, wie singen sie ihre Lobgesänge auf Gott im Himmel? Syntaktisch Gertrude Stein vorwegnehmend, erklärte Augustinus, Gott spreche »mit den Engeln nicht so, wie wir miteinander sprechen oder mit Gott oder mit den Engeln, oder wie die Engel mit uns sprechen oder Gott mit uns durch sie«. Gott und die Engel sprächen tonlos – ohne »lärmende, gesprochene Worte« – und würden von »innerlichen« oder »geistigen« Ohren gehört.

Ganz ähnlich sagte Thomas von Aquin, Engel verständigten sich durch »inneres Sprechen« miteinander, indem sie willentlich Gedanken aussenden – eine Art Telepathie, die im Nu große Entfernungen überwinden kann. Bei den »Engelszungen« handele es sich lediglich um eine Metapher für die »ihnen innewohnende Kraft, mit deren Hilfe sie ihre Gedanken kundtun«. Spreche ein Engel aber zu einem Menschen, so spreche er »nicht eigentlich mit seinem angenommenen Körper; vielmehr imitiert er Sprache, indem er in der Luft Laute formt, die menschlichen Worten gleichkommen«. So wie sie die Luft verdichten, um sichtbar zu werden, verdichten sie die Luft, um Laute hervorzubringen. Diese Erklärung war jahrhundertelang allgemein akzeptiert. Was den Inhalt dieser imitierenden Rede angeht, blieb es strittig, ob die Engel von sich aus sprechen oder ob Gott durch sie spricht – ob sie also, mit unseren Begriffen ausgedrückt, bewusste Individuen oder Funkgeräte sind.

Gleichwohl brachten sie auf irgendeine Weise wunderschöne Musik hervor. Humilitas von Faenza, die im 13. Jahrhundert an der Kirche St. Apollinaris lebte, in einer fensterlosen Zelle mit nur einem schmalen Schlitz, damit sie die Messe verfolgen und die Kommunion empfangen konnte, hörte sie: »Jedes Mal, wenn sie ihre Flügel im Flug entfalten und sie dann anmutig wieder zusammenlegen, machen sie ihren Dienst zum süßen Lied. Weil es Seelen sind, die über die Macht des Höchsten verfügen, erschaffen sie ein Lied, das kein anderes Geschöpf zu singen vermag.«

Ihre fehlenden Sinnesorgane brachten die Frage auf, was die Engel sehen oder hören oder erfahren können – und was sie, sollten Erfahrungen ihnen verwehrt sein, lernen oder wissen oder erinnern können, oder ob sie überhaupt Erinnerungen haben. Thomas von Aquin machte gegen die Einwände zunächst geltend, dass die Engelserscheinungen über sichtbare Sinnesorgane verfügten und dass

es in den Werken der Engel nichts gibt, das keinen Zweck erfüllte. Augen, Nasenlöcher und die übrigen Sinnesorgane aber wären im angenommenen Körper des Engels ohne jeden Zweck ausgestaltet, nähme er durch sie nichts wahr. Mithin dient der angenommene Körper dem Engel der Wahrnehmung.

Bei der Frage, wie Engel etwas wahrnehmen, bleibt er untypisch vage:

Erfahrung kann den Engeln aufgrund der Ähnlichkeit der gekannten Dinge zugeschrieben werden, nicht aber aufgrund der Ähnlichkeit der erkennenden Kraft. Wir machen eine Erfahrung, wenn wir einzelne Objekte durch die Sinne erkennen; ganz ähnlich erkennen die Engel einzelne Objekte […], jedoch nicht durch die Sinne. Ein Gedächtnis aber lässt sich den Engeln zugestehen, gemäß Augustinus, der es in der Vernunft ansiedelt; doch kann es ihnen nicht zugehören, sofern es Teil der fühlenden Seele ist.

Manche fragten sich, ob ein Engel andere Engel erkennen oder gar sich selbst kennen könne. (Thomas von Aquin: »Die Engel wissen nicht völlig um ihre Kraft; entstammt sie doch der göttlichen Weisheit Ordnung, die den Engeln nicht begreiflich ist.«) Gregor von Nyssa hatte Engel im 4. Jahrhundert als »vernunftbegabte Tiere« bezeichnet, Thomas von Aquin aber sagte, »da das Geisteslicht im Engel, der doch einen reinen und völlig ungetrübten Spiegel darstellt, makellos ist […], folgt daraus, dass der Engel nicht mit dem Verstande begreift«.

Augustinus hatte gesagt, im Himmel würden »unsere Gedanken nicht mehr flüchtig sein und von einem Ding zum anderen wandern und wieder zurück; vielmehr werden wir all unser Wissen auf einen Blick zugleich erfassen«, weshalb gemutmaßt wurde, dass dies die Erkenntnisweise der Engel sei. Manche sagten, im Augenblick ihrer Erschaffung sei ihnen Allwissenheit verliehen worden, doch seien sie nicht imstande, etwas Neues oder Bestimmtes zu lernen. (Allerdings sagte Isidor von Sevilla im 7. Jahrhundert, dass »Dämonen mehr durch Erfahrung lernen«.) Andere meinten, da sie allwissend seien, bestehe für sie keine Notwendigkeit, etwas Neues zu lernen.

Die Frage nach ihrem Erinnerungsvermögen wurde von Thomas von Aquin mit einem falschen Zitat beantwortet: »Isidor sagt, die Engel hätten vieles aus Erfahrung gelernt. Erfahrung aber entsteht nach [Aristoteles] aus vielen Erinnerungen. Mithin verfügen sie ebenfalls über Gedächtniskraft.«

In Wirklichkeit konnten die Engel mitunter seltsam ahnungslos sein. Christen neigten dazu, alles im Alten Testament – von einzelnen, aus dem Zusammenhang gerissenen Sätzen bis hin zu den leibhaftigen Liebenden aus dem Hohelied – als Prophezeiung oder wörtliche oder allegorische Beschreibung dessen zu lesen, was sich im Neuen Testament ereignen sollte. Justin der Märtyrer und Irenäus von Lyon im 2. Jahrhundert und Athanasius von Alexandrien im 4. Jahrhundert nahmen ein paar Zeilen aus Psalm 24 – »Wer ist denn dieser König der Ehren? Es ist der Herr der Heerscharen; er ist der König der Ehren!« – und erkannten darin eine Szene aus der Himmelfahrt Jesu: Die verwirrten himmlischen Engel fragen die Engel, die Jesus begleiten, wer dieser Mensch sei. Origenes, Ambrosius von Mailand, Gregor von Nazianz und Gregor von Nyssa im 4. Jahrhundert fügten dem Dialog dann zwei Fragen hinzu, die einem Gedicht im Buch Jesaja über die Rache Jahwes entnommen sind: »Wer kommt dort von Edom her, mit geröteten Kleidern von Bozra? […] Warum ist denn dein Gewand so rot und sehen deine Kleider aus wie die eines Keltertreters?« (Die roten Flecken werden zum Blut der Kreuzigung – der Überlieferung nach hielt Jesus seine Wunden sogar im Himmel offen. Bei Bozra handelt es sich nicht um das blutbefleckte Basra aus dem Irakkrieg.) Dass die Engel noch nie etwas vom Sohn Gottes gehört hatten, wird damit erklärt, dass die Himmelfahrt Menschen und Engeln gleichermaßen das Mysterium offenbarte.

Thomas von Aquin erläutert es ein Stück weit:

Im Engel ist ein doppeltes Wissen. Zum einen sein natürliches Wissen, gemäß welchem er die Dinge sowohl kraft seines Wesens als auch kraft angeborener Vorstellungen erkennt. Mit diesem Wissen können die Engel nicht die Geheimnisse der Gnade erkennen. Denn diese Geheimnisse hängen ab vom reinen Willen Gottes; und wenn ein Engel nicht die Gedanken eines anderen Engels zu erfahren vermag, was vom Willen jenes Engels abhängt, so vermag er noch viel weniger in Erfahrung zu bringen, was zur Gänze vom Willen Gottes abhängt … Engel erkennen Geheimnisse der Gnade, jedoch nicht alle, und nicht alle Engel erkennen sie gleichermaßen.

Doch selbst wenn man von der Unerkennbarkeit Gottes ausgeht, bleibt es gleichermaßen ein Geheimnis, weshalb er den Engeln nie von seinem Sohn erzählt hat. Dieser Frage wichen die Exegeten aus.

Welchen Raum und welche Zeit Engel bewohnen, ist umstritten. Da sie nicht stofflich sind, können sie keinen Raum einnehmen. Thomas von Aquin sagte, sie seien imstande, sich augenblicklich von einem Ort zum anderen zu bewegen. (Thomas Shepard ahnte im 17. Jahrhundert Superman voraus, als er sagte, Engel flögen »schneller als die Kugel einer Muskete«.) Allerdings, so Thomas von Aquin, konnten sie nicht an zwei Orten zugleich sein. Weniger gewiss war unter anderem, ob zwei Engel zur selben Zeit am selben Ort sein konnten. (Was Protestanten später als die typisch scholastische Debatte über die Frage parodierten, wie viele Engel auf dem Kopf einer Stecknadel tanzen können.) Thomas von Aquin verneinte dies. Ungewöhnlich unverbindlich blieb er dagegen bei der Frage, ob ein Engel, der sich augenblicklich von einem Ort zum anderen bewegt, den dazwischenliegenden Raum durchquere. Er sagte, manchmal täten sie es und manchmal nicht, ganz nach Belieben.

Obwohl manche sagen, dass es eine obskure Klasse von Engeln namens Ephemerae gebe, die nur einen Tag lang leben und vergehen, nachdem sie das Te Deum gesungen haben, altern oder verscheiden die übrigen Engel nicht und sind nicht der irdischen Zeit unterworfen; es gibt keine Bilder von gealterten Engeln. Da allein Gott ewig sein kann, haben die mittelalterlichen Gelehrten ein Wort für die Lebenszeit der Engel erfunden: Aeviternität