Engelsgrube - Eva Almstädt - E-Book
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Engelsgrube E-Book

Eva Almstädt

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Beschreibung

Zwei Morde in der Lübecker Altstadt stellen Pia Korittki vor ein Rätsel

In den Gassen und Gewölben der historischen Altstadt Lübecks werden zwei Menschen brutal ermordet. Die Mordwaffen, ein antikes Stilett und ein Armeerevolver, wirken wie Requisiten in einem blutig inszenierten Drama. Kommissarin Pia Korittki zieht mit ihren Ermittlungen immer weitere und gefährlichere Kreise - und merkt zu spät, dass sie sich auf ein tödliches Katz-und-Maus-Spiel eingelassen hat ...

Ein neuer Fall für Kommissarin Pia Korittki - Der zweite Band der erfolgreichen Krimi-Reihe von Bestsellerautorin Eva Almstädt!

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Seitenzahl: 344

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Inhalt

Cover

Über die Autorin

Titel

Impressum

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

Nachwort

Leseprobe – Ostseesühne

Über die Autorin

Eva Almstädt absolvierte eine Ausbildung in den Fernsehproduktionsanstalten der Studio Hamburg GmbH und studierte Innenarchitektur in Hannover. Ihr erster Roman KALTER GRUND wurde zum Auftakt der erfolgreichen Serie um die Lübecker Kommissarin Pia Korittki. Die Autorin lebt mit Mann und zwei Kindern in Schleswig-Holstein.

Eva Almstädt

ENGELSGRUBE

Pia Korittkis zweiter Fall

Kriminalroman

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Originalausgabe

© 2005 by Bastei Lübbe AG, Köln

Umschlaggestaltung: Christin Wilhelm, www.grafic4u.de unter Verwendung von Motiven von © shutterstock/Bildagentur Zoonar GmbH; shutterstock/Daniiel; shutterstock/Dudarev Mikhail

E-Book-Produktion: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN 978-3-8387-0026-7

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

1. KAPITEL

Das Warten fing langsam an, ihm auf die Nerven zu gehen. Ebenso wie Isabels sonderbares Verhalten. Sie stand seit einer halben Stunde reglos am Fenster und sah hinaus. Joe hatte selbst schon auf die Straße geschaut. Kein Windhauch bewegte die Blätter der Alleebäume im schwachen Lichtschein der Straßenlaternen. Der Park jenseits der Straße war dunkel und menschenleer.

Er musste etwas tun, irgendetwas. Als er den schweren Esstisch in die Mitte der Halle zog, ertönte ein lautes, scharrendes Geräusch. Es veranlasste Isabel dazu, sich zu ihm umzudrehen.

»Was soll das werden, Joe? Lass den Tisch dort stehen, wo er immer steht. So ein Schwachsinn!«

Joe ließ den Tisch für einen Moment los. »Wie wäre es, wenn du mal mit anfassen würdest. Unser Essen wird gleich angeliefert.«

»Wir warten auf Albrecht.«

Sie drehte sich wieder zum Fenster um. Einen Moment lang starrte Joe auf ihren Rücken. Sie trug ein altmodisches Samtkleid mit tiefem Rückenausschnitt. Ihre Schulterblätter zeichneten sich unter der weißen Haut ab wie kleine Flügelansätze und reizten ihn dazu, sie zu berühren. Das alte Kleid musste sie irgendwo auf dem Speicher gefunden haben. Es war staubig und roch nach Mottenkugeln, aber dennoch …

Joe seufzte lautlos und schob den Tisch in die Mitte des Raumes. Dann stellte er die schweren Stühle an ihren Platz und warf eine Damasttischdecke über die zerkratzte Tischplatte. Den Rotweinfleck verdeckte er mit einem Kerzenleuchter. Er schleppte Teller, Gläser und Besteck heran und verteilte sie auf dem Tisch. Alles war vorbereitet.

Plötzlich dröhnte das Geräusch des Türklopfers durch die Halle. Joe zuckte zusammen. Das Klopfen war ungewohnt, sie bekamen hier niemals Besuch. Und Albrecht hatte schließlich einen Schlüssel für sein Haus. Beunruhigt starrte er den dunklen Korridor hinunter, der zur Vordertür führte. Das Klopfen ertönte zum zweiten Mal, dieses Mal ungeduldiger. Er hörte Isabel hinter sich auflachen.

»Das sind die von Giuseppe. Das ist nur unser Essen, Joe. Sie sind ausnahmsweise einmal pünktlich!«

Joe hatte das Abendessen bei einem italienischen Restaurant in der Nachbarschaft bestellt. Er hatte aber nicht damit gerechnet, dass das Essen noch vor Albrecht eintreffen könnte. Eilig ging er zur Eingangstür, um zu öffnen.

Zwei Kellner mit großen Styroporboxen vor der Brust standen auf dem Treppenabsatz. Sie folgten Joe ins Haus. Für einen kurzen Moment sah Joe sein Umfeld, wie Außenstehende es sehen mussten: die großbürgerliche Einrichtung der Villa, altmodisch, unvollständig und dreckig!

Albrecht traf mit einer halben Stunde Verspätung ein. Sein Gesichtsausdruck verriet nichts darüber, wie es ihm ergangen war. Joe bemerkte jedoch, dass Albrechts Hand zitterte, als er nach dem gefüllten Glas griff, das Isabel ihm reichte.

»Nun sag schon, wie war es?«, drängte Isabel. Albrecht trank in hastigen Zügen und wischte sich anschließend mit dem Handrücken über den Mund. »Done!«

Joe fühlte seinen Herzschlag hart in seiner Brust. Vor Erleichterung wurde ihm schwindelig. Albrecht war erfolgreich gewesen. Das war gut, denn sie brauchten das Geld. Allein das Abendessen, das vor ihnen auf dem Tisch stand, kostete ein kleines Vermögen. Jedenfalls an der schmalen monatlichen Zuwendung gemessen, die Joe von seinem Vater für das Studium erhielt. Dieses Geld reichte gerade für die Miete seiner Einzimmerwohnung und das Mittagessen in der Mensa. Nicht einmal ein klappriges Auto war drin. Albrechts finanzielle Situation war noch angespannter. Er wohnte zwar mietfrei in diesem Haus, das er später einmal erben würde, aber die Kosten für den alten Kasten übertrafen die Einkünfte aus seiner Maklertätigkeit bei weitem. Und Isabel war von jeher ein Wunder an Überlebenskunst gewesen. Sie erinnerte Joe an die Pflanzen, die ohne Wasser auf irgendwelchen Steinen wuchsen: faszinierend und abstoßend zugleich. Seit Isabel die Fliegerei aus gesundheitlichen Gründen hatte aufgeben müssen, arbeitete sie nicht mehr. Sie sprach manchmal davon, zur Schauspielschule zu gehen, aber damit hatte es sich.

»Auf uns!«, sagte sie triumphierend und hob ihr Glas, »und nun lasst uns anfangen, ich sterbe vor Hunger!«

»Verdammt, ich fühle mich großartig heute!«, tönte Albrecht zum wiederholten Male an diesem Abend. Pasta, Saltimbocca und Tiramisu waren bereits bis auf den letzten Rest vertilgt. Der Rotwein, den Albrecht sich großzügig nachschenkte, schien ihn zu immer neuen Selbstbetrachtungen zu animieren. Joe und Isabel sahen einander ungeduldig an. Es dauerte eine Weile, bis Albrecht die Blicke seiner Freunde bemerkte und sich erhob.

»Also gut, ihr könnt es wohl nicht abwarten. Für diesen Anlass habe ich etwas Besonderes organisiert …«

Er ging nach nebenan in den Damensalon, wie der an die Halle grenzende Raum seiner verspielten Einrichtung wegen genannt wurde.

Joe hörte ein Kratzen und Klicken, als Albrecht das Geheimfach in der Holzvertäfelung öffnete. Stets bestand er darauf, allein dorthin zu gehen. Eine Eigenart, die Isabel und Joe in seiner Abwesenheit mit einem konspirativen Lächeln bedachten. Sie hatten sich längst über die Lage und den Mechanismus des Faches informiert.

»Fragt mich lieber nicht, wo ich das her habe. Es ist allerbester Stoff«, meinte Albrecht, als er mit dem Briefchen in der Hand zurückkehrte.

Er schüttete das Kokain auf den verspiegelten Blumenvasenuntersetzer seiner Großtante. Joe sah ihm zu, wie er die weißen Krümel mit der Klinge eines Teppichmessers zerhackte. Mit der Kante seines Personalausweises schob Albrecht das weiße Pulver zu drei dünnen lines zusammen.

Joe versuchte, mit kreisenden Bewegungen seine verspannten Schultern zu lockern. Er fragte sich, ob genug für alle da war und ob sie auch alle gleich viel bekämen. Sein Verlangen nach dem Stoff, seine Gier, wurde langsam übermächtig. Für einen kurzen Moment befürchtete er, dass ihre Freundschaft genau an diesem Punkt einmal an ihre Grenzen stoßen würde …

Sie gingen erst schlafen, als der Morgen graute. Seit die sechs Zimmer im oberen Stockwerk durch das undichte Dach unbewohnbar geworden waren, schliefen Albrecht, Isabel und Joe unten im Gartenzimmer. Ein neues Dach für die Jugendstilvilla mit ihren Erkern und Türmchen wäre so teuer wie ein Reihenhaus in einem Lübecker Vorort, behauptete Albrecht. Er zöge es vor, nicht darüber nachzudenken. Das Gartenzimmer war, gemessen an der Halle oder dem Damensalon, ein kleiner, intimer Raum. Durch eine geschwungene Flügeltür blickte man in den verwilderten Garten.

Joe ließ sich auf eine der Matratzen fallen und griff nach einer Steppdecke. Während er sich körperlich erschöpft und ausgebrannt fühlte, war sein Geist noch hellwach. Der Stoff war wirklich erstklassig gewesen, er hatte das Gefühl, klarer denken zu können als jemals zuvor. Unangenehm war nur, dass sein Hals sich wie betäubt anfühlte und er kaum noch schlucken konnte. Das kam davon, wenn man das Zeug schniefte.

Während er auf Albrecht und Isabel wartete, starrte er an die stuckverzierte Decke. Etwas war anders als sonst. Sein Blick blieb an einem nackten Haken hängen. Bis vor kurzem hatte dort oben noch ein altmodischer Kronleuchter gehangen.

Albrecht hatte bereits eine Menge Mobiliar verkauft, um finanziell über die Runden zu kommen. Ob sein Freund dieses Haus auf Dauer würde halten können?

Als Isabel und Albrecht ins Zimmer kamen, hatte er sich die Decke bis über die Ohren gezogen und stellte sich schlafend. Joe wusste, was nun folgen würde. Anfangs waren sie immer recht leise, als versuchten sie, Rücksicht auf ihn zu nehmen. Aber er ahnte, dass er ein Teil ihres Spiels war. Isabel hatte Joe einmal anvertraut, dass Albrecht ohne Zuschauer gar nicht könne …

Einerseits erregte es Joe, dabei zu sein, andererseits fühlte er sich benutzt. Sie waren keinen Meter von ihm entfernt, doch die räumliche Nähe schloss ihn nur umso unbarmherziger vom Geschehen aus.

Isabel flüsterte etwas. Dann hörte es sich so an, als ob die Decken zurückgeschlagen würden. Joe blinzelte in die Dunkelheit. Er würde noch verrückt werden, dachte er mit aufkommender Verzweiflung. Wenn es nur schon vorbei wäre.

Isabels Atem wurde schneller. Albrecht stöhnte leise. Joe meinte, den Sex nicht nur hören, sondern auch riechen zu können. Seine Hand griff unter der Decke in seine Boxershorts. Seiner Erregung nachgebend, fühlte er Scham und Erniedrigung.

Es kam ihm fast im selben Moment wie Isabel, nur dass sein Orgasmus von den anderen unbemerkt und nahezu lautlos verklang. Danach schlief Joe beinahe augenblicklich ein.

2. KAPITEL

Für Anfang September war es noch ungewöhnlich warm. Pia Korittki, Kommissarin bei der Bezirkskriminalinspektion in Lübeck, unterbrach die Bearbeitung der vor ihr liegenden Akte. Sie saß seit acht Uhr morgens vor dem Bildschirm, und ihre Augen brannten. Die Jalousien vor der Fensterfront waren heruntergelassen und die Fenster gekippt. Trotzdem zeigte das Thermometer 28 Grad an. Ein kleiner Tischventilator zwischen den Aktenstapeln brachte einzelne Zettel zum Flattern. Während sie noch überlegte, ob sie heute zum Essen in die Kantine gehen sollte, steckte ihr Kollege Conrad Wohlert den Kopf zur Tür herein.

»Hey, Pia. Broders lässt fragen, ob du mal eben zu ihm rüberkommen kannst. Er macht gerade eine Vernehmung …«

Pia loggte sich aus dem Programm aus, in dem sie gearbeitet hatte. »Sind alle anderen schon zum Essen, oder warum bin ich gefragt?« Skeptisch blickte sie ihren Kollegen an. Es war allgemein bekannt, dass sie und Hauptkommissar Broders nicht gerade in bestem Einvernehmen zueinander standen.

Conrad Wohlert antwortete, ohne ihr dabei in die Augen zu sehen: »Keine Ahnung. Er hat ausdrücklich nach dir verlangt. Ich muss jetzt weg nach Kücknitz. Also bis später …«

Pia war misstrauisch. Seit ihrem ersten Tag in dieser Abteilung, und der lag nun schon ein gutes halbes Jahr zurück, machte Heinz Broders ihr das Leben schwer. Es verging kaum ein Tag im Kommissariat, an dem Broders nicht die eine oder andere boshafte Bemerkung von sich gab. Auch die anderen Kollegen schienen ständig auf der Hut vor ihm zu sein. Pia hatte jedoch das Gefühl, dass ihre Anwesenheit ihn geradezu herausforderte. In den vergangenen Monaten hatte er jedenfalls strikt vermieden, mit ihr zusammenzuarbeiten.

Broders Büro lag am anderen Ende des Ganges. Er teilte es mit Kriminalhauptkommissar Kürschner. Wilfried Kürschner war der dienstälteste Kollege in der Abteilung. Er vertrat zur Zeit den in Urlaub gegangenen Leiter des Kommissariats, Kriminalrat Gabler.

Die Bürotür war nur angelehnt, und Pia trat ein. Zwei Personen befanden sich im Raum. Heinz Broders, der hemdsärmelig und verschwitzt hinter seinem Schreibtisch hockte, und ein ihr unbekannter Mann, der mit dem Rücken zur Tür saß. Als er Pia eintreten hörte, drehte er sich langsam um. Pia ertappte sich dabei, wie sie ihn verwundert anstarrte. Gegen Broders biederen Aufzug sah der Mann geradezu exotisch aus. Zuerst fielen die langen braungrauen Haare auf, die im Nacken von einem Lederband zusammengehalten wurden. Er trug ein Holzfällerhemd, eine Lederweste, Jeans und klobige Stiefel. Seine Gesichtszüge schienen merkwürdig unproportioniert zu sein. Es war aber nicht die unförmige Nase in dem großflächigen Gesicht, die Pia stutzen ließ, es waren seine Augen: Sie blickten stechend unter dunklen Augenbrauen hervor.

Broders wirkte aufgekratzt. Sein Hals über dem engen Hemdkragen war gerötet. »Kommissarin Korittki, kommen Sie rein«, begrüßte er sie steif, obwohl sie sich eigentlich seit langem duzten. »Ich habe hier Herrn Manfred Rist bei mir sitzen. Es geht um die Taxi-Fälle, Sie wissen doch …«

Pia merkte auf. Die so genannten »Taxi-Fälle« waren ihr gut bekannt. Es handelte sich um eine Reihe äußerst brutaler Raubüberfälle, die im Raum Lübeck verübt worden waren. Wiederholt waren Taxifahrer nachts von einem Fahrgast in eine einsame Gegend gelockt, mit einem Totschläger niedergeprügelt und dann ausgeraubt worden. Einer der Taxifahrer war vor ein paar Wochen an seinen schweren Kopfverletzungen gestorben. Seitdem war das Kommissariat 1 in die Ermittlungen eingeschaltet worden.

»Herr Rist hat gerade ein Geständnis unterzeichnet, die Taxi-Fälle betreffend«, sagte Broders. Er schien sich Mühe zu geben, ganz ruhig und unbeteiligt zu erscheinen.

Seit Wochen arbeitete die Kripo auf Hochtouren an diesem Fall, und nun saß er einfach so da, der Mann, der die Raubüberfälle begangen hatte. Geständig.

In die Befriedigung über den gelösten Fall mischte sich bei Pia ein Hauch von Neid, dass Heinz Broders dieser dicke Brocken in den Schoß gefallen war. Broders hatte die Arme vor der Brust verschränkt. Es schien bereits alles gesagt worden zu sein.

»Soll ich Herrn Rist hinunterführen …«, fragte Pia, das Wort Arrestzelle meidend. Sie griff nach ihren Handschellen am Gürtel, um den Mann ins Polizeizentralgewahrsam zu bringen.

Warum rührte sich Broders hinter seinem Schreibtisch nicht? Die ganze Situation gefiel ihr nicht besonders.

Trotzdem war sie völlig überrascht, als Manfred Rist plötzlich aufsprang und in Richtung Tür stürzte. Pia, angespannt und misstrauisch, reagierte mit kaum wahrnehmbarer Verzögerung. Der Mann war recht groß, mindestens ebenso groß wie sie, und er brachte wahrscheinlich annähernd das doppelte Gewicht auf die Waage. Sie warf sich zwischen ihn und die Tür, um ihn zu stoppen. Der Flüchtende packte sie und schleuderte sie wie eine Schaufensterpuppe zur Seite. Pia gelang es gerade noch, ihm im Fallen sein Bein wegzuhebeln, sodass er ebenfalls das Gleichgewicht verlor.

Rist war trotz seines Kampfgewichtes schnell wieder auf den Beinen. Pia packte seine Arme. Er drehte sich zu ihr um, befreite sich aus ihrem Griff, und sie spürte frustriert, dass sie gegen seine Muskelkraft wenig ausrichten konnte.

Bevor er die Tür aufreißen und verschwinden konnte, versetzte Pia ihm einen harten Stoß gegen seine Nase. In dem Moment, als er breitbeinig dastand und verdutzt nach seiner Kartoffelnase griff, riss Pia das Knie hoch und landete einen Treffer zwischen seinen Beinen. Er stieß einen fast tierisch wirkenden Schrei aus. Dann sank er langsam zu Boden.

Im ersten Moment war es ein gutes Gefühl, den Mann am Boden zu sehen. Pia wähnte sich siegreich. Sie hatte die Flucht eines Straftäters verhindert, während Broders nur wie gelähmt hinter seinem Schreibtisch gehockt hatte. Heinz Broders, der jetzt so komisch zuckte … der sich die Hand vors Gesicht hielt und sich krümmte … Broders, der lachte und lachte, als wäre gerade der Witz des Jahrhunderts zum Besten gegeben worden. Sie mussten ein merkwürdiges Bild abgegeben haben, als sie kurze Zeit später zusammen die Kantine betreten hatten. Broders ging links und Pia rechts von einem breitbeinig humpelnden Mann mit angeschwollener Nase, aus der ein dünner Blutfaden lief. Pias Gesicht glühte. Broders wirkte eher blass. Er hatte sich von seinem Lachkrampf erholt und inzwischen eingesehen, dass sein Scherz außer Kontrolle geraten war.

Pia kümmerte sich nicht weiter um die verwunderten Blicke ihrer Kollegen am hintersten Tisch. Sie waren, welch ein Zufall, fast alle versammelt. Michael Gerlach, Marten Unruh und auch Conrad Wohlert schienen ihre Ankunft bereits zu erwarten.

Pia steuerte zuerst die Essensausgabe an und bestellte einen Eisbeutel.

»So etwas haben wir hier nicht. Heute gibt’s Schnitzel, Möhrengemüse und Rote Grütze zum Nachtisch …«, meinte der Koch verständnislos.

»Komm schon, es geht um eine schlimme Verletzung. Ihr habt doch bestimmt irgendwo Eis, das man in eine Plastiktüte abfüllen kann?«

»Um was für eine Verletzung handelt es sich denn?«

Pia beugte sich zu ihm vor und flüsterte dem jüngsten Koch der Kantine etwas ins Ohr.

Er grinste. »Ah ja? So ein Notfall also. Ist das nicht eher was für die Sanis?«

»Will er nicht. Hast du nun Eis oder nicht?«

Kurz darauf erreichte Pia mit einer großen Tüte voll Eis den Tisch. Sie überreichte sie dem angeschlagenen Manfred Rist, der sich inzwischen zu ihren Kollegen gesetzt hatte. Er schob sich die freundliche Gabe zwischen seine Beine.

Wie sich herausgestellt hatte, war Manfred Rist ein Kollege der Kripo Flensburg. Er hatte auf Broders Betreiben hin an diesem groben Scherz mitgewirkt, dessen Ziel es war, die neue Kollegin etwas ins Schwitzen zu bringen. Scherze dieser Art hatte man auch mit anderen Kollegen schon getrieben, aber Pia zeichnete sich dadurch aus, dass sie ungewöhnlich schlagkräftig gewesen war.

Während alle, die nicht mit dabei gewesen waren, noch Broders Schilderungen lauschten, kämpfte Pia mit zwiespältigen Gefühlen. Einerseits tat es ihr Leid, dass sie so hart zugeschlagen hatte, andererseits schien ihr ihr vehementes Eingreifen einigen Respekt verschafft zu haben. Ihr Herz schlug immer noch wie nach einem Tausendmeterlauf. Hungrig war sie jetzt jedenfalls nicht. Der Geruch nach zerkochtem Gemüse und Frittierfett hing wie ein aufdringliches Parfüm in der warmen Kantinenluft.

»Seid ihr mit dem Mordfall Biederstätt schon weiter gekommen?«, hörte sie Rist durch das Klappern von Tellern und Bestecken hindurch fragen.

Marten Unruh seufzte. »Nein, es ist zum Verrücktwerden. Die ganze Stadt scheint in eine Art Sommerlethargie verfallen zu sein …«

»Mir gefällt es, dass es zurzeit so ruhig ist«, warf Heinz Broders ein, »ich will übernächste Woche in Urlaub fahren. Das erste Mal seit drei Jahren.«

»Kein Wunder, dass der Fall Biederstätt sich so dahinschleppt. Wenn Heinz seit Wochen nur daran denken kann, was er in seinen Koffer packen soll und was nicht.«

»Halt’s Maul, Gerlach!«, antwortete Broders mit seinem unnachahmlichen Charme.

Gerlach berichtete Rist ungerührt: »Dieser Mord an dem Restaurantbesitzer Biederstätt ist einer der merkwürdigsten Fälle, der mir in meiner Laufbahn bisher untergekommen ist. Wir haben alle möglichen Spuren verfolgt, aber sie endeten ausnahmslos im Nirwana. So etwas habe ich noch nie erlebt …«

Der Mord an Wolfgang Biederstätt war mit etlichen Artikeln durch die Presse gegangen und tagelang Hauptgesprächsstoff der Stadt gewesen. Biederstätt war in seinem eigenen Restaurant, dem Lübecker Kupferhaus, erschossen worden. Die Tat sah auf den ersten Blick nach einer Hinrichtung aus, doch alle Nachforschungen in Richtung organisierte Kriminalität waren im Sande verlaufen. Auch die Ermittlungen im privaten Umfeld des Ermordeten waren bisher wenig Erfolg versprechend gewesen. Mit jedem neuen, drückend warmen Tag, der verging, sank die Hoffnung, den Mordfall Biederstätt in kürzerer Zeit aufzuklären.

Rist schüttelte verwundert seinen langen Zopf: »Wolfgang Biederstätt war als Restaurantbesitzer bekannt und doch quasi eine öffentliche Person in Lübeck. Seid ihr nicht mit Hinweisen aus der Bevölkerung geradezu bombardiert worden?«

Marten Unruh, der ihm gegenüber am Fenster saß, wischte ungeduldig ein paar Krümel vom Tisch. »Da war nicht viel Brauchbares dabei! Alles an dem Fall ist irgendwie verquer. Weißt du, was die Spezialisten vom Dezernat für Schusswaffenerkennung herausgefunden haben? Bei der Tatwaffe soll es sich um einen alten Armeerevolver handeln. Kaliber 10,6 Millimeter.«

»Habt ihr den genauen Waffentyp?«

»Die Ballistiker schätzen, dass wir es mit dem alten Reichsrevolver M/79 zu tun haben. Der M/79 war die erste bei der Armee offiziell eingeführte Kurzwaffe in Deutschland. Hersteller war die Firma Sauer & Sohn, Schilling und Haenel aus Suhl. Seit Anno 1881, wohlgemerkt. Das Problem ist nur, dass das Ding nicht nur bei der Armee, sondern auch über viele Jahre beim Zoll im Einsatz war. Wer weiß, wo solche Waffen noch überall unregistriert herumschwirren. Wir haben uns schon mit ein paar Waffensammlern unterhalten, aber noch keine konkrete Spur bis jetzt.«

»Wo ist dieser Biederstätt denn erschossen worden?«, fragte Rist.

»Im Weinkeller seines Restaurants«, antwortete Unruh. »Der Keller hat einen Außenzugang, das Schloss war aufgebrochen. Und Wolfgang Biederstätt hatte die Marotte, niemanden in seinen Weinkeller hereinzulassen. Jede einzelne Flasche für seine Gäste hat er selbst heraufgeholt. Er soll Angst gehabt haben, dass seine Angestellten ihm seinen kostbaren Wein stehlen.«

»An Wolfgang Biederstätt war so einiges sonderbar.« Gerlach legte sein Besteck zur Seite und sah in die Runde. »In der Klatschpresse erschien er dauernd zusammen mit irgendwelchen Damen der besseren Gesellschaft. Nach seinem Tod tauchte dann plötzlich sein schwuler Lebenspartner bei uns auf. Und der macht uns jetzt die Hölle heiß … Als ob wir nicht alles daran setzen würden, diesen Mordfall aufzuklären!«

»Vielleicht liegt es ja an euch, wenn ihr nicht mit ihm klarkommt?«, schaltete sich Pia in das Gespräch ein.

Gerlach sprang sofort auf die Bemerkung an. »Wenn du damit andeuten willst, dass es Schwierigkeiten gab, weil wir Vorurteile haben, dann liegst du damit falsch. Diese Typen sind es doch, die meinen, Polizisten seien grundsätzlich alle grob und dämlich!«

»So ist das mit den Vorurteilen …«, entgegnete Pia vielsagend.

Gerlach kochte, und Unruh runzelte verärgert die Stirn.

Pia Korittki fühlte sich schon seit längerem von der demonstrativen Einigkeit der Kollegen Unruh und Gerlach genervt. Vielleicht, so gestand sie sich zögernd ein, weil sie selbst in dieser Abteilung immer noch recht allein dastand.

»Früher oder später wird sich noch ein Hinweis ergeben«, meinte Rist und schob sich mit gequältem Grinsen den Eisbeutel zurecht.

»Und Heidmüller, unser Computerexperte, hat der auch noch nichts zu Tage gefördert?«, fragte Heinz Broders.

Seit nunmehr sechs Wochen teilte sich Pia Korittki ihr Büro mit Oswald Heidmüller. Bis auf die Tatsache, dass es nun in dem Raum den Luxus eines Minikühlschrankes gab, machte es für Pia jedoch kaum einen Unterschied, ob der Kollege da war oder nicht. Er kommunizierte fast ausschließlich mit seinem PC. Trotzdem hatte sie das Gefühl, ihn Broders gegenüber verteidigen zu müssen.

»Mit dem Fall Biederstätt hat Heidmüller nichts zu tun. Gabler hat ihn mit alten Akten zugeschüttet, die er bearbeiten soll.«

Broders grinste. »Vielleicht sollte er mal auf den Mord im Restaurant angesetzt werden … Er kennt sich bestimmt gut aus in den heimischen Küchen!«

Die Anspielung galt Heidmüllers Körperfülle, die er Pias Beobachtungen nach eher seinem unmäßigen Konsum von Chips, Schokoriegeln und Cola verdankte.

»Das kann Korittki ihm ja mal nahe legen«, meinte Michael Gerlach und sah sie herausfordernd an.

»Ich glaube nicht, dass ihr Verhältnis zum Kollegen Heidmüller solche Vertraulichkeiten erlaubt …«, erwiderte Broders scharfsinnig.

Pia bemerkte nicht zum ersten Mal, dass Heinz Broders über die Beziehungen der Kollegen untereinander gut informiert war.

»Da gibt es andere …«, setzte er nach einer kleinen Pause hinzu. Sein Blick ging von Pia zu Marten Unruh und wieder zurück. Sie hatte das Gefühl, erneut die Aufmerksamkeit der Kollegen auf sich zu ziehen. In diesem Moment hasste sie Broders für seine Gabe, die Gefühle seiner Mitmenschen zu durchschauen. Mehr noch hasste sie in diesem Moment jedoch ihre eigene Dummheit …

Ihren ersten Fall bei der Lübecker Mordkommission hatte Pia Korittki mit ihrem Kollegen Marten Unruh bearbeitet. Sie hatten in einem kleinen Kaff auf dem Lande einen dreifachen Mord aufzuklären gehabt. Vorurteile und gegenseitige Provokationen erschwerten die Zusammenarbeit. Die Ermittlungsarbeit war durch ihr und Unruhs unprofessionelles Verhalten nicht unerheblich belastet worden. Hinzu kamen privater Stress und Druck von oben … Aber all das, ebenso wie die Schuldgefühle wegen eines vielleicht vermeidbaren vierten Mordes, der Schlafmangel und der Alkohol, konnten in Pias Augen nicht entschuldigen, wozu sie sich hatte hinreißen lassen: Mit einem Kollegen ins Bett zu gehen! Einfach so. Und noch dazu in einem miesen kleinen Hotelzimmer am Ende der Welt.

Sie und Marten Unruh waren danach übereingekommen, dass es ein einmaliger Ausrutscher gewesen war, der niemanden etwas anging. Und seitdem hatten sie kein Wort mehr über diese Nacht verloren. Doch nun machte Broders diese Andeutung, die befürchten ließ, er wisse Bescheid. Die Minuten dehnten sich, ohne dass jemand etwas sagte.

Manfred Rist räusperte sich: »Ich werde den Eisbeutel mal zurückgeben. Das nächste Mal darf jemand anders den geständigen Täter spielen. Zumindest dann, wenn die neuen Kollegen jetzt alle so hart draufhauen …«

»Tja, man soll die holde Weiblichkeit niemals unterschätzen«, kam es trocken von Broders.

»Wer hat Sie eigentlich ausgebildet, Frau Korittki?«, fragte Rist.

Gerlach griente: »Conan, der Barbar.«

Pia bedachte ihn mit einem mahnenden Blick und nannte Rist ein paar Namen. Die Tatsache, dass Broders das Thema nicht weiter verfolgte, ließ hoffen, dass er nur einen Schuss ins Blaue abgefeuert hatte. Sie riskierte noch einen Seitenblick auf Marten Unruh. Dieser hatte sich inzwischen aus der Unterhaltung ausgeklinkt. Er hatte sich eine Zigarette angezündet und sah nachdenklich aus dem Fenster.

»Na endlich …«, murmelte Pia, als sie am Abend das Polizeihochhaus verließ. Ein kalter Luftzug ließ sie in ihrem T-Shirt frösteln. Das erste Mal seit Wochen, wie sie meinte. Trotz des lang anhaltend warmen Wetters spürte man abends schon, dass der Herbst nahte. Sie schwang sich auf ihr Fahrrad und machte sich auf den Heimweg. Es war bereits halb acht.

Ihr Weg führte sie über die Possehlbrücke, am Stadion Buniamshof vorbei und dann am Traveufer entlang. Sie überquerte die Trave zur Altstadt hin über die kleine Dankwartsbrücke. Als sie in die Straße einbog, die zum Dom hochführte, hörte sie plötzlich dumpfes Trommelschlagen. Stimmengewirr, Musikfetzen und die heiseren Rufe eines Marktschreiers hallten zwischen den eng zusammenstehenden Häuserfassaden wider.

Wie hatte sie das vergessen können? Heute war der erste Abend des Lübecker Altstadtfestes. Die Zeitungen hatten verkündet, dass die Stadt am Wochenende an die 400 000 Besucher erwartete. Und oben am Dom, nicht weit von Pias Wohnung entfernt, fand eine Art mittelalterlicher Markt statt.

Pia wohnte in einem der historischen Wohngänge Lübecks. Im Mittelalter hatte man durch Häuser an der Straßenfront hindurch schmale Gänge geschlagen, um armen Familien in den Hinterhöfen eine Unterkunft innerhalb der Stadtmauern bauen zu können.

Jedes Mal, wenn Pia ihr Fahrrad durch den Gang schob, musste sie den Kopf einziehen und auf ihre Ellenbogen Acht geben, um nicht an den geschwärzten Mauern anzustoßen. Sie hatte mal gehört, dass die Bauvorschriften damals besagt hätten, jeder Gang müsse mindestens so breit sein wie ein Sarg.

Ihre Wohnung befand sich im Dachgeschoss eines schmalbrüstigen, grau verputzten Hauses am Ende des Ganges. Das erste Stockwerk war an einen jungen Russen vermietet, der fast nie da war. Die Besitzerin des Hauses, Susanne Herbold, beanspruchte das Erdgeschoss und einen winzigen Garten im Hinterhof für sich.

Nach ein paar gemeinsamen Abenden und mehreren geleerten Flaschen Wein hatte Pia Susanne etwas besser kennen gelernt. Sie war Ärztin von Beruf und arbeitete im nahe gelegenen Marienkrankenhaus. Ihren vierjährigen Sohn Lennart zog sie allein groß. Pia mochte die humorvolle und offenherzige Frau. Ihre eigene Wohnung fühlte sich mehr wie ihr Zuhause an, seit sie wusste, wer mit ihr in diesem Gebäude wohnte.

Nachdem sie ihr Fahrrad im Hinterhof abgestellt hatte, trat Pia ins Haus und stieg mit eiligen Schritten die knarrende Holztreppe nach oben. Als sie die Tür zu ihrer Wohnung öffnete, wogte ihr ein Schwall aufgeheizter, abgestandener Luft entgegen. Hier oben war es so unerträglich warm wie in einem Backofen. Ihre erste Tat nach dem Betreten der Wohnung war, die Tür zum Küchenbalkon weit aufzustoßen. Dann stellte sie im Schlafzimmer das Dachflächenfenster waagerecht und riss zuletzt noch die zwei beweglichen Flügel des Atelierfensters im Wohnraum auf.

Der leichte Luftzug ließ die vertrockneten Blätter des Zyperngrases rascheln und wirbelte ein paar Staubflusen über die blanken Dielen.

Ein unbestreitbarer Vorteil dieser Wohnung war, trotz hohen Sanierungsbedarfs, das gute Licht, das durch das gen Norden gelegene Atelierfenster hereinfiel. Wenn Pia genug davon hatte »Verbrecher zu jagen«, wie ihre Mutter es nannte, oder mit dem Fahrrad durch die Gegend zu rasen, dann malte sie.

Ihre Machwerke waren großflächig, dunkel und stets innerhalb weniger Stunden fertig gestellt. Künstlerische Ambitionen hatte Pia keine. Ihr gefiel die Konzentration, die das Malen erforderte. Die Motive wirkten auf ahnungslose Betrachter eher verschreckend. Daher standen die meisten Bilder mit der Vorderseite gegen die Wand gelehnt oder verstaubten in einer Ecke. Doch auf wen nahm sie hier eigentlich noch Rücksicht? Ihr Freund Robert, der sich nie mit ihren Bildern hatte anfreunden können, war … Geschichte.

Pia mixte sich aus dem Rest Tomatensaft, den sie im Kühlschrank fand, und ihrem neuen Wodka eine Bloody Mary. Die Flasche hatte ihr Untermieter ihr aus seiner Heimat mitgebracht, weil sie sich während seiner Abwesenheit um seine neurotische Katze gekümmert hatte. Was waren schon dreißigmal Treppe rauf- und runterlaufen und ein blutig gekratztes Handgelenk gegen einen echten russischen Gschelka?

Pia ließ ein paar Eiswürfel in die rote Flüssigkeit plumpsen und ging hinüber ins Wohnzimmer. Dort stellte sie sich, das kühle Glas an ihre Stirn pressend, ans offene Fenster.

Die Dächer der Altstadt erstreckten sich vor ihr wie ein Flickenteppich. Die warm gewordene Dachpappe neben dem Atelierfenster dünstete eine Geruchsmischung aus, die irgendwo zwischen Klebstoff und Straßenbau lag. Auch der Geruch von Grillfleisch schien in der Luft zu hängen. Pia schluckte und registrierte, dass sie hungrig war. Sie war aber auch zu faul, um sich noch einmal ins Getümmel zu stürzen, um etwas zu essen. Irgendwo hinten im Küchenregal musste noch eine Tüte Paprika-Chips liegen. Morgen war Samstag, da konnte sie Lebensmittel einkaufen fahren und mal wieder aufräumen …

Pias Blick fiel auf den Bürostuhl neben dem Fenster und die zwei überquellenden Pappkartons daneben. Dieser Müllhaufen allerdings war ein Affront. Das ganze Zeug gehörte nicht ihr, sondern Robert.

Nach der Nacht mit Marten Unruh hatte es noch ein monatelanges Hin und Her zwischen ihnen gegeben, doch seit ein paar Wochen war endgültig Schluss. Den emotionalen Todesschuss für die langjährige Beziehung hatte Pias Kollege Heinz Broders abgefeuert. Er war von einem Seminar aus Hamburg zurückgekehrt und hatte die Bemerkung fallen lassen, KHK Robert Voss’ neue Freundin sei ein ziemlich scharfes Gerät … Es wurde Zeit, dass Roberts Sachen aus ihrem Blickfeld verschwanden. Pia wollte nicht mehr an ihn denken müssen.

Sie stellte ihr fast leeres Glas auf dem Schreibtisch ab und schaltete den Computer ein. Einem plötzlichen Impuls nachgebend begann sie, eine E-Mail an Robert zu formulieren. Sie forderte ihn auf, unverzüglich seine Sachen aus ihrer Wohnung zu entfernen. Die zwei Sätze hatten es in sich. Nachdem sie auf das erlösende »senden« geklickt hatte, bot der Rechner weitere, Zeit raubende Beschäftigungsmöglichkeiten.

Das Telefon klingelte. Gedankenverloren ging Pia davon aus, dass der Adressat ihrer elektronischen Post am anderen Ende der Leitung sei. Sie meldete sich mit einem knappen »Ja«.

»Korittki?«, kam es fragend aus dem Hörer.

»Pia Korittki. Mit wem spreche ich?«

»Kürschner hier. Frau Korittki, es gibt ein Problem.«

Hauptkommissar Wilfried Kürschner war einer der wenigen Kollegen im Kommissariat, mit denen sie sich siezte. Seine Stimme klang gepresst.

»Was ist los?« Sie hoffte, dass sie sich wach und vor allem nüchtern anhörte. Wodka auf leeren Magen …

»Ich habe soeben einen Anruf aus der Einsatzleitstelle bekommen. Auf dem Altstadtfest hat es eine Tote gegeben. Nach Einschätzung der Kollegen ein Mord. Ich bin noch hier draußen in Mölln bei meinem Schwager. Es dauert, bis ich vor Ort sein werde. Wie schnell können Sie in der Innenstadt sein? Breite Straße, Ecke Mengstraße …«

»Das ist nicht weit von hier. In zehn Minuten bin ich da«, antwortete Pia und sah an sich hinunter.

»Das ist gut. Wir treffen uns nachher dort. Mal sehen, wen ich noch erreiche. Setzen Sie sich vor Ort mit Polizeihauptmeister Werner Möck in Verbindung.« Er klang erleichtert.

»Geht in Ordnung, bis nachher«, sagte Pia, aber Kürschner hatte bereits aufgelegt.

Sie griff nach ihrer Hose, die sie vor einer halben Stunde auf ihr Bett geworfen hatte, um in T-Shirt und Unterhose den Abend zu verbringen. Ein Todesfall in der Altstadt, wahrscheinlich ein Mord! Während sie am Rechner gesessen hatte, war ganz in ihrer Nähe ein Mensch ermordet worden. Pia zog sich eilig an …

Sie steckte ihre Schlüssel und Papiere ein und verließ das Haus. Als sie ihr Fahrrad auf die Straße hinausschob, lauschte sie verwundert. Die Geräusche des Altstadtfestes hörten sich jetzt anders an als vorhin. Es war ruhiger geworden. Gleichzeitig meinte Pia, ein aufgeregtes Summen aus der Ferne zu hören.

3. KAPITEL

Pia traf als eine der Ersten aus ihrer Abteilung am Tatort ein. Sie half den anwesenden Schutzpolizisten, das rot-weiße Absperrband um Laternenpfähle zu wickeln und an dem Bierstand zu befestigen, um die Schaulustigen von der Toten am Boden fern zu halten.

Die Festmusik war inzwischen überall abgeschaltet worden. Hin und wieder hörte man eine Sirene heulen, wenn sich ein weiteres Einsatzfahrzeug seinen Weg durch die Menschenmenge bahnte. Außerdem hallten die aufgeregten, wenn auch gedämpften Stimmen der Altstadtfestbesucher zwischen den Häusern wider. Pia hörte jemanden weinen, konnte dem Geräusch aber keine Person zuordnen. Und auch dieses rätselhafte Summen war wieder da. Sie wusste aber nicht, ob es vielleicht nur in ihrem Kopf stattfand.

Die Ermordete lag auf dem schmutzigen Straßenpflaster, etwa zwei Meter vom Tresen eines Bierstandes entfernt. Pia konnte sehen, dass aus dem Rücken der Frau das Heft einer Stichwaffe ragte. Sie trug ein schwarzes Oberteil, deshalb war das Blut an ihrem Rücken nur als feuchter Fleck zu erkennen. Unter ihr bahnten sich dünne rote Rinnsale einen Weg zwischen den Pflastersteinen ins Erdreich.

Es war erschreckend: Mitten im Menschengetümmel des Altstadtfestes war soeben eine Frau ermordet worden. Pia vermutete, dass sich die Haut der Frau noch warm anfühlen würde, wenn man sie jetzt berührte. Fast hatte sie den Wunsch, das zu tun. Den Rest von Leben wahrzunehmen, als ob damit an der Tatsache des Todes noch irgendetwas zu ändern wäre. Doch die Uhr ließ sich nicht zurückdrehen.

Pia schätzte, dass die Ermordete etwa vierzig Jahre alt war. Sie trug eine helle Leinenhose und einen schwarzen Pulli. Ein Schuh war ihr vom nackten Fuß gerutscht, Pia konnte das Emblem eines teuren Schuhfabrikats erkennen. Eine kleine schwarze Ledertasche befand sich nicht weit von dem leblosen Körper entfernt auf dem Pflaster.

Die Tote lag auf der Seite, das dunkle Haar fächerförmig ausgebreitet. Ein Bein war ausgestreckt, das andere angezogen, ihr Arm ruhte leicht angewinkelt vor ihrem Gesicht. Es sah so aus, als wäre die Frau von irgendwem so auf die Seite gedreht worden. Die hilflose Annahme eines Umstehenden vielleicht, eine stabile Seitenlage könne bei einer tödlichen Stichwunde noch irgendwie hilfreich sein.

Das Team aus dem Notarztwagen stand untätig an der Seite. Sie hatten zweifelsfrei festgestellt, dass sie der Frau am Boden nicht mehr helfen konnten. Nun wartete alles auf den Gerichtsmediziner. Auch Hauptkommissar Kürschner, der Pia angerufen hatte, war noch nicht aus Mölln in Lübeck eingetroffen. Eigentlich hätte der Leiter der Mordkommission, Kriminalrat Horst-Egon Gabler, da sein sollen. Aber der gönnte sich zurzeit ein paar erholsame Tage in Tirol.

Heinz Broders, Conrad Wohlert und Michael Gerlach trafen jetzt ebenfalls ein. Es war inzwischen fast unmöglich geworden, durch die Menge der Schaulustigen zum Tatort zu gelangen. Obwohl das Altstadtfest offiziell beendet worden war, schienen immer mehr Menschen in die Fußgängerzone vor das alte Kanzleigebäude zu strömen. Nach einer knappen Begrüßung einigten sich die anwesenden Kollegen der Mordkommission darauf, dass Pia Korittki und Michael Gerlach mögliche Augenzeugen der Tat ausfindig machen sollten. Die Schutzpolizei und auch die später eintreffenden Kollegen würden sie dabei unterstützen.

Broders und Wohlert machten Tatort. Sie skizzierten das Umfeld, in dem die Tote aufgefunden worden war, und notierten sich alles, was für den abgesperrten Bereich und seine Umgebung charakteristisch war. Außer ihnen und dem Gerichtsmediziner hatten nur noch die Kriminaltechniker Zugang zu diesem Bereich.

Pia und ihre Kollegen standen bei ihrer Aufgabe unter Zeitdruck. Jeder, der etwas beobachtet haben konnte, musste ausfindig gemacht und festgehalten werden. Standbesitzer und das Personal der umliegenden Buden, Gäste des Bierstandes, vor dem die Frau erstochen worden war, und andere Umstehende. Um den Tatort herum herrschte aber immer noch ein unübersichtliches Gedränge.

»Die Zeugen mit einem Lasso einfangen …«, nannte Gerlach ihre Tätigkeit scherzhaft.

»Ist die Altstadt abgeriegelt worden?«, fragte Pia ihn, während sie gerade ein paar junge Männer beaufsichtigte, die eigentlich lieber ihre Sauftour fortsetzen wollten, als eine Aussage zu machen.

Gerlach sah Pia im ersten Moment irritiert an. »Wieso weißt du das nicht? Ach ja, du wohnst ja hier in der Altstadt. Wir haben nur Kontrollposten an jeder Brücke, die nach auffälligen Personen oder Fahrzeugen Ausschau halten.«

»Warum machen wir uns nicht zu Nutze, dass die Altstadt eine Insel ist? Wenn wir dicht machen, können wir jeden erfassen, der die Altstadt verlassen will …«

»Ja, aber dann schreit wieder irgendwer ›Freiheitsbeschränkung‹, und wir haben den Ärger … Was meinst du, was sich nach so einer Veranstaltung für Schlangen vor den Brücken bilden würden, wenn wir jeden erfassen wollten?«

»So muss sich der Täter nur unauffällig verhalten, und die Kontrollposten werden nichts ausrichten.«

»Es gibt nichts Auffälligeres als einen Täter, der flieht …«

»Wer die Nerven hatte, das hier zu tun, der wird sicher nicht gewartet haben, bis wir kommen, um unter unseren Augen Hals über Kopf zu fliehen«, entgegnete Pia verärgert. »Vielleicht steht er ja noch irgendwo in der Menge und sieht uns zu.«

»Die Fotografen sind schon angewiesen, möglichst viele Schaulustige unauffällig zu fotografieren.«

»Dann müssen sie das irgendwie missverstanden haben«, meinte Pia und wies auf einen der Fotografen, der sich auf die Achse eines Anhängers gestellt hatte und in die Menge blitzte.

»Scheiße, so ein Idiot. Trotzdem werden wir den Täter früher oder später zu fassen bekommen«, behauptete Gerlach selbstsicher, »niemand kommt ungestraft mit so einem dreist verübten Mord davon …«

Pia hoffte, dass er sich nicht irrte. Wenn ein Mensch mitten auf dem Altstadtfest im Menschengewühl erstochen werden konnte und sie den Täter nicht zu fassen bekämen, grenzte das an Anarchie.

Ihr Blick wanderte zwischen den unzähligen Gesichtern um sie herum umher. Der Gedanke daran, dass die gesuchte Person vielleicht hier irgendwo stand, verursachte ihr ein Kribbeln zwischen den Schulterblättern.

Hauptkommissar Wilfried Kürschner löste sich von ein paar Mitarbeitern des K6 und kam eilig auf sie zu. Seiner saloppen Kleidung nach zu urteilen, war er direkt von seinem Schwager aus hierher gefahren.

»Wo werden wir die Befragungen der Zeugen durchführen?«, fragte Pia. »Wenn wir alle zu uns ins Kommissariat bringen, entwischt uns dabei die Hälfte wieder.«

»Ich habe inzwischen organisiert, dass wir die oberen Räume des Kanzleigebäudes für erste Befragungen nutzen können. In Kürze kommen auch Leute vom Presseamt, die uns aufschließen und uns helfen, ein paar Tische und Stühle aufzustellen. Die Zeugen können alle im Treppenhaus auf ihre Befragung warten. Das scheint mir recht geräumig zu sein.«

»Befragung im Adlersaal, wie nobel …«, griente Gerlach.

Eine Viertelstunde später ließ sich Pia Korittki an einem der Schreibtische nieder, die man zu diesem Zweck eilig in den historischen Adlersaal des Kanzleigebäudes geschafft hatte. An den Nebentischen saßen ein paar andere Kollegen, nur abgeschirmt von halb hohen Trennwänden. Durch die vielen Menschen, die sich plötzlich in dem Gebäude befanden, ging es laut und hektisch zu.

Unter den finster aussehenden gemalten Wappenadlern, die von der Saaldecke auf sie herabblickten, befragte Pia unzählige Zeugen. Sie hörte in den folgenden Stunden immer wieder die Worte: »Ich habe gar nichts gemerkt, bis …«, und die unterschiedlichsten Ausführungen: »… die Frau am Boden lag – … jemand neben mir aufschrie – … mein Nachbar mich darauf aufmerksam machte«, und so fort.

Je mehr Menschen ihr versicherten, keinerlei hilfreiche Beobachtungen gemacht zu haben, desto unbehaglicher wurde Pia zumute. Sicher, die Musik war sehr laut gewesen, und es hatte ein großes Gedränge geherrscht. Trotzdem fand sie es erschreckend, dass diese Frau, fast unbemerkt von allen Umstehenden, dort so hatte sterben müssen.

Um halb zwei Uhr nachts hatte sich die Schlange der Wartenden im Treppenhaus des Kanzleigebäudes aufgelöst. Pia schob einen Stapel Papiere zusammen und unterdrückte ein Gähnen. Broders stemmte sich von seinem Stuhl hoch und rieb sich das Kreuz.

»Na, das war doch ein Freitagabend, wie wir ihn alle lieben …«, bemerkte er. Er ging ans Fenster und versuchte, durch die bleiverglasten bunten Fensterscheiben hinauszusehen. Es war stockdunkel draußen. Sogar die großen Scheinwerfer, die bis vor kurzem den Tatort ausgeleuchtet hatten, waren ausgeschaltet worden. Die Menschenansammlung in der Fußgängerzone hatte sich längst zerstreut.

Die anderen Kollegen im Adlersaal entließen ebenfalls ihre letzten Zeugen, und mit einem Schlag war es so ruhig im Raum, dass man hören konnte, wie das Holzparkett unter Broders schweren Schritten knarrte.

»Ich geh gleich noch ein Bier trinken, kommt einer mit?«, fragte Michael Gerlach, doch keiner der Kollegen reagierte.

»Ist der Zauber hier denn schon vorbei?«, fragte Pia, »keine Einsatzbesprechung mehr heute?«

»Heute ist schon lange vorbei. Wilfried hat die nächste Besprechung für acht Uhr früh angesetzt. Der wird sich in der Zwischenzeit ein paar Gedanken über unser weiteres Vorgehen machen müssen.«

»Ein Mist, dass Gabler nicht da ist …«, bemerkte Marten Unruh. Alle schwiegen einvernehmlich.

»Also, ich hau jetzt ab!«, sagte Broders und griff nach seiner Jacke.

In diesem Moment betrat Wilfried Kürschner den Raum. Sein kariertes Freizeithemd war ein Stück weit aus der hellen Jeans gerutscht. Mit den braunen Ledersandalen an den grau bestrumpften Füßen wirkte er hilflos. Sein Blick wanderte unstet zwischen den noch anwesenden Kollegen hin und her.

»Wenn ihr mit den Leuten hier durch seid, könnt ihr gehen. Ich werde das Gebäude abschließen und den Schlüssel zurückbringen. Draußen ist alles so weit erledigt. Wir sehen uns morgen früh um acht Uhr im Kommissariat.«

Gerlach schien es plötzlich sehr eilig zu haben und hastete mit einem kurzen Gruß aus dem Raum.

»Wer vertritt eigentlich die unhaltbare These, dass vernünftige Arbeit unbedingt morgens um acht beginnen muss. Neun oder halb zehn wäre doch auch okay«, beschwerte sich Heinz Broders. Er stand immer noch mit seiner Jacke in der Hand da.

»Bis morgen, Heinz! Angenehme Nachtruhe!«, rief Kürschner ihm zu.

Broders’ Antwort klang nach einem genervten »Du mich auch …«

Kürschner schien jedoch nicht mehr die Kraft zu haben, sich darüber zu ärgern. Er nickte Pia und Marten Unruh zu, als sie ebenfalls Anstalten machten, den Raum zu verlassen, und ließ sich auf einen der gepolsterten Stühle fallen.

»Dieser Fall scheint ihm zuzusetzen«, bemerkte Pia, als sie draußen unter den Arkaden standen. Sie verschränkte frierend die Arme vor der Brust. Bei ihrem eiligen Aufbruch vorhin hatte sie vergessen, eine Jacke oder einen Pullover mitzunehmen.

»Ich glaube, er hat auch private Sorgen«, meinte Marten leise, »seine Frau ist krank, seit längerem schon. Da hat ihm so eine Aufsehen erregende Sache hier wahrscheinlich gerade noch gefehlt.«

»Ich hätte nie gedacht, dass ich es einmal bedauern würde, dass Gabler nicht auf dem Posten ist.«

»So etwas passiert doch immer, wenn der Leiter im Urlaub ist.«

»Wahrscheinlich …«, sagte Pia vage. »Wissen wir schon irgendetwas über die Identität der Frau?«

»Ihren Papieren nach zu urteilen hieß sie Birgit Manstein. Aus Lübeck, einundvierzig Jahre alt …«

»Heutzutage ist man wohl nirgends mehr seines Lebens sicher.« Pia zog unbehaglich die Schultern hoch.

»Sowieso nicht. Wo steht dein Auto?«

»Ich bin mit dem Fahrrad hier. Ich wohne ganz in der Nähe.«

»Ach so … Kommst du noch mit, etwas trinken?«, hörte Pia ihn nach einer kleinen Pause fragen.

Sie schüttelte den Kopf. Sie wusste nicht genau, warum es ihr widerstrebte. Normalerweise war nach einem solchen Einsatz ihr Adrenalinspiegel noch mindestens zwei Stunden so hoch, dass sie unmöglich einschlafen konnte. Aber nach den vielen Menschen auf dem Altstadtfest und im Adlersaal war ihr jetzt nur noch danach, allein zu sein.

»Dann bis morgen …«, meinte Marten und schlenderte kurz darauf die Breite Straße hinunter in Richtung Kohlmarkt.

Pia trat ebenfalls unter den Arkaden hervor und sah zu den Häusern auf der anderen Seite der Fußgängerzone hinüber. In den hohen Schaufenstern eines Kaufhauses brannte nur noch die Nachtbeleuchtung. Ebenso in den anderen Geschäften in der Fußgängerzone. Die darüber liegenden Fenster waren dunkel. Wohnte dort jemand? Oder waren dort oben Büros oder Praxen untergebracht? Hatte sich schon jemand erkundigt, ob von dort, aus einem der vielen Fenster, jemand etwas Wichtiges beobachtet hatte?

Marten Unruhs Schritte waren inzwischen verklungen. Einen kurzen Moment lang bedauerte Pia, dass sie die Gelegenheit, allein mit ihm zu reden, ungenutzt hatte verstreichen lassen. Seit der gemeinsamen Nacht in Grevendorf war die Stimmung zwischen ihnen angespannt.

Damals hatte Pia lediglich klargestellt, dass die gemeinsame Nacht nichts als ein bedeutungsloser Zwischenfall gewesen war. Doch was sie beide als bedeutungslos erachteten, konnte, wenn es den falschen Leuten zu Ohren kam, recht unangenehme Folgen für sie haben. Ihr war deshalb seit längerem daran gelegen, sich Martens Stillschweigen zu versichern.

Die Chance dazu hatte sie soeben vertan.

4. KAPITEL

Kläre Tensfeld hasste es, Aufmerksamkeit zu erregen. Mit vierundzwanzig Jahren bekam sie immer noch Herzklopfen, wenn sie allein ein Lokal oder eine Kneipe betreten musste. Sie verabscheute den Moment, wenn die Blicke der anderen Gäste fragend auf ihr ruhten. Diese Unsicherheit war schon immer da gewesen, schien in ihrem Erbgut verankert zu sein wie ihr naturkrauses Haar oder ihre großen, schweren Brüste.

Gegen Äußerlichkeiten konnte man zumindest etwas tun. Das krause Haar zu einem straffen Zopf zurücknehmen und weite Pullover oder Hemden tragen, um die auffällige Oberweite zu kaschieren. Dann sah sie zwar insgesamt unförmig aus, aber es machte wenigstens keiner anzügliche Bemerkungen. Gegen ihre inneren Defizite hingegen fühlte sich Kläre Tensfeld machtlos.

Sie wusste nicht, weshalb sie überhaupt auf Isabels Vorschlag eingegangen war, sich in einer Kneipe mit ihr zu treffen. Weil es praktischer war für Isabel? Weil Isabel dabei unter Leute kam, was sie liebte? Oder weil sie sowieso immer ihren Willen bei ihr durchsetzte? Es lag daran, dass Isabel ihr letzter Halt zum normalen Leben war, dachte Kläre. Isabel war der einzige Mensch, vor dem sie keinerlei Geheimnisse hatte.

Sie gab sich einen Ruck und zog die schwere Kneipentür auf. Kläre kämpfte sich durch den dunkelblauen Samtvorhang und stand schließlich wie auf einer Bühne mitten in dem Kneipenraum. Es waren jedoch nur wenige Gäste da, die sie anstarren konnten. Der Mann hinter dem Tresen sah kurz auf, als sie eintrat, dann widmete er sich wieder seinem Telefongespräch. Nicht einmal zu einem begrüßenden Kopfnicken ließ er sich herab …

Isabel saß an einem kleinen runden Tisch mitten im Raum und lächelte ihr zu. Schön und selbstsicher sah sie aus. Kläre bemerkte nicht zum ersten Mal, dass ihr Herz bei Isabels Anblick einen kleinen Satz machte. Sie war stolz darauf, ihre Freundin zu sein. Vielleicht ihre beste, ihre einzige, sicher aber ihre älteste Freundin …

»He, Klärchen! Du bist spät dran heute. Ich dachte schon, ich bleibe hier sitzen, wie bestellt und nicht abgeholt.«

»Da mach ich mir keine Sorgen um dich … Ich war noch bei Wibke und hab ihr beim Renovieren geholfen. Tut mir Leid, dass du warten musstest.« Kläre ließ sich auf den ihr zugedachten Stuhl fallen.

»Wie geht es deiner Schwester, brütet sie schön?«

Kläre nickte. Bei dem Gedanken an Schwangerschaft und Kinder verdüsterte sich ihre Miene.

»Kläre, zieh nicht wieder so ein Gesicht. Deiner Schwester ist jetzt sowieso immer nur schlecht. Später wird sie fett, kriegt Krampfadern und zum Schluss so ein schreiendes Bündel, das ihr keine Zeit mehr für sich selbst lässt. Das will man doch nicht wirklich …«

»Hast ja Recht, Isa. Nur der Gedanke, dass ich wohl nie …«