Engelslicht - Lauren Kate - E-Book
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Lauren Kate

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Beschreibung

Diese Liebe bringt die Welt ins Wanken

Luzifer will die Welt endgültig vernichten. Nur neun Tage bleiben Luce und Daniel, um seinen Plan zu vereiteln. Gemeinsam machen sie sich auf die Suche nach drei unschätzbar wertvollen Reliquien. Sollten sie diese rechtzeitig zum Berg Sinai bringen, haben sie noch eine Chance. Doch die Zeit läuft ihnen davon und der letzte Kampf erfordert große Opfer, denn auch Engel können sterben ...

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Lauren Kate

Engelslicht

Aus dem Amerikanischen

von Michaela Link

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cbt ist der Jugendbuchverlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe
Für Jason –ohne deine Liebe geht gar nichts
Gesetzt nach den Regeln der Rechtschreibreform
© 2012 by Tinderbox Books, LLC and Lauren Kate Die Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel »Rapture« bei Random House Children’s Books, New York © 2013 für die deutschsprachige Ausgabe cbt Verlag, München in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück, 30287 Garbsen Aus dem Amerikanischen von Michaela Link Lektorat: Carola Henke Covergestaltung: Geviert GbR, Grafik & Typografie Covermotiv: © 2012 Fernanda Brussi Gonçalves mit Amber Lynn Jackon von Beyond the Sea Arts und Isobel Eksteen

Und alle Dinge der Zerstörung nahen.

Nur unsre Liebe hat kein End.

John Donne, »The Anniversary«

Prolog

Im Fall

Zuerst war da Stille …

In dem Raum zwischen dem Himmel und dem Sturz, weit in der unendlichen Ferne, gab es einen Augenblick, da das herrliche Summen des Himmels verstummte und durch eine Stille ersetzt wurde, die so absolut war, dass Daniels Seele angestrengt auf den leisesten Laut horchte.

Dann war ihm, als würde er fallen – ein Sturz, den nicht einmal seine Flügel verhindern konnten, als hätte der Thron Monde an ihnen befestigt. Sie waren kaum zu bewegen, und wenn doch, hatten sie keinen Einfluss auf seinen Sturz.

Wohin fiel er? Es war nichts vor ihm und nichts hinter ihm. Nichts oben und nichts unten. Nur undurchdringliche Dunkelheit und der verschwommene Umriss von dem, was von Daniels Seele übrig war.

In der Lautlosigkeit übernahm seine Fantasie das Kommando. Sie füllte seinen Kopf mit etwas Unausweichlichem: den quälenden Worten von Lucindas Fluch.

Sie wird sterben … sie wird niemals ins Erwachsenenalter eintreten – sie wird wieder und wieder und wieder sterben, in genau dem Moment, in dem sie sich an deine Entscheidung erinnert.

Ihr werdet niemals wirklich zusammen sein.

Es war Luzifers üble Verwünschung, seine verbitterte Ergänzung des Urteils, das der Thron auf der himmlischen Wiese gesprochen hatte. Jetzt kam der Tod seine Liebste holen. Konnte Daniel ihn aufhalten? Würde er ihn überhaupt erkennen?

Denn was wusste ein Engel schon vom Tod? Daniel hatte erlebt, wie er friedlich zu einigen Menschen gekommen war, wie man die neue sterbliche Rasse nannte, aber der Tod betraf die Engel nicht.

Tod und Erwachsenenalter: die beiden absoluten Werte in Luzifers Fluch. Keiner von beiden sagte Daniel etwas. Er wusste nur, dass die Trennung von Lucinda eine Strafe war, die er nicht ertragen konnte. Sie mussten zusammen sein.

»Lucinda!«, rief er.

Bei dem bloßen Gedanken an sie hätte ein wohliges Gefühl in seiner Seele aufsteigen sollen, aber da war nur der Trennungsschmerz, ein Übermaß von dem, was nicht war.

Er hätte seine Brüder um sich herum spüren müssen – all jene, die sich falsch oder zu spät entschieden hatten, die überhaupt keine Wahl getroffen hatten und wegen ihrer Unentschlossenheit verstoßen worden waren. Er wusste, dass er nicht wirklich allein war. So viele von ihnen waren in die Tiefe gestürzt, als die Wolken sich über der Leere aufgetan hatten.

Aber er konnte niemanden sehen noch spüren.

Er war nie zuvor allein gewesen. Jetzt kam er sich wie der letzte Engel aller Welten vor.

So darfst du nicht denken. Du wirst dich verlieren.

Er versuchte, es vor sich zu sehen … Lucinda, den Namensaufruf, Lucinda, die Entscheidung … aber während er fiel, wurde es schwerer für ihn, sich zu erinnern. Was zum Beispiel waren die letzten Worte, die der Thron gesprochen hatte …

Die Tore des Himmels …

Die Tore des Himmels sind …

Er wusste nicht mehr, wie es weiterging. Er entsann sich nur noch schwach, wie das große Licht geflackert und eine bittere Kälte sich über der Wiese ausgebreitet hatte, wie die Bäume im Obstgarten ineinander gestürzt waren und Wellen heftiger Turbulenzen ausgelöst hatten, die im ganzen Kosmos zu spüren gewesen waren, Wolkentsunamis, die die Engel geblendet und ihre Herrlichkeit vernichtet hatten. Da war noch etwas anderes gewesen, kurz vor der Zerstörung der Wiese, etwas wie ein …

Zwilling.

Ein kühner, strahlender Engel war während des Namensaufrufs emporgeschwebt und hatte gesagt, er sei Daniel, der aus der Zukunft zurückgekommen sei. Da war eine Traurigkeit in seinen Augen gewesen, die so … alt ausgesehen hatte. Hatte dieser Engel – diese Version von Daniels Seele – sehr gelitten?

Hatte Lucinda gelitten?

Ein gewaltiger Zorn stieg in Daniel auf. Er würde Luzifer finden, den Engel, der in der Sackgasse aller Ideen lebte. Daniel fürchtete den Verräter nicht, der einst der Morgenstern gewesen war. Daniel würde Rache nehmen, wo und wann auch immer dieses Vergessen ein Ende hatte. Aber zuerst würde er Lucinda finden, denn ohne sie war alles bedeutungslos. Ohne ihre Liebe ging gar nichts.

Ihre Liebe war von der Art, die es unvorstellbar machte, sich für Luzifer oder den Thron zu entscheiden. Die einzige Seite, die er jemals wählen konnte, war ihre. Daher würde Daniel jetzt für diesen Entschluss bezahlen, aber er wusste noch nicht, welcher Art seine Strafe sein würde. Nur dass Lucinda von dem Ort verschwunden war, an den sie gehörte: seiner Seite.

Plötzlich durchzuckte Daniel der Schmerz der Trennung von seiner Seelengefährtin mit brutaler Schärfe. Er stöhnte lautlos, sein Verstand trübte sich, und mit einem Mal konnte er sich nicht mehr daran erinnern, warum. Es machte ihm Angst.

Er stürzte weiter, tief hinunter durch dichtere Schwärze.

Er konnte nichts mehr sehen oder fühlen oder sich daran erinnern, wie er hier im Nirgendwo gelandet war, durch das Nichts rasend – wohin? Für wie lange?

Erinnerungsfetzen tauchten auf und verschwanden. Es wurde immer schwerer, sich an die Worte zu erinnern, die der Engel auf der weißen Wiese gesprochen hatte, der Engel, der so große Ähnlichkeit gehabt hatte mit …

Wem hatte der Engel ähnlich gesehen? Und was hatte er gesagt, das so wichtig war?

Daniel wusste es nicht, wusste überhaupt nichts mehr.

Nur dass er durch eine endlose Leere stürzte.

Er war erfüllt von dem Drang, etwas zu finden … jemanden.

Dem Drang, sich wieder ganz zu fühlen …

Aber da war nur Dunkelheit in der Dunkelheit …

Stille, die seine Gedanken übertönte …

Ein Nichts, das alles war.

Daniel fiel.

Eins

Das Wächteramt der Engel

»Guten Morgen.«

Eine warme Hand strich Luce übers Gesicht und schob ihr eine Haarsträhne hinters Ohr.

Sie rollte sich auf die Seite, gähnte und öffnete die Augen. Sie hatte tief geschlafen und von Daniel geträumt.

»Oh«, stieß sie hervor und betastete ihre Wange. Da war er.

Daniel saß neben ihr. Er trug einen schwarzen Pullover und den roten Schal, wie damals, als sie ihn in der Sword & Cross das erste Mal gesehen hatte. Er sah besser aus als ein Traum.

Sein Gewicht ließ den Rand des Feldbetts ein wenig einsinken, und Lucinda zog die Beine an, um sich enger an ihn zu kuscheln.

»Du bist kein Traum«, sagte sie.

Daniels Augen waren müder als gewöhnlich, aber sie strahlten trotzdem in einem leuchtenden Violett, als er sie anschaute und ihre Züge musterte, als sähe er sie zum ersten Mal. Er beugte sich vor und drückte seine Lippen auf ihre.

Luce schmiegte sich an ihn und schlang ihm die Arme um den Hals, glücklich, seinen Kuss zu erwidern. Seine ungeputzten Zähne und ihr vom Schlaf zerzaustes Haar interessiert sie nicht. Sie interessierte sich für nichts anderes als für seinen Kuss. Sie waren zusammen und konnten nicht aufhören zu grinsen.

Dann stürmte die Erinnerung auf sie ein:

Rasiermesserscharfe Klauen und glanzlose rote Augen. Ein erstickender Gestank nach Tod und Fäulnis. Überall Dunkelheit, so vollkommen in ihrem Verderben, dass sie Licht und Liebe und alles Gute auf der Welt müde, zerstört und tot erscheinen ließ.

Dass Luzifer ihr früher einmal etwas anderes bedeutet hatte – Bill, der störrische steinerne Gargoyle, den sie irrtümlich für einen Freund gehalten hatte, war Luzifer höchstpersönlich gewesen –, schien unmöglich zu sein. Sie hatte ihn zu nah an sich herangelassen, und jetzt, weil sie nicht das getan hatte, was er wollte – ihre Seele im alten Ägypten zu töten –, hatte er beschlossen, reinen Tisch zu machen.

Die Zeit zu verbiegen und alles seit dem Engelssturz auszulöschen.

Jedes Leben, jede Liebe, jeder Augenblick, den jede Seele eines Sterblichen und eines Engels je erfahren hatte, würde von Luzifer nach Lust und Laune zerknüllt und weggeworfen werden, als sei das Universum ein Brettspiel und er ein jammerndes Kind, das aufgab, wenn es zu verlieren begann. Aber was er gewinnen wollte, konnte Luce nicht sagen.

Ihr wurde heiß, als sie sich an seinen Zorn erinnerte. Er hatte gewollt, dass sie es sah, dass sie in seiner Hand zitterte, als er sie in die Zeit des Sturzes zurückführte. Er hatte ihr zeigen wollen, dass es für ihn etwas Persönliches war.

Dann hatte er sie von sich gestoßen und einen Verkünder wie ein Netz ausgeworfen, um all die Engel einzufangen, die aus dem Himmel gefallen waren.

Gerade als Daniel sie in diesem Nirgendwo voller Sterne aufgefangen hatte, war Luzifer mit einem Mal verschwunden und hatte den Sturz von Neuem beginnen lassen. Er war nun bei den fallenden Engeln, zusammen mit der vergangenen Version seiner selbst. Luzifer würde wie die anderen in eine machtlose Isolation fallen – mit seinen Brüdern, aber abseits von ihnen, zusammen, aber allein. Jahrtausende zuvor hatten die Engel neun sterbliche Tage gebraucht, um vom Himmel auf die Erde zu fallen. Da Luzifers zweiter Fall der gleichen Flugbahn folgen würde, hatten Luce, Daniel und die anderen nur neun Tage Zeit, um ihn aufzuhalten.

Wenn ihnen dies nicht gelang, würde es, sobald Luzifer und sein Verkünder voller Engel auf der Erde gelandet waren, einen Zeitsprung geben, der sich bis zurück zu dem ursprünglichen Sturz auswirken würde, und alles würde von Neuem beginnen. Als hätte es die siebentausend Jahre zwischen damals und heute nie gegeben.

Als hätte Luce nicht endlich begonnen, den Fluch zu verstehen, zu verstehen, wo ihr Platz in all dem war, und zu erfahren, wer sie war und was sie sein konnte.

Die Geschichte und die Zukunft der Welt waren in Gefahr – es sei denn, Luce, sieben Engel und zwei Nephilim konnten Luzifer aufhalten. Sie hatten neun Tage Zeit und keine Ahnung, wo sie anfangen sollten.

Luce war am Abend zuvor so müde gewesen, dass sie sich nicht daran erinnern konnte, sich auf diese Pritsche gelegt und die dünne blaue Decke um die Schultern gezogen zu haben. Da waren Spinnweben in den Dachsparren der kleinen Hütte und ein Klapptisch voller halb ausgetrunkener Becher Kakao, den Gabbe am vergangenen Abend für alle gemacht hatte. Aber es erschien Luce alles wie ein Traum. Ihren Flug von dem Verkünder auf diese winzige, vor Tybee gelegene Insel, diese sichere Zone für die Engel, hatte sie vor lauter Müdigkeit kaum wahrgenommen.

Sie war eingeschlafen, während die anderen noch geredet hatten, und hatte sich von Daniels Stimme in einen Traum lullen lassen. Jetzt war es still in der Hütte und in dem Fenster hinter Daniel kündigte der graue Himmel den Sonnenaufgang an.

Sie berührte ihn an der Wange. Er drehte den Kopf und küsste sie auf die Handfläche. Luce kniff die Augen zusammen, um nicht zu weinen. Warum mussten sie nach allem, was sie durchgemacht hatten, erst den Teufel besiegen, bevor sie frei waren, einander zu lieben?

»Daniel.« Rolands Stimme kam vom Eingang der Hütte. Seine Hände steckten tief in den Taschen seiner Cabanjacke und er hatte eine graue wollene Skimütze auf den Dreadlocks. Er lächelte Luce müde an. »Es wird Zeit.«

»Zeit wofür?« Luce stützte sich auf den Ellbogen. »Brechen wir auf? Jetzt schon? Ich wollte meinen Eltern noch Lebewohl sagen. Sie haben wahrscheinlich schon Panik.«

»Ich dachte, ich bringe dich jetzt bei ihnen vorbei«, warf Daniel ein, »damit du dich verabschieden kannst.«

»Aber wie soll ich ihnen erklären, dass ich nach dem Thanksgiving-Dinner verschwunden bin?«

Sie erinnerte sich an Daniels Worte vom vergangenen Abend: Obwohl es ihnen so vorgekommen war, als seien sie eine Ewigkeit in dem Verkünder gewesen, waren in Wirklichkeit nur wenige Stunden vergangen.

Doch für Harry und Doreen Price war es eine Ewigkeit, wenn ihre Tochter ein paar Stunden vermisst wurde.

Daniel und Roland tauschten einen Blick. »Wir haben uns darum gekümmert«, sagte Roland und gab Daniel einen Autoschlüssel.

»Ihr habt euch darum gekümmert? Wie?«, fragte Luce. »Mein Dad hat schon mal die Polizei angerufen, als ich nur eine halbe Stunde zu spät aus der Schule gekommen bin …«

»Keine Sorge, Kleine«, entgegnete Roland. »Du kannst dich auf uns verlassen. Du brauchst nur einen schnellen Kostümwechsel.« Er zeigte auf einen Rucksack auf dem Schaukelstuhl neben der Tür. »Gabbe hat deine Sachen hergebracht.«

»Ähm, danke«, murmelte sie verwirrt. Wo war Gabbe? Wo waren die anderen? Die Hütte war am Abend zuvor gerammelt voll gewesen, richtig gemütlich durch den Schein der Engelsflügel und den Geruch von heißer Schokolade und Zimt. Die Erinnerung an diese Behaglichkeit, zusammen mit dem Versprechen, ihren Eltern Lebewohl zu sagen, ohne zu wissen, wohin sie ging, gaben ihr an diesem Morgen ein Gefühl der Leere.

Der Holzboden fühlte sich rau an unter ihren nackten Füßen. Als sie hinabschaute, bemerkte sie, dass sie noch immer das schmale weiße Etuikleid trug, das sie in Ägypten angehabt hatte, in dem letzten Leben, das sie durch die Verkünder besucht hatte. Bill hatte es ihr besorgt.

Nein, nicht Bill. Luzifer. Er hatte anzüglich gegrinst, als sie den Sternenpfeil unter dem Kleid befestigt und über seinen Rat nachgedacht hatte, ihre Seele zu töten.

Niemals, niemals, niemals. Es gab zu vieles, wofür es sich zu leben lohnte.

In dem alten grünen Rucksack, den sie immer mit ins Sommercamp genommen hatte, fand Luce ihren Lieblingsschlafanzug – den rot-weiß gestreiften aus Flanell – ordentlich zusammengelegt, mit den dazugehörigen weißen Pantoffeln darunter. »Aber es ist früh am Morgen«, sagte Luce. »Wozu brauche ich einen Schlafanzug?«

Wieder tauschten Daniel und Roland einen Blick, und diesmal versuchten sie, nicht zu lachen.

»Vertrau uns einfach«, meinte Roland.

Nachdem sie sich umgezogen hatte, folgte Luce Daniel aus der Hütte. Seine breiten Schultern schützten sie vor dem Wind, als sie über den Kiesstrand ans Wasser gingen.

Die kleine Insel lag etwa anderthalb Kilometer vor der Küste. Roland hatte versprochen, dass an Land ein Wagen warten würde.

Daniels Flügel waren verborgen, aber er musste gespürt haben, dass sie auf die Stelle sah, an der sie sich aus seinen Schultern entfalteten. »Ich denke, hier und jetzt ist es besser, wenn wir am Boden bleiben.«

»Okay«, erwiderte Luce.

»Schwimmen wir um die Wette hinüber?« Ihr Atem bildete eine Wolke in der Luft. »Du weißt, dass ich dich schlagen würde.«

»Stimmt.« Er legte einen Arm um sie und wärmte sie. »Vielleicht sollten wir deshalb besser das Boot nehmen. Meinen berühmt-berüchtigten Stolz wahren.«

Sie sah zu, wie er ein kleines stählernes Ruderboot losband. Das sanfte Licht auf dem Wasser ließ sie an den Tag zurückdenken, an dem sie mit ihm ein Wettschwimmen über den verborgenen See an der Sword & Cross gemacht hatte. Seine Haut hatte geglänzt, als sie sich auf dem flachen Felsen in der Mitte hochgezogen hatten, um wieder zu Atem zu kommen, dann hatten sie sich auf den warmen Stein gelegt und sich von der Sonne trocknen lassen. Sie hatte Daniel damals kaum gekannt – hatte noch nicht gewusst, dass er ein Engel war –, doch schon damals war sie gefährlich in ihn verliebt gewesen.

»Wir sind in meinem Leben in Tahiti viel zusammen schwimmen gewesen, nicht wahr?«, fragte sie, überrascht, sich an ein anderes Mal zu erinnern, da sie Daniels Haar nass hatte glänzen sehen.

Daniel schaute sie an, und sie wusste, wie viel es für ihn bedeutete, endlich einige Erinnerungen an ihre gemeinsame Vergangenheit mit ihr teilen zu können. Er wirkte so gerührt, dass Luce dachte, er würde weinen.

Stattdessen küsste er sie zart auf die Stirn und sagte: »Da hast du mich auch jedes Mal geschlagen, Lulu.«

Sie redeten nicht viel, während Daniel ruderte. Es reichte Luce schon, einfach zuzusehen, wie seine Muskeln sich anspannten, wenn er die Riemen nach hinten zog, zu hören, wie die Ruderblätter aus dem kalten Wasser gehoben wurden und wieder eintauchten, und die salzige Luft des Ozeans einzuatmen. Die Sonne ging über ihren Schultern auf und wärmte ihr den Nacken, aber als sie sich dem Festland näherten, sah sie etwas, das ihr einen Schauder über den Rücken sandte.

Sie erkannte den weißen 1993er Taurus sofort.

»Was ist los?« Daniel bemerkte, dass Luce sich versteifte, als das Ruderboot das Ufer berührte. »Oh. Das.« Er klang unbesorgt, als er aus dem Boot sprang und Luce eine Hand hinhielt. Der Boden war mulchig und roch intensiv. Er erinnerte Luce an ihre Kindheit, wenn sie im Herbst durch die Wälder von Georgia gelaufen war und in der Vorfreude auf Streiche und Abenteuer geschwelgt hatte.

»Es ist nicht das, was du denkst«, bemerkte Daniel. »Als Sophia aus der Sword & Cross geflohen ist, nachdem« – Luce wartete, zuckte zusammen und hoffte, dass Daniel nicht sagen würde: Nachdem sie Penn ermordet hatte – »nachdem wir herausgefunden hatten, wer sie wirklich war, haben die Engel ihren Wagen beschlagnahmt.« Seine Züge verhärteten sich. »Sie ist es uns schuldig, und mehr als das.«

Luce dachte an Penns weißes Gesicht, aus dem das Leben wich. »Wo ist Sophia jetzt?«

Daniel schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Leider werden wir es wohl bald herausfinden. Ich habe das Gefühl, dass sie sich in unsere Pläne einmischen wird.« Er zog die Schlüssel aus der Tasche und öffnete die Beifahrertür. »Aber darüber solltest du dir im Moment keine Gedanken machen.«

Luce sah ihn an, während sie in den grauen Stoffsitz sank. »Worüber sollte ich mir denn dann Gedanken machen?«

Daniel drehte den Zündschlüssel und der Wagen erwachte langsam und bebend zum Leben. Als sie das letzte Mal in diesem Sitz gesessen hatte, war sie besorgt darüber gewesen, mit ihm alleine zu sein. Es war die erste Nacht gewesen, in der sie sich geküsst hatten – zumindest soweit sie es damals gewusst hatte. Luce stocherte mit dem Sicherheitsgurt in dem Gurtschloss, als sie Daniels Finger über ihren spürte. »Du weißt doch«, murmelte er, während er sich vorbeugte, um sie anzuschnallen, und dabei seine Hände auf ihren liegen ließ. »Das geht nur mit diesem kleinen Kniff.«

Er küsste sie auf die Wange, dann legte er den Rückwärtsgang ein und fuhr aus dem nassen Wald auf eine zweispurige Straße. Ihr Auto war das einzige weit und breit.

»Daniel?«, fragte Luce noch einmal. »Worüber sollte ich mir noch Gedanken machen?«

Er warf einen Blick auf Luces Schlafanzug. »Kannst du dich gut krank stellen?«

Der weiße Taurus stand im Leerlauf in der Gasse hinter dem Haus ihrer Eltern, als Luce sich an den drei Azaleen neben ihrem Schlafzimmerfenster vorbeischlich. Im Sommer würden Tomatenranken aus dem schwarzen Erdreich kriechen, aber im Winter sah es neben dem Haus kahl und trostlos und nicht besonders anheimelnd aus. Sie konnte sich nicht daran erinnern, wann sie das letzte Mal hier draußen gestanden hatte. Sie hatte sich aus drei verschiedenen Internaten gestohlen, aber niemals aus dem Haus ihrer Eltern. Jetzt schlich sie sich hinein, und sie wusste nicht, wie ihr Fenster funktionierte. Luce ließ den Blick über die Häuser in ihrer Straße wandern, über die Morgenzeitung, die in einer beschlagenen Plastiktüte am Rand des Rasens ihrer Eltern lag, über den alten netzlosen Basketballkorb in der Einfahrt der Johnsons auf der anderen Straßenseite. Nichts hatte sich verändert, seit sie fort gewesen war. Nichts hatte sich verändert außer ihr selbst. Wenn Bill Erfolg hatte, würde diese Wohngegend dann auch verschwinden?

Sie winkte Daniel im Auto ein letztes Mal zu, holte tief Luft und benutzte die Daumen, um das Fenster hochzustemmen.

Es glitt mühelos nach oben. Innen hatte bereits jemand das Fenstergitter herausgenommen. Luce hielt erstaunt inne, als die weißen Vorhänge sich teilten und der halb blonde, halb schwarze Schopf ihrer einstigen Feindin Molly Zane den freien Raum ausfüllte.

»Ey Hackepeter, was geht ab?«

Luce stellten sich die Nackenhaare auf, als sie den Spitznamen hörte, den sie sich an ihrem ersten Tag in der Sword & Cross eingehandelt hatte. Hatten Daniel und Roland das gemeint, als sie sagten, sie würden sich daheim um alles kümmern?

»Was machst du denn hier, Molly?«

»Los, komm. Ich beiße nicht.« Molly streckte eine Hand aus. Ihre Nägel zierte abgeplatzter grüner Nagellack.

Luce legte ihre Hand in Mollys, duckte sich und schob sich seitwärts, ein Bein nach dem anderen, durch das Fenster.

Ihr Schlafzimmer sah klein und altmodisch aus, wie eine Zeitkapsel einer längst vergangenen Luce. An ihrer Tür hing das gerahmte Poster des Eiffelturms. Da war ihre Pinnwand mit Bändern vom Schwimmteam aus der Thunderbolt Elementary. Und dort, unter der grün-gelben Bettdecke mit Hawaiiprint, lag ihre beste Freundin, Callie.

Callie kroch unter der Decke hervor, rannte um das Bett herum und warf sich Luce in die Arme. »Sie haben mir immer wieder gesagt, dass du okay sein würdest, aber weißt du, so, dass ich gleich wusste: Sie haben selber Schiss wie sonst was, aber sie verraten dir nichts. Hast du überhaupt eine Ahnung, wie absolut unheimlich das war? Es war, als seist du vom Erdboden verschwunden …«

Luce umarmte sie fest.

»Okay, ihr zwei«, knurrte Molly und zog Luce von Callie weg, »ihr könnt euch später noch mit ›Oh mein Gott!‹ verausgaben. Ich habe nicht die ganze Nacht mit dieser billigen Polyesterperücke in deinem Bett gelegen und Luce-mit-Magengrippe gespielt, damit ihr beiden jetzt unsere Tarnung auffliegen lassen könnt.« Sie verdrehte die Augen. »Amateure.«

»Warte mal. Du hast was getan?«, fragte Luce.

»Als du … verschwunden warst«, sagte Callie, »war doch eins klar. Das konnten wir deinen Eltern einfach nicht erklären. Ich konnte es ja selbst kaum fassen, obwohl ich es mit eigenen Augen gesehen hatte. Während Gabbe den Garten in Ordnung gebracht hat, habe ich deinen Eltern erzählt, dass dir übel sei und du ins Bett gegangen seist, und Molly hat so getan, als sei sie du, und …«

»Ein Glück, dass ich das hier in deinem Schrank gefunden habe.« Molly zwirbelte eine kurze schwarze Lockenperücke um einen Finger. »Ein Überbleibsel von Halloween?«

»Wonderwoman.« Luce zuckte zusammen und verfluchte ihr Halloweenkostüm aus der Mittelschule, und das nicht zum ersten Mal.

»Nun, es hat funktioniert.«

Es war seltsam, dass Molly – die einst mit Luzifer paktiert hatte – ihr half. Aber wie Cam und Roland wollte selbst Molly nicht noch einmal den Sturz erleben. Da waren sie nun also, ein Team, ein seltsames Gespann.

»Du bist für mich eingesprungen? Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Danke.«

»Na wenn schon.« Molly machte eine Kopfbewegung zu Callie, um von Luces Dankbarkeit abzulenken. »Sie war diejenige mit den Engelszungen. Bedank dich bei ihr.« Sie streckte ein Bein durch das offene Fenster und drehte sich um: »Denkt ihr, ihr kommt jetzt alleine klar? Ich muss an einem Gipfeltreffen im Waffle House teilnehmen.«

Luce reckte den Daumen hoch und ließ sich auf ihr Bett fallen.

»Oh, Luce«, flüsterte Callie. »Als du weg warst, war euer ganzer Garten mit grauem Staub bedeckt. Und dieses blonde Mädchen, Gabbe, hat nur einmal die Hand bewegt und alles war verschwunden. Dann haben wir gesagt, du seist krank, dass alle anderen nach Hause gegangen seien, und wir haben einfach angefangen, mit deinen Eltern den Abwasch zu machen. Und zuerst dachte ich, diese Molly sei ein bisschen schrecklich, aber in Wirklichkeit ist sie irgendwie cool.« Ihre Augen wurden schmal. »Aber wo warst du? Was ist mit dir passiert? Du hast mir wirklich einen Schrecken eingejagt, Luce.«

»Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll«, sagte Luce.

Ein Klopfen erklang, gefolgt von dem vertrauten Knarren ihrer sich öffnenden Zimmertür.

Luces Mutter stand im Flur, das vom Schlaf zerzauste Haar von einer gelben Bananenspange gezähmt, das Gesicht ungeschminkt und hübsch. Sie hielt ein Basttablett mit zwei Gläsern Orangensaft, zwei Tellern mit gebuttertem Toast und einer Schachtel Alka-Seltzer. »Sieht so aus, als würde sich da jemand besser fühlen.«

Luce wartete, bis ihre Mom das Tablett auf den Nachttisch gestellt hatte, dann schlang sie die Arme um ihre Mutter und vergrub das Gesicht in ihrem rosafarbenen Frotteebademantel. Tränen brannten ihr in den Augen. Sie schniefte.

»Mein kleines Mädchen«, sagte ihre Mom und fühlte Luce die Stirn und die Wangen, um festzustellen, ob sie Fieber hatte. Seit Ewigkeiten hatte sie nicht mehr mit dieser sanften Stimme zu Luce gesprochen, und jetzt tat es gut, sie zu hören.

»Ich habe dich lieb, Mom.«

»Erzähl mir nicht, dass sie zu krank für Black Friday ist.« Luces Vater erschien in der Tür, eine grüne Plastikgießkanne in der Hand. Er lächelte, aber hinter seiner randlosen Brille wirkten Mr Price’ Augen besorgt.

»Es geht mir besser«, erklärte Luce. »Aber …«

»Oh, Harry«, sagte Luces Mom. »Du weißt, dass wir sie nur für den einen Tag hier hatten. Sie muss zurück in die Schule.« Sie wandte sich an Luce. »Daniel hat vor einer Weile angerufen, Liebes. Er sagte, er könne dich abholen und in die Sword & Cross zurückbringen. Ich habe gesagt, dass dein Vater und ich dich natürlich gerne fahren würden, aber …«

»Nein«, unterbrach Luce sie schnell und dachte an den Plan, den Daniel im Wagen erklärt hatte. »Auch wenn ich nicht mitgehen kann, solltet ihr beiden trotzdem eure Black Friday Einkäufe machen. Es ist eine Price’sche Familientradition.«

Sie einigten sich darauf, dass Luce mit Daniel fahren sollte und ihre Eltern Callie zum Flughafen bringen würden. Während die Mädchen aßen, hockten Luces Eltern auf der Bettkante und sprachen über Thanksgiving (»Gabbe hat das ganze Porzellan poliert – was für ein Engel«). Als sie zu den Black Friday Schnäppchen kamen, auf die sie Jagd machen wollten (»Dein Vater will immer nur Werkzeug«), wurde Luce bewusst, dass sie nichts gesagt hatte außer idiotischen Rückmeldungen wie »Mhm« und »Ach wirklich?«.

Als ihre Eltern endlich aufstanden, um die Teller in die Küche zu bringen, und Callie zu packen begann, ging Luce ins Badezimmer und schloss die Tür.

Es kam ihr so vor, als sei sie das erste Mal seit einer Million Jahren allein. Sie setzte sich auf den Schminkhocker und schaute in den Spiegel.

Sie war sie selbst, aber anders. Sicher, Lucinda Price blickte ihr entgegen. Aber auch …

Da war Layla mit ihren vollen Lippen, Lulu mit dem dicken gewellten Haar, Lu Xin mit ihren intensiven haselnussbraunen Augen, Lucia mit ihrem Funkeln. Sie war nicht allein. Vielleicht würde sie nie wieder allein sein. Aus dem Spiegel blickte sie eine jede ihrer Inkarnationen an und fragte sich: Was soll aus mir werden? Was ist mit meiner Geschichte und meiner Liebe?

Sie duschte und zog saubere Jeans an, ihre schwarzen Reitstiefel und einen langen weißen Pullover. Dann setzte sie sich auf Callies Koffer, während ihre Freundin mit dem Reißverschluss kämpfte. Das Schweigen zwischen ihnen lastete schwer.

»Callie, du bist meine beste Freundin«, sagte Luce schließlich. »Ich mache etwas durch, was ich nicht verstehe. Aber es hat nichts mir dir zu tun. Es tut mir leid, dass ich nicht weiß, wie ich mich genauer ausdrücken kann, aber ich habe dich vermisst. So sehr.«

Callies Schultern spannten sich an. »Früher hast du mir alles erzählt.« Doch der Blick, den sie tauschten, sagte, dass beide Mädchen wussten, dass das nicht länger möglich war.

Vor dem Haus schlug eine Autotür zu.

Durch die offene Jalousie sah Luce, wie Daniel auf das Haus zukam. Und obwohl noch keine Stunde vergangen war, seit er sie abgesetzt hatte, beschleunigte sich ihr Herzschlag und ihre Wangen röteten sich bei seinem Anblick. Er ging langsam, als würde er schweben, und sein roter Schal flatterte hinter ihm im Wind. Selbst Callies Augen folgten ihm.

Sie standen mit ihren Eltern am Eingang. Luce schloss jeden lange in die Arme – zuerst ihren Dad, dann ihre Mom, dann Callie, die ihre Umarmung erwiderte und flüsterte: »Was ich gestern Abend gesehen habe – wie du in diesen … diesen Schatten getreten bist – das war wunderschön. Ich will nur, dass du das weißt.«

Luce spürte, dass ihre Augen erneut zu brennen anfingen. Sie drückte Callie noch einmal und flüsterte: »Danke.«

Dann lief sie den Weg hinunter und in Daniels Arme.

»Da seid ihr ja, ihr Turteltäubchen, Kropf an Kropf und Haut an Häutchen«, sang Arriane und steckte den Kopf hinter einem langen Bücherregal hervor. Sie saß in Overall und Springerstiefeln, das dunkle Haar zu kleinen Rattenschwänzchen geflochten, im Schneidersitz auf einem Bibliotheksstuhl und spielte mit ihren Rastabällen.

Luce war nicht gerade glücklich, wieder in der Bibliothek der Sword & Cross zu sein. Sie war renoviert worden, seit das Feuer sie zerstört hatte, aber es roch immer noch so, als habe hier etwas Großes und Hässliches gebrannt. Offiziell war der Brand als kleiner Zwischenfall abgetan worden, obwohl er ein Todesopfer gefordert hatte – Todd, einen stillen Schüler, den Luce bis zur Nacht seines Todes kaum gekannt hatte. Luce wusste, dass irgendetwas Dunkles hinter diesem Feuer steckte. Sie machte sich Vorwürfe. Das Ganze erinnerte sie zu sehr an Trevor, einen Jungen, in den sie einmal verknallt gewesen war und der in einem anderen unerklärlichen Feuer gestorben war.

Als sie und Daniel nun um ein Bücherregal herum in den Gruppenarbeitsbereich kamen, sah Luce, dass Arriane nicht alleine war. Sie waren alle da: Gabbe, Roland, Cam, Molly, Annabelle – der langbeinige Engel mit dem pinkfarbenen Haar –, sogar Miles und Shelby, die aufgeregt winkten und völlig anders aussahen als die anderen Engel, aber auch nicht wie sterbliche Jugendliche.

Miles und Shelby – hielten die beiden Händchen? Aber als Luce genauer hinsah, waren ihre Hände unter dem Tisch verschwunden, an dem sie alle saßen. Miles zog sich die Baseballkappe tiefer ins Gesicht. Shelby räusperte sich und beugte sich über ein Buch.

»Dein Buch«, sagte Luce zu Daniel, sobald sie den dicken Band entdeckt hatte, aus dem unten am Buchrücken der braune Leim bröckelte. Auf dem verblichenen Einband stand: Das Wächteramt der Engel. Theologisch-philosophische Betrachtungen zur Welt- und Himmelsordnung von Daniel Grigori.

Sie griff automatisch nach dem blassgrauen Band. Dann schloss sie die Augen, weil es sie an Penn erinnerte, die das Buch in Luces letzter Nacht als Schülerin an der Sword & Cross gefunden hatte, und weil das Foto, das in den Buchdeckel eingeklebt worden war, sie letztlich davon überzeugt hatte, dass ihre Geschichte, wie Daniel sie ihr erzählt hatte, vielleicht doch möglich sein konnte.

Es war ein Foto, das in einem anderen Leben aufgenommen worden war, in Helston, England. Und obwohl es gar nicht hätte möglich sein können, bestand kein Zweifel: Die junge Frau auf dem Foto war sie.

»Wo hast du es her?«, fragte Luce.

Ihre Stimme musste etwas verraten haben, denn Shelby entgegnete: »Was ist so wichtig an diesem alten verstaubten Ding?«

»Es ist kostbar. Es ist jetzt unser einziger Schlüssel«, sagte Gabbe. »Sophia hat einmal versucht, es zu verbrennen.«

»Sophia?« Luce legte sich erschrocken die Hand aufs Herz. »Miss Sophia hat versucht – das Feuer in der Bibliothek? Das war sie?« Die anderen nickten. »Sie hat Todd auf dem Gewissen«, murmelte Luce benommen.

Es war also nicht Luces Schuld gewesen. Ein weiteres Leben, das auf Sophias Konto ging. Luce fühlte sich dadurch nicht besser.

»Und an dem Abend, als du es ihr gezeigt hast, wäre sie beinahe vor Schreck gestorben«, fuhr Roland fort. »Wir waren alle schockiert, vor allem als du darüber geredet hast.«

»Wir haben darüber geredet, dass Daniel mich geküsst hat«, erinnerte Luce sich errötend. »Und über die Tatsache, dass ich es überlebt hatte. War Miss Sophia deswegen so überrascht?«

»Zum Teil«, antwortete Roland. »Aber in diesem Buch steht noch viel mehr, von dem Sophia nicht gewollt hätte, dass du davon erfährst.«

»Spricht nicht für sie als Lehrerin, oder?«, meinte Cam und sah Luce mit einem Grinsen an, das lange nicht gesehen ausdrückte.

»Was hätte ich ihrer Meinung nach nicht wissen sollen?«

Alle Engel drehten sich zu Daniel um.

»Gestern Abend haben wir dir erzählt, dass keiner der Engel sich daran erinnern kann, wo wir nach dem Sturz gelandet sind«, meinte Daniel.

»Yeah, was das betrifft … wie ist das möglich?«, fragte Shelby. »Man sollte meinen, dass so etwas Daten auf dem alten Arbeitsspeicher hinterlässt.«

Cams Gesicht wurde rot. »Versuch du mal, neun Tage lang durch multiple Dimensionen und Millionen und Abermillionen von Lichtjahren zu fallen, nur um auf dem Gesicht zu landen, dir die Flügel zu brechen, dich wer weiß wie lange mit einer Gehirnerschütterung herumzuwälzen und jahrzehntelang durch die Wüste zu wandern auf der Suche nach einem Hinweis darauf, wer oder was oder wo du bist – und dann erzähl mir was über den alten Arbeitsspeicher.«

»Okay, du hast also ein Eingabeproblem«, erwiderte Shelby und setzte ihre Psychologenstimme auf. »Wenn ich bei dir eine Diagnose stellen sollte …«

»Nun, zumindest erinnerst du dich daran, dass eine Wüste mit im Spiel war«, sagte Miles diplomatisch und brachte Shelby damit zum Lachen.

Daniel drehte sich zu Luce um. »Ich habe dieses Buch geschrieben, nachdem ich dich in Tibet verloren hatte … aber bevor ich dir in Preußen begegnet bin. Ich weiß, dass du das Leben in Tibet besucht hast, weil ich dir dorthin gefolgt bin. Vielleicht kannst du deshalb verstehen, dass ich nach diesem Verlust versucht habe, durch jahrelange Forschungen einen Ausweg aus diesem Fluch zu finden.«

Luce wandte den Blick ab. Daniel hatte sich nach ihrem Tod in Tibet von einem Felsrand gestürzt. Sie hatte Angst, dass es wieder geschehen könnte.

»Cam hat recht«, sagte Daniel. »Keiner von uns erinnert sich daran, wo wir gelandet sind. Wir sind durch die Wüste gewandert, bis es keine Wüste mehr war, wir sind durch die Ebenen und die Täler und über die Meere gewandert, bis sie wieder zu Wüste wurden. Erst als wir uns nach und nach wiederfanden und begannen, die Geschichte zusammenzusetzen, erinnerten wir uns daran, dass wir früher einmal Engel gewesen waren.

Aber es gab Reliquien, die nach unserem Sturz geschaffen worden waren, greifbare Zeugen unserer Geschichte, die die Menschheit gefunden und als Schätze aufbewahrt hatte, die sie für Geschenke eines Gottes hielt, den sie nicht verstand. Für eine lange Zeit waren drei dieser Reliquien in einem Tempel in Jerusalem vergraben, aber während der Kreuzzüge wurden sie gestohlen und an verschiedene Orte geschafft. Niemand von uns wusste, wo sie waren.

Während meiner Forschungen vor mehreren Hundert Jahren habe ich mich auf die mittelalterliche Epoche konzentriert und in einer Art theologischer Schnitzeljagd nach den Reliquien so viele Quellen studiert, wie ich konnte«, fuhr Daniel fort. »Der Kern der Sache ist folgender: Wenn diese drei Objekte auf dem Berg Sinai zusammengeführt werden können …«

»Warum auf dem Berg Sinai?«, unterbrach ihn Shelby.

»Dort ist die Verbindung zwischen dem Thron und der Erde am stärksten«, erklärte Gabbe und warf sich das Haar schwungvoll über die Schultern. »Dort hat Moses die Zehn Gebote empfangen, dort erscheinen die Engel, wenn sie Botschaften vom Thron übermitteln.«

»Betrachte es als Gottes Stammkneipe«, ergänzte Arriane und warf einen Rastaball zu hoch und in eine Deckenlampe hinein.

»Aber bevor du fragst«, sagte Cam und suchte vielsagend Shelbys Blick, »der Berg Sinai ist nicht der ursprüngliche Schauplatz des Sturzes.«

»Das wäre auch viel zu einfach«, meinte Annabelle.

»Wenn die Reliquien alle auf dem Berg Sinai versammelt sind«, sprach Daniel weiter, »dann werden wir meiner Theorie nach in der Lage sein, den genauen Ort des Sturzes zu entschlüsseln.«

»Deiner Theorie nach.« Cam lachte höhnisch. »Muss ich derjenige sein, der die Richtigkeit von Daniels Forschungen infrage stellt …«

Daniel biss die Zähne zusammen. »Hast du eine bessere Idee?«

»Denkst du nicht«, Cam hob die Stimme, »dass deine Theorie großes Gewicht auf die Vorstellung legt, diese Reliquien sind mehr als nur Gerüchte? Wer weiß, ob sie das bewirken können, was sie angeblich bewirken sollen?«

Luce ließ den Blick über die Gruppe von Engeln und Dämonen wandern – ihre einzigen Verbündeten auf dieser Mission, sie und Daniel zu retten … und die Welt. »In neun Tagen müssen wir also an diesem unbekannten Ort sein.«

»In weniger als neun Tagen«, korrigierte Daniel sie. »In neun Tagen wird es zu spät sein. Luzifer – und die Heerschar von Engeln, die aus dem Himmel verbannt wurden – werden dann eingetroffen sein.«

»Aber wenn wir Luzifer am Endpunkt des Sturzes zuvorkommen können«, sagte Luce, »was dann?«

Daniel schüttelte den Kopf. »Das wissen wir nicht genau. Ich habe nie jemandem von diesem Buch erzählt, weil ich nicht wusste, worauf es hinauslaufen würde, da hat Cam völlig recht. Ich habe überhaupt erst Jahre später erfahren, dass Gabbe es hat veröffentlichen lassen, und da hatte ich das Interesse an den Forschungen längst verloren. Du warst ein weiteres Mal gestorben, und da du nicht da warst, um deine Rolle zu spielen …«

»Meine Rolle?«, hakte Luce nach.

»Die wir noch nicht richtig verstehen …«

Gabbe stieß Daniel den Ellbogen in die Seite und unterbrach ihn. »Er meint, dass alles offenbart werden wird, wenn die Zeit gekommen ist.«

Molly schlug sich vor die Stirn. »Wirklich? ›Alles wird offenbart werden‹? Ist das alles, was ihr wisst? Ist es das, worüber ihr hier redet?«

»Das und deine Wichtigkeit«, meinte Cam und drehte sich zu Luce um. »Du bist die Schachfigur, um die die Kräfte des Guten und des Bösen und alle Kräfte dazwischen kämpfen.«

»Was?«, flüsterte Luce.

»Halt den Mund.« Daniel konzentrierte seine Aufmerksamkeit auf Luce. »Hör nicht auf ihn.«

Cam schnaubte, aber niemand reagierte darauf. Der Laut stand einfach im Raum wie ein ungebetener Gast. Die Engel und Dämonen schwiegen. Niemand würde ein weiteres Detail über Luces Rolle beim Aufhalten des Sturzes durchsickern lassen.

»Also, all das, diese Art Schnitzeljagd«, fasste sie zusammen, »steht in dem Buch?«

»Mehr oder weniger«, bestätigte Daniel. »Ich muss mich einfach noch ein bisschen einlesen und mein Gedächtnis auffrischen. Ich hoffe, dass ich dann weiß, wo wir anfangen müssen.«

Die anderen rückten zur Seite, um Daniel am Tisch Platz zu machen. Luce spürte, wie Miles’ Hand sie hinten am Arm streifte. Sie hatten kaum ein Wort miteinander gewechselt, seit sie durch den Verkünder zurückgekommen war.

»Kann ich mit dir reden?«, fragte Miles leise. »Luce?«

Der Ausdruck auf seinem Gesicht – es war aus irgendeinem Grund angespannt – ließ Luce an die letzten Momente im Garten ihrer Eltern denken, als Miles ihr Spiegelbild erzeugt hatte.

Sie hatten nie über den Kuss auf dem Dach draußen vor ihrem Wohnheimzimmer in der Shoreline gesprochen. Sicher wusste Miles, dass es ein Fehler gewesen war – aber warum hatte Luce jedes Mal, wenn sie nett zu ihm war, das Gefühl, dass sie mit ihm flirten würde, ohne es ernst zu meinen?

»Luce.« Gabbe war neben Miles aufgetaucht. »Ich wollte dir sagen« – sie blickte zu Miles – »wenn du Penn für einen Moment besuchen möchtest, dann wäre jetzt der richtige Zeitpunkt dafür.«

»Gute Idee.« Luce nickte. »Danke.« Sie warf Miles einen entschuldigenden Blick zu, aber er zog sich nur die Baseballkappe über die Augen und wandte sich ab, um Shelby etwas ins Ohr zu flüstern.

»Ähem.« Shelby hüstelte indigniert. Sie stand hinter Daniel und versuchte, über seine Schulter in dem Buch zu lesen. »Was ist mit mir und Miles?«

»Ihr bleibt hier«, sagte Gabbe und klang wie die Lehrer an der Shoreline. »Ihr müsst Steven und Francesca verständigen. Wir werden vielleicht ihre Hilfe brauchen – und eure Hilfe auch. Sagt ihnen« – sie holte tief Luft – »sagt ihnen, dass es ernst wird. Dass ein Endspiel angestoßen worden ist, wenn auch nicht so, wie wir es erwartet haben. Erzählt ihnen alles. Sie werden wissen, was zu tun ist.«

»Na schön«, antwortete Shelby stirnrunzelnd. »Du bist der Boss.«

»Holadi-hooo.« Arriane legte die Hände um den Mund. »Wenn, ähm, Luce hinausgehen will, muss ihr jemand aus dem Fenster helfen.« Sie trommelte mit den Fingern auf dem Tisch und wirkte dabei etwas schuldbewusst. »Ich habe am Eingang eine Blockade aus Bibliotheksbüchern errichtet für den Fall, dass jemand aus der Sword & Cross geneigt sein sollte, uns zu stören.«

»Ich mache das.« Cam hatte Luce bereits untergehakt. Sie begann zu protestieren, aber keiner der anderen Engel schien es für eine schlechte Idee zu halten. Daniel bemerkte es nicht einmal.

Neben dem Hinterausgang formten Shelby und Miles mehr oder minder heftig mit den Lippen die Worte sei vorsichtig.

Cam begleitete sie zum Fenster und strahlte mit seinem Lächeln Wärme aus. Er schob es hoch, und gemeinsam blickten sie hinaus auf den Campus, wo sie sich kennengelernt hatten, wo sie einander nahegekommen waren, wo er sie überlistet hatte, ihn zu küssen. Es waren nicht alles schlechte Erinnerungen …

Er sprang zuerst durch das Fenster und landete auf dem Sims, dann hielt er ihr die Hand hin.

»Mylady.«

Cams Griff war stark und gab ihr das Gefühl, klein und schwerelos zu sein, während er von dem Sims glitt, zwei Stockwerke in zwei Sekunden. Seine Flügel waren verborgen, aber er bewegte sich trotzdem so anmutig, als flöge er. Sie landeten sanft auf dem taufeuchten Gras.

»Ich gehe davon aus, dass du meine Gesellschaft nicht wünschst«, sagte er. »Auf dem Friedhof – nicht, du weißt schon, im Allgemeinen.«

»Ja. Nein, danke.«

Er wandte den Blick ab, griff in seine Tasche und zog ein winziges silbernes Glöckchen mit hebräischen Schriftzügen hervor, das sehr alt aussah. Er gab es ihr. »Einfach läuten, wenn du zurückgebracht werden willst.«

»Cam«, sagte Luce. »Welche Rolle spiele ich in dieser ganzen Sache?«

Cam wollte sie an der Wange berühren, doch dann schien er sich zu besinnen. Seine Hand verharrte in der Luft. »Daniel hat recht. Es steht uns nicht zu, es dir zu sagen.«

Er wartete nicht auf ihre Antwort, sondern beugte einfach die Knie und hob vom Boden ab. Er blickte nicht einmal zurück.

Luce schaute für einen Moment auf den Campus und spürte die vertraute Feuchtigkeit der Sword & Cross auf der Haut. Sie konnte nicht sagen, ob die trostlose Schule mit ihren riesigen strengen neugotischen Gebäuden und ihren traurigen, ungepflegten Gartenanlagen anders aussah oder genauso wie immer.

Sie schlenderte über den Campus, über den niedergedrückten Rasen des Schulhofs, vorbei an dem deprimierenden Wohnheim bis hin zu dem schmiedeeisernen Tor des Friedhofs. Dort blieb sie stehen. Eine Gänsehaut überzog ihre Arme.

Der Friedhof sah immer noch aus wie ein Krater und roch auch so. Der Staub von der Schlacht der Engel hatte sich gelegt. Es war noch so früh, dass die meisten Schüler schliefen, und es würde ohnehin kaum einer von ihnen auf dem Friedhof herumstreichen, es sei denn, er leistete eine Strafarbeit ab. Sie trat durch das Tor und ging langsam zwischen den schiefen Grabsteinen und den beschmutzten Grabstätten hindurch.

Penns letzte Ruhestätte lag ganz hinten in der Ecke nach Osten. Luce hockte sich vor das Grab ihrer Freundin. Sie hatte keine Blumen, und sie kannte keine Gebete, daher legte sie die Hände auf das kalte, nasse Gras, schloss die Augen und sandte eine Nachricht an Penn, wobei sie befürchtete, dass sie sie vielleicht nie erreichen würde.

Als Luce wieder die Bibliothek erreichte, war sie gereizt. Sie brauchte Cam oder sein exotisches Glöckchen nicht. Sie konnte allein auf den Sims kommen.

Es war recht einfach, auf den untersten Teil des schrägen Daches zu steigen, und von dort aus konnte sie zu dem langen, schmalen Sims unter den Bibliotheksfenstern gelangen. Er war etwa einen halben Meter breit. Als sie ihn entlangkroch, konnte sie Cam und Daniel streiten hören.

»Was ist, wenn einer von uns abgefangen wird?« Cams Stimme war hoch und flehend. »Du weißt, dass wir gemeinsam stärker sind, Daniel.«

»Wenn wir es nicht rechtzeitig dorthin schaffen, wird unsere Stärke keine Rolle spielen. Wir werden ausgelöscht werden.«

Sie konnte sich die beiden auf der anderen Seite der Mauer gut vorstellen. Cam mit geballten Fäusten und blitzenden grünen Augen, Daniel, stur und unbeweglich, die Arme vor der Brust verschränkt.

»Ich würde dir zutrauen, auf eigene Faust zu handeln.« Cams Tonfall war scharf. »Deine Schwäche für sie ist stärker als dein Wort.«

»Da gibt es nichts zu diskutieren.« Daniel veränderte seine Tonlage nicht. »Uns aufzuteilen ist unsere einzige Option.«

Die anderen schwiegen und dachten wahrscheinlich das Gleiche wie Luce. Cam und Daniel benahmen sich viel zu sehr wie Brüder, als dass jemand gewagt hätte, dazwischenzugehen.

Sie erreichte das Fenster und sah, dass sich die beiden Engel gegenüberstanden. Sie hielt sich am Fensterbrett fest. Ein Anflug von Stolz überkam sie – was sie nie zugeben würde –, dass sie es ohne Hilfe zurück in die Bibliothek geschafft hatte. Wahrscheinlich würde es keiner der Engel auch nur bemerken. Sie seufzte und schob ein Bein hinein. Das war der Moment, in dem das Fenster zu zittern begann.

Die Glasscheibe klapperte, und die Fensterbank vibrierte so gewaltig unter ihren Händen, dass sie beinahe heruntergeworfen worden wäre. Sie klammerte sich fest und spürte die Erschütterungen in ihrem Inneren, als würden auch ihr Herz und ihre Seele zittern.

»Ein Erdbeben«, flüsterte sie. Gerade als sich ihr Griff um das Fensterbrett lockerte, glitt ihr Fuß über den Rand des Simses.

»Lucinda!«

Daniel stürzte ans Fenster und packte ihre Hände. Auch Cam war da und hatte ihr eine Hand auf den Rücken und die andere auf den Hinterkopf gelegt. Die Bücherregale wackelten und die Lichter in der Bibliothek flackerten, als die beiden Engel Luce durch das rüttelnde Fenster zogen, ehe die Scheibe aus dem Rahmen glitt und in tausend Glassplitter zerbarst.

Sie sah Daniel fragend an. Er hielt noch immer ihre Handgelenke umklammert, aber sein Blick ging an ihr vorbei, nach draußen. Er sah zum Himmel, der nun aufgewühlt und grau war.

Schlimmer noch war das andauernde Vibrieren in ihrem Inneren, das Luce das Gefühl gab, als säße sie auf dem elektrischen Hinrichtungsstuhl. Das Beben schien eine Ewigkeit zu dauern, obwohl es in Wirklichkeit nur fünf, vielleicht zehn Sekunden waren – genug Zeit für Luce, Cam und Daniel, um mit einem dumpfen Aufprall auf dem staubigen Holzboden der Bibliothek zu landen.

Dann hörte das Zittern auf und alles wurde totenstill.

»Was zum Geier?« Arriane rappelte sich vom Boden hoch. »Sind wir ohne mein Wissen durch einen Verkünder nach Kalifornien gegangen? Niemand hat mir erzählt, dass es in Georgia Erdbeben gibt!«

Cam zog sich einen langen Glassplitter aus dem Unterarm. Luce stieß einen kleinen Schrei aus, als ihm leuchtend rotes Blut den Ellbogen hinunterrann, aber es waren ihm keine Schmerzen anzusehen. »Das war kein Erdbeben. Das war eine seismische Zeitverschiebung.«

»Eine was?«, fragte Luce.

»Die erste von vielen.« Daniel schaute durch das zersplitterte Fenster und sah einer weißen Kumuluswolke zu, die über den nun blauen Himmel zog. »Je näher Luzifer kommt, desto stärker werden sie werden.« Er warf Cam einen Blick zu, der nickte.

»Ticktack, Leute«, sagte Cam. »Die Zeit läuft. Wir müssen aufbrechen.«

Zwei

Getrennte Wege

Gabbe trat vor. »Cam hat recht. Ich habe die Waage von diesen Verschiebungen sprechen hören.« Sie zupfte an den Ärmeln ihrer blassgelben Kaschmirstrickjacke, als würde ihr nie wieder warm werden. »Sie werden Zeitbeben genannt. Es sind Wellen in unserer Realität.«

»Und je näher er kommt«, fügte Roland mit seiner üblichen unaufdringlichen Weisheit hinzu, »je näher wir dem Ende seines Sturzes sind, desto häufiger und schwerer werden die Zeitbeben werden. Die Zeit stockt in Vorbereitung der Neuschreibung ihrer selbst.«

»So wie wenn der Computer immer öfter hängt, bevor die Festplatte abstürzt und die zwangzigseitige Hausarbeit futsch ist?«, fragte Miles. Alle sahen ihn verwirrt an. »Was?«, sagte er. »Machen Engel und Dämonen keine Hausaufgaben?«

Luce ließ sich auf einen Holzstuhl an einem leeren Tisch sinken. Sie fühlte sich hohl, als hätte sich durch das Zeitbeben etwas Wichtiges in ihr gelöst und sei für immer verloren. Das Zanken der Engel ging ihr kreuz und quer durch den Kopf, ergab jedoch nichts Nützliches. Sie mussten Luzifer aufhalten, und ihr wurde klar, dass keiner von ihnen genau wusste, wie sie das anstellen sollten.

»Venedig. Wien. Und Avignon.« Daniels klare Stimme durchbrach den Lärm. Er setzte sich neben Luce und legte einen Arm um die Rückenlehne ihres Stuhls. Seine Fingerspitzen streiften ihre Schulter. Als er das Buch Das Wächteramt der Engel so hielt, dass alle es sehen konnten, verstummten die anderen. Alle konzentrierten sich.

Daniel zeigte auf eine Textpassage. Luce sah erst jetzt, dass das Buch in Latein verfasst war. Sie erkannte einige Wörter aus dem Lateinkurs, den sie in Dover einige Jahre lang belegt hatte. Daniel hatte mehrere Wörter unterstrichen und eingekreist und ein paar Randbemerkungen gemacht, aber mit der Zeit waren die abgenutzten Seiten nahezu unleserlich geworden.

Arriane beugte sich über ihn. »Und diese Hieroglyphen soll ein Mensch lesen können.«

Daniel ließ sich nicht beirren. Er machte sich rasch neue Notizen, und diese Handschrift mit den eleganten Schwüngen schenkte Luce ein warmes, vertrautes Gefühl, als sie feststellte, dass sie sie schon einmal gesehen hatte. Sie genoss jede Erinnerung daran, wie lange ihre Liebe zu Daniel nun schon dauerte und wie groß sie war, selbst wenn die Erinnerung durch etwas Kleines ausgelöst wurde, wie die Kursivschrift, die durch die Jahrhunderte lief und vorbuchstabierte, dass Daniel ihr gehörte.

»Die Himmlische Heerschar, also die bündnisfreien Engel, die aus dem Himmel verbannt worden waren, hat einen Bericht über die frühen Tage nach dem Sturz angefertigt«, sagte er langsam. »Aber es ist eine vollkommen bruchstückhafte Geschichte.«

»Eine Geschichte?«, wiederholte Miles. »Ihr sucht also einfach ein paar Bücher und lest sie, und dann wisst ihr, wohin ihr gehen müsst?«

»So einfach ist das nicht«, erwiderte Daniel. »Es sind keine Bücher in dem Sinne, dass sie dir jetzt etwas sagen würden, es waren ja die frühen Tage. Also wurden unsere Historie und unsere Erzählungen mit anderen Mitteln festgehalten.«

Arriane lächelte. »An dem Punkt wird es kompliziert, nicht wahr?«

»Die Geschichte war in Reliquien eingebunden – in vielen Reliquien, über Jahrtausende hinweg. Aber für unsere Suche sind es vor allem drei, die relevant zu sein scheinen, drei, die möglicherweise die Antwort darauf enthalten, wo die Engel auf der Erde gelandet sind.

Wir wissen nicht, um was für Reliquien es sich handelt, aber wir wissen, wo sie bei der letzten Erwähnung gewesen sind: in Venedig, Wien und Avignon. Sie befanden sich an diesen drei Orten, als ich dieses Buch recherchiert und geschrieben habe. Aber das ist einige Zeit her, und selbst damals war es reine Vermutung, ob die Gegenstände – was immer sie sein mögen – noch dort waren.«

»Also könnte es als himmlische Zeitverschwendung enden«, bemerkte Cam mit einem Seufzen. »Na toll. Wir werden nach rätselhaften Objekten suchen, die uns vielleicht sagen werden, was wir wissen müssen, oder vielleicht auch nicht, und das an Orten, an denen sie sich vielleicht seit Jahrhunderten befunden haben, oder vielleicht auch nicht.«

Daniel zuckte die Achseln. »Kurz gesagt, ja.«

»Drei Reliquien. Neun Tage«, sinnierte Annabelle mit einem Augenaufschlag. »Das ist nicht viel Zeit.«

»Daniel hatte recht.« Gabbes Blick fuhr zwischen den Engeln hin und her. »Wir müssen uns aufteilen.«

Das war es, worüber Cam und Daniel gestritten hatten, als das Beben begann. Ob sie eine bessere Chance hatten, die Reliquien rechtzeitig zu finden, wenn sie getrennt vorgingen.

Gabbe wartete auf Cams widerstrebendes Nicken, bevor sie fortfuhr: »Dann wäre das also geklärt. Daniel und Luce – ihr nehmt die erste Stadt.« Sie warf einen Blick auf Daniels Notizen, dann schenkte sie Luce ein aufmunterndes Lächeln. »Venedig. Ihr macht euch auf nach Venedig und findet die erste Reliquie.«

»Aber wir wissen doch gar nicht, um was es sich bei dieser Reliquie handelt?« Luce beugte sich über das Buch und sah eine flüchtige Federzeichnung am Rand. Es sah beinahe aus wie ein Serviertablett, die Art, nach der ihre Mom immer in Antiquitätenläden suchte.

Daniel musterte es jetzt ebenfalls und schüttelte leicht den Kopf über das Bild, das er vor Jahrhunderten gezeichnet hatte. »Das habe ich meinen Studien der Pseudepigrafen entnehmen können – den verworfenen biblischen Schriften der frühen Kirche.«

Das Objekt war eiförmig, mit einer gläsernen Unterseite, die Daniel geschickt wiedergegeben hatte, indem er den Boden auf der anderen Seite der durchsichtigen Basis skizziert hatte. Das Tablett, oder was immer die Reliquie sein mochte, hatte auf beiden Seiten etwas, das wie kleine beschädigte Griffe aussah. Daniel hatte sogar einen Maßstab darunter eingefügt, und seiner Zeichnung zufolge war der Gegenstand groß – etwa achtzig mal hundert Zentimeter.

»Ich kann mich kaum daran erinnern, es gezeichnet zu haben.« Daniel klang so, als sei er enttäuscht über sich selbst. »Ich weiß genauso wenig wie ihr, was es ist.«

»Ich bin mir sicher, dass du es herausfinden wirst, sobald du dort bist«, sagte Gabbe in dem angestrengten Versuch, ihm Mut zu machen.

»Das werden wir«, beteuerte Luce. »Da bin ich mir sicher.«

Gabbe blinzelte, lächelte und fuhr fort: »Roland, Annabelle und Arriane – ihr drei werdet nach Wien gehen. Damit bleiben noch …« Ihr Mund zuckte, als ihr klar wurde, was sie sagen wollte, aber sie setzte trotzdem ein tapferes Gesicht auf. »Molly, Cam und ich werden Avignon übernehmen.«

Cam rollte die Schultern zurück, seine erstaunlich goldenen Flügel schossen hervor. Die rechte Flügelspitze traf Molly im Gesicht, sodass sie zwei Meter zurücksprang.

»Tu das noch einmal, und ich mach dich fertig«, zischte Molly und sah wütend auf die Schürfwunde am Ellbogen hinunter. »Eigentlich …« Sie wollte mit erhobenen Fäusten auf Cam losgehen, aber Gabbe trat dazwischen.

Sie riss Cam und Molly mit einem aufgesetzten Seufzer auseinander. »Apropos fertigmachen, ich würde den Nächsten von euch, der den anderen provoziert, wirklich nur ungern fertigmachen« – sie lächelte ihre beiden Dämonengefährten süß an – »aber genau das werde ich tun. Es werden sehr lange neun Tage werden.«

»Lass uns hoffen, dass sie lang werden«, murmelte Daniel leise.

Luce drehte sich zu ihm um. Das Venedig in ihrem Kopf stammte aus einem Reiseführer: Postkartenbilder von Booten, die sich auf Kanälen drängten, Sonnenuntergänge über hohen Türmen und Kuppeln und dunkelhaarige Mädchen, die Gelati schleckten. Das war nicht die Reise, die sie bald unternehmen würden. Nicht, wenn der Weltuntergang seine scharfen Krallen nach ihnen ausstreckte.

»Und wenn wir alle drei Reliquien gefunden haben?«, fragte Luce.

»Dann werden wir uns auf dem Berg Sinai treffen«, antwortete Daniel, »die Reliquien vereinen …«

»Und ein kleines Gebet sprechen, auf dass sie irgendein Licht darauf werfen, wo wir nach dem Sturz gelandet sind«, murmelte Cam düster und rieb sich die Stirn. »An diesem Punkt werden wir nur noch irgendwie den psychopathischen Höllenhund, der unsere Existenz in seinem Maul hält, davon überzeugen müssen, dass er seinen dummen Plan, die Herrschaft über das Universum zu erlangen, aufgeben sollte. Was könnte einfacher sein? Ich denke, wir haben jeden Grund zum Optimismus.«

Daniel schaute aus dem offenen Fenster. Die Sonne schien jetzt über dem Wohnheim, und Luce musste blinzeln, um nach draußen sehen zu können. »Wir müssen so schnell wie möglich aufbrechen.«

»Okay«, sagte Luce. »Ich muss nach Hause gehen und packen, meinen Pass holen …« Ihre Gedanken wirbelten in hundert verschiedene Richtungen, als sie im Geiste eine Liste erstellte, was zu erledigen war. Ihre Eltern würden noch mindestens zwei Stunden im Einkaufszentrum sein, sie hatte also genug Zeit, um ins Haus zu flitzen und ihre Sachen zusammenzusuchen …

»Oh, wie süß.« Annabella lachte und kam zu ihnen herübergeschwebt, ihre Füße eine Handbreit über dem Boden. Ihre muskulösen Flügel, die durch die unsichtbaren Schlitze in ihrem pinkfarbenen T-Shirt ragten, waren von einem dunklen Silber wie eine Gewitterwolke. »Es tut mir leid, so dazwischenzufunken, aber … du bist noch nie zuvor mit einem Engel gereist, oder?«

Natürlich war sie das. Von Daniels Flügeln durch die Lüfte getragen zu werden war für sie das Natürlichste der Welt. Ihre Flüge mochten nur kurz gewesen sein, aber sie waren unvergesslich. Luce fühlte sich ihm dann am nächsten: seine Arme um ihre Taille geschlungen, sein Herz nah an ihrem schlagend, während seine weißen Flügel sie beschützten und Luce das Gefühl verliehen, bedingungslos und unwahrscheinlich geliebt zu werden.

Sie war in ihren Träumen Dutzende von Malen mit Daniel geflogen, aber nur dreimal im Wachzustand: einmal über den verborgenen See hinter der Sword & Cross, ein andermal an der Küste der Shoreline entlang und in der vergangenen Nacht von den Wolken zur Hütte.

»Ich schätze, so weit sind wir noch nie zusammen geflogen«, sagte sie schließlich.

»Für euch zwei scheint ein Kuss ja schon ein Problem zu sein«, konnte Cam sich nicht verkneifen.

Daniel ignorierte ihn. »Unter normalen Umständen würdest du die Reise sicher genießen.« Seine Miene verfinsterte sich. »Aber in den nächsten neun Tagen ist kein Platz für Normalität.«

Luce spürte seine Hände auf den Schultern, wie er ihr Haar zusammennahm und vom Hals hob. Er küsste sie entlang des Halsausschnittes ihres Pullovers und legte die Arme um sie. Luce schloss die Augen. Sie wusste, was als Nächstes kam. Das schönste Geräusch, das es gab – dieses elegante Rauschen, wenn die Liebe ihres Lebens die schneeweißen Schwingen entfaltete.

Der Schatten seiner Flügel fiel auf Luces Augenlider und ihr wurde warm ums Herz. Als sie die Augen öffnete, sah sie die Flügel, so prächtig wie nur je. Sie lehnte sich ein wenig zurück und schmiegte sich an Daniels Brust, während er sich zum Fenster umdrehte.

»Es ist nur eine vorübergehende Trennung«, verkündete Daniel zu den anderen gewandt. »Viel Glück und guten Flug.«

Mit jedem langen Flügelschlag gewannen sie dreihundert Meter an Höhe. Die Luft, die im feuchten Georgia kühl und schwer gewesen war, wurde kalt und trocken, je weiter sie stiegen. Luce spürte es beim Atmen. Der Wind zerrte ihr an den Ohren und die Augen fingen an zu tränen. Der Erdboden rückte in immer weitere Ferne und die Welt schrumpfte und verschwamm zu einem atemberaubenden grünen Bild. Die Sword & Cross hatte die Größe eines Daumenabdrucks. Dann war sie verschwunden.

Beim ersten Blick auf den Ozean wurde Luce schwindlig. Sie war froh, als sie von der Sonne wegflogen, auf den dunklen Horizont zu.

Das Fliegen mit Daniel war eine so berauschende und intensive Erfahrung, dass sie ihr in ihrer Erinnerung niemals würde gerecht werden können. Und doch hatte sich etwas verändert: Luce hatte inzwischen den Bogen raus. Sie fühlte sich wohl, folgte Daniels Bewegungen, entspannte sich in seinen Armen. Sie hielt die Beine an den Knöcheln leicht überkreuz, die Absätze ihrer Stiefel berührten die Spitzen von seinen. Ihre Körper schwangen im Einklang und antworteten auf die Bewegung seiner Flügel, die sich über ihren Köpfen wölbten und sie vor der Sonne abschirmten, um dann zu einem weiteren mächtigen Schlag auszuholen.

Sie passierten die Wolkengrenze und verschwanden im Dunst. Um sie herum war nichts außer einem zarten Weiß und der nebligen Feuchtigkeit, die leicht über sie hinwegstrich. Ein weiterer Flügelschlag. Ein weiterer Aufstieg in den Himmel. Luce machte sich keine Gedanken darüber, wie sie hier oben an der Grenze der Atmosphäre würde atmen können. Sie war bei Daniel. Es ging ihr gut. Sie waren auf dem Weg, die Welt zu retten.

Schon bald beendete Daniel den Steigflug und flog weniger wie eine Rakete und mehr wie ein unergründlich machtvoller Vogel. Aber er drosselte das Tempo nicht, er beschleunigte eher noch –, aber nun, da ihre Körper parallel zum Boden lagen, schwächte sich das Brüllen des Windes ab, und die Welt schien strahlend weiß und erstaunlich still zu sein, so friedlich, als sei sie gerade erst entstanden und als hätte noch niemand mit Geräuschen experimentiert.

»Geht es dir gut?« Seine Stimme hüllte sie ein und gab ihr das Gefühl, als könne die Liebe alles auf der Welt wieder gutmachen, was nicht gut war.

Sie legte den Kopf schräg nach links, um ihn anzusehen. Sein Gesicht war entspannt und ein sanftes Lächeln umspielte seine Lippen. Seine Augen verströmten ein violettes Licht, das so intensiv war, dass nur dieses Licht gereicht hätte, um sie schweben zu lassen.

»Dir ist kalt«, murmelte er ihr ins Ohr und streichelte ihre Finger, um sie zu wärmen, was einen heißen Schauer durch Luce’ Körper sandte.

»Schon besser«, sagte sie.