Engelsnacht - Lauren Kate - E-Book
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Engelsnacht E-Book

Lauren Kate

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Beschreibung

Endlich: Die verborgene Geschichte von Cam, dem düsteren Helden aus der Engelsnacht-Serie ...

Highschool ist die reinste Hölle auf Erden. Das weiß niemand besser als der gefallene Engel Cam. Denn seine große Liebe Lilith trägt dort eine Schuld ab, die Cam auf sie geladen hat. Cam schließt eine Wette ab mit Luzifer: Sollte es ihm gelingen, Liliths Liebe innerhalb von fünfzehn Tagen zu erringen, so werden Lilith und Cam aus den Klauen des Teufels befreit. Gelingt es ihm nicht, ist Cam auf ewig verdammt, Luzifer zu dienen und verliert seine unsterbliche Liebe für immer ...

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Seitenzahl: 387

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Die Autorin

Foto: © Christina Hultquist

Lauren Kate wuchs in Dallas auf, arbeitete einige Zeit in einem New Yorker Verlag und zog dann nach Kalifornien, wo sie Creative Writing studierte, bevor sie zu schreiben begann. Ihre romantische Fantasyserie über den gefallenen Engel Daniel und seine große Liebe Luce wurde weltweit zum Bestseller.

Von der Autorin sind außerdem bei cbt erschienen:

Engelsnacht (Band 1, 30840)

Engelsmorgen (Band 2, 30889)

Engelsflammen (Band 3,30946)

Engelslicht (Band 4, 16080)

Engelszeiten (30928)

Teardrop (Band 1, 16277)

Waterfall (Band 2, 16386)

Mehr zu cbj/cbt auf Instagram @hey_reader

Lauren Kate

Engelsnacht –

Cams Geschichte

Aus dem Englischen

von Michaela Link

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

1. Auflage

Deutsche Erstausgabe Juni 2017

© 2015 by Tinderbox Books, LLC and Lauren Kate

Die Originalausgabe erschien 2015 unter

dem Titel »Unforgiven«

bei Random House Children’s Books, New York

Dieses Werk wurde vermittelt durch die

Literarische Agentur Thomas Schlück, 30287 Garbsen

© 2017 für die deutschsprachige Ausgabe

by cbt Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Aus dem Amerikanischen von Michaela Link

Lektorat: Carola Henke

Umschlaggestaltung: Geviert Grafik & Typografie,

Jacket potograph © 2015 by Carrie Schechter,

Shutterstock/Nejron Photo

he · Herstellung: eS

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN: 978-3-641-19795-7V001

www.cbt-buecher.de

Für Träumer

Serpents in my mind

Trying to forgive your crimes

Everyone changes in time

I hope he changes this time

– Sharon Van Etten, Serpents

Prolog

Never Tear Us Apart

Unter dem kalten Sternenhimmel landete Cam auf der Dachtraufe der alten Kirche. Er legte die Flügel eng um sich und ließ seinen Blick ringsum schweifen. Mondbleiches Louisianamoos hing wie Eiszapfen von uralten Eichen. Triste Bauten erhoben sich um den ungepflegten Sportplatz mit zwei baufälligen Tribünen. Von der See her wehte der Wind.

Winterferien in der Besserungsanstalt Sword & Cross. Keine Menschenseele auf dem Campus. Was machte er hier?

Es war kurz nach Mitternacht und er kam gerade aus Troja. Wie betäubt war er geflogen, geleitet von einer unbekannten Macht. Er summte eine Melodie, an die er sich seit mehreren tausend Jahren nicht zu erinnern gewagt hatte. Vielleicht war er hierher zurückgekehrt, weil sich hier die gefallenen Engel mit Luce in ihrem letzten verfluchten Leben getroffen hatten. Es war ihre dreihundertvierundzwanzigste Inkarnation gewesen – und das dreihundertvierundzwanzigste Mal, dass die gefallenen Engel zusammengekommen waren, um zu sehen, wie der Fluch sich erfüllte.

Nun war der Fluch gebrochen. Luce und Daniel waren frei.

Und Cam war verdammt eifersüchtig.

Sein Blick strich über den Friedhof. Er hätte nie gedacht, dass er sich einmal an diesen Schrottplatz zurücksehnen würde, aber die frühen Tage an der Sword & Cross hatten etwas Aufregendes gehabt. Lucindas Funke war heller gewesen und hatte die Engel, die einst geglaubt hatten zu wissen, was sie erwartete, unsicher gemacht.

Sechstausend Jahre lang hatten sie jedes Mal, wenn Luce siebzehn wurde, die gleiche Darbietung in leicht veränderter Form inszeniert: Die Dämonen – Cam, Roland und Molly – taten alles, um sie zu einem Bündnis mit Luzifer zu bewegen, während die Engel – Arriane und Gabbe und manchmal auch Annabelle – danach strebten, Luce zurück in den Schoß des Himmels zu führen. Keiner Seite war es jemals auch nur ansatzweise gelungen, sie für sich zu gewinnen.

Denn jedes Mal, wenn Luce Daniel begegnete – und sie begegnete ihm immer –, zählte nichts mehr als ihre Liebe. Wieder und wieder verliebten sie sich ineinander und wieder und wieder ging Luce in Flammen auf und starb.

Doch dann, eines Nachts an der Sword & Cross, veränderte sich alles. Daniel küsste Lucinda und sie lebte weiter. Da wussten sie es. Luce würde es endlich gestattet sein zu wählen.

Einige Wochen später flogen sie alle nach Troja, an den Ort des Engelsturzes, wo Lucinda sich für ihr Schicksal entschied. Sie und Daniel weigerten sich erneut, sich auf die Seite des Himmels oder der Hölle zu schlagen. Stattdessen entschieden sie sich füreinander. Sie gaben ihre Unsterblichkeit auf, um gemeinsam ein sterbliches Leben zu verbringen.

Jetzt waren Luce und Daniel fort, aber sie beschäftigten Cam noch immer. Ihre triumphale Liebe weckte in ihm eine Sehnsucht, die er nicht in Worte zu fassen wagte.

Er summte wieder vor sich hin. Dieses Lied. Selbst nach all dieser Zeit erinnerte er sich daran …

Er schloss die Augen und sah die Sängerin vor sich: Das rote Haar im Nacken locker zu einem Zopf geflochten, lehnte sie an einem Baum und ließ die langen Finger über die Saiten einer Leier gleiten.

Er hatte es sich seit Tausenden von Jahren nicht gestattet, an sie zu denken. Warum tat er es jetzt?

»Diese Dose ist kaputt«, erklang eine vertraute Stimme. »Wirfst du mir eine andere rüber?«

Cam fuhr herum. Da war niemand.

Durch das kaputte Buntglasfenster auf dem Dach bemerkte er eine Bewegung. Er schob sich vorwärts und spähte hinab in die Kapelle, die Sophia Bliss in ihrer Zeit als Bibliothekarin der Sword & Cross als Büro benutzt hatte.

In der Kapelle streckte Arriane die schillernden Flügel aus und erhob sich vom Boden, während sie eine Sprühdose schüttelte und auf die Wand richtete.

Ihr Wandgemälde zeigte ein Mädchen in einem strahlend blauen Wald. Es trug ein schwarzes Stufenkleid und sah einen blonden Jungen an, der ihm eine weiße Pfingstrose hinhielt. Luce und Daniel 4ever sprühte Arriane in silbernen gotischen Lettern über den Rocksaum des Mädchens.

Hinter Arriane entzündete ein dunkelhäutiger Dämon mit Dreadlocks eine hohe Kerze in einem Glaszylinder, der ein Bild der Santa Muerte, der Göttin des Todes trug. Roland errichtete einen Schrein an der Stelle, wo Sophia Luce’Freundin Penn ermordet hatte.

Gefallene Engel durften Heiligtümer Gottes nicht betreten. Sobald sie die Schwelle überschritten, gingen das Gebäude und jeder Sterbliche darin in Flammen auf. Aber diese Kapelle war mit dem Einzug von Miss Sophia entweiht worden.

Cam breitete die Flügel aus, ließ sich durch das zerstörte Fenster fallen und landete hinter Arriane.

»Cam.« Roland umarmte seinen Freund.

»Bleib locker«, sagte Cam, zog sich jedoch nicht zurück.

Roland legte den Kopf schräg. »Was für ein Zufall, dich hier zu treffen.«

»Wirklich?«, fragte Cam.

»Nicht, wenn du Carnitas magst«, meinte Arriane und warf Cam ein kleines, in Alufolie gewickeltes Päckchen zu. »Erinnerst du dich noch an den Taco-Truck auf der Lovington? Seit wir aus dem Sumpf geflohen sind, habe ich Heißhunger auf die Dinger.« Sie öffnete ihr eigenes Alupäckchen und verschlang den Taco mit zwei Bissen. »Lecker.«

»Was tust du hier?«, fragte Roland Cam.

Cam lehnte sich an eine kalte Marmorsäule und zuckte die Achseln. »Ich habe meine Les Paul im Wohnheim gelassen.«

»Den ganzen Weg für eine Gitarre?« Roland nickte. »Wir müssen vermutlich alle neue Möglichkeiten finden, um die endlosen Tage zu füllen, jetzt, da Luce und Daniel fort sind.«

Cam hatte die Macht immer gehasst, die die gefallenen Engel alle siebzehn Jahre zu den verfluchten Liebenden hingezogen hatte. Er hatte Schlachtfeldern und Krönungen dafür den Rücken gekehrt. Er hatte sich aus den Armen schöner Mädchen losgerissen. Einmal war er von einem Filmset gekommen. Für Luce und Daniel hatte er alles stehen und liegen lassen. Aber jetzt, da der unwiderstehliche Sog fort war, vermisste er ihn.

Die Ewigkeit lag weit ausgebreitet vor ihm. Was würde er damit anfangen?

»Hat dir das, was in Troja passiert ist, nicht so etwas wie …« Rolands Stimme verlor sich.

»Hoffnung gegeben?« Arriane schnappte sich Cams unberührten Taco und vernichtete ihn. »Wenn Luce und Daniel nach all diesen Jahrtausenden dem Thron die Stirn bieten und sich ein Happy End erkämpfen können, warum können das nicht alle? Warum können wir es nicht?«

Cam blickte durch das zerstörte Fenster. »Vielleicht bin ich nicht der Typ dafür.«

»Wir alle tragen Teile unserer Reisen in uns«, sagte Roland. »Wir alle lernen aus unseren Fehlern. Warum sollten wir nicht auch Glück verdienen?«

»Ach, hört schon auf.« Arriane berührte die Narben an ihrem Hals. »Was wissen wir drei erschöpften Raubvögel schon von Liebe?« Sie schaute von Cam zu Roland. »Stimmt’s?«

»Luce und Daniel haben die Liebe nicht gepachtet«, stellte Roland fest. »Wir alle haben sie gekostet. Vielleicht werden wir es wieder tun.«

Rolands Optimismus berührte eine misstönende Saite in Cam. »Ich nicht«, sagte er.

Arriane seufzte und wölbte den Rücken, um die Flügel zu spreizen und ein Stück vom Boden abzuheben. Das Flattern füllte die leere Kirche. Geschickt deutete sie mit wenigen Strichen weißer Sprühfarbe über Lucindas Schultern Flügel an.

Vor dem Sturz hatten die Flügel der Engel aus himmlischem Licht bestanden. Sie waren perfekt, nicht voneinander zu unterscheiden. Danach waren die Flügel zum Ausdruck ihrer Persönlichkeit geworden, ihrer Fehler und Impulse. Die gefallenen Engel, die Luzifer die Treue geschworen hatten, trugen goldene Flügel. Die Flügel derjenigen, die in den Schoß des Himmels zurückgekehrt waren, waren mit dem Silberhauch des Throns durchsetzt.

Lucindas Flügel waren etwas Besonderes gewesen. Sie waren aus reinem, atemberaubendem Weiß gewesen. Unverdorben. Unschuldig an den Entscheidungen, die die anderen getroffen hatten. Der einzige weitere gefallene Engel, der seine weißen Flügel behalten hatte, war Daniel.

Arriane zerknüllte die Alufolie des zweiten Tacos. »Manchmal frage ich mich …«

»Was?«, fragte Roland.

»Wenn ihr eine zweite Chance bekommen und es an der Liebesfront nicht so grandios verbocken würdet, würdet ihr es tun?«

»Was soll diese Frage?«, erwiderte Cam. »Rosaline ist tot.« Er sah, dass Roland bei der Erwähnung seiner verlorenen Geliebten zusammenzuckte. »Tess wird dir nie verzeihen«, fügte er mit Blick auf Arriane hinzu. »Und Lilith …«

Da. Er hatte ihren Namen ausgesprochen.

Lilith war das einzige Mädchen, das Cam je geliebt hatte. Er hatte sie gebeten, seine Frau zu werden.

Es hatte nicht funktioniert.

Er hörte wieder ihr Lied, das in seiner Seele pochte und ihn blind vor Reue machte.

»Summst du?« Arriane sah Cam mit schmalen Augen an. »Seit wann summst du?«

»Was ist mit Lilith?«, fragte Roland.

Auch Lilith war tot. Obwohl Cam nie erfahren hatte, wie sie nach ihrer Trennung ihre Tage auf Erden verlebt hatte, wusste er, dass sie vor langer Zeit diese Welt verlassen haben und in den Himmel aufgestiegen sein musste. Wenn Cam ein anderer gewesen wäre, hätte er bei der Vorstellung, dass sie von Glück und Licht umgeben war, vielleicht seinen Frieden gefunden. Aber der Himmel war so schmerzhaft fern, dass er es für das Beste hielt, überhaupt nicht an sie zu denken.

Roland schien seine Gedanken zu lesen. »Du könntest es auf deine Art tun.«

»Ich tue alles auf meine Art«, entgegnete Cam. In seinem Rücken pulsierten lautlos die Flügel.

»Das ist eine deiner besten Eigenschaften«, meinte Roland. Er blickte durch das zerstörte Dach zu den Sternen empor und dann wieder zurück zu Cam.

»Was?«, fragte Cam.

Roland lachte leise. »Ich habe nichts gesagt.«

»Wenn du erlaubst«, murmelte Arriane. »Cam, das ist haargenau der Moment, in dem alle erwarten, dass du einen deiner dramatischen Abgänge in diese Wolken da oben machst.« Sie zeigte auf ein Nebelband, das vom Gürtel des Orion herabbaumelte.

»Cam.« Roland sah Cam erschrocken an. »Deine Flügel.«

An der Spitze von Cams linkem Flügel zeigte sich eine kleine weiße Faser.

Arriane stand der Mund offen. »Was bedeutet das?«

Es war ein weißer Farbtupfer auf einer goldenen Fläche, aber er zwang Cam, sich an den Moment zu erinnern, in dem seine weißen Flügel golden wurden. Er hatte sein Schicksal vor langer Zeit akzeptiert, doch nun stellte er sich zum ersten Mal seit Jahrtausenden etwas anderes vor.

Dank Luce und Daniel hatte Cam die Möglichkeit zu einem Neuanfang. Und er bedauerte nur eines.

»Ich muss los.« Er breitete die Flügel vollständig aus. Strahlendes goldenes Licht durchflutete die Kapelle, während Roland und Arriane aus dem Weg sprangen. Die Kerze kippte um, ihre Glashülle zerbrach und ihre Flamme erstarb auf dem kalten Steinboden.

Cam schoss in den Himmel hinauf, durchstach die Nacht und flog auf die Dunkelheit zu, die seit dem Moment auf ihn gewartet hatte, in dem er vor Liliths Liebe davongeflogen war.

Eins

Wasteland

Lilith

Lilith wachte hustend auf.

Es war Waldbrandsaison – es war immer Waldbrandsaison –, und ihre Lungen brannten von dem Rauch und der Asche der roten Feuersbrunst auf den Hügeln.

Liliths Wecker zeigte Mitternacht, aber ihre dünnen weißen Gardinen leuchteten grau im Licht der Morgendämmerung. Der Strom musste wieder ausgefallen sein. Sie dachte an den Biotest, der sie in der vierten Stunde erwartete, unmittelbar gefolgt von der blöden Tatsache, dass sie gestern aus Versehen statt des Biobuches das über amerikanische Geschichte mit nach Hause genommen hatte. Es war ein grausamer Witz, dass man ihr zwei Lehrbücher mit genau der gleichen Rückenfarbe gegeben hatte. Sie würde den Test ohne Vorbereitung schreiben und beten, dass sie noch eine Drei bekam.

Sie schlüpfte aus dem Bett und trat in etwas Warmes und Weiches. Sie zog den Fuß hoch. Es stank.

»Alastor!«

Der kleine blonde Straßenköter kam in ihr Schlafzimmer getrottet und dachte, Lilith wolle spielen. Ihre Mom bezeichnete den Hund als ein Genie wegen der Tricks, die Liliths Bruder Bruce ihm beigebracht hatte, aber Alastor war vier Jahre alt und weigerte sich, den einzigen Trick zu lernen, der zählte: stubenrein zu sein.

»Das ist äußerst unanständig«, schalt sie den Hund und hüpfte auf einem Fuß ins Bad. Sie drehte die Dusche auf.

Nichts.

Wasser bis drei Uhr abgestellt, verkündete die Notiz ihrer Mutter, die am Badezimmerspiegel klebte. Baumwurzeln verstopften die Rohre, und ihre Mom würde an diesem Nachmittag Geld haben, um den Klempner zu bezahlen, nachdem sie einen Lohnscheck von einem ihrer vielen Teilzeitjobs erhalten hatte.

Lilith tastete nach dem Toilettenpapier und hoffte, dass sie den Fuß zumindest säubern konnte. Sie fand nur eine leere Klorolle. Ein ganz normaler Dienstag. Die Details variierten, aber jeder Tag in Liliths Leben war mehr oder weniger gleich schrecklich.

Sie riss die Notiz ihrer Mom vom Spiegel und wischte sich damit den Fuß ab, dann zog sie schwarze Jeans und ein dünnes schwarzes T-Shirt an, ohne in den Spiegel zu sehen. Sie versuchte sich krampfhaft zu erinnern, was in dem Biologietest vorkommen würde. Als sie nach unten kam, kippte Bruce sich die Reste aus der Cornflakes-Packung in den Mund. Lilith wusste, dass diese pappigen Cornflakes das letzte Essbare im Haus waren.

»Die Milch ist alle«, bemerkte Bruce.

»Und die Cornflakes?«, fragte Lilith.

»Und die Cornflakes. Und alles andere auch.« Bruce war elf und fast so groß wie Lilith, aber viel schmaler. Er war krank. Er war schon immer krank gewesen. Er war zu früh auf die Welt gekommen und mit einem Herz geboren worden, das mit seiner Seele nicht Schritt halten konnte, wie Liliths Mutter gern sagte. Bruce’ Augen waren eingefallen, und seine Haut hatte eine bläuliche Färbung, weil seine Lungen nicht genug Luft bekamen. Wenn die Hügel brannten, so wie jeden Tag, keuchte er bei der kleinsten Anstrengung. Er verbrachte mehr Tage zu Hause im Bett als in der Schule.

Lilith wusste, dass Bruce das Frühstück dringender brauchte als sie, aber ihr Magen knurrte trotzdem. Essen, Wasser, Hygieneartikel des täglichen Bedarfs – in der Bruchbude, die sie ihr Zuhause nannten, fehlte es an allem.

Sie schaute durch das schmierige Küchenfenster und sah, wie ihr Bus aus der Haltebucht abfuhr. Stöhnend griff sie sich ihren Gitarrenkasten und den Rucksack und vergewisserte sich mit einem Blick, dass ihr schwarzes Tagebuch darin war.

»Bis später, Bruce«, rief sie und rannte los.

Hupen plärrten und Reifen quietschten, als Lilith, ohne nach links und rechts zu sehen, über die Straße sprintete – was sie Bruce immer verbot. Trotz ihres großen Pechs hatte sie keine Angst vor dem Tod. Der Tod würde Freiheit von dem hektischen Hamsterrad ihres Lebens bedeuten, und Lilith wusste, dass ihr dieses Glück nicht vergönnt war. Das Universum oder Gott oder irgendetwas wollte, dass sie unglücklich blieb.

Sie sah dem Bus nach, der davonrumpelte, und machte sich dann auf den fünf Kilometer langen Weg zur Schule, während ihr der Gitarrenkasten gegen den Rücken schlug. Sie eilte über die Straße, vorbei an dem Einkaufszentrum mit dem Ein-Dollar-Laden und dem chinesischen Drive-In, das ständig neu eröffnete und wieder schloss. Sobald sie ihre schäbige Wohngegend – auch als der Slum bekannt – einige Blocks hinter sich gelassen hatte, wurden die Gehsteige gepflegter und die Straßen hatten weniger Schlaglöcher. Die Menschen, die ihre Zeitungen ins Haus holten, trugen Geschäftsanzüge, nicht die fadenscheinigen Bademäntel, in die Liliths Nachbarn sich oft wickelten. Eine gut frisierte Frau, die ihre Deutsche Dogge Gassi führte, winkte ihr grüßend zu, aber Lilith hatte keine Zeit für Höflichkeiten. Sie durchquerte den Fußgängertunnel unter dem Highway.

Die Trumbull Preparatory School lag an der Ecke High Meadow Road und Highway 2 – was Lilith vor allem mit stressigen Ausflügen in die Notaufnahme assoziierte, wenn Bruce wirklich krank wurde. Wenn sie in dem violetten Minivan ihrer Mutter die Straße entlangraste, während ihr Bruder an ihrer Schulter pfeifend nach Luft rang, schaute Lilith immer auf die grünen Entfernungsschilder am Straßenrand. Obwohl sie außerhalb von Crossroads nicht viel gesehen hatte – im Grunde gar nichts –, stellte Lilith sich die große, weite Welt dahinter vor. Sie glaubte gern, dass sie eines Tages, falls sie jemals ihren Abschluss machte, an einen besseren Ort entfliehen würde.

Die Schulglocke klingelte gerade zum letzten Mal, als sie aus dem Tunnel am Rand des Campus kam. Sie hustete und ihre Augen brannten. Die schwelenden Wildfeuer in den Bergen rings um die Stadt hüllten die Schule in Rauch. Das braun verputzte Gebäude war hässlich und wurde durch die vielen selbst gemachten Spruchbänder der Schüler noch hässlicher. Eins kündigte das morgige Basketballspiel an, ein anderes nannte die Einzelheiten des Treffens für die außerschulische Wissenschaftsmesse, aber die meisten zeigten vergrößerte Jahrbuchfotos von einem Schulsportler namens Dean, der um Stimmen bei der Wahl zum Ballkönig warb.

Am Haupteingang der Trumbull stand Direktor Tarkenton. Er war knapp einsfünfzig groß und trug einen burgunderroten Anzug aus Polyester.

»Wieder zu spät, Ms Foscor«, sagte er und musterte sie voller Abscheu. »Habe ich Ihren Namen nicht gestern auf der Liste der Nachsitzer für Zuspätkommen gesehen?«

»Das mit dem Nachsitzen ist echt komisch«, entgegnete Lilith. »Ich scheine da mehr zu lernen als im Unterricht, obwohl ich nur die Wand anstarre.«

»Gehen Sie in Ihre Klasse«, sagte Tarkenton und trat einen Schritt auf Lilith zu, »und wenn Sie Ihrer Mutter heute im Unterricht auch nur eine Sekunde Ärger machen …«

Lilith schluckte. »Meine Mom ist hier?«

Ihre Mom arbeitete einige Tage im Monat als Vertretungslehrerin an der Trumbull und erhielt einen Schulgelderlass, der der einzige Grund war, warum sie es sich leisten konnte, Lilith in diese Schule zu schicken. Lilith wusste nie, wann ihre Mutter vor ihr in der Cafeteria-Schlange wartete oder sich auf dem Mädchenklo den Lippenstift abtupfte. Sie sagte Lilith nie, wann sie den Campus der Trumbull mit ihrer Anwesenheit beehren würde, und sie bot ihrer Tochter auch nie an, sie zur Schule mitzunehmen.

Es war immer eine schreckliche Überraschung, aber zumindest war Lilith nie in den Unterricht geplatzt, wenn ihre Mutter dort Vertretung machte.

Bis heute, wie es schien. Stöhnend betrat sie das Gebäude und fragte sich, in welchem ihrer Kurse ihre Mom auftauchen würde.

In der ersten Stunde blieb sie verschont. Mrs Richards hatte bereits die Anwesenheit überprüft und schrieb nun fieberhaft die Tafel mit Möglichkeiten voll, wie die Schüler ihre hoffnungslose Kampagne zur Einführung von Recycling in der Schule unterstützen könnten. Als Lilith in die Klasse kam, schüttelte die Lehrerin wortlos den Kopf, als sei sie von Liliths gewohnter Verspätung einfach nur gelangweilt.

Lilith ließ sich auf ihren Stuhl gleiten, stellte den Gitarrenkasten auf den Boden und nahm das Biologiebuch heraus, das sie gerade aus ihrem Schließfach gezogen hatte. Ihr blieben noch zehn kostbare Unterrichtsminuten, und Lilith brauchte jede einzelne davon, um für ihren Test zu lernen.

»Mrs Richards«, sagte das Mädchen neben Lilith und warf ihr einen angewiderten Blick zu. »Hier stinkt es plötzlich ganz furchtbar.«

Lilith verdrehte die Augen. Sie und Chloe King waren seit dem ersten Grundschultag verfeindet, obwohl sie nicht mehr wusste, warum. Lilith stellte keinerlei Bedrohung für die reiche, schöne Zwölftklässlerin dar. Chloe arbeitete als Model für Crossroads Moden und war die Leadsängerin einer Popband namens Die Vermeintlichen Kränkungen, ganz zu schweigen davon, dass sie die Präsidentin mindestens der Hälfte aller außerschulischen Clubs war.

Nach mehr als zehn Jahren der Gemeinheiten war Lilith an Chloes ständigen Angriffshagel gewöhnt. An einem guten Tag ignorierte sie sie. Heute konzentrierte sie sich auf die Genome und Phoneme in ihrem Biobuch und versuchte, Chloe auszublenden.

Aber jetzt hielten sich die anderen Schüler neben Lilith die Nase zu. Der Junge vor ihr tat so, als müsse er sich übergeben.

Chloe drehte sich zu ihr um. »Ist das deine billige Vorstellung von Parfüm, Lilith, oder hast du dir gerade in die Hose geschissen?«

Lilith erinnerte sich an die Schweinerei, die Alastor neben ihrem Bett hinterlassen hatte, und an die Dusche, die sie nicht hatte nehmen können, und ihre Wangen begannen zu brennen. Sie schnappte sich ihre Sachen, stürzte aus dem Klassenzimmer – ohne auf Mrs Richards zu achten, die ihr etwas von einem Flurpass hinterherrief – und verschwand in der nächsten Toilette.

Allein im Raum lehnte sie sich an die rote Tür und schloss die Augen. Sie wünschte, sie könnte sich den ganzen Tag hier drin verstecken, aber sie wusste, dass die Schüler hereinströmen würden, sobald es klingelte. Sie zwang sich, zum Waschbecken zu gehen. Sie drehte das heiße Wasser auf, trat ihren Schuh weg, hob den Fuß des Anstoßes ins Waschbecken und pumpte den billigen Seifenspender. Sie schaute auf, um in ihr trauriges Spiegelbild zu blicken, und sah stattdessen ein glitzerndes Poster, das auf den Spiegel geklebt war. Wählt King zur Königin stand unter einem professionellen Porträtfoto einer strahlenden Chloe King.

In diesem Monat fand der Schulball statt und schien von den anderen Schülern mit Spannung erwartet zu werden. Lilith hatte hundert ähnliche Poster in den Fluren gesehen. Sie war hinter Mädchen hergegangen, die sich auf dem Weg zum Unterricht gegenseitig Bilder von ihren Traumkleidern auf den Handys zeigten. Sie hatte Jungen darüber scherzen hören, was nach dem Ball geschah. Lilith bekam davon das große Kotzen. Selbst wenn sie Geld für ein Kleid hätte, und selbst wenn es einen Jungen gäbe, mit dem sie hätte hingehen wollen, würde sie keinen Fuß in ihre Highschool setzen, wenn sie nicht gesetzlich dazu verpflichtet war.

Sie riss Chloes Poster vom Spiegel und säuberte damit die Innenseite ihres Schuhs, dann warf sie es ins Waschbecken und ließ Wasser darüber laufen, bis Chloes Gesicht nur noch ein nasser Brei war.

Im Lyrikkurs war Mr Davidson so vertieft darin, Shakespeares Sonett 20 an die Tafel zu schreiben, dass er nicht einmal bemerkte, dass Lilith zu spät kam.

Sie setzte sich vorsichtig hin, beobachtete die anderen Schüler und wartete darauf, dass jemand sich die Nase zuhielt oder würgte, aber zum Glück schienen sie Lilith nur als Weiterreicher von Zettelchen wahrzunehmen. Paige, die sportliche Blondine zu Liliths Linker, stupste sie an und schob ihr einen zusammengefalteten Zettel auf das Pult. Er war unbeschriftet, aber Lilith wusste natürlich, dass er nicht für sie bestimmt war. Er war für Kimi Grace, das coole Mädchen zu ihrer Rechten, das halb Mexikanerin, halb Koreanerin war. Lilith hatte genug Zettel zwischen den beiden hin und her gereicht, um ihre Pläne für den Schulball zu kennen – die fette Party danach und die krasse Stretchlimo, für deren Miete sie ihr Taschengeld zusammenlegten. Lilith hatte noch nie Taschengeld bekommen. Wenn ihre Mom Geld übrig hatte, floss es direkt in Bruce’ Arztrechnungen.

»Nicht wahr, Lilith?«, fragte Mr Davidson und Lilith zuckte zusammen. Sie schob den Zettel unter ihr Pult, damit sie nicht erwischt wurde.

»Könnten Sie das wiederholen?«, bat Lilith. Sie wollte Mr Davidson wirklich nicht verärgern. Lyrik war der einzige Kurs, den sie mochte, hauptsächlich deshalb, weil sie darin nicht durchfiel, und Mr Davidson war der einzige Lehrer, dem sie je begegnet war, dem seine Arbeit Spaß zu machen schien. Ihm hatten sogar einige der Songtexte gefallen, die Lilith als Hausaufgabe abgegeben hatte. Sie hatte immer noch das Blatt Papier, auf dem Mr Davidson einfach nur das Wort Wow! unter den Text für einen Song geschrieben hatte, den sie »Exil« nannte.

»Ich sagte, ich hoffe, dass Sie sich für das offene Mikro eingetragen haben?«, fragte Davidson.

»Ja, klar«, murmelte sie, aber sie hatte es nicht getan und hatte es auch nicht vor. Sie wusste nicht mal, wann der Wettbewerb stattfand.

Davidson lächelte erfreut und überrascht. Er wandte sich an den Rest des Kurses. »Dann werden wir alle etwas haben, worauf wir uns freuen können!«

Sobald Davidson sich wieder der Tafel zuwandte, stieß Kimi Grace Lilith an. Als Lilith in Kimis hübsche dunkle Augen sah, fragte sie sich einen Moment lang, ob Kimi über das offene Mikro reden wolle, ob die Vorstellung, vor einem Publikum zu lesen, sie auch nervös mache. Aber Kimi wollte von Lilith nichts weiter als den gefalteten Zettel in ihrer Hand.

Lilith seufzte und reichte ihn ihr.

Sie versuchte, Sport zu schwänzen, um für den Biotest zu lernen, aber natürlich wurde sie erwischt und musste zur Strafe in Sporttrikot und Kampfstiefeln Runden laufen. Die Schule stellte keine Tennisschuhe zur Verfügung, und ihre Mom hatte kein Geld, um ihr welche zu kaufen, daher war das Geräusch ihrer Schritte in der Turnhalle, während sie um das Volleyballfeld mit den anderen spielenden Schülern herum im Kreis lief, ohrenbetäubend.

Alle sahen sie an. Niemand musste das Wort Freak laut aussprechen. Sie wusste, dass sie es dachten.

Als Lilith den Bioraum betrat, war sie erschöpft und erledigt. Und hier fand sie ihre Mom, bekleidet mit einem lindgrünen Rock, das Haar zu einem straffen Knoten frisiert, die die Tests austeilte.

»Einfach perfekt«, stöhnte Lilith.

»Scht!«, antworteten ein Dutzend Schüler.

Ihre Mom war groß und dunkelhaarig, von einer kantigen Schönheit. Lilith war hellhäutig, ihr Haar so rot wie das Feuer auf den Hügeln. Ihre Nase war kürzer als die ihrer Mutter, ihre Augen und ihr Mund weniger fein. Ihre Wangenknochen waren verschieden.

Ihre Mom lächelte. »Würdest du dich bitte setzen.«

Als würde sie den Namen ihrer eigenen Tochter nicht kennen.

Aber ihre Tochter kannte ihren Namen. »Aber klar doch, Janet«, sagte Lilith, während sie sich an ein leeres Pult in der Reihe fallen ließ, die der Tür am nächsten war.

Ihre Mom warf ihr einen bösen Blick zu, dann lächelte sie und schaute weg.

Überschütte sie mit Freundlichkeit war eins der Lieblingssprichwörter ihrer Mom, zumindest in der Öffentlichkeit. Zu Hause zog sie andere Saiten auf. Alles, was ihre Mom an ihrem Leben verabscheute, schob sie auf Lilith, denn Lilith war geboren worden, als ihre Mutter neunzehn und schön gewesen war, auf dem Weg in eine bemerkenswerte Zukunft. Als Bruce gekommen war, hatte ihre Mutter sich weit genug von dem Trauma durch Lilith erholt, um eine richtige Mutter zu werden. Die Tatsache, dass ihr Dad von der Bildfläche verschwunden war – niemand wusste, wo er steckte –, gab ihrer Mutter umso mehr Grund, für ihren Sohn zu leben.

Die erste Seite des Biologietests bestand aus einer Tabelle, in die sie dominante und rezessive Gene eintragen sollten. Das Mädchen links von ihr füllte schnell die Kästchen aus. Plötzlich konnte Lilith sich nicht mehr an die geringste Kleinigkeit erinnern, die sie in diesem Jahr gelernt hatte. Ihre Kehle juckte und ihr Nacken begann zu schwitzen.

Die Tür zum Flur stand offen. Dort draußen musste es kühler sein. Noch bevor sie wusste, was sie tat, stand Lilith in der Tür, den Rucksack in einer Hand, den Gitarrenkasten in der anderen.

»Das Verlassen des Unterrichtsraums ohne Flurpass bedeutet automatisch Nachsitzen!«, rief Janet. »Lilith, stell die Gitarre hin und komm wieder rein!«

Lilith hatte aus ihrer Erfahrung mit Autoritäten gelernt, gut zuzuhören, was man ihr sagte – und dann das Gegenteil zu tun.

Sie stolperte den Flur entlang und rannte zum Ausgang.

Draußen war es hell und heiß. Asche schwebte vom Himmel und legte sich auf Liliths Haar und das strohige graugrüne Gras. Am unauffälligsten verließ man unerlaubt das Schulgelände durch einen der Hinterausgänge der Cafeteria, die zu ein paar Tischen führten, an denen die Schüler bei gutem Wetter zu Mittag aßen. Der Bereich war von einem schwachen Maschendrahtzaun »gesichert«, über den man leicht hinüberklettern konnte.

Lilith stieg über den Zaun und blieb dann stehen. Was tat sie eigentlich? Einen Test sausen zu lassen, bei dem ihre eigene Mutter die Aufsicht führte, war eine ganz schlechte Idee. Sie würde um eine Strafe nicht herumkommen. Aber jetzt war es zu spät.

Wenn sie diesem Weg folgte, würde sie zu dem maroden Ausbund an Scheußlichkeit kommen, in dem sie lebte. Nein, danke. Sie warf einen Blick zu den wenigen Autos, die über den Highway schossen, dann drehte sie sich um und überquerte den Parkplatz am Westende des Campus, wo große, ausladende Johannisbrotbäume wuchsen. Sie ging durch einen kleinen Wald zu dem versteckten, schattigen Ufer des Rattlesnake Creek.

Dort ließ sie sich zwischen zwei schweren Ästen nieder und stieß den Atem aus. Zuflucht. Oder etwas in der Art. Dies war jedenfalls das, was in dem winzigen Nest Crossroads als Natur durchging.

Lilith lehnte den Gitarrenkasten an seinen gewohnten Platz an einem Baumstamm, legte die Füße auf einen Haufen trockenen orangefarbenen Laubs und entspannte sich beim Plätschern des Baches in seinem Betonbett.

In der Schule hatte sie in den Lehrbüchern Bilder von »schönen« Orten gesehen – die Niagarafälle, den Mount Everest, Wasserfälle auf Hawaii –, aber ihr gefiel der Rattlesnake Creek besser, denn sie kannte niemanden außer sich selbst, der diesen Hain verdorrter Bäume schön fand.

Sie öffnete den Gitarrenkasten und nahm das Instrument heraus. Es war eine dunkelorangefarbene Martin 000-45 mit einem Riss im Korpus. Irgendjemand in ihrer Straße hatte sie weggeworfen, und Lilith konnte es sich nicht leisten, wählerisch zu sein. Außerdem fand sie, dass das Instrument durch die Beschädigung einen volleren Klang hatte.

Sie schlug die Saiten an, und als Akkorde erklangen, spürte sie eine unsichtbare Hand, die ihre rauen Kanten glättete. Wenn sie spielte, fühlte sie sich von Freunden umgeben, die sie nicht hatte.

Wie es wohl wäre, jemanden kennenzulernen, der ihren Musikgeschmack teilte?, überlegte sie. Jemanden, der nicht fand, dass die Apokalyptischen Reiter »wie geprügelte Hunde« sangen, wie eine Cheerleaderin Liliths Lieblingsband einmal beschrieben hatte. Lilith träumte davon, sie live spielen zu hören, aber an einen Konzertbesuch war nicht zu denken. Die Apokalyptischen Reiter waren zu bekannt, um in Crossroads zu spielen. Und selbst wenn sie hierherkommen sollten, wie könnte Lilith sich eine Eintrittskarte leisten, wenn ihre Familie kaum genug Geld für Lebensmittel hatte?

Ohne dass es ihr bewusst war, fing sie an zu singen. Der Song war noch nicht fertig – es war nur ihr Kummer, der mit der Gitarre verschmolz –, aber als sie wenige Minuten später aufhörte, begann hinter ihr jemand zu klatschen. »Wow.«

Lilith wirbelte herum und sah einen schwarzhaarigen Jungen, der an einem Baum lehnte. Er trug eine Lederjacke und seine schwarze Jeans verschwand in abgewetzten Kampfstiefeln.

»Hey«, sagte er, als würde er sie kennen.

Lilith antwortete nicht. Sie kannten sich nicht. Warum redete er mit ihr?

Er musterte sie mit durchdringendem Blick. »Du bist immer noch schön«, bemerkte er leise.

»Du bist … echt unheimlich«, gab Lilith zurück.

»Du erkennst mich nicht?« Er klang enttäuscht.

Lilith zuckte die Achseln. »Woher soll ich dich kennen? Aus America’s Most Wanted?«

Der Junge schaute zu Boden, lachte, dann deutete er mit dem Kopf auf ihre Gitarre. »Hast du keine Angst, es noch schlimmer zu machen?«

Sie sah ihn verwirrt an. »Meinen Song?«

»Dein Song war eine Offenbarung«, stellte er fest, stieß sich vom Baum ab und kam auf sie zu. »Ich meine den Riss in deiner Gitarre.«

Lilith fiel auf, wie entspannt er sich bewegte – cool, langsam, als hätte ihn noch nie im Leben jemand verunsichert. Er blieb vor ihr stehen und ließ eine Leinentasche von der Schulter gleiten. Der Henkel landete auf Liliths Stiefel, und sie sah ihn an, als hätte der Junge ihn absichtlich dort hingelegt. Sie trat ihn weg.

»Ich passe auf.« Sie schlang die Arme um die Gitarre. »Im Moment ist das Verhältnis zwischen Gitarre und Riss genau richtig. Wenn es jemals mehr Riss als Gitarre sein sollte, dann wäre es schlimm.«

»Klingt, als hättest du es dir gut überlegt.« Der Junge sah sie so lange an, dass Lilith unbehaglich wurde. Seine Augen waren von einem faszinierenden Grün. Er war eindeutig nicht von hier. Lilith wusste nicht, ob sie jemals einem Menschen begegnet war, der nicht aus Crossroads stammte.

Er sah toll aus und weckte ihr Interesse, und daher war er zu gut, um wahr zu sein. Sie hasste ihn sofort. »Das ist mein Platz. Such dir deinen eigenen«, sagte sie.

Aber statt wegzugehen, setzte er sich dicht neben sie, als wären sie Freunde. Oder mehr als Freunde. »Spielst du auch mit anderen?«, fragte der Junge.

Er legte den Kopf schräg und Lilith erhaschte einen Blick auf das Tattoo einer aufgehenden Sonne in seinem Nacken. Sie hielt den Atem an.

»Was, Musik? In einer Band?« Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Nicht, dass es dich was angehen würde.« Dieser Typ drang in ihr Revier ein und störte sie in der einzigen Zeit, die sie wirklich für sich allein hatte. Sie wollte, dass er verschwand.

»Was hältst du von ›Das Werk des Teufels‹?«, fragte er.

»Was?«

»Als Bandname.«

Lilith wollte aufstehen und gehen, aber sonst sprach nie jemand mit ihr über Musik. »Was ist das für eine Band?«, fragte sie.

Er hob ein Johannisbrotblatt vom Boden auf und betrachtete es, zwirbelte den Stiel zwischen den Fingern. »Sag du es mir. Es ist deine Band.«

»Ich habe keine Band«, widersprach sie.

Er zog eine dunkle Augenbraue hoch. »Vielleicht wird es Zeit, dass du eine gründest.«

Lilith hatte nie davon zu träumen gewagt, wie es wäre, in einer richtigen Band zu spielen. Sie rutschte ein Stück zur Seite, um mehr Abstand zwischen sie zu bringen.

»Mein Name ist Cam.«

»Ich bin Lilith.« Sie war sich nicht sicher, warum es sie solche Überwindung kostete, diesem Jungen ihren Namen zu sagen, aber so war es. Sie wünschte, er wäre nicht hier, dass er sie nicht hätte spielen hören. Sie teilte ihre Musik mit niemandem.

»Ich liebe diesen Namen«, bemerkte Cam. »Er passt zu dir.«

Jetzt war es wirklich Zeit zu gehen. Sie wusste nicht, was dieser Kerl wollte, aber es war definitiv nichts Gutes. Sie griff nach ihrer Gitarre und erhob sich.

Cam machte Anstalten, sie aufzuhalten. »Wohin willst du?«

»Warum redest du mit mir?«, fragte sie. Irgendetwas an ihm machte sie wütend. Warum drang er in ihre Privatsphäre ein? Für wen hielt er sich? »Du kennst mich doch gar nicht. Lass mich in Ruhe.«

Liliths Direktheit war den meisten Menschen unangenehm. Aber nicht diesem Jungen. Er lachte leise in sich hinein.

»Ich rede mit dir, weil du und dein Song das Interessanteste sind, das mir seit einer Ewigkeit untergekommen ist.«

»Dein Leben muss echt langweilig sein«, versetzte Lilith.

Sie wandte sich zum Gehen. Sie musste sich zwingen, nicht zurückzublicken. Cam fragte nicht, wohin sie ging, und er wirkte auch nicht überrascht, dass sie mitten im Gespräch einfach verschwand.

»Hey«, rief er.

»Hey was?« Lilith drehte sich nicht einmal um. Cam war die Art von Junge, der Mädchen wehtat, die so dumm waren, es zuzulassen. Und sie brauchte nicht noch mehr Schmerz in ihrem Leben.

»Ich spiele auch Gitarre«, rief er ihr durch den Wald nach. »Wir brauchen nur noch einen Drummer.«

Zwei

Dead Souls

Cam

Cam sah Lilith nach, bis sie im Wald von Rattlesnake Creek verschwand, und unterdrückte den überwältigenden Drang, ihr nachzurennen. Sie war genauso umwerfend wie damals in Kanaan, mit der gleichen strahlenden, ausdrucksvollen Seele, die durch ihre äußere Schönheit schimmerte. Er war erstaunt und zutiefst erleichtert, denn nach der schockierenden Nachricht, dass Liliths Seele nicht wie erwartet im Himmel, sondern bei Luzifer in der Hölle war, hatte Cam sich das Schlimmste ausgemalt.

Es war Annabelle, die es ihm schließlich gesagt hatte. Er war zu ihr gegangen, weil er dachte, sie könne ihm Näheres darüber verraten, wie es Lilith im Himmel ging. Der pinkhaarige Engel hatte den Kopf geschüttelt, mit traurigem Gesicht nach unten gezeigt und gesagt: »Du hast es nicht gewusst?«

Cam brannten Fragen auf der Zunge, wie Lilith – die reine, gütige Lilith – in der Hölle gelandet war, aber die wichtigste Frage war: War sie immer noch das Mädchen, das er liebte, oder hatte Luzifer sie gebrochen?

Fünf Minuten mit ihr hatten ihn nach Kanaan zurückversetzt, zu der atemberaubenden Liebe, die sie einst empfunden hatten. Ihre Nähe hatte ihn mit Hoffnung erfüllt. Aber …

Irgendetwas an Lilith war anders. Sie trug eine messerscharfe Bitterkeit wie einen Waffenrock.

»Amüsierst du dich?« Die Stimme kam von irgendwo oben.

Luzifer.

»Danke, dass ich sie kurz sehen durfte«, bemerkte Cam. »Jetzt hol sie hier raus.«

Warmes Gelächter ließ die Bäume erzittern. »Du bist bettelnd zu mir gekommen, um zu erfahren, in welchem Zustand sich ihre Seele befindet«, erwiderte Luzifer. »Ich habe dir angeboten, sie zu besuchen – aber nur, weil du einer meiner Lieblinge bist. Also, warum reden wir nicht übers Geschäft?«

Bevor Cam antworten konnte, tat sich der Boden unter ihm auf. Sein Magen machte einen Satz nach oben, ein Gefühl, das nur der Teufel auslösen konnte, und als Cam in die Tiefe stürzte, sann er über die Grenzen der Engelskraft nach. Er hinterfragte selten seine Instinkte, aber dieser Instinkt, Lilith zu lieben und auch von ihr geliebt zu werden – so mächtig er auch war – würde entweder die Gnade des Teufels erfordern oder Cam musste es direkt mit Luzifer aufnehmen. Er öffnete die Flügel und sah hinab, als unter ihm ein blauer Punkt wuchs und an Schärfe gewann. Er landete auf einem Linoleumboden.

Der Wald und Rattlesnake Creek waren fort. Cam stand in der Mitte eines Food-Courts in einem verlassenen Einkaufszentrum. Er legte die Flügel an und setzte sich an einem orangefarbenen Resopaltisch auf einen Hocker.

Der Food-Court war riesig, gefüllt mit hundert hässlichen Tischen, die genauso aussahen wie seiner. Man konnte nicht erkennen, wo er anfing und wo er aufhörte. Ein langes Oberlicht zog sich über die Decke, aber es war so verdreckt, dass Cam jenseits der grauen Schmutzschicht auf dem Glas nichts erkennen konnte. Der Boden war mit Müll übersät – leeren Tellern, schmutzigen Servietten, zerknüllten Pappbechern und angekauten Plastikstrohhalmen. Ein abgestandener Geruch hing in der Luft.

Ringsum befanden sich typische Verkaufsstände – für chinesisches Essen, Pizza, Chicken Wings –, aber die Geschäfte waren alle heruntergekommen: die Rollläden der Burger-Braterei waren geschlossen, die Lichter des Sandwich-Ladens waren durchgebrannt und die Glasvitrine im Joghurtgeschäft war eingeschlagen. In einem der Läden brannte noch Licht. Seine Markise war schwarz und darauf stand in fetten goldenen Lettern das Wort Aevum.

Hinter der Theke arbeitete eine jugendliche Gestalt mit gewelltem, kastanienbraunem Haar, bekleidet mit einem weißen T-Shirt, Jeans und einer flachen weißen Kochmütze. Der junge Mann bereitete etwas zu, das Cam nicht sehen konnte.

Seit dem Sturz trat der Teufel in allen möglichen Verkleidungen auf, aber Cam erkannte Luzifer immer an der sengenden Hitze, die er verströmte. Obwohl zwischen ihnen mehrere Meter lagen, fühlte Cam sich, als stünde er direkt über einem heißen Grill.

»Wo sind wir?«, rief Cam.

Luzifer schaute zu ihm hin und bedachte Cam mit einem seltsamen, verführerischen Lächeln. Er hatte das hübsche Sommersprossengesicht eines charismatischen Zweiundzwanzigjährigen.

»Dies ist das Aevum – manchmal auch als Limbus oder Vorhölle bezeichnet«, sagte der Teufel und griff nach einem großen Pfannenheber. »Es ist ein Zustand zwischen Zeit und Ewigkeit und ich habe ein Sonderangebot für Erstkunden.«

»Ich habe keinen Hunger«, sagte Cam.

Luzifers Augen funkelten und er beförderte mit dem Pfannenheber etwas Brutzelndes auf ein braunes Cafeteria-Tablett. Dann trat er hinter die beige Kasse und hob die Thekenklappe, die die kleine Küche von dem Food-Court trennte.

Er ließ die Schultern kreisen und fuhr die großen steifen Flügel aus, grünlich golden wie alter, angelaufener Schmuck. Cam hielt die Luft an, denn sie verströmten einen abstoßenden modrigen Geruch. In den Falten wimmelte es von winzigen schwarzen Viechern.

Das Tablett hoch erhoben, näherte Luzifer sich Cam. Er betrachtete mit schmalen Augen Cams Flügel, wo sich das weiße Stück noch immer deutlich von dem goldenen Hintergrund abhob. »Weiß steht dir nicht. Gibt es etwas, das du mir sagen willst?«

»Was macht sie in der Hölle, Luzifer?«

Lilith war einer der tugendhaftesten Menschen gewesen, die Cam je gekannt hatte. Wie sie jemals zu einem Untertan Luzifers hatte werden können, entzog sich seiner Vorstellungskraft.

»Du weißt, dass ich das nicht verraten darf.« Luzifer lächelte und stellte das Plastiktablett vor Cam. Darauf befand sich eine kleine Schneekugel mit einem goldenen Sockel.

»Was ist das?«, fragte Cam. Dunkelgraue Asche füllte die Schneekugel. Sie fiel unablässig, wie durch Magie, und verdeckte fast die winzige Leier, die darin schwebte.

»Sieh selbst«, sagte Luzifer. »Dreh sie um.«

Cam stellte die Kugel auf den Kopf und fand an ihrem Fuß einen kleinen goldenen Schlüssel. Er zog damit das Spielwerk auf und ließ sich von der Leiermusik berieseln. Es war dieselbe Melodie, die er seit seinem Abflug aus Troja gesummt hatte: Liliths Lied. So bezeichnete er es in Gedanken.

Er schloss die Augen und war wieder an dem Flussufer in Kanaan, vor drei Jahrtausenden, und lauschte ihrem Spiel.

Die billige Spieluhrversion war schriller, als Cam erwartet hatte. Er schloss die Finger um die Kugel. Dann …

Knirsch.

Die Schneekugel zersprang. Die Musik erstarb und Cam tröpfelte Blut über die Hand.

Luzifer warf ihm einen stinkenden grauen Spüllappen zu, damit er sauber machte. »Dein Glück, dass ich so viele davon habe.« Er deutete mit dem Kopf auf den Tisch hinter Cam. »Nur zu, probier noch eine aus. Sie sind alle ein bisschen anders.«

Cam legte die Scherben der ersten Schneekugel beiseite, wischte sich die Hände ab und beobachtete, wie die Schnitte in seinen Handflächen verheilten. Dann drehte er sich um und sah wieder in den Food-Court: Auf jedem der orangefarbenen Tische, die eben noch leer gewesen waren, stand in der Mitte eine Schneekugel auf einem braunen Plastiktablett. Die Zahl der Tische war gewachsen – es gab jetzt ein ganzes Meer von ihnen, das sich bis in die trübe Ferne erstreckte.

Cam griff nach der Kugel auf dem nächsten Tisch.

»Sachte«, sagte Luzifer.

In dieser Kugel war eine winzige Geige. Cam drehte den Schlüssel und hörte eine andere Version desselben bittersüßen Liedes.

Die dritte Kugel enthielt ein Miniatur-Cello.

Luzifer setzte sich und legte die Füße hoch, während Cam durch den Food-Court ging und jede Schneekugel aufzog, bis die Musik spielte. Es gab Sitars, Harfen, Violas. Lap-Steel-Gitarren, Balalaikas, Mandolinen – jede spielte eine Ode an Liliths gebrochenes Herz. »Diese Kugeln …«, sagte Cam langsam. »Sie stehen für die verschiedenen Höllen, in denen du sie gefangen gehalten hast.«

»Und jedes Mal, wenn sie in einer davon stirbt«, erklärte Luzifer, »landet sie wieder hier, wo sie aufs Neue an deinen Verrat erinnert wird.« Er stand auf und schlenderte zwischen den Tischen hindurch, betrachtete voller Stolz seine Schöpfungen. »Und dann verbanne ich sie, damit es interessant bleibt, in eine neue Hölle, die eigens für sie geschaffen wurde.« Luzifer grinste und entblößte Reihen rasiermesserscharfer Zähne. »Ich kann wirklich nicht sagen, was schlimmer ist – die endlosen Höllen, denen ich sie wieder und wieder aussetze, oder hierher zurückzukommen und sich daran erinnern zu müssen, wie sehr sie dich hasst. Aber das ist es, was sie aufrecht hält – ihr Zorn und ihr Hass.«

»Auf mich.« Cam schluckte.

»Ich arbeite mit dem Material, das man mir gibt. Es ist nicht meine Schuld, dass du sie verraten hast.« Luzifer stieß ein Lachen aus, das Cams Trommelfelle pulsieren ließ. »Willst du meine Lieblingsqual in Liliths gegenwärtiger Hölle hören? Keine Wochenenden! Jeden Tag des Jahres Schule. Kannst du dir das vorstellen?« Luzifer hob eine Schneekugel hoch und ließ sie dann zu Boden fallen und zerschellen. »Was sie betrifft, ist sie ein typischer deprimierter Teenager, der eine typische deprimierende Highschool-Erfahrung durchmacht.«

»Warum Lilith?«, fragte Cam. »Erschaffst du so die Hölle jedes Menschen?«

Luzifer lächelte. »Die Langweiligen erschaffen sich ihre eigenen langweiligen Höllen mit Feuer und Schwefel und diesem ganzen Mist. Sie brauchen meine Hilfe nicht. Doch Lilith ist etwas Besonderes. Aber das muss ich dir ja nicht sagen.«

»Was ist mit den Menschen, die mit ihr leiden? Ihre Mitschüler, ihre Familie …«

»Schachfiguren«, antwortete Luzifer. »Hierher versetzt aus dem Fegefeuer, um eine Statistenrolle in der Geschichte eines anderen zu spielen – auch eine Art von Hölle.«

»Ich kapier das nicht«, sagte Cam. »Du hast ihr das Leben zur Hölle gemacht …«

»Oh, das war nicht allein mein Verdienst«, unterbrach Luzifer ihn. »Du hast mitgeholfen!«

Cam ignorierte die Schuldgefühle, die er verspürte, damit sie ihn nicht erstickten. »Aber du hast ihr etwas erlaubt, was sie von Herzen liebt. Warum lässt du sie Musik machen?«

»Das Leben ist erst dann richtig unglücklich, wenn man etwas Schönes erlebt hat«, antwortete Luzifer. »Es erinnert einen an alles, was man nicht haben kann.«

Alles, was man nicht haben kann.

Luce und Daniel hatten etwas in Cam wachgerufen, von dem er gedacht hatte, er habe es für immer verloren: seine Fähigkeit zu lieben. Die Erkenntnis, dass auch er vielleicht eine zweite Chance bekommen könnte, hatte in ihm die Sehnsucht geweckt, Lilith zu sehen.

Jetzt, da er ihr begegnet war, da er wusste, dass sie hier war …

Er musste etwas tun.

»Ich muss sie wiedersehen«, sagte Cam. »Das war zu kurz …«

»Ich habe dir genug Gefälligkeiten erwiesen«, erklärte Luzifer mit einem Knurren. »Ich habe dir gezeigt, wie die Ewigkeit für sie ist. Nicht einmal das hätte ich zu tun brauchen.«

Cam ließ den Blick über die endlosen Schneekugeln wandern. »Ich kann nicht glauben, dass du all das vor mir verborgen hast.«

»Ich habe sie nicht versteckt; du hattest kein Interesse«, erwiderte Luzifer. »Du warst immer zu beschäftigt. Luce und Daniel, die angesagte Clique an der Sword & Cross und das alles. Aber jetzt … nun, möchtest du ein paar von Liliths früheren Höllen sehen? Das wird Spaß machen.«

Ohne die Antwort abzuwarten, legte Luzifer Cam die Hand auf den Hinterkopf und drückte ihn zu einer der Schneekugeln hinab. Cam kniff die Augen zusammen und machte sich darauf gefasst, mit dem Gesicht gegen das Glas zu schlagen …

Stattdessen: