England - Angelika Meier - E-Book

England E-Book

Angelika Meier

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Beschreibung

Cambridge, »England«: ein Ort, an dem die Kulissen knirschen, Schauermärchenabgründe gähnen und Ludwig Wittgenstein sich zwischen die Touristen der Jetztzeit gemischt hat. Was hat Valentine dort eigentlich zu suchen? Geht es um eine große wissenschaftliche Karriere oder einen Geheimauftrag? Wer ist auf ihrer Seite? Will man sie beschützen oder bloßstellen? Wer ist hier hinter wem (oder hinter was) her? Und ist diese Liebesgeschichte nicht allzu romantisch? Viel zu viele Fragen für die enge Welt eines kleinen Kopfes, und der Ausweg liegt wohl in der Flucht nach vorn – oder im Schlaf.
Auf merkwürdigste Weise bestens unterhalten, stolpert der Leser der entschlossen-­lethargischen H­eldin des Romans hinterher und gerät dabei immer weiter in den Bann dieses frivolen »England« und einer heiter-psychotischen Innenwelt, die vielleicht bloß aus verrutschter Außenwelt besteht.

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Angelika Meier England

Inhalt

Ich bin in England. – Alles um mich herum sagt es mir,

sowie ich meine Gedanken schweifen lasse und wohin immer,

so bestätigen sie mir’s. – Könnte ich aber nicht irre werden,

wenn Dinge geschähen, die ich mir jetzt nicht träumen lasse?

Ludwig Wittgenstein, Über Gewissheit

I know perfectly well I’m not where I should be,

I’ve been very aware you’ve been patient with me.

Brian Wilson,

Auch dieses Meer hat bisher nicht geholfen. Schon eine Woche sitze ich hier, und mit mir hat sich noch nichts getan, nur meine Kleider fangen langsam an zu stinken. Nachts liege ich unter dem offenen Fenster auf dem Liegestuhl, den die hilfsbereite Familie aus Göttingen mir in ihrem Appartement angeboten hat, bis mein erfundener Ehemann mich abholen würde, und lausche auf das leise Schnarchen des kleinen Mädchens und auf das Rauschen des Meeres und meiner Verrücktheit. Spätestens übermorgen, also am Montag, werde ich ihnen sagen müssen, dass es keinen Mann gibt, und dann werden sie mich rauswerfen. Die Göttingerin wird mir trotzdem alles Gute wünschen, und ihr Mann wird den Kopf schütteln, sprachlos vor Ärger, dass ich sie angelogen habe. Aber in zwei Tagen kann man viel machen, vielleicht werde ich es sogar schaffen, meine Kleider zu waschen. Ich könnte morgen früh, wenn die Familie zum Strand geht, vor dem Haus in einem Handtuch in der Sonne sitzen bleiben und warten, bis die Kleider trocken sind. Meine hellblaue Unterhose weht wie eine Fahne an dem weißen Haus. Wahrscheinlicher ist, dass ich das nicht schaffen werde.

Ich wollte immer nach Griechenland, und jetzt bin ich wirklich da, wenn auch nicht so, wie ich mir das immer vorgestellt hatte. Ich hatte mir zum Beispiel nicht vorgestellt, allein dort zu sein. Erst als ich hier ankam, um mich vor den Leuten in Cambridge in Sicherheit zu bringen, merkte ich, dass in meinen Vorstellungen von Griechenland das Alleinsein nicht vorgesehen war, auch wenn ich nicht sagen könnte, dass ich mir einen bestimmten anderen Menschen, zum Beispiel Paul, dazugedacht hätte. Außerdem habe ich nicht gewusst, dass ich nicht schwimmen kann. Mein Körper hat das Schwimmen anscheinend verlernt, denn als Kind konnte ich es, das weiß ich genau. Vielleicht könnte ich es ja wieder lernen, da ich hier anscheinend ohnehin länger bleiben muss. Sie werden mir wohl kaum hierher folgen. Das ginge ein bisschen weit, schließlich habe ich niemandem geschadet, niemandem persönlich, höchstens der Institution, was dann natürlich doch wieder schwerer wiegt. Aber so schlimm, dass sie mir hierher folgen würden, ist es wohl nicht. Also könnte ich in Ruhe wieder schwimmen lernen. Vielleicht sieht es dann aber doch komisch aus, wenn man mit fast vierzig mit Schwimmflügeln vor den Leuten am Strand rumplanscht.

Wittgenstein hat einmal, kurz bevor ich auf seine Weisung hin nach Cambridge gegangen bin, zu mir gesagt: Das, was mir fest war, scheint jetzt zu schwimmen & untergehen zu können. Er hat das natürlich metaphorisch gemeint, er hat sich gefragt, ob seine Arbeit etwas Rechtes ist oder nur allerlei Possen, und weil er keine Gewissheit in dieser Frage gefunden hat, hat er sich trösten wollen mit dem Satz: Was Possen sind, entscheidet der liebe Gott. Aber das hat ihm auch keine Ruhe gegeben. Auf jeden Fall war sein Problem nicht das Schwimmen. Aber vielleicht könnte ich seinen Satz so umdrehen, dass ich aus ihm die Hoffnung ziehen könnte, dass das, was fest war in mir und deshalb untergeht, jetzt schwimmen zu können scheint.

Gott, bin ich müde! Gott bin ich, müde. Aber ich werde schwimmen lernen, noch heute fang ich damit an. Vorher muss ich mich aber stärken und noch ein bisschen liegen bleiben. Am besten bleibe ich noch ein Stündchen hier am Strand liegen und schaue dabei nicht mehr aufs Meer. Ich werde dem Meer den Rücken zudrehen, sobald ich mich das nächste Mal bewegen kann.

Eine Welle nach der anderen. Nie zwei auf einmal. Wie gut doch alles eingerichtet ist! Ich sollte mir eine Liste machen, solange ich hier bin: 1. September: Sonntag; 2. September: Montag; 3. Sep- tember: Dienstag … und so weiter, dann werde ich später wissen, was an jedem Tag war.

Auf der Busfahrt von Heraklion hierher träumte ich, wie ich hier ankommen würde: Ich stieg aus dem Bus, ließ meinen Koffer stehen und rannte an den Strand, der sich wie ein längliches Handtuch vor mir ausrollte und an seinen Säumen durch menschenhohe Thujahecken begrenzt war. Das Meer war nicht zu sehen. Ich lief bis zum Ende des Strands, wahrscheinlich lag das Meer direkt hinter der Thujahecke, aber am Ende des Strands war nur hinten links ein kleiner Durchgang in der Hecke, durch den man in die nächste von Thujahecken umsäumte Strandparzelle gelangte, und immer so weiter. Ich lief von einem Strandgartenstück in das nächste, immer glaubte ich, ganz hinten links das blaue Meer leuchten zu sehen, aber es war nur der Himmel über der Hecke, das Meer blieb verschwunden. Der Sand war blitzsauber, die Eingeborenen saßen und lagen auf Liegestühlen in den Thujaanlagen, sie winkten mir freundlich zu, als ich mit hängender Zunge an ihnen vorbeihetzte, die Beine schwer vom durch den Sand Rennen, und wenn ich sie nach dem Meer fragte, schüttelten sie stolz den Kopf und erklärten mir, dass jetzt alles in Ordnung sei und sie den Strand so schön verlängert hätten – endlich auch, wie im Norden, unendliche weiße Sandstrände.

Als ich aufwachte, fuhr der Bus ein letztes Mal aufwärts um eine steile Kurve herum, und tief unten sah ich das blaue, blaue Meer. Ab jetzt kurvten wir nach unten, immer näher auf das Meer zu. Und dann stieg ich aus dem Bus und rannte ans Meer, bis es vor mir lag und laut lachte, und da lachte ich auch. Optimisten haben keine Ahnung, wie viele positive Erfahrungen man machen kann.

Vielleicht könnte ich mir in Christina’s Supermarket ein Postfach einrichten lassen, falls man mir aus Trinity College meine Post hinterherschicken lassen will. Aber dann könnten sie mir auch eine Vorladung schicken, also sollte ich das mit dem Postfach vielleicht doch lieber lassen. Andererseits kann ich meine Studenten ja auch nicht so einfach im Stich lassen. In vier Wochen ist der Great Court Run, und wer soll sie anfeuern, wenn nicht ich? Sie müssen es schaffen, den Great Court zu umrunden, bevor King Edwards große Turmuhr um zwölf Uhr mittags vierundzwanzigmal geschlagen hat, was 43 Sekunden dauert, und der Hof umfasst immerhin 367 Meter im Karree. Es ist zwar war kein Lord Burghley oder ein anderer zukünftiger Olympiasieger unter meinen Studenten, aber die schlaue Betty Bliss aus dem ersten Jahr ist mittlerweile so flink geworden, dass sie tatsächlich gute Chancen darauf hat, die erste zu sein, die es seit 1988 wieder schafft, den Kampf gegen die Schläge der Uhr zu gewinnen.

Meine Uhr schlägt praktisch gar nicht mehr, seit ich hier bin. An der Batterie liegt es nicht, die Uhr hat einfach klein beigegeben. Endlich schlägt nichts mehr. Fast hätte ich jetzt einschlafen können, aber vom Ende des Strands kommt wieder mal großes Gebrüll. Ein paar Jungs treiben eine riesige Schildkröte im Wasser vor sich her, sie ziehen sie an den Beinen und hauen ihr auf den Panzer. Ich kann mir das nicht ansehen, und deshalb werde ich es jetzt endlich schaffen, dem Meer den Rücken zuzudrehen. Zum Glück kommt Elena aus ihrer Taverne gerannt, und mit der krähenden Stimme, die hier alle Frauen über dreißig haben, scheißt sie die Jungs zusammen, die Schildkröte flieht, und so ist wieder Ruhe. Ich schaue weiter aufs Meer, und das Meer schwappt Welle für Welle über mich, obwohl es gar nicht an mich herankommt, ich liege ja fest und weich auf meinem Handtuch unter densalty trees, aber es schwappt trotzdem in meinem Kopf, und jede Welle hebt mich hoch und zieht mich nach vorn, und wenn das Wasser sich mit einem rieselnden Zischen zurückzieht, werde ich mit einer sanften halben Drehung wieder zurückgeschubst wie ein kleiner Kieselstein. Man kann durchaus an Land seekrank werden. Das habe ich nicht gewusst, obwohl ich es doch in England immer war. Aber bevor ich hierher, an dieses Ende der Welt gekommen bin, habe ich ja auch nicht gewusst, noch immer nicht gewusst, dass ich nie wieder nach Cambridge zurückkehren kann.

Dabei hatte alles so verheißungsvoll begonnen, ja sagenhafte Verheißungen surrten durch die Luft, als ich an diesem ungewöhnlich heißen vierten Juni vor gut einem Jahr durch das Great Gate von Trinity College spazierte, in meinem grauen Flanellanzug und mit dem braunen Samsonite-Lederkoffer, der das einzige ist, was mir von diesen glirrenden Tagen geblieben ist. Der Rektor, Jonathan Quale Higgins III., stand bereits in tadelloser Haltung vor seiner Wohnung in Great Court, um mich persönlich zu begrüßen. Sein schwarzes Haar war streng zur Seite gescheitelt, und unter seinem Schnurrbart hob sich sein linker Mundwinkel zu einem Lächeln, das in makelloser Asymmetrie mit der Hebung seiner rechten Augenbraue übereinstimmte. Er war etwa sechzig Jahre alt, kaum größer als ich, von einer elastischen Beleibtheit, und machte alles in allem den Eindruck eines strengen Teddybären. Er trug eine graue Hose und ein nachtblaues Clubjackett mit einem weißgrundigen ovalen Wappen auf dem Herzen, auf dem ein schwarzer Hahn mit einem roten Kronenkamm von einer gelben Schlange erwürgt wurde. Ich starrte wohl etwas zu lange auf dieses Wappen, so dass er sich diskret räusperte und dann sagte:

»Bevor ich Sie zu Ihrer Wohnung führe, lassen Sie mich Ihnen Newtons Apfelbäumchen zeigen, meine Liebe.«

So standen wir eine Weile vor einem Apfelbaum, und dann brachte er mich zu meinem Raum im Aufgang E, einem spartanischen Kämmerchen, dunkel, feucht und mönchisch, aber mit karmesinrot gestrichenen Wänden, genau so, wie ich es erhofft hatte. Higgins sagte, dass er mich in einer Stunde zum Essen am High Table in der Hall erwarte, um mich den anderen Fellows vorzustellen, und ließ mich allein.

Ich setzte mich auf das angenehm harte und schmale Bett und atmete laut auf, weil ich sicher war, dass Master Higgins keinen Verdacht geschöpft hatte. Heute weiß ich, dass er mich sofort durchschaut hatte. Er war aber ein solcher Fuchs, dass er sich nichts hat anmerken lassen. Nachdem ich eine Weile auf meinen Koffer gestarrt hatte, den der Sohn des Pförtners auf den Schreibtischstuhl gestellt hatte, trat ich ans Fenster und blickte in den Hof. Seine unsymmetrische Anlage, die unterschiedlich hohen Gebäude und die überladene und doch karge, gezierte Klobigkeit der Tudor-Architektur, die ich nicht verstand, machten mich etwas beklommen, vor allem der riesige Brunnen in der nicht mittigen Mitte des herrlichen Rasens, ein Ungetüm mit einem Säulenbaldachin und einer Bogendecke darüber, die wie der durchlöcherte Deckel einer riesigen Zuckerdose aussah, bereiteten mir Unbehagen, denn unter solchen Baldachinen ruht bekanntlich nicht nur liebes Wasser, sondern unter Umständen auch die ein oder andere schimmelige kleine Leiche. In einer bayrischen Barockkirche weiß man wenigstens genau, wo die Leichen liegen, die Stellen sind direkt darüber in den Deckenmalereien mit genauen Zeichen markiert, Zeichen, die man nur zu lesen verstehen muss. Und so habe ich oft unter den Kirchendecken gestanden und gedacht:Wer das lesen könnt!Aber hier weiß man nicht, wo das Wasser fließt und wo die Leiche liegt. Die Christen haben immer behauptet, vom Mittelalter bis heute, die Juden hätten die Christenkinder umgebracht und mit den Leichen ihrer Opfer auch noch die Brunnen vergiftet. Im Schutz dieser Lüge konnten die Christen in aller Ruhe morden und ihre Leichen im Keller und im Brunnen vergraben. Vorerst war ich diesem Brunnen also nicht gewachsen, schüttelte mich bei seinem Anblick und wandte mich ab. Unvorstellbar, dass Lord Byron in diesem Brunnen hat baden können.

Ich erschien pünktlich in der Hall, hatte mich gewaschen, ein neues Hemd und vor allem den schönen schwarzen Talar angezogen, den jemand auf mein Bett gelegt hatte, und war guter Dinge. Auf meinem Weg hatte mich ein ganzer Schwarm von Studenten überholt, sie alle sprangen die acht Stufen zur Hall in einem Satz herauf, ich überlegte kurz, es ihnen gleichzutun, aber stellte mir dann vor, wie böse mir Wittgenstein wäre, wenn er mich bei solch einer Anbiederung ertappte. In der Hall war der High Table auf einem drei Meter hohen, mit schwarzem Samt verkleideten Podest aufgebaut, das quer zu den langen Tischen stand, an denen die Studenten aßen. Um an den hohen Tisch zu gelangen, musste man ein steiles Treppchen in dem Podest erklimmen. Higgins erwartete mich bereits oben:

»Meine liebe Freundin, darf ich Ihnen Ihre zukünftigen Kolleginnen und Kollegen vorstellen?«

Ich sagte, dass ich entzückt sei, alle kennen zu lernen, dass das Privileg, das Vergnügen ganz meines sei, aber ob ich vielleicht vorher eine Frage bezüglich meiner Unterkunft stellen dürfe. Da mir dies gewährt wurde, fragte ich Sir Jonathan, ob es vielleicht möglich wäre, statt in Great Court in Whewell’s Court Quartier zu nehmen, und ob ich dort möglicherweise sogar die Zimmer im Türmchen direkt unter dem Dach haben könne, nun, da Wittgenstein sie nicht mehr brauche. Higgins und die anderen lachten herzlich:

»Nun, da Wittgenstein sie nicht mehr braucht! Das ist köstlich, meine Liebe, köstlich!«

Ich verstand nicht, ob dies nun bedeutete, dass meinem Wunsch stattgegeben wurde oder nicht, aber traute mich nicht, noch einmal nachzufragen, zumal Higgins bereits begonnen hatte, mich vorzustellen. Wir standen hinter unseren Stühlen, es war nicht viel Platz auf dem Podium, und während ich händeschüttelnd und lächelnd nach links und rechts balancierte, um die anderen Fellows zu begrüßen, deren Namen ich vor Anspannung nicht hörte, wurde mir etwas schwindelig, wenn ich nach unten schielte. Als ich meinem direkten Gegenüber die Hand gab, sah ich über seine Schulter hinweg im kerzenerleuchteten Halbdunkel des Saals, dass die Studenten ebenfalls noch standen, sie durften sich anscheinend nicht vor uns setzen. Sie hatten, Jungs wie Mädchen, die Hände an die Hosennaht gelegt und starrten ausdruckslos geradeaus.

Als ich mich endlich auf meinen Platz in der Mitte des Tisches niederlassen konnte, stellte ich mit Entsetzen fest, dass wir dreizehn bei Tisch waren. Ich erwähnte dies scheinbar scherzhaft meinem linken Tischnachbarn gegenüber, einem Mathematiker, von dem ich im Laufe des Abends erfuhr, dass er Charles Willoughby hieß, worüber dieser höflich lachte und sagte:

»Nein nein, seien Sie unbesorgt, wir sind nicht dreizehn, sondern zwölf plus eins.«

Das beruhigte mich sofort, und ich begann mit großem Wohlbehagen die außergewöhnlich schlechte Champignoncremesuppe zu löffeln. Nachdem eine Sanduhr in der Mitte des Tisches mir angezeigt hatte, dass ich nun mit meiner Tischnachbarin zur Rechten sprechen müsse, wandte ich mich der Literaturprofessorin Dorothy McDonald zu, die mir wohlwollend sagte, dass Frauen in der Philosophie und zumal in Cambridge noch immer eine Seltenheit seien und dass der Ruhm meiner Manzanilla-Herausgeberschaft mir an diesen Ort bereits vorausgeeilt sei. Ich sagte, dass dies zu freundlich sei und dass doch aber Frauen in der Philosophie längst akzeptiert seien. Schließlich hätten schon 1986, als der Trauerzug von Simone de Beauvoir durch Montparnasse zog, die Kellner der Brasserie La Coupole auf der Straße Spalier gestanden, um ihr, die weiße Serviette über den linken Arm geschlagen, die letzte Ehre zu erweisen, und das, obwohl Simone de Beauvoir schließlich keine ernstzunehmende Philosophin gewesen sei, und dass ich mir nichts Schöneres wünschen könne, als dass eines Tages ein Kellner mit einer weißen Serviette vor seiner Brasserie steht, wenn meine kleine Leiche vorübergetragen wird. Dorothy McDonald schien damit nicht einverstanden, jedenfalls schnaubte sie merkwürdig in ihre Suppe und sprach nicht mehr mit mir.

Als der Hauptgang aufgetragen wurde, irgendein Fleisch, das ich nicht aß, blickte ich hinunter in den Saal und stellte voll Erstaunen fest, dass die Studenten alle verschwunden waren. Higgins beobachtete mich vom Kopf des Tisches her und lächelte mir von Zeit zu Zeit zu, ich konnte wegen meiner Kurzsichtigkeit und der Dunkelheit in der Halle nicht recht erkennen, ob sein Lächeln etwas Spöttisches hatte oder ob ich mir das nur einbildete. An den Rest des Abends erinnere ich mich nicht mehr, ich weiß nur, dass ich hinterher in meinem Bett lag und fest daran dachte, dass der Easter Term in ein paar Tagen vorbei wäre, ich also frühestens Ende September wieder auf den hohen Tisch müsste und nun erst einmal die langen Sommerferien zu meiner Eingewöhnung vor mir lägen.

Aber ich sollte dann doch schon noch vor den Ferien, nämlich am Abend des elften Juni, meinen akademischen Einstand erfahren. Der Leiter der philosophischen Abteilung, Professor Harold Dunbar, hatte mich gebeten, im Moral Science Club in einem informellen Vortrag vor ein paar Dozenten und einer Handvoll ausgewählter Studenten meine Arbeit vorzustellen. Mir war der Ausdruck informell überaus willkommen, ermutigte er mich doch darin, meinen Vortrag wie gewöhnlich nicht vorzubereiten, schließlich spreche ich immer am besten ohne Konzept. Die einzige Vorkehrung, die ich traf, war, mir bei Woolworth ein himmelblaues Hemd zu kaufen, das hervorragend zu meinem Anzug passte.

Als ich um Punkt sieben den hübschen, smaragdgrüngestrichenen Raum im ersten Stock in Aufgang H des King’s College betrat, hatte sich mein Publikum bereits eingefunden, aber noch nicht gesetzt. Zu meiner Zufriedenheit stellte ich fest, dass es kein Vorlesungssaal war, sondern ein behaglich eingerichtetes, quadratisches Clubzimmer mit schweren braunen Ledersesseln, die in einem Halbrund um einen elfenbeinfarbenen Jugendstilkamin gruppiert waren, in dem ein künstliches Feuer leuchtete. Gedämpftes Plaudern und Lachen schwamm mir wie von weit her entgegen, obschon die Anwesenden höchstens vier Meter entfernt von mir in lockerer Gruppierung standen. Daniel Nales, der Head Porter, servierte Sherry. Meine Zuhörerschaft bestand aus Higgins, Professor Dunbar, den Fellows Dr. Agnès Mondet und Dr. Orville Wilson, sowie acht Studentinnen und Studenten, deren Namen ich vergessen habe. Seltsamerweise trugen sie alle, Männer wie Frauen, Reitkleidung, und ich fühlte mich in meinem Talar, den ich zwar schon aus Gründen der Informalität offen gelassen hatte, etwas klerikal unter ihnen. Da sie mir alle den Rücken zugewandt hatten, blieb ich eine Weile auf der Schwelle stehen und schwindelte vor mich hin, bis ich mich schließlich räusperte, so dass die kristalllüsternen Geräusche plötzlich verstummten und sich zwölf Köpfe umwandten, um mich mit waldtierhaften Gesichtern anzustarren. Dann klatschte Higgins zweimal kurz in seine papiertrockenen Hände, die Starre löste sich und ich machte mich händeschüttelnd den nun freundlich lächelnden Menschen bekannt.

Als sich alle außer mir gesetzt hatten, nahm ich meine Position vor dem Kamin ein, und nachdem Professor Dunbar ein paar einleitende Sätze zu meiner Vorstellung gesagt hatte, Studium und Promotion in Berlin, Paris, Stanford und so weiter, begann ich zu sprechen:

»Lieber Professor Dunbar, ich danke Ihnen sehr herzlich für diesen warmen Empfang, meine Damen und Herren, es ist mir eine große Ehre und Freude und ein großes Privileg, Ihre Gemeinschaft teilen und nun vor Ihnen ein paar Worte sprechen zu dürfen. Ich möchte es kurz machen, so dass wir recht schnell miteinander ins Gespräch finden können. Die Arbeit, die mich in den letzten fünfzehn Jahren umgetrieben hat, also meine Auseinandersetzung mit Wittgenstein einerseits und andererseits meine gewissermaßen archäologische Arbeit an der Miguel-de-Manzanilla-Ausgabe, mein Versuch, diesen herausragenden Sprachphilosophen des siebzehnten Jahrhunderts der Gegenwart zurückzugeben, dreht sich im Grunde genommen nur um eine paar wenige, höchst einfache Fragen: Wie können wir die Alltagssprache ertragen? Wie ist es uns möglich, so zu sprechen, wie wir sprechen? Wie können wir nur so furchtbar krank sein?«

Higgins hüstelte etwas sonderbar und schlug nervös sein entzückend kurzes, dickliches und dabei so biegsames Bein über das andere, aber ich versuchte, mich nicht verunsichern zu lassen, und fuhr daher umso beherzter fort:

»Wenn Sie mir nun Ihre Fragen stellen möchten?«

Higgins’ rechte Augenbraue war nun bis kurz unter den Haaransatz gewandert und seine Oberlippe war noch steifer als gewöhnlich, er starrte mir höchst unenglisch direkt in die Augen und ich verstand nicht, ob er mich zu ergründen suchte oder im Gegenteil geistesabwesend war oder aber unter einem kleinen Schock stand. In jedem Fall sah er aus, als ob er in meinem Gesicht ein offenäugiges Nickerchen hielt. Alle anderen räusperten sich und sahen zu Boden. Professor Dunbar scharrte mit dem linken Fuß auf dem Teppich und schlug sich dabei mit seiner Reitgerte gegen den scharrenden Stiefel. Schließlich kam Higgins’ scharfe und doch verträumte Stimme aus der Tiefe des Raums:

»Das erinnert mich daran, wie wir einmal über Birma abgeschossen wurden …«

»Wie meinen Sie, Higgins?« Professor Dunbar sah nun verwirrt seinen Kollegen an.

»Oh nichts, nichts, entschuldigen Sie, vergessen Sie es, alter Junge. Erinnerungen, weiter nichts.«

Endlich straffte er sich, nahm mit einem Ruck seinen Blick aus meinem Gesicht und sagte dann mit einer auffordernden Geste an die übrigen Zuhörer:

»Ja, vielleicht möchte die jüngere Generation zunächst einmal ihre Fragen an die neue Kollegin richten?«

Ein paar beklemmende Minuten herrschte Schweigen, in das ich die Eingangstöne von Beethovens Pathétique pfiff und mich dabei mit der linken Hand auf dem Kaminsims begleitete, bis Agnès Mondet mich einladend anlächelte, ihr langes dunkles Haar zu beiden Seiten aus dem Gesicht schob und schließlich sagte:

»Ja, ich habe natürlich eine ganze Reihe von Fragen, schließlich sind wir alle höchst begierig darauf, über Ihre Arbeit direkt von Ihnen zu erfahren. Zunächst einmal danke ich Ihnen für diese sehr inspirierende und instruktive kleine Einführung. Meine erste Frage bezieht sich natürlich auf das großartige, höchst sonderbare Werk von Manzanilla, das dank Ihnen in die akademische Welt zurückgekehrt ist: Wie haben Sie die Schriften Manzanillas entdeckt? Ich meine, woher wussten Sie von ihnen? Sie haben doch ganz gezielt nach ihnen gesucht, nicht wahr? Stimmt es, dass Sie die Bücher in einer Holzkiste unter der Erde gefunden haben?«

»Ja, das ist durchaus wahr.«

»Und äh, woher wussten Sie, wo und vor allem wonach Sie suchen mussten, oder war es ein glücklicher Zufall …?«

»Nein, es war selbstverständlich kein Zufall, Wittgenstein selbst hat mir die Stelle gezeigt, an der ich die Bücher finden würde.«

Alle starrten mich entsetzt an, so dass ich nervös auflachte:

»Ich meine natürlich, eine Stelle bei Wittgenstein hat mir gezeigt, dass ich etwas finden könnte, äh, selbstverständlich eine Stelle im Wittgensteinschen Text hat mir gezeigt, dass es noch etwas zu entdecken gibt – dass es schon einmal vor langer, langer Zeit jemanden in Cambridge gab, der etwas Ähnliches wie Wittgenstein geleistet hat.«

Ich sah, wie sich nach dieser Richtigstellung zwölf Brustkörbe hoben und senkten, und die von ihnen gemeinsam ausgeatmete Luft linderte meinen einsetzenden Kopfschmerz. Ich musste aufmerksamer sein.

Professor Dunbar fragte nun:

»Und welche Stelle bei Wittgenstein hat Ihnen dies gezeigt?«

»Nun, das lässt sich nicht sagen, also nicht klar sagen, meine ich, und daher gar nicht sagen, wenn Sie verstehen …«

Professor Dunbar lächelte verschmitzt und wedelte mit seiner Reitgerte in meine Richtung:

»Sie sind ein Schelm, meine Liebe, Sie wollen es nicht sagen, wollen Ihre Geheimnisse für sich behalten – aber wie Sie wissen, gibt es auch so etwas wie ein editorisches Ethos, das Ihnen gebietet, völlige Einsicht in Ihre Quellen zu gewähren.«

»Oh ja, Sir, ich weiß, und ich werde auch im letzten Kommentarband, den ich nun dank Ihres freundlichen Rufs an diesen herrlichen Ort in Kürze zu erstellen hoffe … in diesem letzten Kommentarband also möchte ich alles offenlegen, alles offen daliegen lassen und sagen, wie alles gekommen ist. Aber bis dahin, gestatten Sie mir, nehmen Sie es mir bitte nicht übel, möchte ich mir noch ein paar Dinge aufsparen.«

Nachdem Professor Dunbar diese Bitte mit einem Grunzen, das ich als Wohlwollen deutete, abgenickt hatte, fingen auch die übrigen an zu nicken. Dann schüttelten sie ihre Arme und Beine im Sitzen aus, streckten sich, gähnten behaglich, schnatterten Unverständliches durcheinander, und nachdem auf diese Weise eine entspannte Heiterkeit sich unter ihnen breit gemacht hatte, sagte Professor Dunbar:

»So, meine Damen und Herren, weitere Fragen an die Kollegin?«

Nun räusperte sich Orville Wilson:

»Ja, was mich interessiert, ist Ihre These, dass Wittgenstein ManzanillasKryptychondurchaus kannte, auch wenn er nirgendwo darauf Bezug nimmt. Meinen Sie damit, er hat den Einfluss dieses Werks auf sein eigenes unterschlagen wollen oder deshalb gar die Veröffentlichung von Manzanillas Texten unterdrückt?«

»Oh nein, keineswegs, nein nein, ich meine damit, dass er sich dieser Erbschaft nicht bewusst werden konnte, nicht bewusst werden durfte, er musste diesen Text verdrängen, denn schließlich hätte Manzanillas Vereinigung der Alltagssprache und der Sprache Gottes – diese, das dürfen wir nicht vergessen, zu Manzanillas Lebzeiten ungeheuerliche Häresie, die ihn, wäre dieses Werk in die Hände der Inquisition gefallen, das Leben gekostet hätte – die Manzanillasche These also, dass Gott in demselben Maße klar und deutlich zu uns spricht, in dem wir klar und deutlich zu sprechen vermögen, hätte Wittgenstein in größte Schwierigkeiten gebracht, paradoxerweise, weil sie all seine Probleme gelöst hätte: Metaphysik und Antimetaphysik hätten die heiterste Hochzeit gefeiert, wären einander vollkommen transparent geworden und hätten sich gegenseitig aufgelöst, eine Symbiose, die die Romantiker blass vor Neid gemacht hätte.«

»Ich verstehe«, ein kleines Lächeln flackerte über sein Gesicht, dann räusperte er sich und fuhr wieder ernst fort, »Meinen Sie damit, dass auch noch der späte Wittgenstein …«

Aber hier wurde Wilson von Dunbar unterbrochen:

»Ja, ich denke, wir haben einiges erfahren, Interessantes gelernt und so weiter, und ich hoffe, auch Ihnen, geschätzte Kollegin, waren unsere Fragen anregend für dies und das. Ich schlage vor, wir nehmen jetzt einen kleinen Aperitif in meinen Räumen, und vielleicht gehen wir dann gemeinsam zum Essen.«

Doch schon wieder auf den hohen Tisch! Mir schwindelte, und ich musste mich am Kamin festhalten, bis mich eine Hand plötzlich an der Schulter fasste, es war Agnès Mondet, die mich besorgt fragte, ob alles in Ordnung sei. Ich bedankte mich und sagte, dass durchaus alles in Ordnung und nur die Luft etwas stickig sei. Während Agnès freundlich auf mich einplapperte, dachte ich daran, dass Wittgenstein mir auf seiner ersten Feldpostkarte geschrieben hatte Bin gespannt auf mein kommendes Leben! Wenn Wittgenstein in den Krieg zieht und gespannt ist, dann durfte ich mir wohl kaum in die Hose scheißen, nur weil ich auf den Hohen Tisch musste. Also riss ich mich zusammen, und in meinem Kopf dröhnten Wittgensteins Worte Also in Demut die Arbeit verrichten und sich selbst um Gottes Willen nicht verlieren!!!

Ich schämte mich umso mehr, als meine Angst dann auch noch unbegründet war, denn gegessen wurde in einem zwar scheußlichen, aber harmlosen Kellerrestaurant in der King’s Parade. Lieber noch bin ich unter der Erde als in den düsteren Himmelslüften von Trinity Hall.

Ich aß nur Kartoffeln, weil mir alles andere suspekt erschien, was den anderen wohl wiederum suspekt erschien, und so konzentrierte ich mich noch vollkommener auf mein Kartoffelessen, um die sonderbaren Blicke der anderen wegzumachen. So bemerkte ich eine ganze Weile nicht, dass Agnès, die mir gegenüber saß, versuchte, mit mir zu sprechen. Immer wieder sendete sie ein Entschuldigen Sie zu mir herüber, aber erst als diese beiden Worte in meinem Kopf zu einer wattigen Schleife geworden waren, verstand ich, dass sie dort draußen gesprochen wurden und hob den Kopf wie ein Pferd aus dem Hafertrog. Nun sah sie mich verwirrt an und erst als ich sie auffordernd anlächelte und sagte »Oh, vergeben Sie mir bitte, was sagten Sie?«, entspannte sich ihr Gesicht und sie fragte:

»Entschuldigen Sie bitte meine Neugier, aber die Sache mit den Büchern lässt mir keine Ruhe, also, ich meine, dass Sie sie in einer Holzkiste in der Erde gefunden haben, das, äh, kommt mir ganz unglaublich vor.«

»Ja, mir selbst erscheint es auch immer noch unfassbar.«

Und jetzt fiel mir wieder ein, wie alles gekommen war, wie Paul mir aus seinem Himmel herabgerufen hatte, ich solle den Ahorn im Wald suchen gehen und ich solche Angst hatte und mein kleines Bett nicht verlassen wollte, und wie ich dann doch durch den Wald gehetzt bin und die schrecklichen Geräusche mich fast zu Tode erschreckt haben und wie ich trotzdem immer weiter gestolpert bin, immer tiefer in den Wald hinein, obwohl ich doch wieder raus wollte, und wie ich plötzlich mit dem linken Fuß in eine Hasenfalle getappt bin, nicht mehr aufstehen konnte und zusammengekauert und wimmernd eingeschlafen bin, und wie ich plötzlich aufgewacht bin und es war immer noch Nacht, aber vor mir sah ich auf einmal den Ahorn und um ihn eine Lichtung, nein, keine Lichtung, sondern ein ausgegossenes dampfendes Licht wie um den Jesus in seiner Transfiguration herum, und der Ahorn leuchtete golden, obwohl es finsterste Nacht war, und da sehe ich plötzlich, dass Wittgenstein lachend um diesen Ahorn herumrennt und dabei immer wieder ruft: Ach, wie gut, dass niemand weiß, dass ich Rumpelstilzchen heiß! Dann bleibt er abrupt stehen, dreht sich zu mir um und kräht:

»Na, sind Sie endlich wach, Sie alte Schlafmütze, kommen Sie schon, ich will Ihnen was zeigen.«

»Ich kann nicht, mein Fuß ist in einer Hasenfalle gefangen.«

»Unsinn, kommen Sie schon her!«

»Aber mein Fuß …«

»Wenn Sie sich noch nicht einmal daraus befreien können, meine Liebe, was nutzt da die ganze Philosophie? Sehen Sie jetzt ein, dass sie zu nichts und wieder nichts nutzt?«

Und dann kommt er zu mir, zieht mir den Fuß aus der Schlinge, ich schreie laut auf, weil der kleine Zeh durchbohrt ist und eine Blutfontäne Wittgenstein ins Gesicht springt, der aber ganz ruhig bleibt. Er reißt sich ein Stück von seinem weißen Hemd ab, schmiert mir eine grünliche Salbe auf den Zeh, die er noch in Guy’s Hospital angerührt hat, wickelt mir den Stoff um den Fuß und dann zieht er mich hoch, packt mich unter der Schulter und humpelnd lasse ich mich von ihm zu dem Ahorn führen.

»Sehen Sie hier, es liegt alles offen da – und doch ist da etwas unter der Erde. Sie müssen es ausgraben, ich kann es nicht selbst tun, genau hier ist es, merken Sie sich die Stelle, hören Sie! Verdammt, nicht schwach werden jetzt!«

Er gibt mir ein paar Ohrfeigen, und so nehme ich mich zusammen. Wittgenstein stellt sich mit dem Rücken an den Ahorn, dann macht er einen großen Schritt nach vorn und dann noch einen und noch einen:

»Drei Meter nach vorn – können Sie sich das merken?«

Ich nickte, nickte immer wieder, aus Angst, nicht deutlich genug genickt zu haben, und so nickte ich auch jetzt immer wieder, bis ich plötzlich wieder Agnès vor mir sah, die mich mit offenem Mund anstarrte. Da kam zu meiner Erlösung vom Ende des Tisches die heitere Stimme von Orville Wilson zu uns herüber:

»Nun bedräng sie doch nicht so, Agnès, wir werden es schon noch alle erfahren, wenn es an der Zeit ist, nicht wahr?«

Und er lächelte mir aufmunternd zu, mein Krampf löste sich, und Agnès und ich, die wir uns gegenseitig angestarrt hatten, mussten beide lachen, und dann lachten auch alle anderen am Tisch, selbst Higgins tat etwas Ähnliches wie lachen, wenn auch lautlos und mit geschlossenem Mund.

Durch diesen Heiterkeitsausbruch war zum Glück das Thema auch fallen gelassen worden, man plauderte nun dies und das, die Studenten und Professor Dunbar erklärten mir, wie hier in Cambridge alles läuft. Dazu setzte zunächst Professor Dunbar an, mir den Idealzustand eines Vorgangs, wie etwa den des Ablaufs einer Vorlesung oder eines Tutorgesprächs zu erklären, woraufhin die Studenten übermütig kicherten, ihn mit einem »Nun, offiziell ist das so, aber tatsächlich …«, unterbrachen, mir verschwörerisch zugrinsten, woraufhin Dunbar wiederum wie ein gutmütiger Vater unwillig grunzte »Na, na, na, so ist es nun auch wieder nicht, tatsächlich sind die meisten …«. Ich nickte eifrig nach vorne, links und rechts, hörte nicht richtig zu und fühlte mich ausnehmend wohl.

Von Zeit zu Zeit blickte ich ans Ende des Tisches zu Orville Wilson hinüber und sah mir seine blonden Haare, die unter der Reitkappe hervorlugten, und seine leicht schiefe, wahrscheinlich einmal gebrochene Nase an und achtete dabei darauf, ihm nicht in seine grünen oder blauen oder grauen Augen zu sehen, die ich aus der Entfernung ohnehin nicht richtig erkennen konnte. Sein blondes Haar sah so anders aus als das helle Fell der Hunde aus dem Ahornwald. Als Orville mich schließlich anlächelte, blickte ich hastig ans andere Ende des Tisches, wo Higgins saß, und ich erschrak, weil er mich anscheinend die ganze Zeit im Auge behalten hatte, aber er lächelte mir nun freundlich, vielleicht mitleidig zu, denn er wiegte langsam den Kopf wie ein elektrischer Buddha.

Ich dachte an Paul und dass er mich vom Himmel aus sehen könnte und fragte mich, ob er mir böse wäre, wenn er sähe, wie ich mir die blonden Haare und die grünen oder blauen oder grauen Augen und die gebrochene Nase von Orville Wilson anschaue, aber dann wedelte ich diesen Gedanken schnell weg und stieß dabei ungeschickterweise ein Glas Rotwein um. Ich entschuldigte mich tausendmal und wollte schon, bis ein diskreter Kellner mir zuvorkam, die Flecken auf der weißen Tischdecke mit meinem Talar wegwischen, was die anderen für einen Scherz zu halten schienen, jedenfalls wurde die Stimmung nach meinem Fauxpas noch ausgelassener.

Als wir spät abends aus dem Kellerrestaurant nach oben auf die gepflasterte King’s Parade zurückpurzelten, standen wir noch ein Weilchen lachend und Scherze treibend im Kreis herum. Es war eine sommerlich milde und doch neblige Nacht, wir atmeten gierig die feuchtwarme Luft ein, und unter den Reitkappen meiner neuen Freunde blähten sich die Nüstern, und silberne Atemfäden stiegen zum Himmel empor. Dann verabschiedeten sich die Studenten, die hier in der Nähe ihre Zimmerchen hatten, und Dunbar, Higgins, Orville, Agnès und ich schlenderten langsam in Richtung Trinity zurück. Dunbar und Agnès liefen vorneweg, hinter ihnen Higgins und Orville, und ich bildete mit mir und meinem Talar die kleine Schleppe unseres heiteren Gespanns.

Dann kamen endlich die Sommerferien, und ich schlief fast Tag und Nacht. Ich suchte menschlichen Kontakt so weit wie möglich zu vermeiden, nur ab und zu sah ich Agnès und Orville auf einer Bank sitzen oder auf einer der unzähligen herrlichen Collegewiesen liegen, und jedes Mal forderten sie mich mit einem freundlichen Winken auf, mich zu ihnen zu gesellen, was ich gerne wollte, aber dann doch lieber nicht tat. Ich winkte nur zurück, tippte mit dem Zeigefinger entschuldigend auf meine Armbanduhr und lief eilig weiter.

Außerdem traf ich zweimal in der Woche Higgins zum Mittagessen in seinen Räumen, denn er hatte darauf bestanden, dass ich mich möglichst einmal am Tag kurz bei ihm einfände, während ich mich lieber nur einmal die Woche bei ihm melden wollte, und so hatten wir mit unseren gemeinsamen Mittagessen dienstags und freitags einen guten Kompromiss gefunden. Diese Treffen liefen im Großen und Ganzen immer gleich ab. Wir tranken zunächst am Fenster stehend einen Martini, und während ich meinen Olivenkern im Mund hin und her schob, fragte Sir Jonathan mich, wie es mir ginge, und ich antwortete stets:

»Gut, gut, hervorragend.«

»Fein, keine besonderen Vorkommnisse?«

»Nein, keine, nichts, Sir.«

»Gut, dann wollen wir essen.«

Higgins hatte schnell bemerkt, dass ich mich schwer tat, Fleisch zu essen, und so ließ er bald schon vegetarisches Essen servieren, meistens irgendein Kichererbsengericht, das der pakistanische Küchengehilfe fertigte und das mir entsetzliche Blähungen bereitete. Als ich mich gegen diesen zusätzlichen und für Higgins doch sicher ganz und gar unbequemen Aufwand zu wehren suchte, erklärte er mir liebenswürdig, dass ihm derlei fleischlose Kost zweimal die Woche schließlich auch nicht schaden könne. Während des Essens sprachen wir ausschließlich über Philosophie, und es schien mir, als examinierte Higgins mich. Sein gegen mich gehobenes Kinn und seine zusammengekniffenen Augen verängstigten mich an manchen Tagen, aber ich schien mich ganz gut zu machen, denn am Ende dieser Essen nickte er meist zufrieden vor sich hin, faltete aufwändig seine Serviette zusammen, legte sie schwungvoll auf den Tisch, erhob sich und verabschiedete mich mit einem freundlichen »Das wäre alles für heute, meine Liebe, bis zum nächsten Mal.«

Wenn ich nicht schlief oder bei Higgins aß, streifte ich durch die Backs, den hinter den Colleges gelegenen Park am Fluss Cam, ein Hinterland ganz ohne Hintergedanken, das wie alle Parks der Welt der schönste Park der Welt ist, so ganz anders als der Ahornwald. Hier muss man nicht befürchten, dass der Farn meterhoch wächst, es gibt hier gar keinen Farn und daher auch keine Sonnenwende und keine Mittsommernachtsgeräusche. Denn die Fens, der Landstrich, in dem Cambridge liegt, sind zwar ein riesiges Sumpf- und Marschgebiet, das erst im achtzehnten Jahrhundert trockengelegt worden ist, aber dennoch gibt es hier nur liebe Blumen, keinen Farn und daher auch keine Feen.

Während ich so durch die Backs auf und ab lief und über alles nachdachte, blieben manchmal Leute stehen und betrachteten mich, manchmal bildeten sich kleine Gruppen von Menschen um mich herum, in einem scheuen Abstand von ein paar Metern umkreisten sie mich, was mir unangenehm war, sie starrten mich verhohlen an und schienen auf etwas zu warten, und da es mir unhöflich erschien, ihnen nichts darzubieten, deklamierte ich dann meist mit lauter und klagender Stimme ein paar Zeilen Hölderlin:

»Weh mir, wo nehm’ ich, wenn

Es Winter ist, die Blumen, und wo

Den Sonnenschein,

Und Schatten der Erde?«

Danach verbeugte ich mich lächelnd, die Menschen klatschten wie erleichtert und zerstreuten sich wieder. So verging dieser Sommer in großer Heiterkeit und Leichtigkeit, wie es sich für einen Sommer gehört, englisches Wetter hin oder her.

Mitte September rief mich Susie Burns, die Institutssekretärin, an und teilte mir aufgeregt mit, dass meine Veranstaltungen noch gar nicht im Vorlesungsverzeichnis angekündigt seien, und das zwei Wochen vor Beginn von Michaelmas! Was sie denn nun noch schnell, noch heute ins Netz stellen solle? Ich brauchte eine Weile, bis mir einfiel, dass Michaelmas der Name des Herbsttrimesters ist, und noch länger, um zu verstehen, dass die Dozenten Titel und Ankündigungstexte ihrer Veranstaltungen bis spätestens Mitte August den Sekretariaten mitzuteilen hatten.

Ich empfand Miss Burns als recht unhöflich und hielt es für meine Pflicht, sie darauf aufmerksam zu machen, aber sie schien derlei offene Worte nicht zu begrüßen. Sie schnaufte wütend in den Hörer, und ich bekam es mit der Angst zu tun, entschuldigte mich daher mehrfach, und nachdem sie einigermaßen besänftigt war, sagte ich ihr, dass alles kein Problem sei, weil ich ohnehin lieber keinen Ankündigungstext schreiben wolle und der Titel meiner Vorlesung einfach nur Philosophie laute. Nun herrschte plötzlich Stille in der Leitung, und als ich mich schon auf den nächsten Wutausbruch einstellte, platzte mir ihr schallendes Lachen ins Ohr, was mich noch mehr verängstigte. Ich hörte immer wieder das Wort Scherz, und ansonsten konnte ich sie kaum verstehen. Schließlich nahm ich all meinen Mut zusammen, stellte mich dazu auf einen Stuhl, so dass mir fast das Telefon runterfiel, und sagte mit fester Stimme:

»Wie ich bereits sagte, lautet der Titel meiner Veranstaltung Philosophie. Ich möchte nun kein Wort mehr hören und nicht weiter von Ihnen belästigt werden. Wenn Sie meinen Wünschen nicht nachkommen wollen, bitte ich Sie, sich in meiner Angelegenheit mit Master Higgins zu besprechen, Guten Tag!«

Ich hängte auf, ließ mich erschöpft auf den Stuhl fallen und beschloss, dass es das Beste wäre, mich zur Beruhigung wieder ins Bett zu legen, war aber unfähig, aufzustehen. Als ich zehn Minuten später endlich so weit war, schrillte das Telefon erneut. Ich wusste, dass es kein Entkommen gab, denn das Klingeln war im ganzen Hof zu hören, Susie Burns wusste, dass ich da war, und wenn ich nicht abnähme, würde sie unter Umständen selbst herüberkommen. Mit zitternder Hand nahm ich den Hörer ab. Die Stimme am anderen Ende war so sanft und süßlich, dass ich eine Weile brauchte, um unter den gestammelten Entschuldigungen und dem unermüdlich rieselig hervorgezischelten Wörtchen Missverständnis tatsächlich Susie Burns zu erkennen. Nachdem ich endlich imstande war, die passenden Antworten zu geben, Miss Burns sich unter einem letzten Schwall Entschuldigungen verabschiedetet hatte und ich das erlösende Klicken am anderen Ende der Leitung oder in meinem Kopf gehört hatte, blieb ich noch ein paar Minuten sitzen, den Hörer noch immer am Ohr, aus dem nun leises Meeresrauschen zu mir kam, das sich leider am Ende in ein altvertrautes Kichern verwandelte.

Als ich zwei Tage später wieder bei Higgins auftauchte, schien er mir etwas verstimmt, und als er mich nach dem Essen bereits verabschiedet hatte und ich wie immer an der Tür irrtümlicherweise beim Hinausgehen meine Schuhe auf einem kleinen Perserteppich mit einer roten Ziege darauf abstreifte, rief er mich tatsächlich noch einmal zurück:

»Ah, fast hätte ich es vergessen, meinen Sie nicht, Sie sollten mir noch etwas berichten?«

»Wie meinen Sie, Sir?«

»Nun, wenn ich Sie nach besonderen Vorkommnissen frage, dann erwarte ich von Ihnen vollkommene Ehrlichkeit, lückenlose Offenheit, das ist nur fair, meinen Sie nicht auch?«

»Selbstverständlich, Sir, entschuldigen Sie. Sie meinen natürlich die Sache mit Miss Burns, es tut mir sehr leid, ich dachte, da Sie ohnehin von ihr angerufen wurden …«

»Natürlich, aber es geht mir nicht um die einzelne Sache, vollkommen unwichtig, diese Miss Burns, dumme Gans, ich möchte mich nur auf Sie verlassen können. Denn es ist schließlich für Sie selbst unerhört wichtig, mir zu vertrauen.«

»Ich weiß, Sir, ich bin Ihnen auch sehr …«

»Schon gut, schon gut, vergessen Sie es. Nur sollte derlei, wenn möglich, nicht so bald wieder vorkommen, nicht wahr?

»Ja natürlich nicht, Sir, aber sehen Sie, ich wusste nicht, wie ich hätte anders … ich meine, meine Veranstaltung heißt nun einmal …«

»Natürlich, das verstehe ich doch alles, meine Liebe, nur sollte es nicht wieder vorkommen, es könnte sonst auf Dauer schwierig für Sie werden, verstehen Sie?«

Und dann lächelte er mich freundlich an, seine Augenbrauen waren tröstend gehoben und berührten einander fast, so dass sich eine Welpenfalte auf seiner Stirn abzeichnete, und schließlich verabschiedete er mich mit einem kleinen Klaps auf die Wange. Erleichtert rannte ich in die Backs, setzte mich ins Gras, das zwar nun schon langsam an der einen oder anderen Stelle herbstlich braun wurde, aber noch immer zutraulich blieb. Hier gab es noch nicht einmal die böse Herbstzeitlose, die uns sonst fast bis an die Grenzen der Welt verfolgt.

Und wie ich da saß und so glücklich und erleichtert war, musste ich auf einmal schluchzen, denn mir fiel wieder ein, wie Paul, kurz bevor er aus dem Ahornwald in das Haus des lieben Jesuskindleins gebracht wurde, immer gemurmelt hatte:

»Herbstzeitlose. Ich fürchte mich vor meinem Herbstzeitlose.«

Als Anfang Oktober das Stündchen für meine erste Vorlesung geschlagen hatte, war ich ruhig und guter Dinge. Ich war um fünf Uhr früh aufgestanden, um vor meiner Vorstellung noch mein Zimmer gründlich zu reinigen. Dazu verstreute ich wie immer die nassen Teeblätter, die die Köchin für mich sammelte, über den ganzen Holzboden bis in alle Ecken und auch unter das Bett, ließ sie sich gründlich mit Staub vollsaugen und fegte sie schließlich heiter pfeifend zusammen, alles genau so, wie es Wittgenstein mir beigebracht hatte. Nach meiner Ankunft hier hatte ich als erstes den unhygienischen Teppich aus dem Zimmer entfernen lassen und der Aufwartefrau erklärt, dass sie mein Zimmer nicht zu putzen habe, da ich dies dringend selbst zu erledigen wünsche, was sie zunächst sehr beleidigt und später vielleicht auch erleichtert hatte, denn sie machte immer einen großen Bogen um mich, wenn ich sie zufällig im Flur traf.

Pünktlich um zwölf erschien ich mit Wittgensteins Philosophischen Untersuchungen unterm Arm im Vorlesungsraum, einem garstig dunklen und muffigen Kabäuschen im Erdgeschoss von Aufgang H, und meine Studenten, fünf Jungs, die einer dümmer als der andere aussahen, saßen bereits nebeneinander in der ersten Reihe vor meinem Pult. Sobald ich den Raum betrat, sprangen sie auf, stellten sich kerzengerade neben ihre Tischchen und brüllten Guten Morgen, Madam! Mit einer müden Priestergeste ließ ich sie sich setzen, und nachdem ich meinen Hochstand eingenommen und ihnen einen guten Morgen gewünscht hatte, klappten sie alle ihre weißen i-books auf, die mir wie Ritterschilde entgegenstrahlten. Das brachte mich etwas aus der Fassung, die Kinder starrten mich erwartungsvoll an, aber da mir mein Einführungsvortrag nun entfallen war und ich wie immer keine Notizen bei mir hatte, sagte ich nur:

»Der Titel dieser Veranstaltung lautet, wie Sie wissen, Philosophie. Wir werden uns hier ausschließlich mit Wittgenstein beschäftigen. Es soll nur um die Art von Philosophie gehen, die alles lässt, wie es ist, diejenige, die den tatsächlichen Gebrauch der Sprache in keiner Weise antastet, sondern bloß beschreibt. Alle Erklärung muss fort, und nur Beschreibung an ihre Stelle treten. Es ist also für unser Seminar wesentlich, dass wir nichts Neues lernen wollen. Alles, was Sie hier brauchen, sind die Philosophischen Untersuchungen, die gründlich gelesen zu haben ich selbstverständlich voraussetze. Irgendwelche Fragen?«

Der Junge links außen, der einen kurzen rötlichen Vollbart, ein Palästinensertuch und eine Designerbrille trug, meldete sich:

»Ja, äh, ich hätte eine Frage. Verstehe ich Sie richtig …«

»Wie heißen Sie?«

»Watson, Ma’am, Walt David Watson.«

»Gut, Watson, wie lautet Ihre Frage?«

»Verstehe ich das richtig, wir werden ausschließlich Wittgenstein lesen?«

»Korrekt.«

»Obwohl der Titel dieser Veranstaltung …«

»Ja, korrekt. Nun, lassen Sie es mich so erklären: Wenn wir unseren Gegenstand hier mit Philosophie bezeichnen, so erscheint dieser Titel einerseits angebracht, andererseits aber hat er sicherlich manch einen irregeführt. Man könnte sagen, dass der Gegenstand, mit dem wir uns beschäftigen, einer der Erben des Gegenstands ist, den wir Philosophie zu nennen pflegten. Verstehen Sie?«

»Ja schon, nur, sollten wir nicht vielleicht dennoch mit diesem Gegenstand beginnen, den wir Philosophie zu nennen pflegten? Sollten wir nicht vielleicht mit Platon beginnen, mit Peter Abaelard fortfahren und …«

»Nein, wir können das alles einerseits voraussetzen, andererseits würde es Ihnen das Hirn austrocknen, sich einfach so, ungeschützt, mit diesem Unsinn zu beschäftigen. Wir werden uns dennoch mehr mit Platon herumschlagen müssen, als uns lieb sein kann, aber wir können uns dem gefährlichen Aberglauben – nicht Irrtum! – der Philosophie nur mit Wittgensteins Hilfe nähern, um uns nicht von vornherein mit dem philosophischen Virus zu infizieren.«

»Aber, entschuldigen Sie, ist das nicht, mit Wittgenstein gesagt, eine etwas einseitige Diät, denn er erklärt uns doch schließlich, dass eine Hauptursache philosophischer Krankheit darin besteht, sein Denken mit nur einer Art von Beispielen zu nähren?«

Sein leichtes Lächeln und vages Achselzucken erschienen mir unterwürfig und triumphierend zugleich, und ich musste mich zusammennehmen, um ihn nicht zu ohrfeigen. Nur der Ekel vor seinem lächerlichen Bart hielt mich davon ab, und so antwortete ich stattdessen freundlich:

»Sehr gut, Watson, sehr gut. Aber freilich ist es zugleich völliger Unsinn, was Sie da reden. Denn wenn man Wittgenstein liest, kann man niemals Gefahr laufen, sich in einseitiger Diät fehlzuernähren. Wir werden vielfältige Beispiele für alle Fragen finden, die ihn beschäftigen. Alle anderen Fragen interessieren uns nicht.«

Plötzlich ging die Tür auf, und herein kam ein etwas dickes Mädchen in einem roten Adidasanzug, mehreren Jutebeuteln über den Schultern und dem i-book unter dem Arm. Sie verneigte sich mehrmals vor meinem Pult und entschuldigte sich immer wieder für ihr Zuspätkommen. Ich war dankbar für die Unterbrechung:

»Schon gut, schon gut, nur lassen Sie es nie wieder vorkommen. Wie ist Ihr Name?«

»Bliss, Betty Bliss.«

»Schön, Miss Bliss, setzen Sie sich und lesen Sie das hier bitte laut und deutlich vor.«

Ich sprang flink wie ein Eichhörnchen von meinem Pult herunter, ließ Betty sich kaum auf den Stuhl rechts außen an der Tür setzen, legte ihr die aufgeschlagenen Untersuchungen unter die Nase und zeigte auf eine Stelle, so dass sie nur schnell und nervös ihre Sachen auf dem Boden ablegen konnte. Sie beugte ihren Kopf, auf dem ihre dunklen kurzen Locken wirr in alle Richtungen standen, über das Buch. Dann begann sie etwas atemlos zu lesen:

»Da alles offen daliegt, ist auch nichts zu erklären. Denn was etwa verborgen ist, interessiert uns nicht. Philosophie könnte man auch das nennen, was vor allen neuen Entdeckungen und Erfindungen möglich ist.«

»Danke, Miss Bliss. Was sagen Sie dazu?«

Sie starrte ängstlich zu mir auf und stammelte dann:

»Nun, äh, es erscheint ungeheuer erleichternd, dass alles offen daliegt, nicht wahr?«

»Ja genau, ganz genau.«

Ich strahlte sie begeistert an, und sie lächelte aus ihren hellgrünen Augen fröhlich zurück, als sie mir das Buch reichte. Doch kaum hatte ich ihr den Rücken gekehrt, um mich wieder auf dem Pult aufzubauen, setzte sie hinzu:

»Aber ist es nicht auch eine ganz neue Entdeckung, dass alles offen daliegt?«

Mein Lächeln gefror mir auf dem Gesicht, ich konnte es abnehmen, und während ich es in meiner offenen linken Handfläche betrachtete, bevor ich es vorsichtig auf das Pult legte, antwortete ich Betty Bliss:

»Wieso fragen Sie das jetzt? Das sollten Sie frühestens am Ende des Trimesters fragen, und frühestens in weiteren zehn wirklich beantwortet haben wollen, wenn sie nicht mehr nur sophistisch kalauernd vor sich hin plappern, sondern das Ausmaß Ihrer Fragen ersehen können.«

Ich hatte versucht, mit fester Stimme zu sprechen und hielt mich dazu mit beiden Händen am Pult fest, aber in meine Worte mischte sich am Ende ein leichtes Wimmern, das endlich von Bettys freundlicher Stimme erlöst wurde:

»Entschuldigen Sie, aber ich wollte durchaus nicht plappern…«

»Schon gut, Miss Bliss, lassen Sie nur.«

»Das Dumme ist nur, dass ich mich tatsächlich für das interessiere, was verborgen ist, sonst würde ich wohl auch nicht Philosophie studieren.«

»Nun ja, grämen Sie sich nicht, mein Kind, diese Krankheit werden wir Ihnen schon noch austreiben, seien Sie unbesorgt.«

Ich musste lachen über meine Antwort, und die Studenten lachten nun auch, sie nahmen wohl an, dass ich scherze. Weil ich zu erschöpft war, um weiteren Gesprächen mit diesen Kindern standzuhalten und Walt Watson schon wieder bedrohlich die Hand hob, sagte ich abschließend:

»Gut, sehr schön, sehr schön. Das reicht vielleicht für den Anfang, wir sind doch schon recht weit gekommen und ich denke, wir werden glänzend miteinander auskommen. Ich sehe Sie dann also am Freitag. Auf Wiedersehen!«

Die Studenten klappten ihre i-books zusammen und verschwanden wie ein Sandwirbel in einer Fata Morgana. Ich stolperte von meinem Pult herunter und ließ mich auf einem Stuhl neben der Tür sinken, die Schultern hingen mir herab, und plötzlich sah ich, dass auf das Buch, das ich in den Händen hielt, ein paar Tränen tropften. Ich wischte sie hastig mit meinem Talar weg, denn ich hatte schon immer eine entsetzliche Angst vor Wasserflecken auf Büchern. Ich wankte aus dem Raum, und als ich den Hof erreichte und das Licht und die Luft mir tröstlich entgegenflogen, atmete ich auf, aber zugleich sagte ich mir So geht es nicht weiter! Du wirst es nicht durchhalten! Doch das schien mir im gleichen Moment etwas dramatisch, und so tat es mir wohl, mich daran zu erinnern, wie Wittgenstein immer wieder zu mir gesagt hatte Jetzt sich nur zusammennehmen und brav sein!

Mit großen Schritten begann ich über den Hof zu eilen und überwand mich dabei, dem bösen Brunnen fest in die Augen zu sehen. Da bemerkte ich gerade noch rechtzeitig, dass einer der Studenten mir im Hof auflauerte. Zum Glück war er an seinen türkisfarbenen Augen und dem ordentlich zur Seite gescheitelten, hellbraun und grau gefleckten kurzen Haar und dem schwarzen Anzug recht einfach wiederzuerkennen. Er trat von einem Bein aufs andere und kam nun mit leicht vorgebeugtem Oberkörper auf mich zu:

»Entschuldigen Sie, dass ich Sie noch mal störe, aber ich habe es vorhin versäumt, noch etwas zu fragen …«

»Wie ist Ihr Name, junger Mann?«

»Enderby, Evelyn Enderby.«

»Nun, Enderby, was wollten Sie mich fragen?«

»Ich möchte in keiner Weise zweifeln oder gar Kritik üben an Ihrer Beschränkung auf Wittgenstein …«

»Aber?«

»Es ist nur so, dass ich Ihre Veranstaltung eigentlich besuche, weil ich mich für Miguel de Manzanilla interessiere. Sehen Sie, sein Kryptychon war für mich eine ganz neue Entdeckung – ich meine, vielleicht sollte ich lieber nicht von Entdeckungen sprechen …«

Er lachte nervös auf, vielleicht, um seine Bemerkung scherzhaft klingen zu lassen, und so war ich gezwungen, es ihm gleich zu tun und bestäubte meine Rede mit etwas Unernst:

»Na ja, sprechen Sie in Bezug auf Manzanilla ruhig von einer neuen Entdeckung, ich glaube, Wittgenstein würde uns das schon verzeihen, in diesem Fall, vielleicht.«

Ich lächelte ihn müde an nach Art der alten Hasen, während mir Schauer über den Rücken liefen, denn ich war keineswegs davon überzeugt, dass Wittgenstein mir verzeihen würde, aber Enderby hatte durch meine Reaktion anscheinend seine Unsicherheit gänzlich verloren, nickte übermütig vor sich hin, zappelte ungeduldig mit den Armen und sprach nun sonderbar flapsig und in scheinbar großer Bewegung zugleich:

»Tja, genau, ich würde sogar sagen, dass Manzanilla für mich geradezu eine Offenbarung war, und deshalb wollte ich wissen, ob wir nicht vielleicht doch auch noch über ihn sprechen könnten, vielleicht wenigstens in den letzten Sitzungen des Trimesters.«

»Mein lieber Junge, das Trimester hat ganze acht Wochen.«

»Ich weiß, ich dachte nur, vielleicht …«

»In welchem Studienjahr sind Sie, Enderby?«

»Im zweiten, Ma’am.«

»Das ist zu früh, Sie sollten zumindest fertig studiert haben, vielleicht auch Ihren Doktor gemacht haben, dann könnten wir darüber reden.«

»Oh, tatsächlich?«

Er starrte mich enttäuscht und zugleich abwartend an, anscheinend in der Hoffnung, dass das ein Scherz war. Er tat mir leid, wie er nun den Kopf sinken ließ und mit dem rechten Fuß im Kies des Hofwegs kleine Kreise zog. Aber ich musste hart bleiben, Walt Watson und Betty Bliss hatten mir in ihrer bösartigen Dummheit genug zugesetzt für den ersten Tag. Ich klopfte Enderby auf die Schulter:

»Nehmen Sie es mir nicht übel, Enderby, aber Sie sind noch nicht so weit. Arbeiten Sie, arbeiten Sie hart! Und dann werden wir sehen.«

»Ja, Ma’am, danke.«

Er sprach nun sehr leise, blickte mich schräg von unten an, und in seinen türkisenen Augen glitzerten ein paar Tränen. Um ihn nicht ansehen zu müssen, starrte ich, während ich ihm abschließend einen guten Tag wünschte, auf seine Schulter, und dabei sah ich, dass sein Anzug aus einer sehr feinen Wolle gewebt war. Ich hatte mich schon zum Gehen umgewandt, als diese Wolle mich zurückdrehte, und ich konnte mich nicht erwehren, Enderby zu fragen:

»Ach, sagen Sie, Enderby, was tragen Sie da für einen überaus kleidsamen Anzug? Ich nehme an, es ist ein Harris Tweed?«

Unwillkürlich fasste ich ihm ans Revers, der Stoff war weicher als Engelshaar. Schnell zog ich die Hand wieder weg. Die Tränen waren plötzlich aus Enderbys Augen verschwunden, er stand nun kerzengerade, mit gehobenem Kinn vor mir und lächelte etwas schief:

»Nein, Ma’am, das ist freilich kein Harris Tweed. Ich glaube nicht, dass hier jemand noch so etwas trägt. Es ist ein Anzug vom italienischen Schneider meines Vaters.«

»Ah, sehr gut. Diese Wolle ist ausgesprochen schön.«

»Ja, nicht wahr? Der Schneider bekommt sie von einem australischen Lieferanten, der ausschließlich schwarze Schafe züchtet, daher der exquisite Faden, die Wolle ist nicht gefärbt.«

»Ich verstehe. Ich danke Ihnen, Enderby, und wünsche Ihnen noch einen angenehmen Tag.«

»Ich habe zu danken und wünsche ebenso einen schönen Tag, Ma’am, bis Freitag!«

Ich drehte mich ruckartig um, hastete davon, spürte sein schiefes Lächeln in meinem Nacken und wäre, um das böse Glück voll zu machen, beinahe in den Brunnen gestolpert. Mit einem leisen Aufschrei korrigierte ich kurz vor dem Teufelsschlund meinen Lauf und rannte die letzten Meter, bis ich durch das Great Gate hindurchsprang und endlich wieder im Freien auf der Trinity Street stand, wo gerade eine holländische Rentnergruppe in kurzen Hosen und Baseballkappen vorbeilief, der ich mich erleichtert anschloss.

Langsam kam ich wieder zu Kräften, und unter dem Talar ballte ich die Fäuste. Ich hatte die erste Schlacht verloren, darüber bestand kein Zweifel, aber so bekam ich langsam vollkommene Klarheit über die Verhältnisse hier,denndie Klarheit, die wir anstreben, ist allerdings eine vollkommene.Nur so kann die Philosophie ein Kampf sein gegen die Verhexung unsres Verstandes durch die Mittel unserer Sprache.Ich würde die Verhexungen durchbrechen. Die Gegenseite hatte den Kampf aufgenommen und hatte dazu das Visier öffnen müssen.

Nachdem ich mit der Holländergruppe durch halb Cambridge gestolpert war, King’s College besichtigt und erfahren hatte, dass Salman Rushdie hier studiert hatte, schließlich in einem Hamburgerrestaurant gelandet war und sofort den Arm hochgerissen hatte, als die Reiseleiterin gefragt hatte, wer alles das Cheeseburger-Menü haben wolle, dann aber doch von ihr übersehen worden war, was mir auch recht war, weil ich sonst hätte Fleisch essen müssen, trollte ich mich langsam wieder heimwärts.

In meinem Kämmerchen angekommen, setzte ich mich erschöpft auf mein Bett, nahm aus meinem Nachtschränkchen eine Tüte Trockenobst und vom Regalbrett über dem Bett den ersten Band meiner Manzanilla-Ausgabe. Ich schlug die erste Seite auf und begann essend zu lesen. Denn wann immer ich Trost und Stärkung brauche, lese ich das erste Kapitel des linken Seitenflügels, also des ersten Bands des Kryptychons, immer lese ich dann die Stelle am Anfang, in der uns Manzanilla erzählt, wie er als junger Mann, als er schon glaubte, den nächsten großen Schritt in der Philosophie getan zu haben und nun alles zu wissen und zu verstehen, was man hienieden wissen und verstehen kann, doch noch von Gott erleuchtet wurde:

»Bereits in meinem zweiundzwanzigsten Jahr hatte ich meine heimliche Schrift mens finis sub specie aeternitatis beendet und glaubte nun, wahr und falsch endgültig geschieden zu haben durch eine Trennlinie, die der Herr uns in der Logik aller Dinge zu erkennen gibt. Über meinen scheinbaren Erkenntnissen war ich, ohne es recht zu bemerken, selbstgefällig geworden, mein Denken war der Weisheit untreu geworden und hurte längst in der Eitelkeit des Geistes. Doch wie war es möglich, dass mich der gute Geist verließ, ohne dass ich es bemerkte? Nun, ich hatte, so schien es zumindest, schlicht Recht mit meinem Betrachtungen: In einer bekräftigenden Kritik von des verehrten Wilhelm von Ockhams Summa logicae hatte ich versucht zu erhellen, welche Schlüsse wir heute aus Wilhelms richtigen Annahmen darüber, wie das göttliche Wirken der menschlichen Erkenntnis entzogen sei, ziehen können und welche Aussagen diese Annahmen über eben diese Erkenntnis zuließen. Es ging mir darum zu zeigen, wie sich in unseren Worten und Begriffen dennoch eine göttlich wirkende Vernunft ausspricht. Denn wenn der Mensch nicht wirr redet, sondern zwischen seinen wirren und seinen vernünftigen Reden zu scheiden weiß, dann ist dies eine Gesundheit, die Gott dem Menschen gegeben hat. Alles schien mir nun vollkommen klar, und doch war mir fad zumute und ein leichter Ekel vor mir selbst erfasste mich, als ich in einer Dezembernacht im Jahre 1647 meine Feder niederlegte. Da überkam mich ein ungewöhnlich schwerer Schlaf direkt über meinem Skriptorium und riss mich in eine sonderbare Schwebe, so dass ich erst mein Zimmer und schließlich mich selbst schreibend von oben sah. Und wie ich mich ängstigte ob dieses Bildes, da hörte ich plötzlich die tröstende Stimme des Herrn.

Und der Herr sprach zu mir: Wenn einer klar und deutlich zu dir spricht, so halt ihm auch die andere Seite hin. Denn was sich klar sagen lässt, lässt sich auch nicht sagen und lässt sich auch nicht