Ferdinand Lassalle Eine Würdigung des Lehrers und Kämpfers - Bernstein, Eduard - kostenlos E-Book

Ferdinand Lassalle Eine Würdigung des Lehrers und Kämpfers E-Book

Eduard, Bernstein

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The Project Gutenberg EBook of Ferdinand Lassalle, by Eduard BernsteinThis eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and withalmost no restrictions whatsoever.  You may copy it, give it away orre-use it under the terms of the Project Gutenberg License includedwith this eBook or online at www.gutenberg.orgTitle: Ferdinand Lassalle       Eine Würdigung des Lehrers und KämpfersAuthor: Eduard BernsteinRelease Date: January 20, 2014 [EBook #44722]Language: German*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK FERDINAND LASSALLE ***Produced by Peter Becker, Odessa Paige Turner and theOnline Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net(This book was produced from scanned images of publicdomain material from the Google Print project.)

FERDINAND LASSALLE

FERDINAND LASSALLE

EINE WÜRDIGUNG DES LEHRERS UND KÄMPFERS

VON

EDUARD BERNSTEIN

VERLEGT BEI PAUL CASSIRER, BERLIN 1 9 1 9

ALLE RECHTE VORBEHALTEN COPYRIGHT 1919 BY PAUL CASSIRER, BERLIN

DRUCK VON OSCAR BRANDSTETTER, LEIPZIG

Inhalt.

SeiteVorwort5Deutschland am Vorabend der Lassalleschen Bewegung7Lassalles Jugend, der Hatzfeldt-Prozeß, die Assisenrede und der Franz von Sickingen27Ferdinand Lassalle und der Italienische Krieg66Das System der erworbenen Rechte114Der preußische Verfassungskonflikt, die Verfassungsreden und das Arbeiterprogramm145Lassalle und das Leipziger Arbeiterkomitee. Das Offene Antwortschreiben, politischer Teil186Der ökonomische Inhalt des Offenen Antwortschreibens. Das eherne Lohngesetz und die Privatgenossenschaften mit Staatskredit213Gründung und Führung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins235Lassalle und Bismarck263Lassalles letzte Schritte und Tod285Schlußbetrachtung293

Vorwort.

Die vorliegende Schrift wurde von mir in ihrer ersten Gestalt im Jahre 1891 verfaßt, als eine Einleitung zu der damals von der Buchhandlung „Vorwärts” veranstalteten Sammelausgabe von Reden und Schriften Lassalles. Der Umstand, daß ich zu jener Zeit noch in London lebte, dessen Bibliotheken nur Teile der Lassalle-Literatur darboten, und daß aus buchhändlerischen Gründen die Ausarbeitung der Schrift in einer ziemlich kurz bemessenen Frist geschehen mußte, hatte verschiedene Mängel zur Folge, die ich später oft bedauert habe.

Daß nun eine Neuausgabe notwendig geworden ist, hat mir die ersehnte Gelegenheit geboten, hier zu bessern, was nach meiner eigenen Überzeugung und dem Urteil der von mir als berechtigt anerkannten Kritik vornehmlich zu bessern war. Insbesondere aber sind die in der Zwischenzeit erschienenen, teilweise recht bedeutsamen Briefe von, an und über Lassalle berücksichtigt worden, die dazu beigetragen haben, das Bild des großen Lehrers und Kämpfers ganz wesentlich einheitlicher zu gestalten, als es früher vor uns stand.

Lassalle als Vorkämpfer zu würdigen war die besondere Aufgabe der Schrift. Von einem Mitglied der Partei, die in Lassalle einen ihrer Begründer verehrt, für die Partei, also namentlich auch für bildungsdürstige Arbeiter geschrieben, hatte sie das Hauptgewicht darauf zu legen, die Bedeutung Lassalles als Lehrer und Führer der von ihm 1863 neu ins Leben gerufenen Partei in möglichster Klarheit zur Anschauung zu bringen. Das hatte insofern eine gewisse Beschränkung zur Folge, als das literarhistorische Moment ziemlich zurücktreten mußte. Die Schrift beansprucht nicht, mit Arbeiten zu rivalisieren, die Lassalle von der Warte des außenstehenden Geschichtsschreibers oder Literaturpsychologen behandeln. Aber dafür glaubt sie dasjenige Moment um so heller zur Erkenntnis zu bringen, das gerade in unseren Tagen im Vordergrund des Interesses steht und an dem Lassalle am meisten gelegen war: sein Wollen und Wirken als bahnbrechender Lehrer des Sozialismus und als politischer Führer der sozialistischen Demokratie.

Berlin-Schöneberg, im September 1919.

Ed. Bernstein.  

FERDINAND LASSALLE UND DIE DEUTSCHE SOZIALDEMOKRATIE

Deutschland am Vorabend der Lassalleschen Bewegung.

Seit es herrschende und unterdrückte, ausbeutende und ausgebeutete Klassen gibt, hat es auch Auflehnungen der letzteren gegen die ersteren gegeben, haben sich Staatsmänner und Philosophen, Ehrgeizige und Schwärmer gefunden, welche gesellschaftliche Reformen zur Milderung oder Beseitigung des Ausbeutungsverhältnisses in Vorschlag brachten. Will man alle diese Bestrebungen unter den Begriff Sozialismus zusammenfassen, so ist der Sozialismus so alt wie die Zivilisation. Hält man sich jedoch an bestimmtere Erkennungsmerkmale als das bloße Verlangen nach einem Gesellschaftszustand der Harmonie und des allgemeinen Wohlstandes, so hat der Sozialismus der Gegenwart als Ideengebilde mit dem irgendeiner früheren Epoche nur soviel gemein, daß er wie jener der geistige Niederschlag der besonderen, von den Besitzlosen geführten Klassenkämpfe seiner Zeit ist. Überall drückt die Struktur der Gesellschaft, auf deren Boden er gewachsen ist, dem Sozialismus der Epoche ihren Stempel auf.

Der moderne Sozialismus ist das Produkt des Klassenkampfes in der kapitalistischen Gesellschaft, er wurzelt in dem Klassengegensatz zwischen Bourgeoisie und modernem Proletariat, einem Gegensatz, der schon verhältnismäßig früh in der Geschichte in wirklichen Kämpfen zum Ausdruck kommt, ohne freilich gleich im Anfang von den Kämpfenden selbst in seiner vollen Tragweite begriffen zu werden. In seinem Anlauf gegen die privilegierten Stände der feudalen Gesellschaft, sowie in seinem Ringen mit dem absolutistischen Polizeistaat sieht sich das Bürgertum zunächst veranlaßt, sich als den Anwalt der Interessen aller Nichtprivilegierten aufzuspielen, die Beseitigung ihm unbequemer und die Schaffung ihm behufs Entfaltung seiner Kräfte notwendiger Einrichtungen jedesmal im Namen des ganzen Volkes zu verlangen. Es handelt dabei lange Zeit im guten Glauben, denn nur die Vorstellung, die es selbst mit diesen Forderungen verbindet, erscheint ihm als deren vernunftgemäße, vor dem gesunden Menschenverstand Bestand habende Auslegung. Das aufkommende Proletariat aber, soweit es sich selbst bereits von den zunftbürgerlichen Vorurteilen freigemacht, nimmt die Verheißungen der bürgerlichen Wortführer so lange für bare Münze, als das Bürgertum ausschließlich Opposition gegen die Vertreter der ständischen Institutionen ist. Hat jenes aber einmal die letzteren besiegt oder doch soweit zurückgedrängt, um an die Verwirklichung seiner eigenen Bestrebungen gehen zu können, so stellt sich bald heraus, daß die hinter ihm stehenden Plebejer ganz andere Begriffe von dem versprochenen Reich Gottes auf Erden haben, als ihre bisherigen Freunde und Beschützer, und es kommt zu Zusammenstößen, die um so heftiger ausfallen, je größer vorher die Illusionen waren. Das Proletariat ist jedoch noch nicht stark genug, seinen Widerstand aufrechtzuerhalten, es wird mit rücksichtsloser Gewalt zum Schweigen gebracht und tritt auf lange Zeit wieder vom Schauplatz zurück.

Dies war der Fall in allen bürgerlichen Erhebungen des 16., 17. und 18. und selbst noch der ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts. Die rasche Entwicklung, welche die Revolution der Produktionsverhältnisse in diesem Jahrhundert nahm, änderte jedoch auch das Verhalten des Proletariats gegenüber der Bourgeoisie. Es bedurfte nicht mehr außergewöhnlicher Veranlassungen, um den Gegensatz der Interessen und Bestrebungen der beiden an den Tag treten zu lassen, er kam in den vorgeschrittenen Ländern auch ohne solche zum Ausdruck. Arbeiter fingen an, sich zum Widerstand gegen Kapitalisten zu organisieren, die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaftsordnung wurde vom proletarischen Standpunkt aus der Kritik unterworfen, es entstand eine antibürgerliche sozialistische Literatur. Verhältnismäßig unbedeutende Reibereien im Schoße der Bourgeoisie, ein bloßer Konflikt eines ihrer Flügel gegen einen andern aber genügten, um die tatkräftigeren Elemente des Proletariats als selbständige Partei mit eigenen Forderungen in die Aktion treten zu lassen. Die Reformbewegung des liberalen Bürgertums in England wurde das Signal zur Chartistenbewegung, die Julirevolution in Frankreich leitete erst eine rein republikanische Propaganda, dann aber sozialistische und proletarisch-revolutionäre Bewegungen ein, die zusammen an Ausdehnung kaum hinter der Chartistenagitation zurückbleiben.

Literarisch und propagandistisch schlägt die Bewegung in den vierziger Jahren nach Deutschland hinüber. Schriftsteller und Politiker, die entweder als Exilierte oder um dem Polizeigeruch in der Heimat für eine Zeitlang zu entgehen, sich ins Ausland begeben, werden Proselyten des Sozialismus und suchen ihn nach Deutschland zu verpflanzen, deutsche Arbeiter, die auf ihrer Wanderschaft in Paris oder London gearbeitet, bringen die sozialistische Lehre in die Heimat zurück und kolportieren sie auf den Herbergen. Es werden geheime sozialistisch-revolutionäre Propagandagesellschaften gegründet und schließlich, am Vorabend des Revolutionsjahres 1848, tritt der Kommunistenbund ins Leben mit einem Programm, das mit unübertroffener revolutionärer Schärfe und Entschiedenheit den Gegensatz zwischen Proletariat und Bourgeoisie kennzeichnet, aber zugleich auch ausspricht, daß die besonderen Verhältnisse in Deutschland dort dem Proletariat zunächst noch die Aufgabe zuweisen, gemeinsam mit der Bourgeoisie gegen die absolute Monarchie, das feudale Grundeigentum und die reaktionäre Kleinbürgerei zu kämpfen.

Die Februarrevolution in Frankreich und die Märzrevolution in Deutschland fanden das erstere in seinen Zentren stark sozialistisch unterwühlt, das letztere gleichfalls schon mit einer relativ großen Anzahl sozialistisch gesinnter Arbeiter durchsetzt. Hier wie dort lieferten die Arbeiter, wenn auch nicht in gleichem Verhältnis, bereits die tatkräftigsten Elemente der Revolution. Aber die Verhältnisse waren in Frankreich, trotz seiner politischen und ökonomischen Überlegenheit, der Verwirklichung des Sozialismus nicht viel günstiger als in Deutschland. Auf dem Lande herrschte der kleinbäuerliche Grundsatz vor, während in den Städten und Industriebezirken zwar die große Industrie bereits um sich gegriffen, aber doch noch lange nicht die Alleinherrschaft erobert hatte. Neben ihr spielte, und zwar gerade in Paris, dem Hauptplatz der Luxusgewerbe, das kleinere und mittlere Handwerk, wenn es auch aufgehört hatte, Zunfthandwerk zu sein und schon meist für den Großindustriellen arbeitete, noch eine verhältnismäßig große Rolle, ganz besonders auch das sogenannte Kunsthandwerk. Dementsprechend hatte der französische Sozialismus selbst dort, wo er sich vom eigentlichen Utopismus freigemacht hatte, mit wenigen Ausnahmen einen stark kleinbürgerlichen Zug. Und auch die Februarrevolution und die furchtbare Lehre der Junischlacht änderten daran nichts. Sie gaben dem utopistischen Sozialismus bei den französischen Arbeitern den Todesstoß, aber an seine Stelle trat auf Jahre hinaus — der Proudhonismus.

In dieser relativen Unreife der ökonomischen Verhältnisse liegt die Erklärung für die sonst unbegreifliche Tatsache, daß, während es damals in Frankreich von Sozialisten wimmelte, während über 200 Mitglieder der Deputiertenkammer sich „Sozialdemokraten” nannten, die bonapartistische Repression die Arbeiter mit leeren Redensarten abzuspeisen vermochte.

In Deutschland war die Unreife natürlich noch größer. Die große Masse der Arbeiter steckte nicht nur noch tief in kleinbürgerlichen, sondern teilweise sogar in direkt zunftbürgerlichen Anschauungen. Auf verschiedenen der Arbeiterkongresse, die das Jahr 1848 ins Leben rief, wurden die reaktionärsten Vorschläge diskutiert. Nur eine verhältnismäßig kleine Minderheit der deutschen Arbeiter hatte bereits die revolutionäre Mission der Arbeiterklasse begriffen. Wenn diese überall in den vordersten Reihen der Volksparteien kämpfte, wenn sie, wo immer sie konnte, die bürgerliche Demokratie vorwärtszutreiben suchte, so zahlte sie die Kosten dafür an ihrem eigenen Leibe. Die Kommunisten des Jahres 1848 fielen auf den Barrikaden, auf den Schlachtfeldern in Baden, sie füllten die Gefängnisse, oder mußten, als die Reaktion auf der ganzen Linie gesiegt, das Exil aufsuchen, wo ein großer Teil von ihnen im Elend zugrunde ging. Die jungen Arbeiterorganisationen, die das Frühjahr 1848 ins Leben gerufen, wurden von den Regierungen unterschiedlos aufgelöst oder zu Tode drangsaliert. Was an Sozialisten noch im Lande blieb, zog sich entweder in Erwartung günstigerer Zeiten ganz von der Öffentlichkeit zurück, oder verphilisterte und schloß sich an die ihm adäquate Fraktion des bürgerlichen Liberalismus an. Letzteres gilt namentlich auch von einer Anzahl Vertreter des halb schöngeistigen, halb sansculottischen „wahren” Sozialismus, der mit so vielem Lärm aufgetreten war. Die Arbeiter selbst aber, mehr oder weniger eingeschüchtert, lassen von dem Gedanken ihrer Organisation als Klasse mit selbständigen Zielen ab und verfallen der Vormundschaft der radikalen Bourgeoisparteien oder der Protektion wohlmeinender Bourgeoisphilantropen.

Es vollzieht sich eine Entwicklung, die in allen wesentlichen Punkten mit den in England und Frankreich unter den gleichen Umständen vor sich gegangenen Wandlungen übereinstimmt. Der Fehlschlag der erneuerten Agitation der Chartisten im Jahre 1848 hatte in England die Wirkung, daß der christliche Sozialismus der Maurice, Kingsley, Ludlow sich in den Vordergrund drängte und einen Teil der Arbeiter veranlaßte, in selbsthilflerischen Genossenschaften ihre Befreiung zu suchen — nicht nur ihre ökonomische, sondern auch ihre „moralische”, ihre Befreiung vom „Egoismus”, vom „Klassenhaß” usw. Wenn nun diese ‚christlichen Sozialisten’ auch mit ihren Bestrebungen weder selbstsüchtige, persönliche Zwecke verbanden, noch die Geschäfte irgendeiner besonderen Partei der besitzenden Klassen besorgten, so war die Wirkung ihrer Propaganda unter den Arbeitern, soweit ihr Einfluß reichte, doch zunächst die der Ablenkung derselben von den allgemeinen Interessen ihrer Klasse, d. h. politische Entmannung. Soweit es gelang, den „Klassenegoismus” zu vertreiben, trat in den meisten Fällen an seine Stelle ein philiströser Genossenschaftsegoismus und ein nicht minder philisterhaftes „Bildungs”-Pharisäertum. Die Gewerkvereinsbewegung ihrerseits verliert sich fast ganz in der Verfolgung der allernächstliegenden Interessen, während die Reste der Oweniten sich meist auf die sogenannte freidenkerische Propaganda werfen.

In Frankreich war es die Niederlage der Juni-Insurrektion gewesen, welche die Arbeiterklasse in den Hintergrund der revolutionären Bühne drängte. Jedoch vorerst nur in den Hintergrund. Der rege politische Geist des Pariser Proletariats konnte selbst durch diesen Riesenaderlaß nicht sofort ertötet werden. „Es versucht sich”, wie Marx im 18. Brumaire schreibt, „jedesmal wieder vorzudrängen, sobald die Bewegung einen neuen Anlauf zu nehmen scheint.” Indes seine Kraft war gebrochen, es konnte selbst nicht einmal mehr vorübergehend siegen. „Sobald eine der höher über ihm liegenden Gesellschaftsschichten in revolutionäre Gärung gerät, geht es eine Verbindung mit ihr ein und teilt so alle Niederlagen, die die verschiedenen Parteien nacheinander erleiden. Aber diese nachträglichen Schläge schwächen sich immer mehr ab, je mehr sie sich auf die ganze Oberfläche der Gesellschaft verteilen. Seine bedeutenderen Führer in der Versammlung und in der Presse fallen der Reihe nach den Gerichten zum Opfer, und immer zweideutigere Figuren treten an seine Spitze. Zum Teil wirft es sich auf doktrinäre Experimente, Tauschbanken und Arbeiter-Assoziationen, also in eine Bewegung, worin es darauf verzichtet, die alte Welt mit ihren eigenen großen Gesamtmitteln umzuwälzen, vielmehr hinter dem Rücken der Gesellschaft, auf Privatweise, innerhalb seiner beschränkten Existenzbedingungen, seine Erlösung zu vollbringen sucht, also notwendig scheitert.” (Der achtzehnte Brumaire, 3. Aufl., S. 14 und 15.)

In Deutschland endlich, wo von einer eigentlichen Niederlage der Arbeiter keine Rede sein konnte, weil diese sich zu einer größeren Aktion als Klasse noch gar nicht aufgeschwungen hatten, unterblieben ebenfalls auf lange hinaus alle Versuche von Arbeitern, sich in nennenswerter Weise selbständig zu betätigen. Während die bürgerliche Philanthropie in Vereinen „für das Wohl der arbeitenden Klasse” sich mit der Frage der Arbeiterwohnungen, Krankenkassen und anderen harmlosen Dingen beschäftigte, nahm sich ein kleinbürgerlicher Demokrat, der preußische Abgeordnete Schulze-Delitzsch, der selbsthilflerischen Genossenschaften an, um vermittelst ihrer zur „Lösung der sozialen Frage” zu gelangen, bei welchem löblichen Unternehmen ihm gerade die ökonomische Rückständigkeit Deutschlands in ermunterndster Weise zustatten kam.

Von vornherein hatte Schulze-Delitzsch bei seinen Genossenschaften weniger die Arbeiter, als die kleineren Handwerksmeister im Auge gehabt; diese sollten durch Kredit- und Rohstoffvereine in den Stand gesetzt werden, mit der Großindustrie zu konkurrieren. Da nun die Großindustrie in Deutschland noch wenig entwickelt war, es dafür aber eine große Anzahl von Handwerksmeistern gab, die sich noch nicht, wie die Meister der kleinen Industrie in Frankreich und England, an die große Industrie angepaßt hatten, sondern noch nach irgendeinem Schutz vor ihr ausschauten, so mußte bei diesen seine Idee auf einen fruchtbaren Boden fallen, die geschilderten Genossenschaften ihnen auch, solange sich die Großindustrie ihres besonderen Produktionszweiges noch nicht bemächtigt hatte, wirklich von Nutzen sein. So sproßten denn die Kredit- und Rohstoffvereine fröhlich auf, neben ihnen auch Konsumvereine von Kleinbürgern und Arbeitern, und im Hintergrunde winkten — als die Krone des Ganzen erscheinend — die Produktivgenossenschaften von Arbeitern als die Verwirklichung des Gedankens der Befreiung der Arbeit vom Kapital.

Ebensowenig wie die englischen christlichen Sozialisten verband Schulze-Delitzsch ursprünglich mit der Propaganda für die selbsthilflerischen Genossenschaften spezifische politische Parteizwecke, sondern folgte, gleich jenen, nur einer mit seinem Klasseninstinkt verträglichen Philanthropie. Zur Zeit, als er sich der Bewegung zuwandte, war die politische Partei, zu der er gehörte, die Linke der preußischen Nationalversammlung, von der öffentlichen Bühne zurückgetreten. Nachdem sie sich von der Krone und deren geliebten Krautjunkern nach allen Regeln der Kunst hatte hineinlegen lassen, hatte sie, als die preußische Regierung das Dreiklassenwahlsystem oktroyierte, bis auf weiteres das Feld geräumt. Sie ballte die Faust in der Tasche und ließ die Reaktion sich selbst abwirtschaften.

Kleinbürger vom Scheitel bis zur Sohle, aber Kleinbürger mit liberalen Anschauungen, dabei in seiner Art wohlmeinend, hatte Schulze-Delitzsch, als er von der Reaktion gemaßregelt worden war, eine Idee aufgegriffen, die damals allgemein in der Luft lag. „Assoziation” hatte der Ruf der Sozialisten in den dreißiger und vierziger Jahren gelautet, Assoziationen hatten Arbeiter im Revolutionsjahr gegründet, Assoziation dozierte der konservative Schriftsteller V. A. Huber, warum sollte der liberale Kreisrichter Schulze nicht auch für „Assoziationen” sich erwärmen?

Da wir auf die Assoziationsfrage an anderer Stelle einzugehen haben werden, so seien hier nur aus einer 1858 veröffentlichten Schrift Schulze-Delitzschs einige Sätze zitiert über die Wirkungen, die er von den selbsthilflerischen Genossenschaften in bezug auf die Lage der Arbeiter erwartete:

„Und was die im Lohndienst verbleibenden Arbeiter anbelangt, so ist die Konkurrenz, welche die Assoziationsgeschäfte ihrer bisherigen Genossen den Unternehmern machen, auch für sie von den günstigsten Folgen. Denn muß nicht die solchergestalt vermehrte Nachfrage seitens der Unternehmer zum Vorteil der Arbeiter rücksichtlich der Lohnbedingungen ausschlagen? Sind nicht die Inhaber der großen Etablissements dadurch genötigt, ihren Arbeitern möglichst gute Bedingungen zu bieten, weil sie sonst riskieren, daß dieselben zu einer der bestehenden Assoziationen übertreten, oder gar selbst eine dergleichen gründen, wozu natürlich die geschicktesten und strebsamsten Arbeiter am ersten geneigt sein werden? — Gewiß, nur auf diese Weise, indem die Arbeiter selbst den Arbeitgebern Konkurrenz bieten, läßt sich ein dauernder Einfluß auf die Lohnerhöhung, auf eine günstigere Stellung der Arbeiter im ganzen ausüben, den man mittelst gesetzlicher Zwangsmittel, wie wir früher gesehen haben, oder durch die Appellation an die Humanität niemals allgemein und mit Sicherheit erreicht ...

„Ist nur erst eine Anzahl solcher Assoziationsetablissements von den Arbeitern errichtet und das bisherige Monopol der Großunternehmer hierbei durchbrochen, so kann es nicht ausbleiben, daß sich die enormen Gewinne derselben, welche sie früher ausschließlich zogen, vermindern, weil sie den Arbeitern ihr Teil davon zukommen lassen müssen. Während also der Reichtum von der einen Seite etwas bescheidenere Dimensionen annehmen wird, schwindet auf der andern Seite der Notstand mehr und mehr, und die Zustände beginnen sich dem Niveau eines allgemeinen Wohlstandes zu nähern. Damit ist sowohl dem Mammonismus wie dem Pauperismus eine Grenze gezogen, diesen unseligen Auswüchsen unserer Industrie, in denen wir zwei gleich feindliche Mächte wahrer Kultur erblicken ...

„Nur darauf kommen wir immer wieder zurück: daß ehe nicht die Arbeiter sich aus eigener Kraft und aus eigenem Triebe an dergleichen Unternehmungen wagen und tatsächlich die Möglichkeit dartun, daß sie es allenfalls auch allein, ohne Beteiligung der übrigen Klassen, durchzusetzen vermögen, man sich von seiten dieser wohl hüten wird, ihnen dabei entgegenzukommen, weil man viel zu sehr dabei interessiert ist, sie in der bisherigen Abhängigkeit zu erhalten. Erst wenn dieser Beweis bis zu einem durch die Konkurrenz fühlbaren Grade von ihnen geliefert ist, erst nachdem sie den Unternehmern einmal selbst als Unternehmer entgegengetreten sind, dürfen sie auf Beachtung ihrer Wünsche, auf das Entgegenkommen des Publikums, insbesondere der Kapitalisten rechnen, welche sie erst dann als Leute zu betrachten anfangen werden, welche im Verkehr auch mitzählen, während sie ihnen bis dahin für bloße Nullen galten, die beim Exempel selbständig für sich gar nicht in Ansatz kamen. Auf dem Gebiete des Erwerbs hat einmal das Eigeninteresse die unbestrittene Herrschaft, und Ansprüche und Strebungen, mögen sie noch so gerecht und billig sein, finden nur dann erst Geltung, wenn sie in sich selbst soweit erstarkt sind, daß sie in tatsächlichen, lebenskräftigen Gestaltungen sich unabweisbar hervordrängen.” ... (Vgl. Schulze-Delitzsch, Die arbeitenden Klassen und das Assoziationswesen in Deutschland. Leipzig 1858, S. 58, 61 und 63.)

Indes auf dem volkswirtschaftlichen Kongreß, der im Sommer 1862 tagte, mußte Schulze eingestehen, daß noch fast gar keine Produktivgenossenschaften und nur eine winzige Anzahl von Konsumvereinen beständen. Nur die aus Handwerksmeistern und kleinen Geschäftsleuten zusammengesetzten Kredit- und Vorschußvereine gediehen, neben ihnen, aber in geringerer Anzahl, die Rohstoffgenossenschaften.

Wir sind damit unserer Darstellung des Ganges der Ereignisse von 1848 bis zum Beginn der Lassalleschen Agitation etwas vorausgeeilt, und nehmen jetzt deren Faden wieder auf.

Bereits der Krimkrieg hatte der europäischen Reaktion einen empfindlichen Stoß versetzt, indem er die „Solidarität der Regierungen”, die eine ihrer Bedingungen war, arg ins Wanken brachte. Die Rivalität zwischen Preußen und Österreich trat in dem verschiedenen Verhalten des Wiener und Berliner Kabinetts zu Rußland von neuem zutage, während der Tod Nikolaus I. und die Lage, in der sich das Zarenreich am Ende des Krieges befand, die Reaktionsparteien in Europa ihres stärksten Hortes beraubte. Rußland hatte vorläufig so viel mit seinen inneren Angelegenheiten zu tun, daß es auf Jahre hinaus nicht in der Lage war, sich für die Sache der Ordnung in irgendeinem andern Lande des „Prinzips” halber zu interessieren, es kam für die innere Politik der Nachbarstaaten vor der Hand außer Betracht. Zunächst jedoch beschränkte sich die Rivalität zwischen Preußen und Österreich auf kleinliche Kabinettsintrigen, ihren Landeskindern gegenüber blieben beide Regierungen vorderhand noch „solidarisch”.

Einen zweiten Stoß gab der Reaktion die allgemeine Geschäftsstockung, die 1857 und 1858 sich einstellte. Wie die allgemeine Prosperität 1850 die wankenden Throne zum Stehen gebracht hatte, so brachte die Handelskrise von 1857, die alle ihre Vorgängerinnen an Ausdehnung und Intensität übertraf, die stehenden Throne wieder ins Wanken. Überall gärte es in den unter der Krisis leidenden Volkskreisen, überall schöpfte die Opposition aus dieser Unzufriedenheit der Massen neue Kraft, überall erhoben die „Mächte des Umsturzes” von neuem ihr Haupt. Am drohendsten in Frankreich, wo der Thron freilich am wenigsten fest stand. Noch einmal versuchte es Napoleon III. mit drakonischen Gewaltmaßregeln, zu denen das Attentat Orsinis ihm den Vorwand lieferte; aber als er merkte, daß er dadurch seine Position eher verschlimmerte als sie zu verbessern, griff er zu einem andern Mittel. Er versuchte durch einen populären auswärtigen Krieg sein Regiment im Innern wieder zu befestigen und sein Leben vor den Dolchen der Carbonari zu beschützen. Diese hatten das einstige Mitglied ihrer Verschwörung durch Orsini wissen lassen, daß, wenn er sein ihnen gegebenes Wort nicht einlöse, sich immer neue Rächer gegen ihn erheben würden. Der italienische Feldzug wurde also eingeleitet. Fast um dieselbe Zeit nimmt in Preußen mit der Regentschaft Wilhelms I. die „Neue Ära” ihren Anfang. Von dem vorderhand noch geheimgehaltenen Wunsch beherrscht, Österreichs Hegemonie in Deutschland zu brechen, sucht Wilhelm I., damals noch Prinzregent, das liberale Bürgertum zu gewinnen und ernennt ein diesem genehmes Ministerium. Anfangs ging auch alles gut. Gerührt, daß er so ganz ohne sein Zutun wieder Gelegenheit bekam, mit dreinzureden, überbot sich der bürgerliche Liberalismus in allen möglichen Loyalitätsbeteuerungen. Der „Nationalverein” wurde gegründet mit dem Programm: Deutschlands Einigung unter Preußens Spitze. Preußen wurde die ehrenvolle Rolle zuerteilt, die politischen und nationalen Aspirationen der liberalen Bourgeoisie zu verwirklichen. Ein neuer Völkerfrühling schien angebrochen und ein viel schönerer als der von 1848, denn er versprach die Rose ohne die Dornen. Bei einer revolutionären Erhebung ist man nie sicher, wo sie Halt macht und welche Elemente sie in ihrem Verlaufe entfesselt. Jetzt aber brauchte man nicht die unbekannte Masse aufzurufen, alles versprach sich hübsch parlamentarisch abzuspielen. Wenn es jedoch wider Erwarten zu jenem Äußersten kommen sollte — hatte nicht das Beispiel der Schulze-Delitzschen Spar- und Konsumvereine, der Vorschuß- und Rohstoffgenossenschaften die Arbeiter von ihren sozialistischen Utopien geheilt und ihnen den Beweis geliefert, welche große Dinge sie von der Selbsthilfe zu erwarten hätten, sie überzeugt, daß sie nichts, aber auch gar nichts als die liberalen „Freiheiten” brauchten?

Wer heute die sozialpolitische Literatur des deutschen Liberalismus jener Tage wieder nachliest, dem fällt nichts so sehr auf als die kolossale Naivetät, die darin in bezug auf alle Fragen vorherrscht, die über den engen Horizont des aufgeklärten Gewürzkrämers hinausgehen. Man war sehr gebildet, sehr belesen, man wußte sehr viel von altathenischer Verfassung und englischem Parlamentarismus zu erzählen, aber die Nutzanwendung, die man aus allem zog, war immer die, daß der aufgeklärte deutsche Gewürzkrämer oder Schlossermeister der Normalmensch sei, und daß, was diesem nicht in den Kram passe, wert sei, daß es zugrunde gehe. Mit dieser selbstgefälligen Naivetät trieb man es im preußischen Abgeordnetenhaus zum Verfassungskonflikt, noch ehe man sich fest in den Sattel gesetzt, und mit dieser Naivetät entfremdete man sich die Arbeiterklasse, lange bevor ein ernsthafter Interessengegensatz dazu Veranlassung gab. Man wußte erschrecklich viel Geschichte, aber man hatte „auch wirklich nichts” aus ihr gelernt.

Auf die Ursachen und den Gegenstand des preußischen Verfassungskonflikts braucht hier nicht eingegangen zu werden. Genug, er brach aus, und der Liberalismus sah sich plötzlich, er wußte selbst nicht wie, im heftigsten Krakeel mit eben der Regierung, die er die schöne Rolle der Wiederherstellung des Deutschen Reiches zugedacht, die Hegemonie in Deutschland zugesprochen hatte. Indes das war vorläufig nur Pech, aber kein Unglück. Die liberale Partei war mittlerweile so stark geworden, daß sie den Streit eine gute Weile aushalten konnte. Dank dem bornierten Trotz ihres Widersachers hatte sie fast das ganze Volk hinter sich. Die nationale Strömung hatte alle Klassen der Bevölkerung erfaßt; von der kleinen Vetterschaft der ostelbischen Feudalen und Betbrüder abgesehen, überließen sie namentlich der inzwischen konstituierten Fortschrittspartei die Ausfechtung des Kampfes mit der preußischen Regierung. Welche Fehler diese Partei auch beging, wie gemischt auch immer ihre Elemente, wie unzulänglich auch ihr Programm, in jenem Zeitpunkt vertrat sie, gegenüber der aufs neue ihr Haupt erhebenden Koalition von Junkertum und Polizeiabsolutismus, eine Sache, bei der ihr Sieg im Interesse aller nicht feudalen Gesellschaftselemente lag: das Budgetrecht der Volksvertretung.

Aber einer Partei zeitweilig eine politische Aufgabe zuerkennen, heißt noch nicht, sich ihr mit Haut und Haaren verschreiben, ihr gegenüber auf jede Selbständigkeit verzichten. Das fühlten auch die entwickelteren Elemente unter den deutschen Arbeitern. Ihnen konnte die Rolle der Statisten, die ihnen die liberalen Wortführer zumuteten, die Kost, die ihnen in den von diesen patronisierten Bildungs- usw. Vereinen dargeboten wurde, unmöglich auf die Dauer genügen. Noch waren die alten kommunistischen und revolutionären Traditionen nicht völlig ausgestorben, noch gab es gar manchen Arbeiter, der entweder selbst Mitglied irgendeiner der kommunistischen Verbindungen gewesen oder von Mitgliedern über deren Grundsätze aufgeklärt, von ihnen mit kommunistischen Schriften versehen worden war. Unter diesen, und durch sie angeregt, fing man an, in immer weiteren Kreisen der Arbeiter die Frage zu erörtern, ob es nicht an der Zeit sei, wenn nicht sofort eine eigne Arbeiterpartei mit einem eignen Arbeiterprogramm, so doch wenigstens einen Arbeiterverband zu schaffen, der etwas mehr sei als eine bloße Kreatur der liberalen Partei.

Hätten die Herren Fortschrittler und Nationalvereinler nur ein wenig aus der Geschichte anderer Länder gelernt gehabt, es wäre ihnen ein Leichtes gewesen, zu verhindern, daß diese Bewegung sich ihnen feindselig gegenüberstellte, solange sie selbst im Kampf mit der preußischen Regierung lagen. Aber sie waren viel zu viel von dem Gefühl durchdrungen, daß sie, da sie ja die Volkssache vertraten, das „Volk”, und als „Volk der Denker” über die Einseitigkeiten — nämlich die Klassenkämpfe — des Auslandes erhaben seien; und so begriffen sie denn auch nicht, daß es sich hier um eine Strömung handelte, die früher oder später eintreten mußte, und daß es nur darauf ankam, sich mit ihr auf eine verständige Weise auseinanderzusetzen. So verliebt waren sie in sich, daß sie gar nicht zu fassen vermochten, daß die Arbeiter noch nach mehr geizen konnten, als nach der Ehre, durch sie vertreten zu sein. Die Antwort auf das Gesuch, den Arbeitern die Eintrittsbedingungen in den Nationalverein zu erleichtern: „Die Arbeiter sollen sich als die geborenen Ehrenmitglieder des Vereins betrachten” — d. h. hübsch draußen bleiben — war in der Tat typisch für das Unvermögen der Parteigenossen des braven Schulze, etwas anderes zu begreifen, als den denkenden Spießbürger — ihr Ebenbild, ihren Gott.

So kam es unter anderem zu jenen Diskussionen in Leipziger Arbeiterversammlungen, deren Ergebnis die Bildung eines Komitees zur Einberufung eines Kongresses deutscher Arbeiter und in weiterer Folge die Anknüpfung von Verhandlungen mit Ferdinand Lassalle war.

Lassalles Jugend, der Hatzfeldt-Prozeß, die Assisenrede und der Franz von Sickingen.

Als das Leipziger Komitee sich an Lassalle wandte, stand dieser in seinem 37. Lebensjahre, in der Vollkraft seiner körperlichen und geistigen Entwicklung. Er hatte bereits ein bewegtes Leben hinter sich, sich politisch und wissenschaftlich — beides allerdings zunächst innerhalb bestimmter Kreise — einen Namen gemacht, er unterhielt Verbindungen mit hervorragenden Vertretern der Literatur und Kunst, verfügte über ansehnliche Geldmittel und einflußreiche Freunde — kurz, nach landläufigen Begriffen konnte ihm das Komitee, eine aus bisher völlig unbekannten Persönlichkeiten zusammengesetzte Vertretung einer im Embryozustand befindlichen Bewegung, nichts bieten, was er nicht schon hatte. Trotzdem ging er mit der größten Bereitwilligkeit auf dessen Wünsche ein und traf die einleitenden Schritte, der Bewegung diejenige Richtung zu geben, die seinen Ansichten und Zwecken am besten entsprach. Von anderen Rücksichten abgesehen, zog ihn gerade der Umstand besonders zu ihr hin, daß die Bewegung noch keine bestimmte Form angenommen hatte, daß sie sich ihm als eine ohne Schwierigkeit zu modelnde Masse darstellte. Ihr erst Form zu geben, sie zu einem Heerbann in seinem Sinne zu gestalten, das entsprach nicht nur seinen hochfliegenden Plänen, das war überhaupt eine Aufgabe, die seinen natürlichen Neigungen ungemein sympathisch sein mußte. Die Einladung traf ihn nicht nur bei seiner sozialistischen Überzeugung, sondern auch bei seinen Schwächen. Und so ging er denn mit großer Bereitwilligkeit auf sie ein.

Die vorliegende Arbeit beansprucht nicht, eine eigentliche Biographie Ferdinand Lassalles zu geben, die sehr ansehnliche Zahl der Lebensbeschreibungen des Gründers des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins noch um eine weitere zu vermehren. Der für sie zur Verfügung stehende Raum gebietet von vielem abzusehen, was zu einer Biographie gehörte. Was sie in erster Reihe will, ist vielmehr die Persönlichkeit und Bedeutung Ferdinand Lassalles zu schildern, insoweit seine politisch-literarische und agitatorische Tätigkeit in Betracht kommt. Nichtsdestoweniger ist ein Rückblick auf den Lebenslauf Lassalles unerläßlich, da er erst den Schlüssel zum Verständnis seines politischen Handelns liefert.

Schon seine Abstammung scheint auf die Entwicklung Lassalles eine große, man kann sogar sagen verhängnisvolle Wirkung ausgeübt zu haben. Wir sprechen hier nicht schlechthin von vererbten Eigenschaften oder Dispositionen, sondern von der bedeutungsvollen Tatsache, daß das Bewußtsein, von jüdischer Herkunft zu sein, Lassalle eingestandenermaßen noch in vorgeschrittenen Jahren peinlich war, und daß es ihm trotz seines eifrigen Bemühens oder vielleicht gerade wegen dieses Bemühens nie gelang, sich tatsächlich über seine Abstammung hinwegzusetzen, eine innerliche Befangenheit loszuwerden. Aber man darf nicht vergessen, daß Lassalles Wiege im östlichen Teil der preußischen Monarchie gestanden hatte — er wurde am 11. April 1825 in Breslau geboren —, wo bis zum Jahre 1848 die Juden nicht einmal formell völlig emanzipiert waren. Die Wohlhabenheit seiner Eltern ersparte Lassalle viele Widerwärtigkeiten, unter denen die ärmeren Juden damals zu leiden hatten, aber sie schützte ihn nicht vor den allerhand kleinen Kränkungen, denen die Angehörigen jeder für untergeordnet gehaltenen Rasse, auch wenn sie sich in guter Lebensstellung befinden, ausgesetzt sind, und die in einer so selbstbewußten Natur, wie Lassalle von Jugend auf war, zunächst einen trotzigen Fanatismus des Widerstandes erzeugen, der dann später oft in das Gegenteil umschlägt. Wie stark dieser Fanatismus bei dem jungen Lassalle war, geht aus seinem durch Paul Lindau zur Veröffentlichung gebrachten Tagebuch aus den Jahren 1840 und 1841 hervor. Am 1. Februar 1840 schreibt der noch nicht 15 Jahre alte Ferdinand in sein Tagebuch:

„... Ich sagte ihm dies, und in der Tat, ich glaube, ich bin einer der besten Juden, die es gibt, ohne auf das Zeremonialgesetz zu achten. Ich könnte, wie jener Jude in Bulwers ‚Leila’ mein Leben wagen, die Juden aus ihrer jetzigen drückenden Lage zu reißen. Ich würde selbst das Schafott nicht scheuen, könnte ich sie wieder zu einem geachteten Volke machen. O, wenn ich meinen kindischen Träumen nachhänge, so ist es immer meine Lieblingsidee, an der Spitze der Juden mit den Waffen in der Hand sie selbständig zu machen.” Die Mißhandlungen der Juden in Damaskus im Mai 1840 entlocken ihm den Ausruf: „Ein Volk, das dies erträgt, ist schrecklich, es räche oder dulde die Behandlung.” Und an den Satz eines Berichterstatters: „Die Juden dieser Stadt erdulden Grausamkeiten, wie sie nur von diesen Parias der Erde ohne furchtbare Reaktion ertragen werden können”, knüpft er die von Börne übernommene Betrachtung an: „Also sogar die Christen wundern sich über unser träges Blut, daß wir uns nicht erheben, nicht lieber auf dem Schlachtfeld, als auf der Tortur sterben wollen. Waren die Bedrückungen, um deren willen sich die Schweizer einst erhoben, größer?... Feiges Volk, du verdienst kein besseres Los.” Noch leidenschaftlicher äußert er sich einige Monate später (30. Juli): „Wieder die abgeschmackten Geschichten, daß die Juden Christenblut brauchten. Dieselbe Geschichte, wie in Damaskus, auch in Rhodos und Lemberg. Daß aber aus allen Winkeln der Erde man mit diesen Beschuldigungen hervortritt, scheint mir anzudeuten, daß die Zeit bald reif ist, in der wir in der Tat durch Christenblut uns helfen werden. Aide-toi et le ciel t'aidera. Die Würfel liegen, es kommt auf den Spieler an.”

Diese kindischen Ideen verfliegen, je mehr sich der Blick erweitert, aber die Wirkung, die solche Jugendeindrücke auf die geistigen Dispositionen ausüben, bleibt. Zunächst wurde der frühreife Lassalle durch den Stachel der „Torturen”, von denen er schreibt, um so mehr angetrieben, sich für seine Person um jeden Preis Anerkennung und Geltung zu verschaffen. Auf der anderen Seite wird der Rebell gegen die Unterdrückung der Juden durch die Christen bald politischer Revolutionär. Dabei macht er einmal, als er Schillers Fiesko gesehen, folgende, von merkwürdig scharfer Selbstkritik zeugende Bemerkung: „Ich weiß nicht, trotzdem ich jetzt revolutionär-demokratisch-republikanische Gesinnungen habe wie einer, so fühle ich doch, daß ich an der Stelle des Grafen Lavagna ebenso gehandelt und mich nicht damit begnügt hätte, Genuas erster Bürger zu sein, sondern nach dem Diadem meine Hand ausgestreckt hätte. Daraus ergibt sich, wenn ich die Sache bei Lichte betrachte, daß ich bloß Egoist bin. Wäre ich als Prinz oder Fürst geboren, ich würde mit Leib und Leben Aristokrat sein. So aber, da ich bloß ein schlichter Bürgerssohn bin, werde ich zu seiner Zeit Demokrat sein.”

Sein politischer Radikalismus ist es auch, der 1841 den sechzehnjährigen Lassalle veranlaßt, den vorübergehend gefaßten Entschluß, sich zum Kaufmannsberuf vorzubereiten, wieder aufzugeben und von seinem Vater die Erlaubnis zu erwirken, sich zum Universitätsstudium vorzubereiten. Die lange Zeit verbreitete Anschauung, als sei Lassalle von seinem Vater wider seinen Willen auf die Handelsschule nach Leipzig geschickt worden, ist durch das Tagebuch als durchaus falsch erwiesen, Lassalle hat selbst seine Übersiedelung vom Gymnasium auf die Handelsschule betrieben. Freilich nicht aus vorübergehender Vorliebe für den Kaufmannsberuf, sondern um den Folgen einer Reihe von leichtsinnigen Streichen zu entgehen, die er zu dem Zweck begangen hatte, seinem Vater nicht die tadelnden Zensuren zeigen zu müssen, welche er — nach seiner Ansicht unverdient — zu erhalten pflegte. Als es ihm aber auf der Leipziger Handelsschule nicht besser erging als auf dem Breslauer Gymnasium, als er auch dort mit den meisten der Lehrer, und vor allem mit dem Direktor in Konflikte geriet, die sich immer mehr zuspitzten, je radikaler Lassalles Ansichten wurden, da war's auch sofort mit der Kaufmannsidee bei ihm vorbei. Im Mai 1840 hat er die Handelsschule bezogen, und schon am 3. August „hofft” er, daß der „Zufall” ihn eines Tages aus dem Kontor herausreißen und auf einen Schauplatz werfen werde, auf dem er öffentlich wirken könne. „Ich traue auf den Zufall und auf meinen festen Willen, mich mehr mit den Musen als den Haupt- und Strazzabüchern, mich mehr mit Hellas und dem Orient, als mit Indigo und Runkelrüben, mehr mit Thalien und ihren Priestern, als mit Krämern und ihren Kommis zu beschäftigen, mich mehr um die Freiheit, als um die Warenpreise zu bekümmern, heftiger die Hunde von Aristokraten, die dem Menschen sein erstes, höchstes Gut wegnehmen, als die Konkurrenten, die den Preis verschlechtern, zu verwünschen.” „Aber beim Verwünschen soll's nicht bleiben,” setzt er noch hinzu. Zu dem Radikalismus kommt der immer stärkere Drang, den Juden in sich abzuschütteln, und dieser Drang ist schließlich so energisch, daß, als Lassalle im Mai 1841 dem Vater seinen „unwiderruflichen” Entschluß mitteilt, doch zu studieren, er zugleich ablehnt, Medizin oder Jura zu studieren, weil „der Arzt wie der Advokat Kaufleute sind, die mit ihrem Wissen Handel treiben”. Er aber wolle studieren „des Wirkens wegen”. Mit dem letzteren war der Vater zwar nicht einverstanden, er willigte aber ein, daß Lassalle sich zum Studium vorbereite.

Nun arbeitete Lassalle mit Rieseneifer, und war im Jahre 1842 schon so weit, sein Maturitätsexamen abzulegen. Er studiert zuerst Philologie, geht aber dann zur Philosophie über und entwirft den Plan zu einer größeren philologisch-philosophischen Arbeit über den Philosophen Herakleitos von Ephesus. Daß er sich gerade diesen Denker zum Gegenstand der Untersuchung auswählte, von dem selbst die größten Philosophen Griechenlands bekannt hatten, daß sie nie sicher seien, ob sie ihn ganz richtig verstanden, und der deshalb den Beinamen „der Dunkle” erhielt, ist wiederum in hohem Grade bezeichnend für Lassalle. Mehr noch als die Lehre Heraklits, den Hegel selbst als seinen Vorläufer anerkannt hatte, reizte ihn das Bewußtsein, daß hier nur durch glänzende Leistungen Lorbeeren zu erlangen waren. Neben dem schon erwähnten Trieb, jedermann durch außergewöhnliche Leistungen zu verblüffen, hatte Lassalle zugleich das Bewußtsein, jede Aufgabe, die er sich stellte, auch lösen zu können. Dieses grenzenlose Selbstvertrauen war das Fatum seines Lebens. Es hat ihn in der Tat Dinge unternehmen und zu Ende führen lassen, vor denen tausend andere zurückgeschreckt wären, selbst wenn sie über die intellektuellen Fähigkeiten Lassalles verfügt hätten, es ist aber auf der andern Seite zum Anlaß verhängnisvoller Fehlgriffe und schließlich zur Ursache seines jähen Endes geworden.

Nach vollendetem Studium ging Lassalle 1845 an den Rhein und später nach Paris, teils um dort in den Bibliotheken zu arbeiten, teils um die Weltstadt, das Zentrum des geistigen Lebens der Epoche, kennenzulernen. In Paris gingen damals die Wogen der sozialistischen Bewegung sehr hoch, und so zog es auch Lassalle dorthin, der 1843 schon sein sozialistisches Damaskus gefunden hatte. Ob und inwieweit Lassalle mit den in Paris lebenden deutschen Sozialisten bekannt wurde — Karl Marx war, nachdem die „Deutsch-französischen Jahrbücher” eingegangen und der „Vorwärts” sistiert worden war, im Januar 1845 aus Paris ausgewiesen worden und nach Brüssel übersiedelt —, darüber fehlen zuverlässige Angaben. Wir wissen nur, daß er viel mit Heinrich Heine verkehrte, an den er empfohlen war, und dem er in mißlichen Geldangelegenheiten (einem Erbschaftsstreit) große Dienste leistete. Die Briefe, in denen der kranke Dichter dem zwanzigjährigen Lassalle seine Dankbarkeit und Bewunderung aussprach, sind bekannt. Sie lassen unter anderem erkennen, welch starken Eindruck Lassalles Selbstbewußtsein auf Heine gemacht hat.

Nach Deutschland zurückgekehrt, machte Lassalle im Jahre 1846 die Bekanntschaft der Gräfin Sophie von Hatzfeldt, die sich seit Jahren vergeblich bemühte, von ihrem Manne, einem der einflußreichsten Aristokraten, der sie allen Arten von Demütigungen und Kränkungen ausgesetzt hatte, gesetzliche Scheidung und Herausgabe ihres Vermögens zu erlangen. Man hat über die Motive, welche Lassalle veranlaßten, die Führung der Sache der Gräfin zu übernehmen, vielerlei Vermutungen aufgestellt. Man hat sie auf ein Liebesverhältnis mit der zwar nicht mehr jugendlichen, aber noch immer schönen Frau zurückführen wollen, während Lassalle selbst sich im Kassettenprozeß mit großer Leidenschaftlichkeit dagegen verwahrt hat, durch irgendeinen anderen Beweggrund dazu veranlaßt worden zu sein, als den des Mitleids mit einer verfolgten, von allen helfenden Freunden verlassenen Frau, dem Opfer ihres Standes, dem Gegenstand der brutalen Verfolgungen eines übermütigen Aristokraten. Es liegt absolut kein Grund vor, dieser Lassalleschen Beteuerung nicht zu glauben. Ob nicht Lassalle in den folgenden Jahren vorübergehend in ein intimeres Verhältnis als das der Freundschaft zur Gräfin getreten ist, mag dahingestellt bleiben; es ist aber schon aus psychologischen Gründen unwahrscheinlich, daß ein solches Verhältnis gleich am Anfang ihrer Bekanntschaft, als Lassalle den Prozeß übernahm, bestanden habe. Viel wahrscheinlicher ist es, daß neben der vielleicht etwas romantisch übertriebenen, aber doch durchaus anerkennenswerten Parteinahme für eine verfolgte Frau und dem Haß gegen den hochgestellten Adligen gerade das Bewußtsein, daß es sich hier um eine Sache handelte, die nur mit Anwendung außergewöhnlicher Mittel und Kraftentfaltung zu gewinnen war, einen großen Reiz auf Lassalle ausgeübt hat. Was andere abgeschreckt hätte, zog ihn unbedingt an.

Er hat in dem Streit gesiegt, er hat den Triumph gehabt, daß der hochmütige Aristokrat vor ihm, dem „dummen Judenjungen” kapitulieren mußte. Aber er ist gleichfalls nicht unverletzt aus dem Kampf hervorgegangen. Um ihn zu gewinnen, hatte er freilich außergewöhnliche Mittel aufwenden müssen, aber es waren nicht, oder richtiger, nicht