Gefährliche Stimmen - Manfred Brüning - E-Book

Gefährliche Stimmen E-Book

Manfred Brüning

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Beschreibung

Zwei Jahre ist es her, dass Mike Holner zum Mörder wurde. Das Team vom Ersten Kriminalhauptkommissar Konnert konnte ihm drei Morde nachweisen. Die Opfer schienen jedoch willkürlich ausgewählt worden zu sein. Ein Motiv war nicht zu erkennen. Der Angeklagte behauptete, er habe Stimmen gehört, denen er gehorchen musste. Deshalb wurde er nicht zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, sondern im Maßregelvollzug untergebracht. Doch dort konnte er nun entkommen. Konnerts Team ist in höchster Alarmbereitschaft.

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Inhalte

Titelangaben

Prolog

21. August

22. August

23. August

24. August

25. August

26. August

27. August

28. August

29. August

30. August

31. August

1. September

2. September

3. September

4. September

5. September

Epilog

Danksagung

Info

Manfred Brüning
Gefährliche Stimmen
Oldenburg-Krimi
Prolibris Verlag
Handlung und Figuren dieses Romans entspringen der Phantasie des Autors. Darum sind eventuelle Übereinstimmungen mit lebenden oder verstorbenen Personen zufällig und nicht beabsichtigt. Nicht erfunden sind Institutionen, Straßen und Schauplätze in Oldenburg und Umgebung, die in diesem Roman vorkommen.
Für Nikolaus und Josef
Alle Rechte vorbehalten,
auch die des auszugsweisen Nachdrucks
und der fotomechanischen Wiedergabe
sowie der Einspeicherung und Verarbeitung
in elektronischen Systemen.
© Prolibris Verlag Rolf Wagner, Kassel, 2022
Tel.: 0561/766 449 0, Fax: 0561/766 449 29
Titelbild: ©AdobeStock, Rickirennes
Schriften: Linux Libertine
E-Book: Prolibris Verlag
ISBN E-Book: 978-3-95475-251-5
Dieses Buch ist auch als Printausgabe im Buchhandel erhältlich,
die im September 2022 im Prolibris Verlag erschienen ist:
ISBN: 978-3-95475-225-6
www.prolibris-verlag.de
Der Autor
Manfred Brüning wurde 1944 in Bad Salzuflen geboren. Der gelernte Schlosser wurde später Diakon, arbeitete siebenundzwanzig Jahre als Pastor einer Evangelisch-reformierten Kirchengemeinde in Ostfriesland und erlebt jetzt seinen Ruhestand im Ammerland. Er ist verheiratet und Vater von vier erwachsenen Kindern. Nachdem er mehr als eintausend Predigten geschrieben hat, legte er mit „Gnadenlose Engel“ den Grundstein für die Krimireihe mit dem Protagonisten Adi Konnert, der nach "Teuflische Stiche" und "Tödliche Mauern" nun in "Gefährliche Stimmen" seinen vierten Fall löst.
Nicht die Gesunden brauchen einen Arzt,
sondern die Kranken.
Matthäus 9,12
Prolog
»Der Sinn deines Lebens ist es, alles zu tun, was ER dir befiehlt.« Diesen Satz wiederholte Mike Holner Tag für Tag, gleich nach dem Aufstehen.
Wie an jedem Tag begann er die Morgentoilette mit einer sorgfältigen Nassrasur und duschte anschließend eiskalt. Mit feuchten Haaren stand er jetzt in seiner Nasszelle. Er redete mit seinem Spiegelbild. »Drei Menschen hast du das Genick gebrochen, beim vierten ist dir ein Fehler unterlaufen. Deshalb, und nur deshalb, konnte dich der Polizist festnehmen. Lebenslänglich hast du bekommen. Weil sie behaupten, du bist nicht richtig im Kopf, sitzt du nicht im Knast, sondern hier in Wehnen im Siegmund-Freud-Haus, dem Maßregelvollzug.«
Über sein Gesicht huschte ein schiefes Lächeln. »Dir geht es hier gut, in der forensischen Psychiatrie, weil dein Papa für alles sorgt. Vergiss das nicht.«
Er wandte sich um, trat näher an die offen stehende Tür und betrachtete sein Zimmer. Es hatte einen cremefarbenen Anstrich. Die Möbel waren aus Buchenholz. Das Bett baute er morgens so um, dass er es tagsüber als Sofa benutzen konnte. Radio und Fernseher benötigte er höchstens mal für Nachrichtensendungen. Wichtiger war ihm die Doppelreihe Bücher auf den zwei Regalbrettern an der gegenüberliegenden Wand. Beide Stühle hatte er unter den Tisch geschoben. Man hatte ihn zur Ordnung erzogen.
Er blickte zum Fenster. Es hatte eine schusssichere Verglasung, aber kein Gitter. Er war ja in einer Klinik, nicht im Gefängnis. Öffnen ließ es sich nur auf Kipp. In diesen windlosen, heißen Augusttagen stand die Luft stickig im Raum.
Ein Schlüssel wurde von außen ins Schloss der Tür gesteckt und umgedreht. Axel Reil trat ein. An seinem Kittel prangte ein Schild mit seinem Namen und seiner Berufsbezeichnung Gesundheitspfleger. »Herr Holner, Ihre Mutter wartet unten im Besuchszimmer. Wollen Sie mit ihr sprechen?«
»Schon wieder?«
»Es ist Ihre Mutter, Herr Holner.«
Sie ist mir so fremd. Ich kann mit ihr nichts anfangen, dachte Holner.
»Ziehen Sie sich an und kommen Sie mit.«
Zehn Minuten später saß er seiner Mutter gegenüber und schwieg.
»Mike, mein Junge, wie geht es dir?«
»Gut.«
»Nimmst du auch regelmäßig deine Medikamente?«
»Ja, mache ich.«
Mit einem Seitenblick zum Gesundheitspfleger fragte sie: »Du hörst keine Stimmen mehr?«
»Nur noch selten.« Holner fixierte den Nagel, an dem ein Kalender hing.
»Mike, ich habe Herrn Michaelis frisches Obst für dich gegeben. Und deine Lieblingskekse.«
»Ich bekomme hier alles, was ich brauche. Du musst mir nichts mitbringen. Für größere Wünsche sorgt Papa.«
Anja Holner wollte ihre Hände auf die ihres Sohns legen, aber er zog sie zurück und schob sie unter den Tisch. »Was kann ich denn für dich tun?«
»Nichts.«
»Es ist schwer für mich, zu ertragen, dass du hier sein musst.«
»Wäre es dir lieber, ich würde im Gefängnis sitzen? Meine Anwälte haben alles gegeben, damit ich nicht in den Knast komme. Das hat Papa ein Vermögen gekostet.«
»Ich weiß.«
Mike Holner drehte unter dem Tisch Däumchen.
»Ich würde dir so gern helfen. Du bist doch mein Junge, mein Ein und Alles. «
Holner schwieg. Er erinnerte sich an die Jahre vor seiner Einschulung in einer verdreckten Wohnung. Die Frau, die jetzt adrett angezogen und frisch frisiert vor ihm saß, hatte nach Alkohol gerochen und tagsüber auf dem Sofa geschnarcht oder sie hatte ihn eingeschlossen, wenn sie sich abends auf den Weg in die Oldenburger Kneipenszene gemacht hatte. Manchmal war er frühmorgens von ihrem Kichern aufgewacht. Oft hatte am Frühstückstisch ein Fremder gesessen, Kaffee getrunken und gequalmt.
»Tja«, seufzte Anja Holner und tupfte sich mit einem Papiertaschentuch Tränen aus den Augen, »dann gehe ich mal wieder.«
»Danke, dass du hier warst.« Er wusste, was sich gehörte.
21. August
In der Bar vom Hotel Azimut in Köln beobachtete am frühen Dienstagnachmittag ein Gast von seinem Fensterplatz aus ungeniert die Barfrau. Er wusste, dass sie extra mit einer Kollegin getauscht hatte, um genau an diesem Nachmittag Dienst zu haben. Sylvia Bonte rückte Gläser zurecht, deren Position sie schon vor fünf Minuten zum x-ten Mal korrigiert hatte. Sie lächelte still.
Der Gast hieß Dakhil bin Khalifa bin Hamad Al-Thai. So stand es wenigsten in dem iranischen Pass, den er um 14:36 Uhr auf dem Flughafen Köln/Bonn vorgezeigt hatte. Er war mit der Maschine aus Oslo gekommen. Sein Kabinentrolley war unauffällig an einem Extraschalter kontrolliert worden.
Mit der linken Hand strich Dakhil bin Khalifa über seinen mit grauen Strähnen durchzogenen Vollbart. Sein Businessanzug war maßgeschneidert. Die Schuhe hatten den klassischen Schnitt handgefertigter italienischer Schuhe. Vor ihm lag ein iPad. Daneben stand ein Whiskeyglas. Sylvia Bonte hatte nachgefragt, als er auf Englisch Writers Tears bestellt hatte. Genau auf dieser Sorte hatte er bestanden. Daran sollte sie den Mann erkennen, für den man einen Koffer an ihre Privatadresse zugestellt hatte. Oben, im Hotelzimmer, hatte sie ihn unbemerkt von anderen Mitarbeitern abgestellt und drei Flaschen derselben Whiskeymarke in die Minibar gelegt. So lautete die telefonische Anweisung, die sie vor zwei Wochen erhalten hatte. Fünfhundert Euro waren vier Tage später auf ihrem Girokonto gutgeschrieben worden.
Dakhil bin Khalifa hatte kurz aufgeblickt, als wenige Minuten nach ihm eine Blondine durch die Tür getreten war. Sie trug ein dunkelblaues Kostüm, das sie wohl bei H&M gekauft hatte, und die Ballerinas gehörten zur selben Preisklasse. Ein spöttisches Lächeln war über sein Gesicht gehuscht. Von ihr würde keine Gefahr ausgehen. Die Frau hatte Kaffee bestellt, sich mit Blick zur Tür an das Thekenende gesetzt und in einem Magazin zu blättern begonnen. Wenn sie sich auf ihrem lederbezogenen Barhocker nach vorn beugte, zeichnete sich am Rücken unter ihrer Jacke ein Gegenstand ab, der unschwer als Pistole zu erkennen war.
Gedämpfte Musik kam aus verdeckt angebrachten Lautsprechern. Sylvia Bonte polierte mechanisch die Arbeitsplatte. Ihr Blick schweifte durch die Bar. Zur Frau bekam sie keinen Blickkontakt. Dakhil bin Khalifa aber sah sie an. Sie machte ein fragendes Gesicht. Er nickte und hob sein Glas. Wenige Augenblicke später servierte sie ihm einen weiteren Whiskey.
Ein übergewichtiger Mann betrat die Bar, zog die Jeans über den Bauchansatz hoch, sah kurz durch den Raum und wuchtete sich auf einen der Barhocker. Er bestellte ein Pils und beobachtete Sylvia Bonte, wie sie sein Bier zapfte. Bis es vor ihm stand, schürzte er abwechselnd die Lippen und presste sie zusammen. Er ließ einige Minuten verstreichen, bevor er einen Schluck trank. Den minimalen Schaumbart wischte er mit dem Handrücken von der Oberlippe.
Dakhil bin Khalifa faltete einen Fünfzigdollarschein, schob ihn unter das leere Whiskyglas, griff sein iPad und verließ die Bar. Der Mann schaute erst hinter ihm her und nickte dann der Frau am Ende der Theke zu. Sie erhoben sich gleichzeitig und zahlten wie Dakhil mit einem Schein, den sie ebenfalls mit ihrem Glas beschwerten. Sie trafen sich an der Tür, die er für sie aufhielt. Von Dakhil bin Khalifa war im Foyer nichts mehr zu sehen.
»Er hat nur für eine Nacht eingecheckt«, sagte Inga Timpe zu ihrem Kollegen Bennradt vom Bundeskriminalamt.
***
Dreihundert Kilometer nordöstlich und drei Stunden später passierte Nadim Bel Kahla die Personenkontrolle am Flughafen Hannover. Er kam aus Prag und legte einen tunesischen Pass vor. Es gab keine Beanstandungen.
Im Taxi wünschte er der Fahrerin einen angenehmen Tag. Er bat darum, zum koscheren Restaurant Carmel Wintergarten gefahren zu werden. Ohne den Gruß zu erwidern oder ihm beim Einladen seines Gepäcks geholfen zu haben, fädelte die Frau hinter dem Steuer den Mercedes in den fließenden Verkehr ein. Nadim Bel Kahla zog die Schultern zusammen, als würde er frieren. Er spürte die eiskalte, ablehnende Atmosphäre, die von der Taxifahrerin ausging. Auf der dreißigminütigen Fahrt in die Berliner Allee sprach sie kein einziges Wort mit ihrem Fahrgast. Sie zeigte am Ende nur stumm auf den Taxameter.
Aus einem Bündel Geldscheine zog Nadim Bel Kahla vierzig US-Dollar heraus. Er hielt die Scheine ins Licht, als prüfe er die Echtheit. Dann ließ er sie mit einer abfälligen Bewegung in den Fußraum flattern und stieg aus.
Im Restaurant bestellte er Hähnchen in Honig und Sherryweinsoße. Beim Essen hatte er es nicht eilig. Oberflächlich betrachtete er die Gemälde an den Wänden, um gleichzeitig unauffällig das Verhalten der übrigen Gäste zu beobachten. Der Kellner servierte zum Nachtisch Haroset und wechselte ein paar Worte auf Hebräisch mit ihm. Bevor er zahlte und mit einem ausgesprochen großzügigen Trinkgeld aufrundete, bekam er eine Reisetasche ausgehändigt. Er hob sie an und schätzte das Gewicht auf rund zehn Kilogramm. Er nickte zustimmend. Mit einem Handschlag verabschiedete er sich und schlenderte die Allee hinunter bis zum Schiffgraben. Im Grand Palace bezog er für eine Nacht ein Einzelzimmer.
***
In Oldenburg räumte Kriminalhauptkommissar Adi Konnert in der Polizeiinspektion am Friedhofsweg seinen Schreibtisch auf. Ein verhältnismäßig entspannter Tag lag hinter ihm. Er empfand den Umstand als positiv, dass Mordermittlungen mit Tag- und Nachtschichten in seinem Kommissariat nicht die Regel waren. Aber irgendwann würde wieder ein Mensch einen anderen töten. Dann könnte er sich nicht um fünf Uhr nachmittags in den Feierabend verabschieden.
Sein Stellvertreter, Kriminaloberkommissar Bernd Venske, hatte sich schon vor einer Stunde in den Feierabend verabschiedet. Mit ihm waren die meisten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ebenfalls gegangen. An einem Schreibtischkarree, links neben der doppelflügeligen Eingangstür des Großraumbüros, saß nur noch Barbara Deepe mit ihrem Team zusammen. Die Kriminaloberkommissarin ging mit ihren Leuten neue Fälle durch, bei denen von Autobahnbrücken auf Pkws und Lkws geschossen worden war.
Konnert sah hinüber zur Kommissarin. Bis vor einem halben Jahr kannten alle im Haus sie nur als Babsi. Von einem Tag auf den anderen hatte sie damit begonnen, jedem, der sie so ansprach, zu sagen: »Ich heiße Barbara Deepe und möchte mit Frau Deepe oder mit Barbara angesprochen werden.« Das hielt sie zwei Wochen konsequent durch. Nannte sie danach wieder jemand Babsi, ignorierte sie die Anrede. Stupste sie dann einer an und sagte: »Ich hab dich was gefragt«, antwortete sie seelenruhig: »Ich dachte, du meintest eine Babsi. Ich heiße Barbara.« Sie hatte sich durchgesetzt. Inzwischen hatten alle Kollegen auch die süffisante Betonung weggelassen, mit der sie ihren Vornamen anfangs ausgesprochen hatten. Sie ist erwachsen geworden, dachte Konnert, sie macht sich nicht schlecht, die Frau Kriminaloberkommissarin.
Er zog die oberste linke Schublade am Schreibtisch auf. Einen Moment lang kniff er die Lippen zusammen. Im Mai hatten da noch fein säuberlich sortiert unterschiedliche Pfeifen, Tabak und ein Feuerzeug gelegen. Aber seit zwei Monaten hielt er sich an das Rauchverbot in öffentlichen Gebäuden. Er hatte nie mit dem Tabakqualm Nichtraucher gefährden wollen. In dem von den übrigen Arbeitsplätzen abgetrennten Büro schadete er ja nur sich selbst, hatte er gedacht. »Auch ich habe mich verändert«, flüsterte er. Manchmal ärgerte er sich doch über die staatlichen Eingriffe in die Eigenverantwortlichkeiten seiner Bürger. Dann hatte er Lust, solche Gesetze und Verordnungen zu übertreten. Bisweilen tat er das ja auch. Er freute sich auf das Feierabendpfeifchen zu Hause auf der Terrasse.
Mit der Aktentasche unter den Arm geklemmt, verließ er den Glaskasten, wie er sein Büro wegen der verglasten Seiten nannte. Am Buchentisch in der Mitte des Raums, um den herum sich die Mitarbeiter zu Besprechungen versammelten, rückte Konnert im Vorbeigehen einen Stuhl zurecht. Rechts neben dem Ausgang verharrte er für einen stillen Moment vor einem Schreibtisch. Mit zusammengepressten Lippen schaute er auf die leere Arbeitsplatte. Kriminalkommissar Kilian Kirchner hatte sich krankgemeldet. Wieder einmal. Wegen einer lebensgefährlichen Schussverletzung litt er an einer posttraumatischen Belastungsstörung. Er war der erste Kollege, der in Konnerts langer Dienstzeit so schwer verwundet worden war. Er fühlte sich mitschuldig, weil er unbewaffnet nicht in die Schießerei hatte eingreifen können. Kilian hatte nach wiederholten Therapien darauf bestanden, zurück ins Kommissariat zu kommen. Aber immer aufs Neue litt er an den Beschwerden der psychischen Erkrankung. Dann blieb sein Schreibtisch unbenutzt.
Konnert quetschte die Aktentasche fester unter den Arm und ging hinüber zur Besprechungsgruppe. »Tschüss«, sagte er. Seine Stimme klang heiser. »Bis morgen.«
»Die nächsten 14 Tage bin ich nicht im Dienst. Schreib doch mal auf, wenn ich bei dir Urlaub beantrage und du ihn genehmigst.« Barbara Deepes Stirn legte sich in Ärgerfalten.
Sachlich ist sie geworden, stellte Konnert fest. Hat sie mich früher ermahnt, mir Termine zu merken oder mir Namen und Telefonnummern wenigstens aufzuschreiben, waren ihre Worte von einem Lächeln begleitet. Jetzt klangen sie genervt und bisweilen sogar vorwurfsvoll. Sie hat sich eine harte Schale zugelegt, dachte er und vermutete, dass sie innerlich verbittert war. Konnert überlegte, ob er erneut einen Versuch unternehmen sollte, ihr ein Gespräch anzubieten.
***
Dakhil bin Khalifa fand auf seinem Zimmer ein Whiskeyglas aus Bleikristall auf dem runden Tisch der Sitzgruppe und seinen Samsonite Cosmolite Koffer. Man sah ihm an, dass er zufrieden war. Dem Kühlschrank entnahm er eine der bestellten Whiskeyflaschen und schenkte sich großzügig ein. Mit dem Glas in der Hand stellte er sich ans Fenster und prostete dem übergewichtigen Beamten zu, der in einem Opel Insignia auf der anderen Straßenseite saß. »Ich wünsche dir ein paar schlaflose Stunden und morgen einen kräftigen Anschiss von deinem Chef«, flüsterte er in akzentfreiem Deutsch. Er trank bedächtig mit kleinen Schlucken und dachte an den Auftrag, der ihn nach Deutschland geführt hatte. Es hatte Zeit und Mühe gekostet, einen Mitarbeiter zu finden, der die Technik beherrschte, die für die bestellte Aktion zwingend war. Dank seiner Vernetzung mit Kollegen und anderen Spezialisten hatte er Nadim Bel Kahla gefunden. Die Sprengung würde gefahrlos und schnell zu erledigen sein.
Sein Handy meldete sich. Darauf hatte er gewartet.
»Und?«, fragte ihn eine Frauenstimme.
»Bin angekommen. Keine Probleme. Alles war vorbereitet, ich wurde erwartet. Ihr Auftrag wird wie abgesprochen erledigt.«
»Gut.«
Damit war das Gespräch beendet.
Er dachte daran, dass vor dem Hotel Florian Bennradt im Opel saß, neben ihm seine Kollegin Inga Timpe. Wahrscheinlich verfluchte er den Tag, an dem er sich bei der Polizei beworben hatte.
Mit einem Mal hatte es Dakhil bin Khalifa eilig. Vielleicht gelang es ihm ja, die Polizisten zu überraschen und abzuhängen. Den Inhalt seines Koffers könnte er auch später kontrollieren. Er legte die Whiskeyflaschen und das Glas zu den wenigen Sachen in seinen Kabinentrolley und verließ das Zimmer.
***
Beim Betreten seines Hauses fiel Konnert wie jedes Mal die Stille auf. Tochter Ruth und ihr Ehemann Sven waren Hals über Kopf ausgezogen. Nachdem sie in ihrer Oberwohnung als Geisel genommen worden waren, wollten sie nicht weiter mit einem Kriminalbeamten unter einem Dach leben. Sie erwarteten ein Kind, sagten sie, und das solle in ungefährlicher Umgebung aufwachsen. Sie nahmen ihren Kater und den Kläffer mit, den sie ihm geschenkt hatten. Er war von Anfang an mit dem Welpen überfordert gewesen. So hatte sich der Hund mehr bei ihnen aufgehalten als in seinen Räumen. Jetzt summte höchstens mal eine Fliege durch die Zimmer unterm Dach.
Vor der Treppe blieb Konnert stehen und schaute hinauf. Er vermutete, dass die beiden einen anderen Grund für ihren Auszug verschwiegen hatten. Ruth und Sven hatten ihn mit bedenkenschwerer Stimme gefragt, ob er wirklich das Verhältnis zu einer mehr als dreißig Jahre jüngeren Frau mit dunkler Hautfarbe aufleben lassen wolle. Als er das bejahte, standen sie auf und zischten ihm zu: »Du wirst ja wissen, was du tust, wenn du dich wieder mit Zahra verbindest. Sie könnte deine Tochter sein.« Und nun wohnten sie in einem Altbau an der Nadorsterstraße im dritten Stock. Und er war mit Zahra zusammen.
Auf dem Weg durch die Küche stellte er die Aktentasche auf einen Stuhl, öffnete die Tür zur Terrasse und ließ sich dort seufzend in einen Rattansessel fallen. Er stopfte sorgfältig eine Pfeife, zündete sie an und betrachtete seinen Rasen. In diesem Jahr hatte er ihn selbst vertikutiert. Mähen würde er ihn heute nicht mehr. Das Gras wuchs ja kaum bei der Trockenheit, die seit Wochen anhielt. Der Gesprächskreis in der Kirche hatte Sommerpause. Zahra war wie immer nach der Arbeit zu ihrer bettlägerigen Mutter in Bremen gefahren. Den Feierabend würde er allein verbringen. Er paffte Rauchwolken in die schwüle Abendluft. Die Haustür vom Nachbarhaus wurde zugeschlagen. Kurz darauf startete ein Auto mit durchdrehenden Reifen. Da hing mal wieder der Haussegen schief, vermutete er und erinnerte sich an die Auseinandersetzungen, die er mit seiner Frau in den letzten Monaten geführt hatte, bevor sie gestorben war. Am Samstag hatte er an ihrem Grab gestanden und die verwelkten Blumen in der Friedhofsvase betrachtet. Wahrscheinlich hatte sie sein Sohn Elias am Wochenende gebracht.
Selbst im Schatten der überdachten Terrasse war es unangenehm warm. Mit dem Hemdärmel wischte er sich Schweißperlen von der Stirn. In seinem Alter sollte man viel trinken. Gemächlich holte er eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank.
***
Das Hotel verließ Dakhil bin Khalifa um 23:47 Uhr mit einem Mietwagen durch die Tiefgarage. Er schaute hinüber zum Insignia: Der Polizist hinter dem Steuer schreckte auf und griff zum Zündschlüssel. Bevor der BKA-Beamte den Wagen gewendet hatte, war Dakhil bin Khalifa links in eine Seitenstraße abgebogen. Er fuhr langsam, bis er im Rückspiegel den Opel entdeckte. Dann gab er Vollgas, riss den Lenker herum und stand kurz in Gegenrichtung, bevor er beschleunigte und auf seine Bewacher zusteuerte. Bennradt würde sich nicht trauen, den Dienstwagen querzustellen. Damit lag er genau richtig. So konnte er an ihnen vorbeirasen. Am Ende der Straße schaltete er den Pannenblinker als letzten Gruß ein, rollte auf die Hauptstraße und trat das Gaspedal durch. Hinter ihm tauchte kein Blaulicht auf. In diesen Finten drückte sich seine Überlegenheit aus, die er sehr genoss. Er fühlte sich absolut sicher.
Mit jedem gefahrenen Kilometer veränderte sich seine Stimmung. War wirklich alles zur vollen Zufriedenheit abgelaufen? Er konnte und wollte mit der Überprüfung des Kofferinhalts nicht warten. In Köln-Niehl bog er von der A 1 ab und parkte den Passat im nahe gelegenen Industriegebiet in einem Wendehammer. Er stieg aus und schaute sich um. Weit und breit war niemand zu sehen. Mit Schwung wuchtete er den Samsonite aus dem Kofferraum und legte ihn auf das Verbundsteinpflaster. Am oberen Griff baumelte der Gepäcktag. Er ließ ihn hängen, hockte sich hin und gab den Code in das TSA-Zahlenschloss ein. Zwischen Kleidung und einigen Sachbüchern über Hochgeschwindigkeitszüge kamen fünf in genoppter schwarzer Spezialfolie verpackte Pakete zum Vorschein. Sanft streichelte er ihre Oberfläche. Das ist die Reserve, dachte er, für den Fall, dass die Sprengladungen an Nadim auf dem DHL-Versandweg entdeckt und eingezogen worden waren. Er verschloss den Koffer wieder und nahm im Stehen einen Schluck aus der Flasche Writers Tears. Er lächelte, war mit sich zufrieden. Sein nächster Halt würde das Trend Hotel in Oldenburg-Metjendorf sein. Das lag vier Kilometer vom Maßregelvollzug entfernt.
Neben einem Opel, mit eingeschaltetem Pannenblinker, auf dem Standstreifen, saß ein Pärchen in reflektierenden Westen auf der Leitplanke der A 1. Dakhil beachtete sie nicht weiter, als er an ihnen vorbeibrauste.
22. August
Gut ausgeschlafen bestellte Nadim Bel Kahla telefonisch einen Mietwagen der oberen Mittelklasse und bat darum, das Auto um 9 Uhr zum Grand Palace zu bringen. Er frühstückte bei bester Laune und bezahlte seine Rechnung in bar. Auf der A 27 testete er, was sich aus dem Audi A7 an Geschwindigkeit herauskitzeln ließ. Adrenalin beflügelte ihn. Er liebte es, in Deutschland das Tempo ausfahren zu dürfen, das der Wagen hergab. In das Navi hatte er eine Hoteladresse in Bad Zwischenahn eingegeben.
***
Am großen Tisch im Kommissariat FK1 der Polizeiinspektion versammelten sich die Ermittler und weitere Mitarbeiter zur Frühbesprechung. Wie es seine Art war, begrüßte Konnert jeden mit einer angedeuteten Verbeugung und einem Lächeln. Er hatte keine Eile. Geduldig wartete er, bis die letzten Randgespräche verstummten.
»Wer fängt an?«
Verena Herbarth hob ihren Kugelschreiber. »Ich vertrete Barbara.« Sie sah in die Runde, um Blickkontakt zu den Anwesenden herzustellen. »Versuchte Tötungen durch Schüsse von Autobahnbrücken. Wir sind der Meinung, dass es an der Zeit ist, eine Sonderkommission aufzustellen, die sich ausschließlich mit diesen Ereignissen beschäftigt.«
»Und du wirst ihre Leiterin«, warf Venske seinen Kommentar dazwischen.
»Der Sachstandsbericht steht im Intranet und liegt ausgedruckt bei Dir auf dem Schreibtisch.«
»Danke, liebe Verena, ich habe ihn gelesen. Klasse Arbeit.« Venske grüßte mit zwei Fingern an der Schläfe. Verena Herbarth zeigte ihm den Stinkefinger.
Eine Pause entstand.
Kriminaloberkommissarin Stephanie Rosenberg rückte ihre Brille zurecht und berichtete knapp von zwei Fällen häuslicher Gewalt. »Im zuletzt genannten Ehestreit habe ich einen Wohnungsverweis für den Ehemann über vier Tage ausgesprochen und beim Familiengericht weitere Schutzmaßnahmen beantragt. Fragen?« Es blieb still im Raum. »Um fünfzehn Uhr habe ich einen Gerichtstermin. Angeklagt ist Avram Drulovic, endlich ausgeliefert aus Rumänien, mutmaßlicher Vergewaltiger von Janina Geißendörfer. Ihr erinnert euch?«
Schlagartig waren die Ereignisse wieder in Konnerts Gedächtnis lebendig. Er dachte an die Ermordung von drei ehemaligen Fürsorgezöglingen und an die Festnahme des Chefs der Bremer Rumänenbande. Vor allem aber an Kilians schmerzverzerrtes Gesicht nach dem Schusswechsel. Er presste die Lippen zusammen. Alle anderen starrten ebenfalls für einen Augenblick aneinander vorbei.
Venske brach die Stille. »Leute, das bringt doch nichts. Das Leben geht weiter. Erledigen wir unseren Job.«
Niemand reagierte.
»Also. Ungeklärte Todesursache des Andreas Kirchhoff, 62 Jahre alt.« Venske klopfte mit dem Kugelschreiber auf die Tischplatte. »Tot aufgefunden wurde er in einem wasserführenden Graben. Wahrscheinlich ist er ertrunken. Am Auffindungsort war das Gras der Böschung heruntergetreten. Möglicherweise von Schaulustigen, bevor Streifenpolizisten eintrafen, oder der Tote ist nicht allein unterwegs gewesen, als er sich in dem Graben übergeben hat. Auffällig ist noch, dass das Portemonnaie ohne Geld und sein Personalausweis in seiner Hemdtasche steckten. An den Armen waren Hautunterblutungen zu erkennen.«
Niemand stellte eine Frage. Venske redete weiter: »Die Befragung von Kollegen und Bekannten hat ergeben, dass der Tote wohl periodisch Depressionen hatte. Dann trank er zu Hause. Wenn er sich obenauf fühlte, schmiss er Lokalrunden. Ich bin kein Psychologe. Trotzdem wage ich die Diagnose manisch-depressive Psychose. Gestern soll er volltrunken seine Stammkneipe verlassen haben. Angeblich allein. Ich habe bei der Staatsanwaltschaft die Obduktion beantragt.«
Nachfragen oder Kommentare blieben aus. Solche Berichte waren tägliche Routine im FK1. Genau wie die weiteren Mitteilungen von Anzeigen betrogener Freier und die Bearbeitung einer von Streifenpolizisten geschlichteten und protokollierten Schlägerei.
Als niemand noch etwas mitzuteilen hatte, stand Konnert auf und sagte: »Danke! Und allen einen erfolgreichen Tag.«
Wenig später saß er hinter seinem Schreibtisch, starrte die Poster auf der gegenüberliegenden Glasscheibe an und wünschte sich, den Nachmittag mit Zahra in Bremen verbringen zu können.
***
Mit dem Bus fuhr Nadim Bel Kahla nach Oldenburg. Im Vapiano am Kasinoplatz trank er einen Nachmittagskaffee. Er pflegte diese Gewohnheit seit mehr als dreißig Jahren. Sie war der Garant für sein Glück und er hatte sich vorgenommen, diesen Ritus bis zu seinem Tod beizubehalten. Ab und zu schaute er auf sein Smartphone. Dann betrachtete er wieder seine Fingernägel. Sein Partner kontrollierte sicherheitshalber den Theaterwall oder beobachtete vom Pulverturm aus die gegenüberliegende Straßenseite. Nadim versuchte, ihn mit zusammengekniffenen Augen zwischen den Passanten zu entdecken.
»Ha!«
Nadim zuckte zusammen.
»Trottel!« Dakhil bin Khalifa lachte und setzte sich. »Niemand beschattet dich. Alles ist ruhig.«
Nadim antwortete auf Jiddisch.
»Rede deutsch!«, flüsterte Dakhil.
»Deutschland heißer als Wüste.«
»Siehst du, es geht doch. Nach drei Tagen plapperst du wie ein Einheimischer.«
Nadim lehnte sich zurück. »Drei Tagen ich am Strand von Eilat. Was anderes. Ist Equipment mitgekommen?«
»Lass mich erst etwas zu trinken holen.« Dakhil ging zur Theke und bestellte einen Writers Tears. Damit konnte das Vapiano nicht dienen. Er gab sich mit einem Jack Daniels zufrieden.
»Guck nicht so!«, sagte Dakhil. »Ich habe das im Griff. Mach dir keine Sorgen. Alles wird gut. Glaub mir.«
Doch Nadims Stirnfalten waren mit den Beteuerungen nicht wegzuwischen. Wer so viele Worte macht, glaubt sich selbst nicht, dachte er, fragte aber: »Du hast bekommen, was du brauchst?«
»Selbstverständlich.« Er trank einen Schluck »Hast du dein Zeug?«
»DHL transportiert zuverlässig. Liegt sicher in Hotel.«
»Dann um 23 Uhr. Heidelbeerweg.«
Dakhil bin Khalifa trank sein Glas aus, erhob sich, rückte den Stuhl an den Tisch, verließ grußlos das Vapiano und mischte sich unter die Passanten, die in die Innenstadt bummelten. Am Bahnhof nahm er sich ein Taxi und ließ sich nach Metjendorf zum Trend Hotel bringen.
Nadim holte Dakhils Passat vom Parkplatz, umrundete den Stadtkern und bog in Richtung Bad Zwischenahn ab. Das Auto parkte er an der Ofener Kirche und fuhr mit dem Bus weiter. Der erste Punkt ihres Plans konnte abgehakt werden.
***
Die Fenster waren geschlossen, um die Geräusche von der Straße zu dämpfen. Kilian Kirchner zog die Vorhänge zu. Im Dunkeln, meinte er, wäre der Kampf gegen die innere Unruhe leichter zu führen. Er ließ sich in seinen Massagesessel fallen und legte die Füße auf den Hocker. Der Ventilator quirlte ihm abgestandene Luft ins Gesicht. Auf dem Tischchen neben seinem Sessel wellte sich die Mettwurstscheibe auf dem angebissenen Brötchen vom Frühstück.
Ihn quälte immer noch der Traum der letzten Nacht. Deutlich hatte er gesehen, wie eine Kugel auf ihn zuflog. Er wollte dem Projektil ausweichen, war aber wie gelähmt. Der Schmerz in der Brust überflutete alle Sinne. Dazu kam die Angst, auf der Stelle zu sterben. Kurzatmig war er aufgewacht und hatte danach minutenlang stocksteif und schweißnass unter dem Bettlaken gelegen. Wieder einzuschlafen war nicht möglich. Die ihm vom Therapeuten verschriebenen Tabletten wirkten nicht. So war er durch die Wohnung geschlurft und hatte versucht, fernzusehen. Selbst das Drücken der Taste, um durch die Programme zu zappen, gab er nach wenigen Minuten auf. Immer wieder dachte er an seine Arbeit in der Polizeiinspektion. Zur Zeit des Sonnenaufgangs war es ihm endlich gelungen, den Wunsch niederzuringen, aus dem Polizeidienst auszuscheiden. Aber was war damit gewonnen? Der Kampf würde weitergehen.
Kilian schlappte ins Bad und drückte eine weitere Schlaftablette aus dem Blister. Schlafen, richtig tief schlafen und erholt am Morgen aufwachen. Danach sehnte er sich und schluckte die Pille. Es gelang ihm nicht, sich aufzuraffen, um zu duschen oder mit Adi Konnert zu telefonieren. Die Vorstellung, mit seinem Therapeuten zu sprechen, brachte ihn dazu, die Tablettenschachtel in Richtung Toilette zu werfen.
***
Nadim Bel Kahla hatte beim Militär Pünktlichkeit gelernt. Noch zwei Minuten bis 23 Uhr. Er ließ den Sekundenzeiger bewusst nur eine Runde drehen. Dann nahm er den Trolley mit seiner Kleidung und die Sporttasche. Bevor er den Raum verließ, inspizierte er jedes Detail. Dass er Spuren hinterließ, war ihm klar. Aber es sollten nicht mehr sein als die unvermeidlichen Hautschuppen oder kurzen Haare.
Durch den Kellereingang verschwand er aus dem Hotel.
Genau acht Minuten später zog er sich gewohnheitsmäßig Latexhandschuhe über und brach auf dem Parkplatz am Bahnhof Bad Zwischenahn einen Subaru Outback auf. Vollkommen fokussiert auf den abgesprochenen Plan verzog er dabei keine Miene. Seine Gefühle hatte er abgeschaltet. Die Sensibilität der Wahrnehmungsorgane lag bei einhundert Prozent. Um zwei, manchmal drei Kilometer überschritt er die Geschwindigkeitsbegrenzungen auf der Fahrt in Richtung Oldenburg. Jetzt bloß nicht wegen Bummelei auffallen. Alles musste normal aussehen. Er fuhr durch Wohnsiedlungen mit Einfamilienhäusern, deren Fenster bis auf seltene Ausnahmen dunkel waren, bis er in einen von Birken gesäumten Wirtschaftsweg gelangte. Am Ende parkte er den Subaru vor einem grünen Tor, stieg aus und zog die Sporttasche vom Beifahrersitz. Nach wenigen Schritten verschwand er unter Bäumen. Er legte sich an die Böschung eines Entwässerungsgrabens, den die Sommerhitze ausgetrocknet hatte.
Seine Anfahrt war gelungen, registrierte er kühl. Was bei Schauspielern Lampenfieber heißt, nannte er Jagdfieber. Nadim Bel Kahla liebte dieses Kribbeln der Nerven, die Anspannung und das Wissen, sich auf seine antrainierten Fähigkeiten verlassen zu können.
23. August
Beim Trend Hotel in Oldenburg-Metjendorf öffneten sich, wie bei Motels üblich, die Apartmenttüren direkt zum Parkplatz. Dakhil bin Khalifa blieb einige Momente lang auf dem Schotterplatz stehen. Er lauschte. Von der Landstraße konnte er hin und wieder das Geräusch eines vorbeifahrenden Autos hören. Ansonsten war es still, fast so wie in der Wüste seiner Heimat. Eng an der Wand schlich er am Hauptgebäude vorbei. Die Rezeption war unbesetzt. Im Restaurant brannte die Nachtbeleuchtung. Ein Opel Insignia parkte weder vor dem Hotel noch abseits an der Straße. Die ersten zweihundert Meter auf dem Jürnweg würde er im Licht der Straßenlampen zurücklegen müssen. Mit seinem Rucksack, in den er die Ersatzsprengladungen und den Fernzünder verstaut hatte, sollte es so aussehen, als käme er vom Sport und einem anschließenden Umtrunk zurück. Er trat aus dem Schatten und machte sich zu Fuß auf den Weg nach Wehnen. Die Route hatte er sich bei Google Maps angesehen und eingeprägt. Um wenige Minuten verspätet traf er seinen Partner an der verabredeten Stelle.
Sie lagen auf der Böschung des Grabens und warteten schweigend. Was jeder zu tun hatte, war längst geplant und genau abgesprochen. Obwohl es nach Mitternacht war, glühte der Himmel im Norden. Es wurde einfach nicht richtig dunkel. Damit hatten sie nicht gerechnet. Dakhil erinnerte sich an seine Heimat Israel. Da ging die Sonne von einem Moment auf den anderen unter. Fast so, als würde man das Licht ausknipsen. Dann war es schwarze Nacht. Aber hier, in Deutschland, konnte er um diese Uhrzeit die Umgebung noch erkennen.
Erinnerungen an seinen ersten Einsatz stiegen in Dakhil auf. Das lag mehr als zwanzig Jahre zurück. Ein Hubschrauber hatte ihn und sieben weitere Soldaten in einer Wüste abgesetzt. Sie marschierten auf die Fackel einer Ölförderanlage zu. Fünfundfünfzig Minuten später erhellten sechs aufeinanderfolgende Explosionen und in den Nachthimmel auflodernde Flammen ihren Rückzug. Sie kamen heil aus dem Inferno heraus. Am Morgen wurde in den Nachrichten von zweiundzwanzig Toten und dreizehn mit schweren Verbrennungen und Rauchgasvergiftungen verletzten Arbeitern berichtet. Den restlichen Tag trank er Whiskey bis zur Besinnungslosigkeit. Die Kantine hatte nur Writers Tears ausgeschenkt. Seitdem war sie seine bevorzugte Marke, sein Talisman.
»Muss Schritte gehen«, unterbrach ihn Nadim. »Rücken schmerzt.« Er richtete sich auf und zündete in der hohlen Hand eine Zigarette an. Während er rauchte, erledigte er Rückenübungen, die sein Arzt ihm empfohlen hatte. Der Schmerz ließ nach. Auch Dakhil stand auf und erleichterte sich an einem Brombeerdickicht. Er legte sich wieder auf die Grabenkante. Erneut wanderten seine Gedanken in die Vergangenheit. Mit welchem Idealismus war er in die Armee eingetreten! Für Sicherheit und ein friedlicheres Leben Israels hatte er kämpfen wollen. Jetzt, nach dem Ausscheiden aus dem Dienst, ging es ihm nur um Geld und den Adrenalinschub, der ihn stärker als Writers Tears antörnte.
»Kann losgehen?«, flüsterte Nadim.
Dakhil sah auf die Uhr am Handgelenk. Sein Gefühl sagte ihm, es sei nicht die richtige Nacht für die Aktion. Aber der Termin war vor Wochen festgelegt worden. Eine Verschiebung konnte nur im äußersten Notfall in Erwägung gezogen werden. Er gab das Zeichen zum Aufbruch.
Wortlos zogen sie sich Sturmhauben über den Kopf und schraubten Schalldämpfer auf ihre Pistolen, die sie entsicherten. Nadim trug die Sporttasche wie einen Rucksack. Dakhil nahm seinen Rucksack in die linke Hand, legte die rechte für einen Augenblick auf die Brust und schloss die Augen. Nach zwei, drei tiefen Atemzügen schlich er an einem Bach entlang, Ofener Bäke hatte er auf der Karte gelesen. Dann durch ein Wäldchen in südlicher Richtung. Nadim folgte ihm mit vier Schritten Abstand. Sie kamen an einem Teich vorbei. Das Gelände entsprach genau den erhaltenen Informationen. Dakhil bin Khalifa hatte sich auch auf Google Maps die einzelnen Häuser der Karl-Jaspers-Klinik angesehen und sich ihre Lage eingeprägt. Nach knapp einem Kilometer mussten sie abbiegen. Ein Entenpärchen flog in ihrem Rücken schnatternd auf. Für einen Moment blieben die Männer stehen. Sie lauschten, hörten aber nur den Flügelschlag der Vögel.
Auf der rechten Seite tauchte im Dämmerlicht der Parkplatz einer lang gestreckten, grauen Unterkunft mit farbigen Jalousien vor den Fenstern auf. Sie schlichen im Schutz der parkenden Autos weiter. Es waren keine Zäune zu überwinden, um durch die Gartenanlagen anderer Klinikhäuser zum hochgesicherten Bau des Maßregelvollzugs zu kommen.
Vor ihnen lag eine Rasenfläche. Straßenlaternen beleuchteten die Wege. Das kleine Gebäude links war die Klinikkapelle. Menschen waren nicht zu sehen. Sie umgingen die freie Fläche und näherten sich ihrem Ziel. Gebüsch und Bäume gaben genügend Sichtschutz. Im zweiten Stock der forensischen Klinik entdeckten sie in einem Fenster Licht. Mit zwei, drei Sprüngen überquerten sie den Weg vor dem Maßregelvollzug. An der Hainbuchenhecke entlang kamen sie in den überdachten Gang, an dessen Ende sich die Eingangstür befand und in dessen Seitenwände verschlossene Glastüren in den Garten führten.
Keine 20 Sekunden benötigte Dakhil, um das Zylinderschloss an der rechten Glastür zu öffnen. Durch sie gelangte man auf eine schmale Rasenfläche zwischen Hauswand und Hecke. Nadim drängte sich an ihm vorbei. Mit oft geübten Handgriffen brachte er die erste Sprengladung an der Hauswand unter dem beleuchteten Fenster an. Dakhil bin Khalifa blieb unter der Überdachung und behielt die umliegenden Häuser im Auge.
Plötzlich sprang hinter ihm die Beleuchtung im Hausflur an. Dakhils Informationen zum Gebäude hatten keinen Hinweis zu Bewegungsmeldern oder Überwachungskameras enthalten. War es Zufall, dass gerade jetzt die Nachtwache ihre Runde drehte, und ging deshalb das Licht im Flur an? Ehe er sich die Frage beantworten konnte, erschien ein Mann auf der anderen Seite der Eingangstür. Er schloss auf und fragte durch den Türspalt: »Was machen Sie hier?«
Dakhil zog seine Pistole. »Gehen Sie zurück ins Haus. Dann passiert Ihnen nichts.«
Der Mann verschwand. Die Lampen im Flur erloschen.
»Wie weit bist du?«
»Zweite Ladung.«
In Fenstern der unteren Etage gingen Lichter an. Zwei Mitarbeiter bewegten sich hektisch in den Räumen und begannen zu telefonieren. Man löst Alarm aus, nahm Dakhil an. Sechs, maximal acht Minuten hatte er als Puffer eingeplant, bis ein Streifenwagen vor Ort sein könnte. Zeit genug, sorgfältig zu arbeiten.
»Polizei! Lassen Sie die Waffe fallen und legen Sie die Hände auf den Kopf.«
Am Klang der Stimme schätzte Dakhil, in welchem Abstand die Frau hinter ihm stand. In einer fließenden Bewegung duckte er sich blitzschnell, winkelte gleichzeitig den rechten Arm an, drehte sich um die eigene Achse, lockerte den Bizeps und rammte der Frau mit der Wucht der Fliehkraft seine Faust in die Seite. Er traf punktgenau ihre Leber. Ein Schuss löste sich. Die Polizistin sackte zusammen.
Nadim sah von seiner Arbeit auf. »Was ist los?«
»Polizei«
»Scheiße.«
Die Frau zuckte einmal kurz und lag dann regungslos auf dem Pflaster.
Die vierte Ladung wurde von Nadim an die Wand gedrückt und festgehalten, bis der Zweikomponentenkleber aushärtete.
In einigen Fenstern der umliegenden Klinikhäuser wurde es hell. Die Umrisse von Menschen waren im Gegenlicht zu erkennen.
Dakhil stand gebückt im Schatten der Hecke und lauschte. Sein Puls schlug gleichmäßig. Er hatte schon aufregendere und gefährlichere Situationen gemeistert. Er sah zu der Frau und erkannte sie als die Beamtin, die sich in der Kölner Hotelbar so auffällig unauffällig verhalten hatte. Ihre Augen waren geschlossen und sie atmete, als würde sie schlafen. Ihre Pistole konnte er nicht entdecken. Ich werde alt, sagte sich Dakhil. Meine Instinkte verkümmern. Ich hätte klären müssen, warum die Enten aufgeflogen sind. Ich sollte der Frau folgen und nicht sie mir. Ich hätte …
»Nummer fünf«, unterbrach ihn Nadim, während er sich gegen die letzte Sprengladung stemmte.
In der Stille der Sommernacht hörte Dakhil in weiter Ferne den Ton von Polizeisirenen. »Zweieinhalb Minuten entfernt«, schätzte er. »Immer noch genügend Zeit.«
Mit schnellen, rüttelnden Handgriffen überprüfte Nadim den Sitz der Ladungen. Perfekt. Die leere Reisetasche ließ er achtlos zurück. Er stieg mit einem großen Schritt über die am Boden liegende Frau. Gebückt hasteten die beiden Männer an der Hecke entlang.
Hinter ihnen richtete sich die Frau auf. »Polizei! Bleiben Sie stehen oder ich schieße!« Ein Warnschuss knallte und hallte von den Hauswänden wider. Dann schoss sie noch zwei Mal.
***
Ohne die Beleuchtung einzuschalten, schlich ein Mitarbeiter vom Sicherheitsdienst des Maßregelvollzugs an der Flurwand entlang zum Eingang. Er drückte das Gesicht gegen die Scheibe. Niemand war zu sehen. Leise öffnete er die Tür einen Spaltbreit. Zögernd trat er hinaus und blickte nach links. Das Licht aus den Erdgeschossräumen reichte aus, um festzustellen, dass zwischen Hecke und Klinikgebäude das Gras heruntergetreten worden war. Er betrat den Rasen und knipste eine Taschenlampe an. Dunkel hoben sich fünf handtellergroße, unscheinbare dunkelblaue, flache Kästen von der Hauswand ab. Sein Versuch, sie mit bloßen Händen zu entfernen, scheiterte.
***
Vor dem Gartenbaubetrieb der Karl-Jaspers-Kliniken öffnete Dakhil seinen Rucksack. Er sah hinüber zu Nadim. Der nickte stumm. Nach kurzem Innehalten legte Dakhil einen roten Schalter um und löste die Sprengung aus. Das tat er zum 24. Mal in seiner Karriere. Er würde bis zur fünfundzwanzigsten weitermachen, hatte er beschlossen. Dann sollte endgültig Schluss sein mit dem Leben im Untergrund.
Aus der Ferne hörte er erst fünf schnell aufeinanderfolgende Explosionen. Nach einem Moment vollkommener Stille klang es dann so, als würden von einem Lastwagen Steine oder Geröll abgeladen. Dakhil streckte Nadim den aufgerichteten Daumen entgegen. Nur für einen sehr kurzen Augenblick erlebte er so etwas wie Zufriedenheit.
Auf dem Parkplatz vor der Kirche stieg er in den dort abgestellten Passat und fuhr nach Oldenburg-Metjendorf. Unterwegs begegneten ihm zwei Streifenwagen und die Feuerwehr.
Im Leerlauf ließ er den Leihwagen an der Zimmerflucht vom Trend Hotel vorbei ausrollen und parkte unter den Bäumen am Ende des Schotterplatzes. Von dort beobachtete er minutenlang den Parkplatz und die Einfahrt. Ein Opel war nicht zu entdecken. Eng an der Hausfront entlang schleichend erreichte er seine Zimmertür und schlüpfte hindurch.
***
Die Detonation hatte Saad ibn Aqil geweckt. Aus Tikrit, seiner Heimat im Irak, war es ihm bekannt, dass bisweilen etwas explodierte. Nur so nahe hatte er das bis jetzt nicht erlebt. Er saß aufgeschreckt im Bett und vermisste als Erstes das Fenster mit Sicherheitsglas. Dann realisierte er, dass die gesamte Frontwand fehlte. Langsam stand er auf und trippelte barfuß an den Rand des Zimmers. Mit einer Hand hielt er sich am Rest der Mauer fest. Er schaute ins Freie und entdeckte auf dem Rasen vor der Klinik eine Frau. Sie lief in geduckter Haltung auf ein Gebüsch zu und verschwand. Vier Meter unter ihm sah er einen Mann auf der niedergedrückten Hecke liegen.
Frei sein, dachte er. Das Risiko gehe ich ein. Nach einem schnellen Blick zu beiden Seiten sprang er ab. Erst als er das Klinikgelände hinter sich gelassen hatte, merkte er, dass er im Schlafanzug geflohen war. Er versuchte, sich zu orientieren. Rechts stand eine Fachwerkwand, in die man Hohlblockziegel und Schilfrohr eingebaut hatte. Er erinnerte sich, dass die Deutschen dazu Insektenhotel sagten. Vor sich sah er niedrige Obstbäume auf einer Wiese. Durch das Buschwerk weit links leuchteten Straßenlaternen. Er lief in die Richtung, durchquerte eine Senke und stoppte an der Straße.
***
Sie fluchte leise vor sich hin. Inga Timpe vom BKA suchte mit vorgestreckter Pistole die Umgebung ab. Die beiden Männer waren wie vom Erdboden verschluckt. Rechts von ihr war das zuckende Blaulicht der anrückenden Polizei zu erkennen. Sie lauschte. Aufgeregte Rufe von Mitarbeitern der Karl-Jaspers-Klinik drangen an ihr Ohr. Ihr blieben nur Minuten, um unentdeckt zu verschwinden. Sie steckte ihre Waffe zurück in das Rückenhalfter und setzte sich in Bewegung.
Inga Timpe drückte eine Hand auf die Stelle, die der Terrorist getroffen hatte, und stöhnte auf. Wenn ich wenigstens die Explosion verhindert hätte, dachte sie. Aber ich habe mich wie eine Praktikantin überrumpeln lassen. Warum bin ich so nah an den Mann herangetreten? Um dem zweiten Mann kein Ziel zu bieten? Warum bin ich liegen geblieben, mit der Waffe unter mir? Warum? Eine halbe Körperdrehung wäre ausreichend gewesen, den Täter erneut zu stellen. Lag es am Schmerz, der mich daran gehindert hat, die Pistole in Anschlag zu bringen? Habe ich mir nicht zugetraut, es mit zwei Männern gleichzeitig aufzunehmen? Hätte ich sie notfalls getötet? Oder war es gar nicht so verkehrt, wie ich agiert habe? Wir wissen ja, wo sich einer der beiden einquartiert hat. Mit dem letzten Gedanken hakte sie die Aktion ab und schlich den Weg zurück, den sie gekommen war.
***
Olaf Griepen hatte erst gemeint, es wäre ein Traum gewesen, in dem er durch die Außenwand seines Zimmers den Himmel und ferne Lichter gesehen hatte. Dann realisierte er, dass die Explosion in Wirklichkeit passiert war. Er verließ sein Bett und trat an die Fußbodenkante. Vor ihm ging es in die Tiefe. Die dicke Hecke vor dem Haus war auf den Boden gedrückt worden. Auf ihr lag ein Mitarbeiter vom Personal. Der bewegte sich nicht.
Ich wage es, sagte sich Griepen. Endlich kann ich die elende Bewachung in diesem als Klinik getarnten Knast verlassen. Er war es leid, wie ein Verbrecher eingesperrt zu sein. Was für ein unwürdiges Leben musste er hier aushalten. Nichts konnte man frei entscheiden. Obendrein beleidigten andere Insassen ihn ständig und demütigten ihn. Was konnte er denn dafür, dass er Jungs liebte? Kleine Jungs. Knaben.
Während er eine Jeans über die Schlafanzughose zog, band er sich die Sportschuhe zu. »Ich will hier nicht mehr leben«, flüsterte er und griff zur Jacke. »Und wenn ich mir jetzt das Genick breche, ist es auch egal.« Er nahm Anlauf und sprang ab.
Mit vorgestreckten Händen landete er neben dem Mann, den er gesehen hatte. Den Aufprall federte die Hecke ab. Benommen blieb er auf dem linken Arm liegen. Als er sich aufrichten wollte, konnte er ihn nicht bewegen. Schmerzen durchzuckten auch seinen Nacken. Er schmeckte Blut auf den Lippen und duckte sich tiefer.
Unsicher, ob es weitere Explosionen geben würde, standen Neugierige in einiger Entfernung auf dem Rasen. Griepen hörte sie diskutieren. Mühselig richtete er sich auf, klemmte den herabhängenden Arm im Reißverschluss seiner Jacke fest und ging davon. Niemand verfolgte ihn. An einem See wusch er sich das Gesicht und reinigte seine Kleidung. An jedem Fahrradständer, an dem er vorbeikam, prüfte er, ob ein unverschlossenes Rad dabei war. Hinter dem Küchengebäude am Rand des Klinikgeländes fand er ein ungesichertes Damenrad. Minuten später radelte er mit schmerzverzerrtem Gesicht einhändig die Landstraße entlang in südliche Richtung.
***
Mike Holner trug grundsätzlich immer Straßenkleidung. ER hatte ihm sagen lassen, dass er stets bereit sein müsste. ER würde in der Nacht kommen, ihn befreien und mitnehmen. Wie ein Dieb in der Nacht. So ähnlich stand es auch in der Bibel. Darum zog er sich zwar wie alle anderen Insassen der forensischen Klinik vor dem Zubettgehen um, aber statt eines Schlafanzugs waren im Sommer ein dunkles T-Shirt und leichte Jeans seine Nachtbekleidung.
Als er aufschreckte und den freien Blick bis zum gegenüberliegenden Klinikgebäude wahrnahm, bekam er feuchte Augen. »Danke«, murmelte er und zwängte seine Füße in bereitstehende Trekkingschuhe. Würden ER oder ein Bote auf ihn warten?
Holner horchte. Er hörte entfernte Stimmen. Was gesprochen wurde, konnte er nicht verstehen.
»Dann gehe ich schon mal«, redete er leise vor sich hin. »Du hast mir ja einen Ort vorbereitet, wo ich sicher wohnen kann.« Auch das stand so ähnlich in der Bibel. Nach drei Schritten hielt er an der Fußbodenkante inne, die ins Freie hinausragte. Er trat zurück, nahm Anlauf und sprang. Wie er es bei der Bundeswehr gelernt hatte, rollte er sich über die Schulter ab, um sofort wieder aufzustehen und im Halbdunkel der Nacht zu verschwinden.
***
Nadim Bel Kahla lag auf der Grabenböschung und wartete. Aufmerksam suchte er die Rasenfläche und den Parkplatz vor dem grauen Waschbetonbau mit den bunten, verblassten Jalousien ab. Die Frau, die geschossen hatte, war nicht zu sehen. Geduldig blieb er liegen. Langsam senkte sich der Adrenalinspiegel in seinem Blut. Ein Gefühl der Leere beschlich ihn. Wieder einmal hatte er etwas zerstört. Er verscheuchte die Frage nach dem Warum. Darauf gab es ja doch keine befriedigende Antwort, wusste er. Man sollte fragen, wozu, erinnerte er sich und stellte sich den weißen Strand von Eilat vor. Da wollte er in drei Tagen ein Hotel besuchen und in der Sonne liegen. Das sollte ihm als Begründung für sein Tun ausreichen. Im linken Oberschenkel pulsierte die Schusswunde. Ein Streifschuss, nicht der Rede wert, sagte er sich und biss die Zähne zusammen. Als es vor ihm ruhig blieb, schlich er den Graben entlang. Er erreichte den Subaru und fuhr den von Birken gesäumten Weg zurück, ohne die Beleuchtung einzuschalten. Aus den Augenwinkeln meinte er, unter den Bäumen und Büschen vom Wäldchen einen Mann im Schlafanzug stehen zu sehen. Abgebogen auf die Bundesstraße sah er im Rückspiegel, dass Feuerwehrleute eine Straßensperre einrichteten.
***
Adi Konnert war auf der Terrasse in seinem Rattansessel eingeschlafen. Das Buch, in dem er gelesen hatte, lag aufgeschlagen auf den Steinfliesen. Auf dem Tisch neben ihm stand ein halb volles Rotweinglas. Aus der Küche hörte er ununterbrochen das Festnetztelefon läuten. Mit steifen Beinen und krummem Rücken schlurfte er hinüber.
»Konnert.«
»Es gibt Arbeit.«
»Ja?«
»Karl-Jaspers-Klinik. Explosion am Maßregelvollzug. Ein Toter. Der diensthabende Arzt hat eine ungeklärte Todesursache bescheinigt. Drei flüchtige Insassen. Kollegen sind vor Ort. Die Techniker sind alarmiert. Deine Lieblingsstaatsanwältin hat Dienst und ist verständigt. Ihr dürft wieder zusammenarbeiten.«
Konnert hörte den süffisanten Unterton heraus, schwieg jedoch. »Ich mache mich dann auf den Weg.« Er tippte auf die Kurzwahltaste für Venske. Der musste sein Telefon abgestellt haben. Er hat ja keine Bereitschaft, fiel es Konnert ein. Aber nicht erreichbar zu sein war für seinen Stellvertreter mehr als ungewöhnlich.
Ein neuer Fall. Die nächste Herausforderung, sagte sich Konnert. Er füllte Wasser in den Behälter der Kaffeemaschine, häufte acht gestrichene Messlöffel Pulver in den Filter und schaltete sie ein. Früher hatte er regelmäßig in dem Backshop gefrühstückt, in dem er Zahra kennengelernt hatte. Als er jetzt an sie dachte, kam er sich einsam und verlassen vor.
Im Bad verrichtete er, was ein Mann am Morgen dort zu tun hat. Mit nassen Haaren und frisch rasiert kam er zurück in die Küche. Vor einem Vierteljahr hatte er sich vorgenommen, etwas gegen die Routine zu tun, die sich mit zunehmendem Alter einschleicht. Er frühstückte seitdem immer an einem anderen Platz. Er aß auch nicht mehr jeden Tag das Gleiche. Mal war es Müsli, zum nächsten Frühstück vielleicht Toastbrot mit Marmelade oder Käse auf Schwarzbrot. Von allem aß er nicht so viel wie in den vergangenen Jahren. Er achtete auf sein Gewicht. Unwillkürlich musste er erneut an Zahra denken. Eine Frau verändert das Leben eines Mannes, stellte er wieder fest und lächelte.
Er ließ sich Zeit, las einen Abschnitt in seiner Bibel, dachte mit geschlossenen Augen über den Text nach, trank Kaffee, betete und plante den Tag. Aus Erfahrung wusste er, dass ermittelnde Kommissare während der Arbeit der Kriminaltechniker am Tatort störten und ihnen da nichts anderes übrig blieb, als zu warten, bis die Techniker ihre Erkenntnisse und Vermutungen verrieten. Da konnte er auch zu Hause sitzen und den Tag ganz in Ruhe beginnen. Außerdem waren für die Ergreifung der Flüchtigen vorerst die Beamten in den Streifenwagen zuständig. Was Konnert Gelassenheit aus Lebenserfahrung nannte, bespöttelten einige seiner Kollegen als bummelig.
***
Inga Timpe musste mit ihrem Vorgesetzten beim BKA in Wiesbaden telefonieren. Sie war nicht sicher, wie er reagieren würde. Sie und Bennradt hatten Dakhil bin Khalifa nur beschatten sollen. Der Einsatz einer Schusswaffe war nicht vorgesehen gewesen. Eine Bedrohung durch Dakhil hatte nicht bestanden. Angriff ist die beste Verteidigung, entschied sie und legte sich die ersten Sätze zurecht.
Eine verschlafene Stimme meldete sich.
»Timpe hier.«
»Was gibt’s?«
»Die von mir beobachtete Zielperson hat zusammen mit einem anderen Mann an der Grenze zu Oldenburg einen Sprengstoffanschlag auf den Maßregelvollzug der Karl-Jaspers-Klinik verübt. Ich habe mich bemüht, die Tat zu vereiteln. Der Versuch ist leider gescheitert. Um die Täter an der Flucht zu hindern, musste ich von der Waffe Gebrauch machen. Offensichtlich ist eine flüchtende Person getroffen worden.«
»Sie haben geschossen? Sie haben möglicherweise die Zielperson verletzt? Sind Sie wahnsinnig? Beobachten war Ihr Auftrag. Nicht erschießen. Beobachten und sonst nichts!«
»Aber …«
»Kein Aber.«
Inga Timpe nahm ihren ganzen Mut zusammen und setzte erneut an. »Es gehört auch zu meinen Aufgaben, Straftaten zu vereiteln und Täter zu stellen.«
»Sie sollen Befehle befolgen!« Der Vorgesetzte am anderen Ende der Leitung atmete hörbar aus. »Haben Sie noch Kontakt?«
»Nein. Zurzeit nicht. Wir fahren zum Hotel von Dakhil bin Khalifa.«
»Beten Sie, dass er dort auftaucht, sonst …« Es blieb unausgesprochen, was dann passieren würde.
»Welchen Befehl geben Sie uns, wenn die Zielperson anwesend ist?« Inga Timpe unterdrückte ihre Wut.
»Meine Güte. Sie beobachten weiter und schreiben ein Protokoll.«
***
Sein Handy vibrierte schon wieder auf dem ovalen Couchtisch. Bernd Venske stierte auf das blinkende Display. Ein weiterer Anruf, jetzt aus der Polizeiinspektion. »Ihr könnt mich mal«, nuschelte er und blieb zurückgelehnt im Sessel sitzen. Sein Hemd stand bis zum aufgeknöpften Hosenbund offen. »Ich mache nicht mehr mit.« Das Telefon rutschte über die Glasplatte. Innerlich unbeteiligt wartete er, ob der Anrufer so lange durchhalten würde, bis das Handy auf den Boden fiel. Knapp vor der Kante wurde es still. Lasst mich doch in Ruhe. Ich kann nicht mehr und ich will nicht mehr. Er schloss die Augen, die Lider zuckten. Es hat ja doch alles keinen Sinn. Ich kämpfe wie Don Quichotte gegen Windmühlenflügel. Die kriminellen Arschlöcher sind uns mit ihrem Geld und ihren Möglichkeiten immer einen Schritt voraus. Nein, hundert Schritte. Es hört nie auf.
Venske zuckte zusammen, als das Handy erneut klingelte und über die Tischkante rutschte. Er ließ es auf den Laminatfußboden knallen. Ha, wenn ich nicht rangehe, kriegt ihr mich nicht. In Gedanken entschuldigte er sich damit, dass er überproportional viele Überstunden auf seinem Zeitkonto hatte. Das Telefon klang fordernd, drohend in seinen Ohren. »Nicht einmal Konnert ist so engagiert wie ich und die Übrigen erst recht nicht. Ich sage nur Kilian Kirchner.« Die Worte bellte Venske in den Raum, als müsste er sich vor dem Handy verteidigen. Leiser fragte er sich: »Wann ist mir eigentlich meine Freude an meinem Wunschberuf abhandengekommen, wie auch die nötige Sachlichkeit und das Engagement?«
Das Telefon verstummte.
Als wäre er ein Greis, so mühselig stand Venske auf und schlurfte zur Küche, sah gedankenverloren im Fenster das Morgenlicht und zog weiter ins Schlafzimmer. Das zerknautschte Bettlaken erinnerte ihn an die vergeblichen Versuche, einzuschlafen und wenigstens ein bisschen Schlaf zu bekommen. Er war hundemüde, aber in seinem Kopf rotierten die Gedanken. Die ungeklärte Ursache für den Tod von Andreas Kirchhoff, die Schüsse auf Autofahrer, die Erinnerung an Vergewaltigung und Brandstiftung ließen ihn nicht los. Er wandte sich um und blieb unschlüssig im Flur stehen. Sein Polizistengewissen schlug an. Verdammte Scheiße. Ein Ruck zuckte durch seinen Körper. Für die zehn Schritte zum Couchtisch nahm er den Kopf hoch. Als würde seine Hand magnetisch vom Handy angezogen, bückte er sich, griff nach dem Telefon und drückte die Kurzwahltaste für die Polizeiinspektion.
»Mensch, wo steckst du? Ich habe schon drei Mal angerufen. Hast du Stöpsel in den Ohren?«
»Was gibt es?«
»Du wirst am Maßregelvollzug in Wehnen erwartet. Dort hat es eine Explosion gegeben. Drei Insassen sind geflohen. Ein Mitarbeiter wurde getötet. Beeil dich!«
***
Staatsanwältin Lurtz-Brämisch war schon am Tatort, als Konnert dort ankam. Die Kriminaltechniker hatte LED-Strahler auf hohen Stativen aufgebaut. Im gleißenden Licht sah er, dass ein Teil der Hecke vor dem dreistöckigen Gebäude am Boden lag. In der Hausfront fehlte ein Stück in der Breite eines Zimmers vom Sockel bis unter das Dach. Neben ihren Einsatzfahrzeugen langweilten sich Feuerwehrleute. Sie brauchten nicht einzugreifen. Polizisten bemühten sich, Schaulustige zurückzuhalten, und spannten Flatterband zwischen in den Boden gesteckten Stangen. Ab und zu flammten Blitzlichter von Smartphones auf.
Konnert trat näher an die niedergedrückte Hecke heran. Auf ihr lag die staubbedeckte männliche Leiche. Die Techniker in den weißen Ganzkörperanzügen arbeiteten, ohne ihren Kollegen zu beachten. Konnert suchte ihren Chef Derk van Stevendaal und sah ihn neben der Staatsanwältin. Er ahnte, dass der Graf, wie er hinter seinem Rücken genannt wurde, mit ihr das weitere Vorgehen absprach. Dabei wollte er nicht stören und wandte sich ab.
Der Einsatzleiter der Schutzpolizei, Stephan Goldenstein, kam auf ihn zu und grinste, während er Konnert die Hand reichte, festhielt und schüttelte. »Auch schon da.«
»So wie du.«
»Das müssen extrem erfahrene Profis gemacht haben. Ich vermute, die kamen aus dem Nahen Osten.«
»Warum Naher Osten?«
»Einer der Flüchtigen ist Saad ibn Aqil, ein Islamist aus der Salafistenszene mit Kontakten zu Al Kaida und Hamas. Das hat mir einer aus der Klinik gesagt.«
»Du meinst ernsthaft, die Terrororganisation schickt Spezialisten, um Saad ibn Aqil zu befreien?«
»Wen denn sonst?«
»Wer ist der Tote?«
»Ein Mitarbeiter vom Nachtdienst. Thorsten Betz.«
»Und die anderen Flüchtigen?«
»Olaf Griepen, ein Pädophiler.« Goldenstein schwieg einen Moment. Er wollte die Nachricht wohl wichtig erscheinen lassen. »Den dritten kennst du besonders gut. Mike Holner.« Er sprach den Namen mit einem hämischen Unterton aus. »Der Serienmörder, der seine Aufträge direkt vom lieben Gott erhält. Auf den hörst du ja auch.«
Konnert beachtete die letzte Bemerkung nicht. Er erinnerte sich stattdessen, dass Bernd Venske Holner vor zwei Jahren nach drei Morden festgenommen hatte. Bei Verhören und im Strafprozess beim Landgericht hatte der stur wiederholt, dass ER ihm gesagt habe, was er tun solle. Ansonsten hatte Holner geschwiegen. Auch das hatte sicher ER ihm befohlen. Mit dem Krankheitsbild der schizophrenen Psychose war er verurteilt und in den Maßregelvollzug eingewiesen worden.
»Unsere ersten Befragungen haben ergeben, dass geschossen worden ist«, berichtete Goldenstein. »Wir haben aber bis jetzt keine Patronenhülsen gefunden. Du weißt, manchmal behaupten Zeugen etwas, das sie nur meinen, gehört zu haben.«
Stevendaal kam an den beiden Polizisten vorbei. Er musste wohl den letzten Satz mitgehört haben und leuchtete im Vorbeigehen mit seiner Taschenlampe auf den Stamm einer Birke. »Das sieht so aus, als sei da eine Kugel eingeschlagen. Wir sehen uns das noch genauer an.«
Ein Leichenwagen wurde durch die Absperrung gelotst. Der hielt vor dem Eingang der Klinik. Stevendaal ging hinüber und sprach mit dem Bestatter.
Von Saad ibn Aqil hatte Konnert nur gehört, dass er wegen zweier gescheiterter Mordanschläge auf katholische Priester in und um Wilhelmshaven verhaftet worden war. In der Untersuchungshaft, bei Vernehmungen und im Gericht hatte er behauptet, der Neffe Abu Bakr al-Baghdadi zu sein, des Anführers des Islamischen Staats. Der habe ihm einige Zeit vor der gegen ihn gerichteten US-Militäroperation, bei der er sich mit einer Sprengstoffweste selbst getötet hatte, den Auftrag erteilt, in Deutschland die katholische Kirche zu unterwandern. Beim Propheten und seiner Mutter hatte er geschworen: »Die schwarzen Männer mit den steifen Kragen sind verkleidete Dämonen, sie hindern Allah, Frieden auf die Erde zu bringen. Wie Allah es befohlen hat, führe ich Krieg gegen die Ungläubigen.« Immer wieder hatte er beteuert: »Macht mit mir, was ihr wollt. Wenn ich rauskomme, vollende ich meinen Auftrag.« Als geistig Behinderter war er in die geschlossene forensische Klinik eingewiesen worden. Kollege Goldenstein meinte, wegen Saad ibn Aqil hätten Terroristen die Wand abgesprengt? Konnert zog eine Augenbraue hoch.
Ein paar Meter fuhr der Leichenwagen näher zum Eingang. Ein Mitarbeiter stieg aus und nach wenigen Minuten schoben er und der Bestatter einen Sarg durch die Heckklappe. Bevor der Beifahrer einstieg, schaute er sich um. Konnert erkannte den freien Kriminalreporter Alois Weis. Seit Jahren waren er und Alois miteinander befreundet. Dieser ausgefuchste, clevere Kerl, dachte Konnert und verzog sein Gesicht zu einem anerkennenden Grinsen. Raffiniert, wie er ist, kommt er so durch die Absperrung. Na warte!
***