Montag, 8. Dezember
Dienstag, 9. Dezember
Mittwoch, 10. Dezember
Donnerstag, 11. Dezember
Freitag, 12. Dezember
Samstag, 13. Dezember
Sonntag, 14. Dezember
Montag, 15. Dezember
Dienstag, 16. Dezember
Mittwoch, 17. Dezember
Donnerstag, 18. Dezember
Freitag, 19. Dezember
Samstag, 20. Dezember
Sonntag, 21. Dezember
Montag, 8. Dezember
Kriminalhauptkommissar Adi Konnert musste ins Gefängnis. Er hatte einen Termin in der Justizvollzugsanstalt Oldenburg. Vom
Lidl-Parkplatz aus schaute er auf die blaue Pforte des gegenüberliegenden Neubaus. Nicht nur wegen des nasskalten Wetters fühlte er sich beklommen. Die Haftanstalt erinnerte ihn für den Bruchteil einer Sekunde an den Keller seiner Kindheit. Unwillkürlich zog er den Kopf zwischen die Schultern.
Ausnahmsweise war er einmal zu früh dran. Er wollte aber auf keinen Fall im Warteraum auf- und abgehen müssen. Mit dem Rücken an den Mittelholm seines Wagens gelehnt, rauchte er lieber. Er wärmte die Hände an einer Dunhill Big Ben Pfeife und kaute auf dem Mundstück herum. Er blickte sich um.
Beim Discounter war Weinwoche. Konnert überlegte, ob er gleich einen ganzen Karton für gemütliche Winterabende besorgen sollte, entschied sich aber dagegen.
Umständlich knöpfte er seinen Mantel auf und suchte in der rechten Hosentasche seine Uhr. Ihm
fiel dabei ein, dass er sich von einem seiner Kinder oder Enkelkinder ein neues
Armband als Weihnachtsgeschenk wünschen könnte.
Es war immer noch eine Viertelstunde Zeit bis zum Termin. Konnert paffte weiter.
Die Qualmwolken kräuselten senkrecht in die nasskalte Winterluft.
Er dachte zurück an die Stunden im verriegelten elterlichen Keller. Die Dunkelheit hatte ihm
nichts ausgemacht. Aber er hatte dort die Freiheit lieben gelernt. Das war gut
vierzig Jahre her. Er schaute hinüber zur Haftanstalt. Freiheitsentzug ist Strafe genug, stellte er fest.
Aus der Innentasche seines Jacketts holte er den Brief des Gefangenen heraus,
den er gleich treffen sollte. Konnert faltete den Bogen auseinander und las zum
ungezählten Mal: »Jetzt ist immer.« Die drei Wörter packten ihn. Er las die davon abgesetzte Nachricht: Besuch genehmigt. Montag, 16:30 Uhr. Unterschrift Sascha Knieling.
Vor vier Jahren hatte er ihn verhaftet. Verschiedene Vorstrafen, eine
Einbruchserie, wiederholte Hehlerei, dann ein missglückter Banküberfall und, im Zusammenhang damit, eine Geiselnahme brachten ihn hinter Gitter.
Der alleinstehende Arbeitslose hatte Konnert leidgetan. Mehr als andere Straffällige. Da hatte er ihm spontan versprochen: »Wann immer Sie mich brauchen, ich bin für Sie da.« Und jetzt war immer. »Dann muss ich mein Wort wohl halten. Das gehört sich so«, hatte er gemurmelt, als das karierte Briefpapier am Samstag bei ihm auf dem Küchentisch lag.
Sorgfältig steckte er den Brief zurück in den Umschlag.
Ich muss ins Gefängnis. Obwohl er Polizist war und oft mit Gefangenen zu tun hatte, ließ ihn der Gedanke zögern. Heftig saugte er an seiner Pfeife und blies den Qualm von sich. Nur für einen Besuch, sagte er sich und versuchte, seine Nerven zu beruhigen.
Nur für einen Besuch.
Mit einem Ruck setzte er sich in Bewegung und überquerte die Cloppenburger Straße. Er musterte die meist rückwärts eingeparkten Autos der Vollzugsbeamten auf dem Parkplatz. Im Licht der
Laternen entdeckte er drei ältere Modelle und einen silbernen Audi A8 L auf dem grauen Verbundsteinpflaster.
Angehörige und Anwaltsbesuch, vermutete er. Die Rasenstreifen vor der Parkplatzumzäunung waren frei von Laub.
Konnert erreichte den Besuchereingang und blieb noch einen Augenblick vor der Tür mit Elementen aus schusssicherem Glas stehen. Sie hatte keine Klinke, nur
einen runden Knauf. Raus kommt hier niemand. Aber auch nicht so einfach rein.
Wie oft hatte er das vor dieser Tür schon gedacht?
Geduldig wartete er, bis das Schnarren des elektrischen Türöffners zu hören war. Er zog die schwere Tür auf und trat in einen taghell beleuchteten Windfang. Hinter ihm schloss sich
die Pforte. Er war im Gefängnis. Er wandte sich nach links. Hinter einer Panzerglasscheibe saß eine blonde Frau in der Dienstkleidung der Justizvollzugsbeamten. Sie lächelte ihn an.
»Legen Sie bitte Ihren Personalausweis in die Schiebemulde.« Konnert kannte das Prozedere und befolgte die Anweisung. Routinemäßig verglich die Beamtin sein Gesicht mit dem Passbild.
Er erwartete eine Bemerkung darüber, dass er seit dem Ausstellungsdatum ein paar Pfund zugelegt hatte. Seine
Kollegen würden sich einen Kommentar niemals verkneifen. Nein, sie blieb ernsthaft und
suchte seinen Namen auf der Besucherliste.
»Ihre Dienstpistole, Herr Kommissar?«
»Die liegt im Waffenschrank der Polizeiinspektion. Ich bin kein guter Schütze, wissen Sie. Und bevor ich ...«
Ohne weitere Erklärung bekam er einen Besucherausweis an einem roten Band zugeschoben, den er sich
um den Hals hängte.
»Sie sind heute privat hier. Sie müssen sich durchsuchen lassen. Tut mir leid. So sind die Vorschriften. Ihr Handy
müssen Sie diesmal auch einschließen.« Die Tür zum Warteraum schnarrte genauso wie die Außentür. Konnert drückte sie auf, trat hindurch und deponierte seinen Mantel in einem Schrankfach.
Dann musste er sich doch noch gedulden und in dem abgeschlossenen Raum auf- und
abgehen.
Eine Männerstimme forderte ihn über einen Lautsprecher auf, in den Durchsuchungsraum zu kommen.
»Bitte leeren Sie Ihre Taschen und legen auch Ihr Jackett, Ihre Schuhe und den Gürtel in den Plastikkorb auf dem Fließband.«
Konnert staunte über das, was aus den Tiefen seiner rechten Hosentasche zum Vorschein kam. Als
ein glatter, mehrfarbiger Halbedelstein, eine Unterlegscheibe, ein Nagel und
ein Markstück auf seiner Handfläche lagen, schmunzelte er. Wenn er auf der Straße Krimskrams fand, musste er ihn einstecken.
Der Korb verschwand im Röntgengerät.
»Kommen Sie zu mir!«, befahl der Beamte.
Konnert passierte die Sicherheitsschleuse, die ihn an Kontrollen auf Flughäfen erinnerte. Ein durchdringender Alarm piepte.
»Tragen Sie eine Halskette?«
Kopfschütteln war die Antwort.
»Wenn Ihre Taschen leer sind, sehen Sie bitte im Hosenaufschlag nach.«
Er krempelte den Stoff um. Eine Büroklammer fiel zu Boden.
»Auch die dürfen Sie nicht mit hereinbringen. Sicherheitsrisiko. Sie verstehen?« Der Beamte verzog keine Miene.
Nachdem Konnert den Gürtel wieder durch die Schlaufen gezogen und Schuhe an den Füßen hatte, telefonierte der Bedienstete. Kurz darauf öffnete sich mit Schlüsselklappern eine Tür, und ein weiterer Mitarbeiter erschien.
»Guten Tag, Herr Kommissar. Diesmal durch den Besuchereingang?« Er trat zur Seite. »Bitte.« Sie passierten die nächste Stahltür und standen zwischen der Außenschleuse und den Zellenblocks im Freien. Halogenstrahler beleuchteten den
gepflasterten Weg und die Fronten mit den gitterlosen Fenstern.
»Nach Ihnen«, sagte der Beamte und deutete mit der Hand an, dass Konnert vorgehen sollte.
Konnert nahm an einem der quadratischen Buchentische im Besucherraum Platz.
Scheiben aus bruchsicherem Glas in einem Holzrahmen ersetzten einen Teil der
Tischplatte. Über ihr schimmerte das Fischauge einer Überwachungskamera. Er sah sich um. Die Wände waren hell gestrichen worden. An ihnen hingen von Gefangenen gemalte Bilder.
Yuccapalmen vor den Fenstern gaben dem Raum etwas vom Charakter eines
Wohnzimmers. Für Kinder hatte man eine Spielecke abgetrennt. Erhöht hinter einem Tresen saß ein Vollzugsbeamter. Zwei Bildschirme waren zu erkennen. An zwei anderen
Tischen unterhielten sich wartende Familienangehörige. Konnert meinte, eine Atmosphäre von Angst und enttäuschten Hoffnungen wahrzunehmen. Oder spürte er nur seine eigenen Gefühle? Er wartete und legte die Hände übereinander. In Gedanken formulierte er ein Gebet für das Gespräch mit Sascha Knieling.
Schlüsselklappern unterbrach ihn. Die Gefangenen wurden in den Raum geführt. Als Letzter trat ein hagerer Mann ein. Die dunkelbraune Cordhose
schlabberte um seine langen Beine. Über dem karierten Hemd trug er eine beige Strickjacke mit Lederflicken an den
Ellenbogen. Das kräftige Kinn war sauber rasiert, die Haare exakt geschnitten. Kratzstellen auf der
geröteten Haut an der Stirn und auf der linken Wange fielen Konnert sofort auf.
Rosazea heißt die Hauterkrankung, wusste er und erinnerte sich, dass Stress ein Auslöser der schuppigen Entzündungen sein kann. Die Brille passte mit ihren übergroßen Gläsern nicht zum schmalen Gesicht.
Konnert hatte Knieling anders in Erinnerung. Als er ihn damals in einer
Waldarbeiterhütte aufgespürt hatte, waren drei Tage nach dem Überfall vergangen. Konnert hatte sich gegen die Geisel austauschen lassen und,
wie schon einmal, den Einsatz des SEK zurückgewiesen. Er war zweieinhalb Tage Gefangener des Bankräubers gewesen, bevor der aufgegeben hatte. Insgesamt waren das fast sechs Tage
ohne fließendes Wasser für den Entführer gewesen. Auch zum Prozess vor dem Landgericht war er mit zerzaustem Bart
und in billigen Klamotten erschienen.
Das Gefängnis schien ihm gutzutun. Zur Begrüßung stand Konnert auf und reichte eine Hand über den Tisch.
Sie setzten sich. Beim Geräusch der hinter Konnert ins Schloss fallenden Tür und dem Klappern der Schlüssel zuckte er leicht.
»Sie sind gekommen. Danke.« Knielings Worte kamen schleppend über seine dünnen Lippen. Jedes Wort formulierte er zögernd und sprach es überdeutlich aus. Zwischen den Satzteilen entstanden Pausen. Es klang so, als müsste er jeweils entscheiden, ob er weitersprechen wollte. »Ich war mir nicht sicher, ob Sie damals wirklich meinten, was Sie mir
versprochen haben.«
»Ihnen scheint es gut zu gehen.«
»Bis vor einem halben Jahr ging es mir sogar sehr gut. Aber ...« Knieling brach ab und lehnte sich über den Tisch. »Ich muss hier raus. Helfen Sie mir, hier rauszukommen. Bitte!«
Konnert suchte Blickkontakt mit dem Mann, der wieder aufrecht auf seinem Stuhl
saß. »Ich kann Ihnen unmöglich zur Flucht verhelfen. Das wissen Sie doch.«
»Keine Flucht. Es geht um eine sofortige Verlegung in ein anderes Gefängnis.«
Konnert runzelte die Stirn.
»Und warum sprechen Sie darüber nicht mit Ihrem Abteilungsleiter?«
Knieling kratzte eine Pustel über der linken Augenbraue auf.
»Von außerhalb der Anstalt habe ich so gut wie keinen Einfluss auf die Abläufe hier drinnen«, sagte Konnert.
Einige Sekunden beobachtete Knieling den Beamten hinter den Monitoren. Zum
zweiten Mal beugte er sich vor und winkte Konnert heran. »Dann müsste ich begründen, warum ich verlegt werden will.«
»Es hört uns keiner zu, Herr Knieling. Das Gespräch ist absolut vertraulich.«
»Ich werde bedroht. Man will mich fertigmachen und umbringen. Und wenn ich das
einem Beamten sage, verlegen sie mich auf eine Gemeinschaftszelle. Zu Ihrer
Sicherheit argumentieren sie dann. Da drehe ich durch. Mit einem furzenden oder
ständig wichsenden oder rauchenden Kerl in einer Zelle werde ich verrückt.«
Er ließ sich mit leerem Blick an die Stuhllehne zurückfallen.
Konnert blieb stumm und wartete, wie so oft, wenn er den Eindruck hatte, dass
sein Gegenüber noch Informationen zurückhielt.
»Das macht auch mein Herz nicht mehr mit. Wenn ich hierbleiben muss, bin ich so
oder so tot. Ich muss in ein anderes Gefängnis.«
Konnert fasste die Nasenwurzel zwischen Daumen und Zeigefinger und dachte nach. »Wenn ich mit der Anstaltsleitung spreche, muss ich ebenfalls einen Grund für Ihre Verlegung nennen. Was soll ich Direktor Koop sagen?«
»Das weiß ich nicht. Ich muss weg von hier. Sie sind die letzte Hoffnung, die ich habe.
Finden Sie keinen Ausweg, verlasse ich die Anstalt in einem Zinksarg.«
Erschrocken stand Konnert auf und tigerte zwischen der Spielecke und dem Tisch
hin und her. Der Vollzugsbeamte behielt ihn im Auge. Nur eine Ermittlerfrage
kam ihm in den Sinn. Er setzte sich wieder. »Wie haben Sie die Drohung erhalten?«
»Irgendwer hat mir einen Zettel in die Jackentasche gesteckt.«
»Wann war das?«
»Am Dienstag.«
»Was genau stand darauf?«
»Noch eine Woche.« Knieling senkte den Kopf.
»Nur diese Worte?«
»Noch eine Woche. Dann wirst du dich bücken. Danach machen wir dich weg.«
Konnert kannte sich mit der Knastsprache aus. Leise, wie aus weiter Ferne, klang
das Gemurmel von anderen Besuchern herüber. Er stand auf und ging zum Getränkeautomaten an der gegenüberliegenden Wand und kam mit zwei Kaffeebechern zurück.
Knieling gab ein erbärmliches Bild ab.
»Eher bringe ich mich um.« Die Pausen zwischen den Satzteilen wurden länger. »Ich mache das alles nicht noch einmal durch ... Mir bleibt kein anderer Ausweg.«
»Bewahren Sie den Zettel irgendwo auf?«
»Wo denken Sie hin? Den habe ich nicht mal durch die Toilette gespült. Geschluckt habe ich den.«
»Eine Woche«, überlegte Konnert laut und stützte beide Hände auf der Tischplatte ab. »Heute ist schon Montag.«
»Ich werde mich umbringen. Wenn ich hierbleiben muss, dann ist Schluss. So oder
so.«
»Wer ist Ihr Anwalt?«
»Den können Sie vergessen. War nur ein Pflichtverteidiger, der nach der
Gerichtsverhandlung kein Wort mehr mit mir gesprochen hat.«
»Sagen Sie mir bitte trotzdem den Namen.«
»Enno Keil aus Wardenburg.«
Erneut verstrich eine Minute, bevor Knieling sich aufrichtete und flüsterte: »Die Zeit vergeht ruck, zuck. Bis der Antrag für Ihren Besuch genehmigt war, vergingen schon drei Tage. Das ging sogar
schneller als üblich. Drei von sieben Tagen.«
Und dann musste der Brief von der Post befördert werden, machte sich Konnert klar. Also konnte erst für heute der Besuchstermin anberaumt werden. Die Bediensteten wussten ja nicht,
was für Knieling auf dem Spiel stand.
»Tag und Nacht war nur ein Gedanke in meinem Kopf. Welche Möglichkeiten bleiben mir?«, fing der Gefangene noch mal an. »Ich dachte zum Beispiel daran, zu randalieren. Dann komme ich in die
Beruhigungszelle. Aber nur so lange, bis ich mich beruhigt habe. Und dann? Wie
viele Stunden muss ich dann toben, um mich zu retten? Außerdem nimmt mir kein Bediensteter Aggression ab.«
»Warum nicht?«
»Ich verhalte mich hier von Anfang an genau nach Vorschrift. Wir haben doch darüber gesprochen. Ich soll jedem Streit aus dem Weg gehen. Daran halte ich mich.
Ich bin sogar ins PC-Schulungsprogramm aufgenommen worden. In knapp zwei Jahren
kann ich bei guter Führung vorzeitig entlassen werden. Danach will ich mich für den Rest meines Lebens sozial engagieren. Vielleicht kann ich etwas
wiedergutmachen von dem, was ich angerichtet habe. Das kann ich alles
vergessen, wenn ich auffällig werde.«
Sascha Knieling sah mit stumpfem Blick zu Konnert auf.
»Könnten Sie sich krankmelden? Wären Sie auf der Krankenstation in Sicherheit?«
»Vielleicht. Für ein paar Tage. Und danach?«
»Wir hätten Zeit gewonnen.« Konnert registrierte, dass er wir gesagt hatte. »Ich werde mit Ihrem Anwalt sprechen. Eventuell hat er eine Lösung. Mehr fällt mir nicht ein. Es tut mir leid.«
Nachdem er an der Außenpforte seine Papiere zurückerhalten hatte, sagte die Beamtin: »Sie müssen Ihren Ausweis verlängern lassen. Er ist schon im September ungültig geworden. Wenn ich Sie nicht von früheren Einsätzen kennen würde, wären Sie hier nicht hereingekommen.«
»Vielen Dank.«
Die Ausgangstür ließ sich aufstoßen. Konnert trat hindurch und wandte sich noch einmal um, bevor er die
Cloppenburger Straße überquerte. Er war zurück in der Freiheit, konnte gehen, wohin er wollte, jederzeit mit seiner Familie
oder Freunden sprechen oder ein Glas Wein trinken, wann immer ihm danach war. Für einen Teil der Männer hinter den Mauern war schon seit 15:30 Uhr Stationseinschluss in ihren
Haftraum. Erst morgen um 6:30 Uhr würde die Zelle wieder geöffnet werden. Fünfzehn Stunden allein hinter verschlossenen Türen.
Ein Schauder durchlief Konnerts Körper.
***
Als Sascha Knieling den Flur zu seiner Zelle entlangging, stieß sich ein junger Kerl von der Wand ab, um neben ihm herzugehen. Er raunte: »Du triffst dich also mit einem Bullen und quatschst mit dem. Hatte mir immer
schon gedacht, dass du so ein Arschloch bist und mit den Wachteln
zusammenarbeitest.«
»Lass mich in Ruhe.«
»Pass bloß auf, dass du nicht mal stolperst und mit dem Kopf gegen die Wand knallst.«
Schweigend schloss Knieling seine Zelle auf, trat ein und zog die Stahltür hinter sich zu.
***
Im dritten Stock der Polizeiinspektion am Friedhofsweg verließ Konnert den Fahrstuhl und betrat das Großraumbüro seiner Abteilung FK1, Straftaten gegen Leben und Gesundheit, Sexualstraftaten
und Rotlichtkriminalität. Viele Schreibtische waren schon aufgeräumt. Am Glasausschnitt der Tür zu seinem separaten Büro klebten drei Post-it-Zettel und eine Postkarte. Er pflückte sie ab und las den ersten Zettel, bevor er die Tür öffnete. Habe Bereitschaft. Bin zu Hause zu erreichen. Venske.
So ist er, dachte Konnert und betrat sein Büro. Bernd Venske, Kriminaloberkommissar und stellvertretender Leiter des
Kommissariats. Konnert schätzte an ihm seinen Fleiß und seine Gradlinigkeit. Er gibt sich, wie er ist, und sagt, was er denkt. Das
macht ihn bisweilen zu einem schwierigen Typen mit gelegentlich vorschnellen
Urteilen. Aber alles in allem ein guter Polizist. Nicht umsonst schon
Oberkommissar, dachte Konnert anerkennend. Bringt aber in diesem Winter nicht
die gewohnte Leistung. Fühlt er sich nicht wohl?
Er schüttelte seinen Mantel einseitig von der Schulter. KOR hat angerufen und bittet um Rückruf, war die nächste Mitteilung. Er wechselte die Notizen in die andere Hand und zog den Mantel
ganz aus. Er wählte die Nummer von Kriminaloberrat Werner Wehmeyer, dem Leiter der Dienststelle
Zentraler Kriminaldienst.
»Ich habe nicht damit gerechnet, dass du dich heute noch meldest. Komm morgen mal
zu mir rauf. Es gibt da ein Problem, das würde ich gern mit dir unter vier Augen besprechen.«
»Jetzt ginge es auch.«
»Lassen wir es bei morgen, Adi. Schönen Feierabend.«
Konnert legte auf.
Die dritte Nachricht war eine Terminänderung. Deine Zeugenaussage im Zuhälterprozess ist nicht Mittwoch, sondern erst nach Weihnachten. Neuer
Verhandlungstag wird schriftlich mitgeteilt. Stephanie.
Stephanie Rosenberg, Kriminalhauptkommissarin, gehörte seit anderthalb Jahren zu den Ermittlern FK1. Sie legte Wert auf ihre
Kleidung, trug mal diese, mal jene modische Brille und wickelte, wenn sie
nachdachte, Strähnen ihrer blonden Haare um den linken Zeigefinger.
Konnert setzte sich und überflog auch noch den Urlaubsgruß von Kriminalkommissar Kilian Kirchner aus Phuket. Weg aus dem regnerischen
Dezemberwetter, hin ins warme Thailand. Konnert reizten solche Reisen nicht. Er
fand es aber schön, dass Kilian an seine Kollegen im kalten Norden gedacht hatte.
Aus einer Schublade zog er das Telefonbuch und fand den Eintrag des
Rechtsanwalts Keil. Um diese Zeit erreichte er aber nur den Anrufbeantworter.
Konnert nannte sein Anliegen, gab Handy- und Festnetznummer durch und bat
darum, umgehend zurückgerufen zu werden.
***
Es klopfte an der Haftraumtür. »Sascha, ich bin es.«
Knieling öffnete und ließ Michael Otten eintreten. Als die Tür zugefallen war, umarmten sie sich und setzten sich nebeneinander auf das Bett.
Unsicher legte Knieling die rechte Hand auf Ottens Unterarm.
»Sascha, ich habe Angst.«
»Angst musst du doch nicht haben. Mir wollen sie ans Leder, nicht dir. Jeder
kommt dafür infrage. Du bist der Einzige, dem ich hier vertraue.« Er tätschelte Ottens Hand und ließ seine dann auf ihr liegen. Er lehnte seine Schulter bei Otten an und
betrachtete lange die übereinandergelegten Hände.
»Was hat er gesagt? Kann er dir helfen?«
»Ich glaube nicht. Sein Vorschlag war, mich krankzumelden. Das würde Zeit bringen.«
»Du brauchst keine Zeit. Du brauchst Schutz. Sicher bist du selbst auf der
Krankenstation nicht.«
Otten blickte hinüber zum Bord über dem Tisch, wo Knieling Seminarhefte und einige Romane aufbewahrte. Er hätte gern einen Kaffee getrunken. Früher hatte Knieling immer einen großen Vorrat. Doch jetzt war der Platz neben der Kaffeemaschine leer. Auch das
Tabakpäckchen sah dünn aus.
»Am sichersten bist du in deiner Zelle.« Otten löste sich von Knieling, stand auf und stellte sich ans Fenster. Von draußen drang kein Ton herein. Kein Hundegebell, kein Straßenlärm, keine Geräusche der Stadt. Unwirkliche Stille, die dem Handwerker Michael Otten oft aufs
Gemüt schlug.
»Der Vorschlag vom Kommissar ist aber trotzdem nicht ganz schlecht.«
»Wie meinst du das?«
»Du meldest dich krank. Aber nicht so, dass du auf die Krankenstation kommst,
sondern nur hier im Bett liegen musst. Du lässt keinen rein. Ich versorge dich.«
Beide überlegten, welche leichte Beschwerde dazu führen würde, dass Knieling auf der Station bleiben könnte. Dann schlenderten sie hinüber zur Stationsküche, um sich ihr Abendbrot zuzubereiten.
»Das Pärchen Einsam und Verlegen«, kündigte sie einer an, und ein anderer rief: »Heißen sie nicht Klug und Scheißer?« Sie ernteten brüllendes Gelächter.
***
Auf der Fahrt nach Hause saß Konnert im Bus und beobachtete die Fahrgäste. Er stellte sich vor, was wohl in ihnen vorging. Drei Sitze hinter dem
Fahrer hockte ein Junge, der einen Geigenkasten zwischen die Beine geklemmt
hatte. Noch ein Jahr oder zwei, dachte Konnert, dann quält er seine Eltern, bis er das Instrument auf den Schrank legen darf. Oder er
wird seine Geige lieben und vorsichtig auf dem Schoß festhalten. Eine Reihe weiter presste eine Frau eine schwarze Aktenmappe an
ihre Brust, als würde sie ein Vermögen darin beschützen. Vielleicht trägt sie ihren neuen Arbeitsvertrag nach Hause, dachte Konnert.
An der Haltestelle Zanderweg stieg er aus. Ein paar Schritte wollte er gehen und
den Hebel umlegen, wie Zahra es ihm einmal ans Herz gelegt hatte. Er fand, dass man das leichter
sagen als in die Tat umsetzen konnte. Besonders schwer wurde es, wenn das Handy
klingelte und Venske anrief.
»Es gibt hier eine Vergewaltigungsanzeige. Man hat mich angerufen. Ist es in
Ordnung, dass ich Stephanie kommen lasse und sie die erste Befragung macht?
Unsere momentan übersensible Babsi soll ich damit doch bestimmt nicht behelligen.«
Konnert missfiel der sarkastische Unterton seines Stellvertreters. Barbara
Deepe, von allen Babsi genannt, war Kriminaloberkommissarin. In der
Vergangenheit war sie sportlich durchtrainiert, fleißig und dabei eher unauffällig gewesen. Dann hatte es Probleme in ihrer Beziehung gegeben. Jetzt war sie häufig unkonzentriert und reagierte dünnhäutig. Nur Konnert war von ihr ins Vertrauen gezogen worden. Darum verkniff er
sich einen Kommentar und sagte: »Ist richtig so. Wieder häusliche Gewalt?«
»Nein, diesmal hat es eine Studentin auf dem Rückweg von einer Weihnachtsparty erwischt. In Bloherfelde, verschleppt, betäubt und ohne Kleidung zurückgelassen. Eine Joggerin hat sie total unterkühlt gefunden und anstatt sie in ein Krankenhaus zu bringen, hat sie sie mit
ihrem Wagen nach Hause verfrachtet. Verfluchte Scheiße.«
»War sie beim Arzt?«
»Ja, aber erst heute am späten Nachmittag. Sie ist mit der Sprechstundenhilfe der Ärztin hierhergekommen. Eine Mitarbeiterin der Kriminaltechnik ist dann mit ihr
ins Evangelische Krankenhaus gefahren.«
»Stephanie soll sich Zeit lassen.«
»Das brauche ich ihr nicht zu sagen.«
Konnert schloss die Haustür auf. Ihn empfing aus der oberen Etage das fröhliche Lachen junger Leute. Den beiden scheint es richtig gut zu gehen, stellte
er fest. Im Mai war seine Tochter Ruth bei ihm eingezogen. Er hatte ihre
Schulden bezahlt, oben eine Küche einbauen lassen und das eine oder andere Möbelstück spendiert. Sein Wunschauto musste dann eben noch auf ihn warten.
Schwiegersohn Sven hatte seinen Entschluss in die Tat umgesetzt, keinen Alkohol
mehr zu trinken. Erst nach der durchgestandenen Entziehungskur hatte er seine
Frau angerufen und berichtet, dass er zusätzlich ein Antiaggressionstraining erfolgreich absolviert hatte. Er würde sie nie mehr schlagen. Einige Wochen später war er wieder bei Ruth eingezogen. So langsam gewöhnte sich Konnert daran, nicht mehr allein im Haus zu wohnen.
Kurz vor acht Uhr wechselte er ins Wohnzimmer, um die Tagesschau anzusehen. Die
Separatisten in der Ukraine lehnten Friedensgespräche ab. Das Stichwort Ukraine löste bei ihm noch immer Erinnerungen an einen Fall mit vergewaltigten
Zwangsprostituierten aus. Er hätte gern gewusst, wie es der geflohenen Frau jetzt ging und ob sie in ihrer
Heimat angekommen war. Als der Sportreporter auf die 5:2-Demütigung für Werder Bremen durch Eintracht Frankfurt zurückkam, schaltete Konnert den Apparat ab.
Seine Gedanken wanderten zurück zu Sascha Knieling. Ihn wird das alles wenig interessieren, was heute Abend
im Fernsehen läuft. Mich eigentlich auch nicht. Er suchte eine Pfeife mit großem Kopf aus, stopfte sie sorgfältig und ging zum Rauchen auf die Terrasse.
An einem kühlen Septemberabend hatte er draußen gesessen und gefröstelt. Am nächsten Tag war er in einen Baumarkt gefahren, um einen Heizstrahler zu kaufen.
Den hatte er an einem Samstagnachmittag über seinem Sessel an die Wand montiert. Jetzt konnte er auch im Winter hier
sitzen, in den dunklen Garten schauen und seinen Gedanken nachhängen.
Welche Rechnung sollte Knieling mit einer Vergewaltigung und anschließendem Tod begleichen? Mit einem Mal stolperte seine Erinnerung über das Wörtchen »wir« in der Morddrohung. Dann machen wir dich weg. Wer stellte die Rechnung aus?
Dienstag, 9. Dezember
Die Frühschicht schloss den Haftraum zur Lebendkontrolle auf.
»Knieling, was ist los? Noch im Bett? Auf geht’s! Ein neuer Tag wartet auf Sie.«
»Ich glaube, ich bin krank. Ich habe Halsschmerzen, die Nase ist dicht und mein
Kopf dröhnt. Mir ist schwindelig.«
»Fieber? Ich benachrichtige den medizinischen Dienst.«
»Nicht nötig. Was von allein kommt, geht auch wieder von allein. Alte Oldenburger
Weisheit.«
»Ich melde Sie trotzdem beim medizinischen Dienst an.«
***
Sein Schwiegersohn war auf seiner Joggingtour beim Backshop vorbeigekommen und
hatte Brötchen gekauft. Konnert bückte sich und hob seine Tüte von der ersten Stufe der Treppe auf.
Zahra.
Ihr Name streifte durch seine Gedanken. Er goss heißes Wasser in den Kaffeefilter und sah zu, wie die braune Brühe versickerte. Über sich hörte er die Schritte seiner Tochter.
Am Küchentisch blies Konnert über seinen Becher und schlürfte einen ersten kleinen Schluck. Zurückgelehnt auf dem Stuhl, auf dem er schon gesessen hatte, als noch seine Frau
das Frühstück für ihn und die beiden Kinder gemacht hatte, überdachte er wieder einmal die Entscheidungen des letzten Sommers.
Zahra. Immer mehr hatte sie ihn herausgefordert. Er erinnerte sich an den
Samstag im August. Sie wollte unbedingt mit ihm in einen Hochseilgarten fahren.
Er konnte sich den enormen Altersunterschied und die allzu entgegengesetzten
Freizeitinteressen nicht mehr schönreden. Sie hatte erst gequengelt und dann versucht, ihn mit weiblichen Tricks
umzustimmen. Später hatten sie sich gestritten und ihm war der Satz herausgerutscht, dass er ihr
weder den fehlenden Vater ersetzen konnte, noch sich weiter auf ihren
sportlichen Lebensstil einlassen wollte. Das war der Anfang vom Ende ihrer
Beziehung gewesen. Zahra war es, die schließlich mit ihm Schluss gemacht hatte, nachdem er abgelehnt hatte, dass sie bei ihm
einzog. Am 22. September hatten sie sich endgültig getrennt. Herbstanfang. Seitdem frühstückte er wieder allein in seinem Haus und fühlte sich einsam.
Auf der Fahrt ins Kommissariat meldete sich sein Handy. Am Sicherheitsgurt
vorbei fummelte er es aus seiner Hosentasche. Rechtsanwalt Keil rief an. Ein
fleißiger Mann, stellte Konnert fest, so früh hat er schon den Anrufbeantworter abgehört und ist an die Arbeit gegangen. Sie verabredeten ein Treffen für 11:15 Uhr in seiner Kanzlei.
Im Büro saß Babsi bereits am Schreibtisch und bearbeitete die Tastatur. Das hatte er
erwartet. Es kam Konnert so vor, als hätte sie am Wochenende noch mehr zugenommen. Kummerspeck, schoss es ihm durch den
Kopf. Sie lehnte sich zurück, verschränkte die Arme unter der Brust und überprüfte den Text auf dem Bildschirm.
Konnert war in der Tür zum Großraumbüro stehengeblieben und musste unwillkürlich auf ihre linke Hand blicken. Kein Verlobungsring mehr.
Er ging zu ihr. »Moin, Babsi. Gut, dass du schon hier bist.«
»Moin«, kam es müde zurück. »Vergiss nicht, dass ich für 15 Uhr einen Termin bei meiner Frauenärztin habe.«
»Ich werde daran denken.«
***
Um 8:19 Uhr verließ Michael Otten zum unbegleiteten Ausgang die Haftanstalt. Obwohl ein leichter
Graupelschauer niederging, stellte er sich neben das gläserne Haltestellenhäuschen und wartete.
In Gedanken nannte er sich zum ungezählten Mal einen Idioten. Statt nach dem Richtfest ein Taxi zu nehmen und zwanzig
Euro zu zahlen, setze ich mich in mein Auto und fahre angetrunken los. So blöd kann auch nur ich sein.
Auf dem Nachhauseweg hatte er dann einem Fiat Panda die Vorfahrt genommen. Die
Fahrerin starb noch an der Unfallstelle. Sie hatte eine ihrer Töchter und deren Freundin von einem Discobesuch abgeholt. Die beiden Mädchen mussten schwer verletzt ins Klinikum gebracht werden. Er selbst hatte nur
ein paar Prellungen und ein Schleudertrauma erlitten.
Verurteilt wurde er zu zweiundfünfzig Monaten Gefängnis ohne Bewährung, weil er schon zweimal in einer Alkoholkontrolle aufgefallen war. Wegen
guter Führung stand für ihn demnächst die vorzeitige Entlassung an.
Der Bus kam und mit ihm stieg ein Mann ein, der Otten trotz der Kälte den Schweiß auf die Stirn trieb.
Vor vier Monaten hatte sich der Fremde zum ersten Mal an ihn herangeschlichen
und zu ihm gesagt: »Ich bin Eugen. Mehr musst du von mir nicht wissen.« Er hatte ihm die Hand auf die Schulter gelegt und geraunt: »Ihre Frau hat mir freundlicherweise verraten, wann Sie Ausgang haben.« Otten hatte ihm den Kopf zugewandt. Er wollte erst sagen: »Hände weg!«, hatte dann aber nur die Hand angestarrt. Dem kleinen Finger fehlte das letzte
Glied. Er meinte, so etwas in einem japanischen Kriminalfilm gesehen zu haben.
Der verkürzte Finger war das Erkennungszeichen der Yakuza. Er erinnerte sich daran, weil
er sich damals gefragt hatte, ob man dem Schauspieler das Fingerglied tatsächlich amputiert hatte. Es hatte so echt gewirkt. Eugen sah aber mehr wie ein
Sinti oder Roma und nicht wie ein Asiat aus.
Nur mit halbem Ohr hatte er zugehört, wie Eugen von ihm verlangte, mit Sascha Knieling eine erotische Beziehung zu
beginnen. Er hatte natürlich gezögert und sich geweigert. Dann hatte Eugen damit gedroht, seine Frau oder die
beiden Töchter zu entführen und in die Prostitution zu verkaufen. Er hatte ihn angegrinst: »Ich versichere dir, wir haben dazu die Mittel und die Möglichkeiten«. Da hatte er zugestimmt. Seitdem tauchte er immer auf, wenn Ottens Ausgang
genehmigt worden war. Er erkundigte sich dann nach dem Fortschritt des Verhältnisses zu Knieling. Otten hatte zunächst ausweichend geantwortet, weil er immer noch nicht glauben konnte, dass es
dem Gangster ernst mit der Drohung war. Aber dann hatte dieser ihm von
Telefongesprächen mit seiner Frau erzählt und wie gut sie sich verstehen würden.
Da hatte Otten damit gedroht, zur Polizei zu gehen. Eugen hatte ihm dann auf dem
Handy einen Film gezeigt. Zwei fast unbekleidete Prostituierte standen am Straßenstrich und fassten sich in den Schritt oder boten ihre Brüste an. Im Hintergrund waren Palmen zu sehen und dunkelhäutige Menschen. »Ihr Vater meinte, er müsse seine Schulden bei uns nicht bezahlen und könnte besser zur Polizei gehen. Die würde ihn und seine Familie beschützen. Kapierst du jetzt, warum ich weiß, dass du nicht zur Polizei gehen wirst?« An dem Nachmittag hatte Otten resigniert.
Am Dienstag vor einer Woche war Eugen ihm in einem Alfa Romeo auf dem Weg von
der Bushaltestelle in Tungeln nach Hause gefolgt. Er hatte ihn gezwungen, ins
Auto einzusteigen. Dort musste er einen Text auswendig lernen. Wörtlich sollte er den auf einen Zettel schreiben und Knieling heimlich zustecken.
»Von mir aus kannst du deine Handschrift verstellen«, hatte er gegrinst. Otten hatte die Anweisung befolgt.
Jetzt schob sich Otten an einzelnen Fahrgästen vorbei in den hinteren Teil des Busses. Auf der letzten Bank saß ein Pärchen und fummelte miteinander. Er ließ sich auf einen Sitz am Gang fallen. Eugen folgte ihm durch den Bus und drängte ihn auf den Fensterplatz. Er zischelte: »Ist alles klar, mein Freund?«
»Ich bringe das nicht. Ich bin Zimmermann. Ich kann mit Hammer, Säge und Beil umgehen. Was Sie verlangen, ist für mich unmöglich.«
»Du wirst es tun. Heute. Denk an deine Frau und deine hübschen Töchter. Was werden sie von dir denken, wenn sie erfahren, was du für eine Schwuchtel bist. Überleg dir das. Dann kannst du es. Weigerst du dich, holen wir die Damen ab.« Er tippte auf seinem Handy herum und ließ einen anderen Film ablaufen. Ein schlanker Mann war darauf zu sehen, der mit
Ottens Töchtern sprach und sie offensichtlich belästigte. Eugen verzog das Gesicht zu einem überheblichen Grinsen. »Du machst es. Heute! Stimmt’s?«
Ottens Hände verkrampften sich um den Riemen seiner Sporttasche. Ihm schossen die genauen
Anweisungen des Mannes durch den Kopf. Um nicht loszuschreien, hielt er die
Luft an, bis im schwindelig wurde.
»Heute! Halte dich an das, was ich dir gesagt habe, und alles wird gut.« Gleichzeitig steckte er Otten einen Schein in die Tasche. »Die nächste Rate, mein Freund.«
An der nächsten Bushaltestelle stieg Eugen aus. Otten sah ihm hinterher und schauderte.
Eugen hatte die rechte Hand um seine Kehle gelegt.
***
Eine Stunde nach Dienstantritt meldete sich Konnert wie abgesprochen beim
Kriminaloberrat. Wehmeyer saß in Uniform hinter seinem Schreibtisch und las mit einem gelben Marker in der
Hand ein Manuskript.
»Ich muss heute Nachmittag einen Vortrag an der Polizeiakademie in der
Bloherfelder Straße halten. Willst du das nicht für mich übernehmen?« Er grinste.
»Nein, danke. Das mach du mal. Dafür wirst du ja auch besser bezahlt als ich.«
»Schmerzensgeld.«
»So schlimm?«
Wehmeyer nickte. »Was anderes. Adi, ich kann hier im Haus nicht mit jedem darüber sprechen. Aber mit dir. Es betrifft dich auch.«
Konnert rätselte, was denn wohl so geheimnisvoll sein könnte.
»Du weißt, die Stelle des Leiters vom FK6, Kinder und Jugend, Ermittlungsgruppe Fahrrad,
muss zum 1. April neu besetzt werden.«
Konnert hatte schon davon gehört, dass sich der derzeitige Leiter nach Lüneburg beworben hatte und ausgewählt worden war.
»Und was habe ich damit zu tun?«
»Es gibt bisher zwei externe Bewerbungen für die Stelle.« Wehmeyer machte eine Pause. »Und Bernd Venske hat seine Unterlagen auch eingereicht.«
Konnert schwieg. Mal wieder.
»Venske will jetzt Karriere machen und nicht abwarten, bis du deinen Stuhl
freimachst.«
Der Kriminaloberrat erwartete vergebens eine Reaktion.
»Nun sag endlich was dazu!«
»Bernd ist ein guter Polizist. Du hast recht, dass er weiterkommen möchte. Was spricht dagegen, dass er sich beworben hat?«
»Die Stelle ist schon vergeben. Die Ausschreibung war nur pro forma wegen der
Vorschriften. Steck ihm, dass er seine Bewerbung zurückziehen soll. Sonst gibt es nur unnötiges Gerede im Haus. Du weißt doch, wie die Leute so sind.«
»Wie unfair ist das denn?«
Eine Pause entstand.
Der Kriminaloberrat sah Konnert fragend an. »Ist noch was?«
»Ich … ich brauche auch einen Rat.« Er erzählte von seinem Besuch im Gefängnis. »Der Gefangene machte den Eindruck, dass er tatsächlich um sein Leben fürchtet. Der schauspielert nicht.«
Jetzt war es Wehmeyer, der schwieg.
»Kennst du vielleicht den Direktor der JVA?«
»Kennen? Wir sind uns bei verschiedenen Gelegenheiten begegnet. Koop wird sich
schon an mich erinnern. Aber kennen? Ihn so gut kennen, dass ich ihn von einer
umgehenden Verlegung überzeugen kann, ohne Gründe zu nennen … Nein.«
Mit zusammengekniffenen Lippen rutschte Konnert auf die Vorderkante des
Besucherstuhls.
»Wenn du willst, versuche ich es«, sagte Wehmeyer.
»Lass es lieber. Es war keine gute Idee von mir. Koop ist clever und kombiniert
meinen Besuch mit deinem Anruf und wittert doch Kriminelles im Hintergrund.
Nein, vergiss es.«
Resigniert lehnte sich Konnert kurz zurück, um gleich wieder aufzuspringen.
Der Oberrat reichte ihm die Hand über den Schreibtisch.
»Mir läuft die Zeit weg«, murmelte Konnert zum Abschied.
***
Auf dem Hörneweg parkten die Einsatzwagen der Spurensicherung. Die Blaulichter auf den
Mannschaftswagen einer Hundertschaft der Bereitschaftspolizei blinkten.
Zusammen mit den Experten und Mitarbeitern ihres Teams suchte Stephanie
Rosenberg die Wiesen und Ufer rechts und links der Haaren in Richtung Osten ab.
Sie hofften Spuren im Zusammenhang mit der Vergewaltigung der Studentin zu
finden. Die Flüche der Polizisten über das Scheißwetter und den morastigen Untergrund waren verstummt. Nur noch die Geräusche der an Weiden und Steine stoßenden Suchstöcke waren zu hören.
Die Gruppen passierten den Drögen-Hasen-Teich und erreichten die nächste Straße. Im trockenen Sand unter der Brücke fand eine junge Polizistin ein Fahrrad und markierte die Stelle.
Auf dem Quellenweg sei sie unterwegs gewesen, hatte das Opfer am Abend des
Vortags ausgesagt. Kurz vor der Einmündung Hartenscher Damm hatte der Mann sie angehalten. Er hatte gefragt, ob sie
ein Handy dabei habe und sie für ihn die Polizei anrufen könnte. Als sie in ihrer Handtasche gekramt hatte, ist er dann plötzlich auf sie losgegangen. Sie hatte ihm ihr Fahrrad entgegengeschleudert und
war geflüchtet. Er hatte sie aber eingeholt, festgehalten, ihr den Arm über die Schulter gelegt und ihr ein Messer an die Kehle gedrückt. So wurde sie weitergeschoben. Dann hatte er sie losgelassen und vor sich
her gestoßen. In der Dunkelheit war sie mehrfach gestolpert. Immer wieder hatte er sie
hochgerissen und vorwärtsgetrieben. Über einen langen Holzsteg sei sie getaumelt. Sie konnte sich auch noch an ein
Eisenrohr erinnern, an das sie sich geklammert hatte. Wo genau er sie gegen
einen Maschendrahtzaun gedrückt und betäubt hatte, das wusste sie nicht genau. Das Letzte, an das sie sich erinnerte,
seien die Schmerzen ihrer Kopfhaut gewesen, als der Mann sie an den Haaren
herumgerissen habe.
Ein Zug der Hundertschaft ging weiter an der Haaren entlang. Die beiden anderen
Züge durchstreiften das Gelände westlich vom Hörneweg. An den aufgeweichten Wiesenrändern lag nur Müll. Weder das Messer noch die Kleidung des Opfers wurden gefunden. Im Gras der
nassen Wiesen und auf den schlammigen Wegen konnte keine brauchbare Spur
sichergestellt werden.
Stephanie bedankte sich bei den Frauen und Männern der Hundertschaften für ihren Einsatz. Die Beamten der Spurensicherung gossen noch die Fußspur und Reifenspuren auf beiden Parkplätzen am Drögen-Hasen-Weg aus. Sie hatten wegen der Feuchtigkeit aber wenig Hoffnung,
brauchbares Material sicherstellen zu können.
Stephanie und ihre Leute reinigten provisorisch Schuhe und Hosen und begannen
dann, die Bewohner der umliegenden Häuser zu befragen. Doch niemand hatte etwas gehört oder gesehen.
***
Michael Otten überlegte, ob er sich eine Verletzung zufügen sollte. Er stand in seinem Holzschuppen an der Kreissäge und schnitt aus gebrauchten Paletten kurze Bretter für den Kaminofen. Immer wieder kamen ihm die Worte des Fremden in den Sinn. Mach bloß keine Faxen. Denk an deine Frau und deine Töchter. Seine Hände zitterten. Das Sägeblatt kreischte im verkanteten Holz auf. Er stellte die Maschine ab und
schlurfte in Richtung Haus.
Ein Regenschauer ging nieder. Unter dem Dachvorsprung drehte er eine Zigarette
und zündete sie an. Noch immer flatterten seine Finger. Er dachte an das Video mit
seinen Töchtern, das Eugen ihm gezeigt hatte, und an die halbnackten Mädchen auf irgendeinem Straßenstrich.
Am vergangenen Freitag hatte er gesagt: Vergiss nicht. Wir sind wie die
Bildzeitung. Wohin du auch fliehst, wir sind schon da. Otten schleuderte die
Kippe in eine Pfütze und rieb sich die Hände warm.
»Micky! Wo steckst du?«
Er stakste ins Haus. »Ich war nur eine rauchen.«
»Du hast kein Holz mitgebracht. Was ist heute los mit dir?« Seine Frau sah ihm besorgt ins Gesicht.
»Hole ich gleich noch.«
»Hat dich eigentlich dein Kollege abgeholt? Er ist immer so nett und
zuvorkommend, wenn er anruft und fragt, wann du das nächste Mal nach Hause kommst.«
»Ja, er ist ein Stück im Bus mitgefahren und hat mir wieder einen Hunderter zugesteckt.« Mit belegter Stimme fügte er an: »Wir müssen ihm dankbar sein.«
»Er kann ja gern mal mitkommen, wenn du uns besuchst, und einen Kaffee
mittrinken. Lade ihn doch beim nächsten Mal ein. Ohne seine Unterstützung könnten wir uns manches nicht mehr leisten.«
»Das mache ich. Ich gehe jetzt und hole Brennholz rein.«
Im Schuppen ballte Otten die Faust und ließ die Säge aufheulen.
***
Das Rechtsanwaltsbüro in Wardenburg lag in einer Nebenstraße. Es war in einem ehemaligen Geschäft untergebracht. Die beiden Schaufenster waren mit großflächigen Bildern vom Oldenburger Landgericht und dem Amtsgericht beklebt worden.
Im einstigen Verkaufsraum zog ein bis unter die Zimmerdecke reichender,
korallenroter Stahlschrank den Blick auf sich. Die spärlichen Regale an ockerbraunen Wänden glänzten papageiengelb und enthielten nur einzelne Akten. Eine ältere Dame empfing Konnert. Ihr Schreibtisch bestand aus zusammengeschraubten
Europaletten, über die eine Glasplatte gelegt worden war.
»Mein Sohn erwartet Sie.« Sie stand auf und öffnete eine Tür im Hintergrund. »Enno. Herr Konnert.«
Ein Mann mit hellbraunen Locken und einem gewinnenden Lächeln erschien im Türrahmen. »Ich freue mich, Sie kennenzulernen, Herr Hauptkommissar.« Er streckte ihm die Hand entgegen, um sie gleich in einer ausholenden Bewegung
einladend zur Seite zu schwingen. »Treten Sie ein in mein bescheidenes Heim.«
An der granitgrauen Stirnwand hingen Diplome, Urkunden und Prüfungszeugnisse in orangefarbenen Holzrahmen. Der Schreibtisch war eine
Chippendale-Konsole, die türkisgrün angemalt worden war. Um sie herum standen vier gleichfarbige, aufgepolsterte
Barockstühle.
»Bitte nehmen Sie Platz.« Er wartete, bis sein Besuch sich gesetzt hatte, und fragte: »Tee oder Mineralwasser?«
»Danke. Nichts. Sehr freundlich, aber ich will nur kurz bleiben.« Konnert war irritiert von der kunterbunten Farbenpracht. Er überlegte, ob er diesem exzentrischen Juristen zutraute, Knielings Verlegung
durchzusetzen. Aber Äußerlichkeiten sollten sein Urteil jetzt nicht bestimmen.
»Herr Keil, Sie waren Sascha Knielings Anwalt. Er steckt in einer äußerst problematischen Situation.« Konnert berichtete, was Knieling ihm anvertraut hatte.
Der Anwalt hörte aufmerksam zu.
»Ich bin hier, um Sie zu fragen, ob Ihnen vielleicht etwas einfällt, was ihm helfen könnte.«
»Es ist nicht meine Art«, antwortete Keil, »so aus dem Augenblick heraus Ratschläge zu erteilen. Ich werde mir Zeit nehmen und über die Sachlage nachdenken. Sie erhalten von mir bis 15 Uhr eine Nachricht.« Damit kam Keil hinter seinem Schreibtisch hervor. »Sie hatten es eilig.«
***
Neben seinem Mittagessen in der Kantine lag der Block mit karierten DIN-A4-Blättern. In der Mitte der Seite hatte Konnert das Wort Verlegung eingekreist. Von da aus führten Pfeile zu Begriffen und Ideen, die ihm zu diesem Stichwort eingefallen
waren.
Er schob sich mit der linken Hand Pommes in den Mund.
Keine Lösung schien ihm brauchbar zu sein. Unwirsch strich er eine nach der anderen
durch. Das Papier riss ein.
Konnert schrak auf, als Venske sein Tablett ihm gegenüber auf den Tisch stellte. »Mit den Schlägereien vom Wochenende bin ich so gut wie fertig.« Er setzte sich und griff zum Besteck. »Es gibt noch eine schwerwiegendere Anzeige. Ein Albaner hat ein Messer gezogen
und einen Griechen an der Hüfte verletzt. Natürlich war bei allen Fällen wieder zu viel Alkohol im Spiel.«
»Ja, das stimmt.«
»Du hast mir überhaupt nicht zugehört.«
»Entschuldige, was hast du gesagt?«
»Du hast mir überhaupt nicht zugehört.«
»Nein, vorher.«
»Vergiss es!«
Konnert schob seinen Teller zur Seite. »Mir ist aber etwas anderes zu Ohren gekommen. Du hast dich auf die Stelle FK6
beworben.«
»Hätte ich dich erst um Erlaubnis bitten sollen?«
»Natürlich nicht. Aber ich weiß mehr darüber.«
»Ist schon entschieden, dass ich wechseln werde?«
»Die Bewerbungsfrist ist noch nicht abgelaufen. Es ist trotzdem schon entschieden
worden. Es tut mir leid, aber du wirst bei uns im FK1 bleiben müssen.«
»Weshalb?«
»Ganz, ganz oben gibt es irgendeine Interessenlage. Da hat einer durchgesetzt,
dass jemand anderes die Stelle bekommen soll.«
»Dagegen gehe ich an. Wer steckt dahinter?«
»Lass es. Es ist zwecklos. Du stehst hinterher nur als schlechter Verlierer da.
Ich rate dir, zieh deine Bewerbung zurück.«
Wortlos stieß Venske seinen Teller weg, so dass er gegen Konnerts Wasserglas prallte. Er
stand auf, wandte sich im Gehen noch einmal um und quetschte zwischen den Zähnen hindurch: »Es gibt auch andere Stellen.«
Konnert war der Appetit vergangen. Eigentlich musste er sich sofort um Venske kümmern. Das verschob er jedoch auf später. Er hatte jetzt schwerwiegendere Probleme und überlegte, wer einflussreich genug wäre, um Knieling formlos verlegen zu lassen.
***
Im Büro der Staatsanwältin glänzten die dicken Blätter des Geldbaums auf der Fensterbank. Sie hat einen grünen Daumen, stellte Konnert fest und setzte sich neben einer Birkenfeige auf den
Besucherstuhl.
»Herr Hauptkommissar, wie geht es Ihnen?«
»Danke der Nachfrage.«
»Was kann ich für Sie tun?«
Konnert bemerkte ihr Lächeln und schilderte das Problem mit Sascha Knieling. »Ich laufe von Pontius zu Pilatus und suche nach einer Lösung. Der Gefangene setzt seine ganze Hoffnung auf mich. Er hat niemanden sonst,
der ihm helfen könnte. Fällt Ihnen vielleicht etwas ein?«
Erst zog sie die Augenbrauen hoch und machte große Augen, dann zuckte sie mit den Schultern. »Wenn wir ein paar Tage Zeit hätten, dann … Aber von jetzt auf sofort. Da bin ich so ratlos wie Sie.«
Dorothee Lurtz-Brämisch beugte sich nach links und zog eine Schublade ihres Schreibtisches auf. »Ich habe die Adresse des Abteilungsleiters vom Referat 303 im Justizministerium
in Hannover. Er ist für die Vollzugsgestaltung und Behandlungsmaßnahmen zuständig. Den kenne ich ganz gut. Manchmal gibt es ...« Sie richtete sich auf. »Aber in der Kürze der Zeit. Nein, selbst auf dieser Ebene passiert nichts so schnell.«
Mit zusammengekniffenen Lippen saß Konnert auf seinem Stuhl und nickte.
Auf der Rückfahrt ging ihm durch den Kopf, er könnte bei der Staatsanwältin seine Zeit verschwendet haben. Er fuhr an der Polizeiinspektion vorbei und
parkte vor der Auferstehungskirche.
Auf den Friedhof kamen heute nicht einmal die Witwen, die sich sonst täglich auf den Weg zum Grab machten. Wer wollte auch bei diesem Wetter hier draußen sein. Nur er saß auf seiner Lieblingsbank, blickte über das anonyme Urnenfeld des Neuen Friedhofs, fror und rauchte. Den Mantel eng
um den Körper gewickelt, den Kopf nach vorn gestreckt, als wollte er gegen eine Wand
anrennen, saß er da. Seine Augen fanden eine bestimmte Stelle auf dem Rasen. Da hatte einmal
eine Blumenschale gestanden. Er hatte sie damals minutenlang angestarrt, als er
einmal mitschuldig am Tod eines Mannes geworden war.
Werde ich heute einen Mann retten können? Ich habe immer noch keinen Weg gefunden, Knieling zu helfen, betete er
still. Die Bedrohung ist für ihn real. Ihm selbst sind keine Lösungen eingefallen. Er setzt alle seine Hoffnungen in mich, den Bullen, der ihn
ins Gefängnis gebracht hat.
Zurück im Kommissariat fand Konnert die Nachricht von Anwalt Keil. Er hatte auch
keinen Vorschlag machen können.
Konnert ging zum Fenster und sah hinaus zu den kahlen Lindenbäumen auf der anderen Straßenseite. Es gibt immer einen Ausweg, sagte er sich. Aber ihm wollte keiner
einfallen.
***
In der geöffneten Haftraumtür drehte sich Michael Otten noch einmal um. Sein Gesicht war gerötet, wie nach einem langen Lauf. Er atmete gleichmäßig. Seine Hände lagen ruhig am Türrahmen. Prüfend schweifte sein Blick durch die Zelle. »Schlaf dich gesund. Gute Besserung. Bis morgen«, sagte er laut. Dann ließ er die Tür zufallen und bummelte die sechs Schritte hinüber zu seinem eigenen Haftraum.
Um 15:24 Uhr öffnete die diensthabende Beamtin Maike Lüttmann die Tür zu Knielings Haftraum vor dem Nachteinschluss. Die Fenstervorhänge waren zugezogen. Das Licht einer kleinen Lampe neben dem Fernseher reichte
ihr aus, um den Gefangenen zu erkennen. Er lag mit dem Gesicht zur Wand in
seinem Bett. Die Bettdecke war bis über die Schultern heraufgezogen. Unter seinem Kopf konnte Maike Lüttmann das Ende eines Schals erkennen. »Knieling? Alles okay?«
Sie versperrte die Tür und betrat den Raum. Die Tür fiel hinter ihr bis auf einen Spalt zu. Es dauerte knapp eine halbe Minute,
bis sie zurück in den Flur kam, die Tür sachte zudrückte, den Riegel umlegte und abschloss.
Otten saß zwei Hafträume weiter an seinem Tisch. Der Fernseher war eingeschaltet. Sturm der Liebe lief. Er achtete weder auf die Telenovela, noch nahm er die Geräusche aus dem Flur war. Starr sah er auf seine Finger, die eine Zigarette nach
der anderen drehten.
***
Viel zu oft ließ Konnert an diesem frühen Abend seine Augen durch sein Büro schweifen.
Die Wände waren in seinem Urlaub in einem angenehm hellen Ockerton gestrichen worden.
Dorothee Lurtz-Brämisch hatte nach der Renovierung sogar aus ihrem Staatsanwaltsbüro einen Zierspargel und einen Farn spendiert und ihm auf die Fensterbank
gestellt. Sie hatte sogar Pflegeanweisungen auf einem Zettel dazugelegt. Bei Vangogh in der Cloppenburger Straße hatte er sich dann drei Kunstdrucke von Gustav Klimt gekauft, sie rahmen
lassen und seinem Schreibtisch gegenüber aufgehängt. In der Mitte hing das Bild Farmer’s Garden und links und rechts davon Tannenwald und Birkenwald. Sein Blick blieb an der schlanken Geradlinigkeit der Bäume hängen, die zum Himmel strebten.
Direkt, ohne Umwege, aufs Ziel zusteuern. Dieser Gedanke kam ihm beim Anblick
der Bilder in den Sinn, und die vergeblichen Versuche, für Knieling etwas durch die Hintertür zu erreichen. Spontan griff er zum Telefon und ließ sich mit dem Nachtdienst der Justizvollzugsanstalt verbinden.
Ich bin weder Priester, noch unterliege ich in diesem Fall der Schweigepflicht,
versuchte er sich zu überzeugen. Wenn ich nur auf diese Weise sein Leben retten kann, dann muss ich
eben alles sagen.
»Herr Hauptkommissar, was gibt’s?«
»Ich hatte gestern Nachmittag ein Gespräch mit dem Gefangenen Sascha Knieling. Er eröffnete mir, dass er eine anonyme Drohung erhalten hat und um sein Leben fürchtet. Ich hatte den Eindruck, dass er tatsächlich von seiner Ermordung ausgeht. Er bat mich, dafür zu sorgen, dass er in eine andere Haftanstalt verlegt wird.«
»Herr Konnert, wir werden morgen mit dem Gefangenen über seinen Wunsch sprechen. Das geht hier alles seinen geregelten Gang. Vielen
Dank für Ihren Anruf.«
»Aber er fühlt sich bedroht!«
»Er ist bei uns absolut gut aufgehoben, Herr Kommissar. Knieling hat sich heute
krankgemeldet. Er ist tagsüber im Haftraum geblieben. In der Zwischenzeit ist der von meiner Kollegin
verschlossen worden. Sicherer als in seinem Bett kann er die Nacht nicht
verbringen. Machen Sie sich keine Sorgen, Herr Konnert.«
»Und morgen, wenn die Zelle wieder aufgeschlossen wird?«
»Glauben Sie mir, auch dann ist er unter ständiger Aufsicht. Wir werden ihn besonders im Auge behalten. Wie ich schon sagte,
man wird mit ihm alles Weitere besprechen.«
Bei Konnert blieb ein zwiespältiger Eindruck zurück. Einerseits beruhigte es ihn, dass Knieling eingeschlossen in seiner Zelle
vor Angriffen geschützt war. Andererseits nagte an ihm der Zweifel, ob es korrekt war, die Bedrohung
mitzuteilen. Aber Besseres war ihm nicht eingefallen.
***
Niemand konnte sich noch daran erinnern, wer den Vorschlag gemacht hatte, die
Bibel Abschnitt für Abschnitt durchzusprechen und beim ersten Vers anzufangen.
Mittlerweile hieß die Bibelstunde Gesprächskreis, aber der Beschluss von damals hatte noch Gültigkeit. Also lasen die vierzehn Frauen und Männer an diesem Abend den Text im ersten Buch Mose, Kapitel 34.
Dina, die Tochter Jakobs, war vergewaltigt worden, und ihre Brüder rächten die Schande auf grausame Weise mit einem Massenmord.
Konnert dachte sofort an die Studentin und ihre Vergewaltigung am Drögen-Hasen-Teich. Er schwieg. Ein Gespräch kam nicht in Gang.
»Adi, sag du doch mal was dazu. Du bist doch der Fachmann, wenn es um
Vergewaltigungen geht.« Die grauhaarige Käthe Nowak neben Pastor Többens errötete. »Du weißt schon, wie ich das meine.«
»Warum nehmen sich Männer Frauen mit Gewalt?«, wollte Uschi Dörkens wissen und beugte sich erwartungsvoll nach vorn.
»Frauen vergewaltigen auch Männer«, ergänzte Renke Brunn.
»Ja, aber nicht so oft wie andersherum«, entgegnete Uschi Dörken.
»Also, Adi, warum?«
»Wollt ihr etwa einen Vortrag von mir über die Ursachen von Gewalt hören?«
»Keinen Vortrag, aber Stichworte, die uns weiterhelfen.«
»So genau weiß niemand, warum einige Männer Frauen gegenüber gewalttätig werden und andere nicht. Es gibt verschiedene Erklärungsansätze. Die einen sagen, es sind die Gene. Jeder Mann würde das Verlangen in sich tragen, seine Partnerin zu unterwerfen und zu
kontrollieren. Nur durch soziale Kontrolle und Strafandrohungen könnte das unterdrückt werden. Andere geben Gewalterfahrungen in der Kindheit als Grund an. Im
Feminismus herrscht die Meinung vor, dass es die über Jahrhunderte akzeptierte Unterdrückung der Frauen ist, die immer noch in Gesellschaft und Erziehung nachwirkt. Es
gibt auch Wissenschaftler, die eine frühkindliche Hirnschädigung plus ungünstige Familienverhältnisse bei Gewalttätern festgestellt haben.«
Konnert sah sich um. »Reicht das? Es gibt auch noch ein paar Theorien aus Psychologie, Pädagogik und Biologie. Wollt ihr die auch noch hören?«
»Das bringt uns doch nichts für die Auslegung des Bibeltextes«, warf Renke Brunn ein.
Konnert dachte an Sascha Knieling, der sich lieber selbst umbringen wollte, als
sich bücken zu müssen. Die missbrauchte Studentin kam ihm auch wieder in den Sinn, und Stephanies
Satz: Sie erstickt in Selbstvorwürfen, Flashbacks und ist völlig desorientiert.
»Ich stelle erst einmal fest, dass sich die Männer in den letzten fünftausend Jahren nicht geändert haben«, sagte Käthe Nowak. »Sie meinen, alles mit Gewalt regeln zu können. Dinas Brüder reagierten damals doch auch so und brachten die ganze Familie des
Vergewaltigers um.«
Vor zwei Jahren, erinnerte sich Konnert, hatten die schwarzen Engel wie die Brüder gehandelt. Sie rächten gequälte und geschändete Zwangsprostituierte, indem sie deren Peiniger misshandelten, sie
ermordeten und auch noch ihre Leichen schändeten.
Für einen Moment träumte er davon, er hätte sich um die Stelle im FK6 beworben und dürfte sich zukünftig nur noch um Fahrraddiebstähle oder pubertierende Jugendliche kümmern. Dann drängte sich der Gedanke an Knieling wieder in den Vordergrund. Liegt er sicher in
seiner Zelle, oder hat man ihn schon in eine Gemeinschaftszelle verlegt oder
auf die Krankenabteilung?
»Aber was steckt hinter aller Gewaltanwendung?«, fragte Pastor Többens. »Warum fällt uns Menschen zum Beispiel bei Kindesmissbrauch oder Vergewaltigung oder Völkermord als Erstes die Todesstrafe für die Täter ein? Warum gilt immer noch Wie du mir, so ich dir, Auge um Auge, Zahn um Zahn?«
»Weil das gerecht ist«, antwortete Bodo Martsch, der sich bis jetzt still verhalten hatte. »Nur die Angst vor harten Strafen hält die Gene in Schach, wie Adi eben schon ausgeführt hat. Wir brauchen mehr Polizei auf den Straßen und keine Wohlfühlgefängnisse mit Einzelzimmern. Wisst ihr, was die Unterbringung von Kinderschändern und Mördern uns Steuerzahler kostet?«
»Die Todesstrafe ist natürlich die preiswerteste Lösung. Meinst du das, Bodo?« Käthe Nowaks Augen sprühten Funken. »Wenn du so weiterredest, stehe ich auf und gehe.«
Konnert mischte sich wieder ein. »Einzelzellen dämmen die Gewalt in Strafanstalten wirksam ein, Bodo. Denk daran, Gefangene sind
Menschen mit den gleichen Gefühlen, Bedürfnissen und Träumen, wie du und ich sie kennen.« Er sprach leise, wie es seiner Gewohnheit entsprach, wenn er innerlich erregt
oder wütend war. »Freiheitsentzug ist eine harte Strafe.«
Die Gesichter in der Runde erstarrten. Jeder hatte den scharfen Unterton
Konnerts mitbekommen.
Pastor Többens versuchte an die Frage anzuknüpfen. »Was wäre passiert, wenn Dinas Brüder statt Rache zu üben und zu morden, dem Täter vergeben hätten? Wie viel Blut wäre nicht vergossen worden?«
Niemand reagierte.
»Ich weiß, so etwas ist überhaupt nicht leicht zu vergeben. Aber gibt es einen anderen Weg, Blutrache zu
beenden?«
Es dauerte, bis Renke Brunn endlich das Schweigen brach und einen weiteren
Gedanken äußerte: »Versteht mich nicht falsch. Ich will auf keinen Fall die Schuld für Vergewaltigungen den Frauen in die Schuhe schieben. Aber Fakt ist, dass das
Hirtenmädchen Dina doch den Sohn des Stadtkönigs mit ihrem Auftreten und ihrer Schönheit gereizt hat, oder?«
»Richtig«, stimmte Bodo zu, »und deshalb trägt das Mädchen auch eine Mitschuld.«
»Habt ihr sie noch alle?« Käthe Nowak klappte ihre Bibel zu. »Als Nächstes verlangt ihr, dass Frauen entweder im Haus zu bleiben haben oder in der Öffentlichkeit eine Burka tragen müssen.«
»Wir Männer sollten bei diesem Thema besser den Mund halten«, warf der weißhaarige Heinz Lösekamp ein. »Was ratet ihr Frauen uns?«
»Das ist endlich ein vernünftiger Vorschlag. Fragt uns Frauen. Alle Männer in dem Bibeltext reden und feilschen und handeln ständig, ohne auch nur einmal Dina zu fragen. Die, um die es die ganze Zeit geht,
wird überhaupt nicht einbezogen. Das ist die eigentliche Ursache von Gewalt gegen
Frauen. Männer agieren, als wären die Frauen unmündige Kleinkinder oder Handelsware, über die sie bestimmen oder die sie nach ihrem Gutdünken verhökern können.«
Konnert rutschte nervös hin und her. »Entschuldigt mich bitte. Ich muss noch einmal telefonieren.« Damit packte er seine Bibel und sein Notizbuch ein und ging.
Schon im Flur hatte er sein Handy aus der Hosentasche gefummelt und rief in der
Haftanstalt an.
Man sagte ihm, dass Knieling ruhig in seiner Zelle schlafen würde.
***