Gegen das Licht - Kenneth Grant - E-Book

Gegen das Licht E-Book

Kenneth Grant

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Beschreibung

„Gegen das Licht gehalten“, so schlug er vor, „ergibt sich ein ganz anderes Bild.“ Innerhalb der Familie Grant gibt es ein wohlbehütetes Familiengeheimnis: Es soll ein Grimoire existieren, das die Pforten in jenseitige Bereiche aufstößt und Kontakt zu den dortigen Bewohnern ermöglicht. Der Autor macht sich zusammen mit dem Medium Margaret Leesing daran, die eigene Familiengeschichte in Séance-Sitzungen zu erforschen. Und er wird fündig: Er entdeckt ein Familiengeheimnis, dessen Ursprung im Jahre 1588 in den Wäldern von Rendlesham Forrest liegt und das die weiteren Schicksale der Familienmitglieder zu bestimmen scheint. Zudem gelangt er tatsächlich in den Besitz des geheimnisumwitterten Grimoire mit all seinen unheimlichen Zauberkräften. Schon bald kommt es zur Begegnung mit den cthulhu’schen Wesen aus anderen Welten, die sich in ihrer ganzen, grotesken Andersartigkeit präsentieren.

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Es gibt für jeden Menschen eine Mythe, die – würden wir sie nur kennen – uns alles verstehen lässt, was dieser Mensch getan und gedacht hat.

W. B. Yeats

Im Gedenken an

PHINEAS MARSH BLACK

KENNETH GRANT

GEGEN

DAS LICHT

Eine nächtliche Erzählung

Edition Roter Drache

Die Originalausgabe erschien 1997 unter dem Titel „Against the Light“ bei Starfire Publishing.

© Kenneth Grant 1997, S. V. Grant 2016.

1. Auflage Oktober 2016

Copyright © 2016 by Edition Roter Drache

Edition Roter Drache, Holger Kliemannel, Haufeld 1, 07407

Remda-Teichel

[email protected]; www.roterdrache.org

Buch- und Umschlaggestaltung: Edition Roter Drache

Titelbildgestaltung: Holger Much, www.holgermuch.de

Lektorart: Anne-Cathrin Rost

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2018

Alle Rechte vorbehalten.

Kein Teil dieses Buches darf in irgendeiner Form (auch auszugsweise) ohne die schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert, vervielfältigt oder verbreitet werden.

ISBN 978-3-964260-12-3

INHALTSVERZEICHNIS

Cover

Widmung

Titel

Impressum

Prolog

1. Teil: Das Grimoire

2. Teil: Spiegelmysterien

3. Teil: Das Schicksal der Unausgeschlafenen

Epilog

Der Autor

Weitere Bücher

Anmerkungen

PROLOG

Wenn man – wie mein Großonkel Phineas Black – sehr, sehr alt wird, dann werden die letzten Jahre oft von angenehmen Erinnerungen an die früheren begleitet. Aber bei Dr. Black lagen die Dinge anders.

Eine seiner kontroverseren Errungenschaften war eine Reihe von Artikeln, mit denen er in jungen Jahren zu einer wissenschaftlichen Zeitschrift beigetragen hatte. Ursprünglich waren diese Beiträge im Jahr 1881 veröffentlicht worden und erschienen später in Buchform – unter dem Titel Klinische Studien zur Vergreisung und zu Krankheiten des Gedächtnisses (Edinburgh, 1886); eine französische Ausgabe wurde vier Jahre später in Perpignan veröffentlicht.

Da Phineas Black zwar Doktor der Medizin war, sich jedoch mehr für die Erkrankungen des Geistes interessierte als für die des Körpers, gab er seine florierende Arztpraxis schon in vergleichsweise jungen Jahren auf. 1957 starb er im Alter von 103 Jahren.

Die „Studien“ verursachten in den Expertenkreisen der 1880er Jahre einigen Wirbel und ich bin der Ansicht, dass dies der Grund war, warum mein Onkel seine Arztpraxis aufgab. Er war zum Zentrum unerwünschter Aufmerksamkeit geworden und ein Kollege, der vielleicht auf seinen Bekanntheitsgrad eifersüchtig war, hatte damit begonnen, in seiner Privatsphäre herumzuschnüffeln. Offenbar war er dabei tatsächlich auf etwas Zwielichtiges gestoßen, denn es folgte ein Skandal. Zum Glück für die Familie schaffte dieser es nie in die Presse. Doch ich erinnere mich an die Stille, die jedes Mal wie eine Wand aufzuragen begann, sobald Onkel Phins Name fiel. Aber das ist schon lange her und die Frage, ob die späteren Ereignisse, über die ich berichten will, damit in irgendeinem Zusammenhang stehen, gehört in den Bereich der Mutmaßungen.

Meine Geschichte umfasst einen ausgedehnten Zeitraum. Sie ist auch ausgesprochen komplex und die Fakten sind höchst ungewöhnlich. Ich möchte damit anfangen, dass ich ein paar Worte über mich und einen meiner Groß-Vettern namens Gregor Grant verliere, der in der Erzählung eine wichtige Rolle spielt. Gregor war nicht nur Onkel Phins Vetter, sondern zudem auch mit dem Okkultisten Aleister Crowley verwandt. Und obwohl Gregor und ich dem gleichen Zweig des Grant-Clans entstammten, wusste ich von dieser Beziehung nichts – bis mich Crowley auf die Verbindung hinwies. Auf der mütterlichen Seite stamme ich von einer französischen Familie namens Wyard ab, die sich in Brundish – nahe Woodbridge – im Suffolk des 16. Jahrhunderts niedergelassen hatte. In der St. Laurence-Kirche und der nahegelegenen Brundish Hall gibt es beigesetzte Wyards, deren Grabsteine bis ins Jahr 1669 zurückgehen.

Über den Grant-Clan gibt es eine okkulte Überlieferung, die behauptet, dass seit unendlich langer Zeit eine Sammlung magischer Zauberformeln unter den aufeinanderfolgenden Generationen meiner Vorfahren kursieren würde. Man sagte, dass nacheinander jeder seine (oder ihre) Berichte über den Verkehr mit gewissen Wesen beigefügt hätte, die nicht von dieser Welt stammen. Diese Sammlung war bekannt als das Grant-Grimoire. Die Gerüchte besagten auch, es würde noch heute existieren, und zwar in der Bibliothek einer Florentiner Familie. Diese italienische Version trage den Titel Il Grimoire Grantiano. Die Gerüchte besagten auch, dass sich seine englische Version einst im Besitz von Sir Francis Grant, dem Porträtmaler, befunden habe; dass sie aber nach seinem Tod im Jahre 1878 verschwunden sei. Während der letzten Jahrhunderte wurden die Legenden, die das Grimoire betreffen, dann spärlicher. Von den gegenwärtigen Familienmitgliedern – von ein oder zwei Ausnahmen abgesehen – wurde das Grimoire als kindisches Geistermärchen belächelt.

Als Resultat eines bemerkenswerten Zwischenfalls, den ich in Kürze beschreiben werde, erhielt ich an einem schwülen Sommernachmittag die notwendige Führung, um eine Kopie des Grimoires in einer walisischen Ruine auszugraben. Bis zu diesem Ereignis war das Grimoire – zumindest für mich – eine nebulöse Legende, die gelegentlich etwas Würze in die alten Familiengeschichten bringen soll.

Aber nicht alle meine Zeitgenossen waren skeptisch. Einer davon war Aleister Crowley, der an die Existenz eines berüchtigten Buches glaubte, das geheime Schlüssel zu anderen Welten enthalten sollte. Nachdem ich das Manuskript entdeckt hatte, wurde mit schon bald klar, dass Crowley nicht die einzige Person war, die danach gierte, es in die Hände zu bekommen. Ich erinnere mich, wie Onkel Phin, der für Gregor Sympathien hegte, nicht jedoch für Crowley, mich mit gruseligen Geschichten über die dunkeln Zauberkräfte des Grimoires erfreut hatte. Diese Geschichten hatten in meinem jungen Verstand Wurzeln geschlagen und sie führten mich zu der Überzeugung, mein Onkel habe das Grimoire tatsächlich besessen. Oder aber, er habe zumindest eine Sammlung von Zauberformeln von einem längst vergessenen Vorfahren daraus abgeschrieben. Bei Crowleys Beschaffungsversuchen waren Phineas und Gregor seine Hauptziele. Er ließ bei seinen Versuchen, Hinweise auf den Aufenthaltsort des Grimoires zu ergattern, keinen Stein auf dem anderen. Dabei erfuhr ich irgendwann, dass mein Groß-Vetter annahm, er sei vom Schicksal zum Verwahrer des Grimoires bestimmt.

Bei dem Versuch, Crowleys ständige Drangsalierungen abzuwehren, hatte Gregor seinerseits begonnen, Onkel Phin zu schikanieren, weil er – ebenso wie ich – glaubte, dass er von allen Lebenden am meisten über diese Angelegenheit wisse. Wie eine Kopie des Werkes, die von mir ausgegraben wurde, ihren Weg in eine Ruine in Glamorganshire gefunden hatte, sollte ich erst lange nach dieser Entdeckung erfahren.

An dieser Stelle ist es notwendig, auf einen weiteren, wichtigen Punkt einzugehen. In der Nähe von Brundish in Suffolk gibt es einen Wald namens Rendlesham. Kürzlich war er in den Medien präsent; im Zusammenhang mit der vermeintlichen Landung eines nicht identifizierten Flugobjektes im Umkreis einer amerikanischen Luftabwehr-Basis. Brundish liegt etwa zehn Meilen nord-östlich von Ipswich. Es ist nicht weit von Dunwich entfernt, einem Seehafen, dessen Name H. P. Lovecraft in seinen Horror-Geschichten nach New England verlegt hatte – auf die gleiche Art, wie die Ruine von Brundish Hall nach dem 2. Weltkrieg auf amerikanische Erde umgesetzt wurde.

Im Jahre 1982 fand in Rendlesham Forest eine mutmaßliche Begegnung mit Außerirdischen inmitten eines Infernos aus grell-weißen und farbigen Lichtern statt. Dieser Zwischenfall wird in einem Buch mit dem Titel Skycrash1 dokumentiert. Meine Aufmerksamkeit wurde auf diese Region jedoch durch Umstände ganz anderer Natur gelenkt. Zufällig war ich in einem Buch über Hexerei auf den Namen Wyard gestoßen. Ich sollte dazu erklären, dass die gegenwärtigen Mitglieder der Familie – von denen es nur noch wenige gibt – fest davon überzeugt sind, dass, egal wann oder in welchem Zusammenhang der Name Wyard auftauchte, er immer unvermeidlich den Namen eines Verwandten darstellt. In diesem besonderen Fall gehörte der Name einer Margaret Wyard, die im sechzehnten Jahrhundert wegen Hexerei hingerichtet wurde. Diese Information überraschte und erregte mich, weil die anderen damaligen Namensträger höchst angesehene Mitglieder der Gemeinde waren, wie die Zeugnisse aus Brundish belegen. Ich fand das aufregend, weil mein lebenslanges Interesse für „das Okkulte“ offensichtlich von zumindest einem anderen Mitglied der Familie mütterlicherseits geteilt wurde. Fasziniert von dieser Entdeckung machte ich mich an Nachforschungen, die die Tatsache ans Licht brachten, dass Margaret Wyard behauptete, sexuellen Verkehr mit dem Teufel in der Gestalt eines Tieres gehabt zu haben. Ihre Vereinigung fand in Rendlesham Forest statt! Nach einem in Skycrash zitierten zeitgenössischen Bauern „sind die Wälder schon immer für böse Zwecke missbraucht worden, einschließlich satanischer Rituale“. Da das Buch und seine Autoren diese Angelegenheit auf prosaische Weise behandeln, löste die Beobachtung des Bauern in mir ein merkwürdiges Gefühl aus.

Ich war auf seltsame Weise angenehm erregt über die Verbindung meiner Vorfahrin mit diesem Gebiet. Da ich mit den Füßen zuerst geboren wurde, sich zwei Haarwirbel auf meinem Kopf befinden und ich keine Taufe erhalten habe (was ich einer Meinungsverschiedenheit meiner Eltern verdankte), besitze ich die charakteristischen Zeichen eines Hexers und betrachtete mich damals als entsprechend qualifiziert, um weitere Nachforschungen anzustellen. Denn strömte in meinen Adern nicht das Blut von Meistern der Magick, um nicht zu sagen, das Blut einer bekennenden Hexe?

Ich engagierte eine Hellseherin, mit der ich in der Vergangenheit erfolgreich Geschäfte gemacht hatte. Mit der Absicht, die okkulte Geschichte von Margaret Wyard erforschen zu wollen, übersandte ich ihr etwas von dem doppelt verfluchten Blut. Die Resultate übertrafen meine Erwartungen, denn sie beleuchteten die Verstrickung des Grant-Clans in einen uralten Hexenkult. Ich möchte hier das Wort „uralt“ betonen, weil sich diese Erzählung nicht mit den Possen der „modernen“ oder „populären“ Ideen über diese Kunst befasst. Auch gelang es mir dabei, die Quelle von Aleister Crowleys Einsichten in die dunkleren Mysterien der Magie auszuloten.

Da sich das Frage-und-Antwort-Format einer sich häufig länger hinziehenden Sitzung mit einer Hellseherin als ermüdend erweisen würde, habe ich das Material verdichtet und präsentiere es als fortlaufende Erzählung. Da ich weder ein Historiker noch ein Ahnenforscher bin, sind mögliche Ungenauigkeiten in diesen Bereichen mir zuzuschreiben. Als Okkultist bin ich mir jedoch sehr bewusst, dass einige Inhalte für bestimmte mögliche Zukunftslinien unseres Planeten bedeutungsvoll sind. Das Gleiche gilt für damit im Zusammenhang stehende Aktivitäten, wie sie etwa von Margaret Wyard verfolgt wurden. Die Bedeutungen einer solchen „kosmischen Verschwörung“, wie sie von den Autoren von Skycrash und anderen Schriftstellern mit ähnlichen Bedenken vermutet wurden, werden – so denke ich – zunehmend offensichtlich.

Bevor wir jedoch mit den Aufzeichnungen der Ereignisse beginnen, ist es notwendig, die Hellseherin vorzustellen, durch die das Material erlangt wurde: Margaret Leesing. Margaret war ein Trance-Medium, das den Vorsitz über verschiedene „Rituale der Rückerinnerung“ hielt, die in Verbindung mit einer Geheimloge standen, die ich zwischen den Jahren 1955 und 1962 geleitet hatte. Abgesehen von ihrer Hellsichtigkeit war Margaret eine ausgebildete Tänzerin und stellte ihre beachtlichen Talente der Loge ebenso zur Verfügung wie ihrer Truppe. Sie befand sich im Einklang mit den Zielen und Prinzipien der Loge. Wir hatten zu allen Zeiten eine gute persönliche Beziehung, und ich möchte hinzufügen: eine strikt formelle. Ihrer Erfahrung mit erdgebundenen Wesen war es zu verdanken, dass es ihr nach vielen Fehlstarts endlich gelang, diese erfolgreich zu überwinden und Zugriff auf den lebendigen Kraftstrom zu erlangen, der einst von Margaret Wyard verkörpert wurde. Ich habe die Einzelheiten dieser Fehlstarts hier ausgelassen, da uns einige davon viel zu weit weg führen würden. Wenn sich die folgende Niederschrift überhaupt flüssig liest, dann ist das einer schonungslosen Überarbeitung zu verdanken. An den Stellen, an denen lebende Einzelpersonen und zeitgenössische Organisationen betroffen sind, habe ich mich jeweils bemüht, Diskretion und Umsicht walten zu lassen.

1. TEIL

DASGRIMOIRE

„Gegen das Licht gehalten”, so schlug er vor, „ergibt sich ein ganz anderes Bild.”

2. Teil, 4. Abschnitt

1.

In den historischen Überlieferungen gibt es über Margaret Wyard keine anderen Aufzeichnungen als die Tatsache, dass sie aufgrund von Hexerei im Jahre 1588 hingerichtet worden war. Die Ereignisse ihrer Geburt und frühen Kindheit hinterließen keine auffindbaren Spuren, dafür brannte sich jedoch das gewaltgeprägte, emotionale Trauma ihrer Hexenkult-Initiation als Erinnerungsbild tief ins Astrallicht ein.

Eine der ersten Séancen brachte die Tatsache ans Licht, dass Margaret zu dieser Zeit – sie war etwa zwölf Jahre alt – umgetauft wurde zu Awryd, einem offensichtlichen Anagramm von Wyard. Sie war ein zur Panik neigendes, dabei zugleich jedoch auch aufgewecktes Kind; ihre Züge deuten auf Erfahrungen hin, die weit über ihr Alter hinausgingen. Der Initiationsritus wurde in den schattenhaften Ausdünstungen eines Waldes durchgeführt, der durch die dampfenden Sümpfe verschwommen wirkte. Ihr Mentor war über die See-Marschen in Dunwich gekommen, dem nächstgelegenen Eintrittspunkt für jene, deren Ziel es ist, sich in Menschengestalt zu verstecken. Auf dem Höhepunkt des Ritus wurde das Mädchen nicht nur vollständig aus ihrem Körper ausgestoßen, sondern ab diesem Zeitpunkt schlief sie. Ein Kind hatte den Wald betreten, was jedoch herauskam, konnte die Hellseherin nicht beschreiben. Durch ihre Kristallkugel sah Margaret Leesing viele, die so wie das Mädchen waren. Sie drängten sich im Wald als weißlicher, sich ringelnder Nebel, in dem sich stumm ihre Gesichter wanden und immer substanzloser wurden, um dann schließlich mit den Marschen zu verschmelzen. Awryd aber blieb zurück. Sie wurde nicht von dem Kraftwirbel aufgenommen, und es war unmöglich zu erraten, was aus ihren weniger sterblichen Überresten wurde – bis ich das Grimoire entdeckte.

2.

Ein Raum – groß und verschwenderisch eingerichtet mit Büchern, Gemälden und Abbildungen. Onkel Phin spricht mit einem hageren Individuum, während er vor einem lodernden Feuer sitzt. Durch das Westfenster versinkt eine schwächliche Sonne hinter nebelverhangenen Hügeln. Auf einem achteckigen Tischchen liegt ein Buch, eingebunden in see-grünes Leder.

Die Kristallkugel war völlig klar. Ich konnte sehen, dass Margaret Leesing mit dem „Empfang“ zufrieden war. Mein Blick wurde in deren Tiefen gezogen, hin zu einem großen, schwarz-gerahmten Gemälde, das an die Alptraumwelten eines Sime oder M’Calmont erinnerte. Das Bild zeigte ein offenes Fenster, das den Blick auf die Waldszene erlaubte, in der die Initiation stattgefunden hatte. Im Hintergrund loderten grelle Flammen; im Vordergrund zeichnete sich eine aufgeblasene Figur ab, aus deren Augen grünlicher Dampf ausströmte. Phineas Black schien in diese Dämpfe eingehüllt und sein Gefährte wirkte, als wäre er in Wasser eingetaucht, das von einer starken Strömung aufgewirbelt wurde. Ihre Konversation klang dumpf, als wenn sie aus einem tiefgelegenen Ort heraufschallte, sehr weit weg …

Als ich noch einmal genauer hinsah, erschienen der Raum und die Anwesenden wieder normal.

„Aber ich sage dir, Phin, Aleister hat die Witterung aufgenommen!”

Gregor deutete auf das Bild hinter seinem Stuhl: „Wenn sie jetzt hier wäre“, fügte er hinzu, „könnte sie uns sagen, wo sie es versteckt hat.“

Ich richtete meine Aufmerksamkeit auf die Sprecher und vermied dabei Sichtkontakt mit dem Bild. Die Gleichgültigkeit meines Onkels gegenüber dessen ungewöhnlichen Qualitäten verwunderte mich. Nicht einmal der wirbelnde Nebel entlockte ihm einen Kommentar. Er trug dieses halb-verrückte Grinsen zur Schau, an das ich mich so gut erinnern konnte. Mit Gewalt musste ich mir ins Gedächtnis rufen, dass beide Männer schon lange tot waren und dass auch Aleister Crowley, auf den Gregor sich bezogen hatte, bereits vor vier Jahrzehnten verstorben war.

Onkel Phin nahm das Buch in die Hand und der Raum verdunkelte sich plötzlich.

Laut las er vor:

Über alle Zweifel erhaben wurde von mir bewiesen, dass in der Dunkelheit der Vergreisung ein Schlüssel zum früheren Leben verborgen liegt. Im gewöhnlich Sterblichen liegt er in der Bilderwelt der Kindheit verborgen, aber diese Bilder sind nur Masken. Unter ihnen liegt ein Mysterium, das nicht die Vergangenheit betrifft, sondern die Zukunft …

Er machte eine Pause und Gregor antwortete: „Ich war schon immer von dem Mysterium der Kindheit fasziniert; dessen Unschuld ist eine Fassade. Als Kinder erblickten wir eine geheime Welt, die wir – wenn wir uns erinnern – wieder sehen können; und wir können sie auch wieder erfühlen, wenn wir sehr ruhig, sehr still sind; dann erleben wir ein Gefühl von Zeitlosigkeit.“

„Das liegt daran”, erwiderte Dr. Black, „dass die Seele außerhalb der Zeit existiert. Hör mal, der Autor dieses Buches kennt auch jenes Geheimnis:“

Falls wir jedoch im späteren Leben den Schlüssel nicht entdecken können – sollten wir ihn dann nicht durch jemanden suchen lassen, der noch unverbraucht ist, jungfräulich wie das Morgenlicht bevor die Dämmerung die Sicht in die verfälschenden Nebel der sterbenden Tage hüllt?

Er schaute seinen Vetter intensiv an und endete dann mit den Worten:

„Und noch an der Schwelle zum Frausein kannte sie diese zeitlose Zone und wusste, wie man sie betritt. Sie besaß die Schlüssel und versteckte sie in Symbolen.“

„Das stimmt“, antwortete Gregor, „aber wo hat sie das Buch versteckt?“

Ein Ausdruck, den ich nicht interpretieren konnte, begleitete den Blick meines Onkels: „Was würdest du sagen, wenn ich dir erzähle, dass ich es gefunden habe?“, fragte er.

Draußen gab es plötzlich ein Geschrei. Die beiden Männer drehten sich gleichzeitig um, als wollten sie durch das offene Fenster schauen, das der Künstler gemalt hatte. Die Frage blieb unbeantwortet. Ein stärker werdender Klang durchdrang das Zimmer. Ich starrte zunächst widerstrebend auf das Bild. Ein Sturm braute sich im Wald zusammen; Gewitterblitze zuckten über den Bäumen, die in einer heftigen, vom Meer her wehenden Windströmung wogten. Der Strahl des Leuchtturms in Orford, jenseits von Rendlesham, durchstach die Dunkelheit und machte Gestalten sichtbar, die zwischen den Pinien in einer unheimlichen Prozession dahin zogen. Ich wurde an eine Szene mit Druiden erinnert, die Austin Spare gemalt hatte, und plötzlich klickte etwas in meinem Gedächtnis. Spare hatte genau das gesehen, was auch ich jetzt beobachtete. Irgendwo in einem schattigen Wald hatte dieser Künstler der Nachtseite die gleiche Andeutung dieses spektralen Lebendig Werdens eingefangen. Ich hörte entferntes Glockengeläut; dumpf, wie unter Wasser. Es erinnerte mich an die Legenden über Alt-Dunwich, über versunkene Glocken und eine Küstenlinie, die Jahr für Jahr weiter in dem aufgewühlten Ozean versank, der an diese alte Stadt mit ihrer einst von den Templern genutzten Abtei angrenzte. Das Geräusch gab mir ein vages Gefühl, dass hier etwas eingefordert wurde, und zwar von etwas, das so „anders“ war, dass es sich nicht beschreiben ließ …

Etwas versuchte, durch das Fenster hineinzugelangen. Hände hielten den Rahmen gepackt. Die Finger waren nicht menschlich, trugen Schwimmhäute. War es möglich, dass die beiden Männer das nicht sahen, etwa weil sie ein anderes Bild erblickten, anstelle von jenem, das ich sah? Sie waren voller Bewunderung dafür, während ich mich voller Furcht zusammenkrümmte. Ich wollte sie darüber warnen, dass die Mädchen-Maske eine Lüge war. Sahen sie denn nicht die Augen, die in den Raum starrten? Ich schrie Margaret an, die Sitzung zu beenden.

Erst in diesem Moment wurde mir bewusst, dass auch ich etwas gesehen hatte. Das war noch bei keiner früheren, gemeinsamen Séance geschehen. Margaret befand sich in einem tiefen, magnetischen Schlaf, aber ihre Hand zog – wie als Antwort auf meine Bitte – eine Seidenabdeckung über die Kugel. Ihr Körper erschauerte. Ich trug auf ihre Stirn, die Handflächen und die Fußsohlen die gelbliche Salbe auf, die sie normalerweise verwendete, wenn sie aus einer Trance zurückkehrte. Ein stechender Schmerz sprang von ihrem Körper auf mich über. Weil sie eine Injektion mit dem Hexenblut erhalten hatte, teilte ich jetzt ihre Visionskraft. Der Gedanke verursachte mir Panik. Ich hatte eine Verbindung hergestellt, die vielleicht so lange Bestand haben würde, wie das Fleisch existierte, vielleicht sogar noch länger. Margaret kehrte sehr langsam aus der Trance zurück und war sich zunächst offensichtlich nur ihrer unmittelbaren Umgebung bewusst.

3.

In Anbetracht dieser Sachlage entschied ich mich, von allem Abstand zu nehmen. Ich machte mir vor, dass ich Angelegenheiten zu regeln hätte, die dringender waren als die Nachforschungen zur Geschichte von Awryd. Gegenüber Margaret Leesing empfand ich aufrichtige Besorgnis. Ich konnte kaum von ihr erwarten, dass sie sich meinetwegen weiter solch großen Risiken aussetzte. Deshalb schlug ich einen Urlaub vor; danach würden wir getrennter Wege gehen. Ein Freund von mir hatte vorübergehend seinen Bungalow in Glamorgan geräumt, nicht weit von der Küste entfernt. Das Meer erschien verlockend und die Wettervorhersage drohte London mit einem stickend heißen Sommer. Noch vor Beginn der Ferienzeit verließen wir die Stadt.

Mehrere Tage erwähnte keiner von uns die Sitzung. Eines Nachmittags dann, als eine zu starke Windströmung vom Meer her uns die Aussicht auf Entspannung am Strand verdarb, wandten wir uns dem Umland zu. Ich kannte die örtlichen Gegebenheiten sehr gut, denn ich hatte die Umgebung in meiner Kindheit seit 1927 während der Ferien immer mal wieder besucht. Wir spazierten in Richtung Ewenny und der Sanddünen von Candleston. Die Ruine eines Landhauses, das von Reiseführern fälschlicherweise als „Burg“ beschrieben wurde, schmiegte sich in eine Einöde aus stacheligen Gräsern und Kiefern. Es war ein Tag, den Machen als einen „Tag des Schleiers” beschrieben hätte: die Sonne, die einen leichten Dunstschleier niemals so ganz durchdringen konnte, strahlte mit dem weißen Glanz erbarmungsloser Hitze auf die Dünen. Wir aßen Sandwiches und erfrischten uns mit Bier aus der Dose. Danach schlief Margaret ein und ich spazierte zu der Ruine. Ich betrat sie, während ich mich an die längst vergangenen Tage erinnerte, als ich noch als Junge in den ersten Stock geklettert war und mich dort oft auf einen Querbalken gesetzt hatte. Der Balken war überraschend wenig verwittert; war vielleicht ein bisschen weniger massiv, ein wenig stärker verrottet. Durch die Löcher in der Wand schaute ich hinaus auf die Dünen. Sie rollten immer noch auf das Meer bei Ogmore zu, mit dessen tatsächlicher Burg, die jetzt wenig mehr als eine äußere Hülle darstellte, nachdem der Zahn der Zeit neunhundert Jahre an ihr genagt hatte.

Unter mir sah ich Margaret, die sich vorsichtig ihren Weg durch das verfallene Gemäuer bahnte. Ich rief nach ihr, doch sie antwortete nicht. An ihren Bewegungen war etwas Seltsames, das darauf hindeutete, dass sie noch nicht ganz wach war. Das alarmierte mich, weil sie sich normalerweise eine strenge Selbst-Disziplin auferlegte, wenn es um Trance-Arbeit ging. Steif kam sie auf mich zu, dann verschwand sie plötzlich unter einem Gewölbebogen, der zum baufälligen Hauptsaal führte. Sie wandte sich nach links, dann zögerte sie, offensichtlich verwirrt. Ihre Augen wirkten glasig; ihre Züge glichen einer Maske, die in der schwarzen Leere über der Grube zu ihren Füßen hing. Sie stand gefährlich nahe am Rand der Krypta. Noch einmal rief ich nach ihr. Ich würde sie nicht rechtzeitig erreichen, um sie zurückhalten zu können – nichts konnte ihren Sturz auf die Trümmerbrocken unter ihr verhindern. In meiner Aufregung löste ich einen Teil der Wand ab, in dem der Balken eingebettet lag, der mich getragen hatte und ein großes Fragment rutschte hinunter in das Loch. Es folgten ein heraufbrandendes Geräusch und eine Staubsäule, die in einem plötzlichen Strahl von Sonnenschein glitzerte. Eine fliegende Gestalt kreiselte in unseren Sichtbereich und setzte sich auf Margarets Scheitel; dabei kreischte das Wesen schrill.

Das Sonnenlicht nahm ab. Ich werde niemals die panische Margaret vergessen, die an dem Ding in ihrem Haar riss, während sich leuchtende Tentakel wie ein Helm um ihren Kopf klammerten und dann begannen, in ihren Schädel einzudringen. Ihre Schreie waren abstoßend. Unter Aufbietung aller Kräfte schleuderte sie das blutverschmierte Ding zurück in die Grube, dann sank sie bewusstlos an der Kante in sich zusammen. Völlige Stille umgab uns.

4.

Wir nahmen unsere Reisen zum Strand wieder auf, aber Margaret hatte sich verändert. Verständlicherweise hatten sie die Blutflecken auf ihrer Kleidung und die gleichzeitige Abwesenheit von Schnitten oder Blutergüssen auf ihrem Körper verwirrt. Und obgleich ihr Kopf einige üble Kratzer aufwies, konnte sie sich doch das viele Blut nicht erklären. Ich erzählte ihr, sie wäre von einem Vogel angegriffen worden, der nach langer Einmauerung aufgestört worden war. Ich erzählte ihr nichts über die widerwärtige Gestalt dieses Dinges und über das merkwürdige und glitzernde Licht, das in ihren Schädel eingeströmt war.

Während des restlichen Urlaubs blieb Margaret gedankenverloren. Wir führten keine unbeschwerten Gespräche mehr. Ich begann an ihr etwas zu bemerken, was ich nur als eine sinnliche Neugierde mir gegenüber beschreiben konnte, die sie fortwährend zu befriedigen versuchte. Einmal manifestierte sich diese Neigung in einem spielerischen, amourösen Angriff, in dessen Verlauf sie mich heftig in mein linkes Ohrläppchen biss. Das bereitete mir Sorgen, nicht wegen des Unbehagens oder weil es eine Art Zuneigung offenbarte, von der ich wusste, dass sie sie mir gegenüber nicht empfand. Sondern weil ich aus diesem Ohrläppchen das Blut bezogen hatte, das ich ihr zur Kontaktherstellung mit Awryd gegeben hatte. Diesmal entströmte eine ganz erstaunliche Menge, was ohne Zweifel dem früheren Blut-Abzapfen zu verdanken war.

5.

Die letzten Tage in Wales wollte Margaret nicht mehr nach draußen gehen. Ich saß im Garten und las Dokumente, die sich auf die Familie Wyard bezogen. Es war das erste Mal, dass ich sie näher in Augenschein nehmen konnte, seit ich mich entschlossen hatte, das Thema zu erforschen.

Während des Nachmittags wurde Margaret ruhelos und sie überzeugte mich davon, ihr im Haus Gesellschaft zu leisten. Es beunruhigte mich, welchen Verlauf die Dinge genommen hatten und ich war entschlossen, dass ich nach unserer Rückkehr in London ein anderes Medium beauftragen würde. Ich traf deshalb den Vorsatz, bis zu unserer Abreise alles, was sie vorschlug still hinzunehmen, so wie man versucht, eine Wahnsinnige bei Laune zu halten. Als wir jedoch in dem schattigen Raum zusammenkamen, den sie zu ihrem Schlafzimmer bestimmt hatte, erkannte ich die Unvermeidlichkeit unserer Beziehung. Nur sie würde mir dabei helfen können, eine Verbindung zur Blutlinie der Wyards wiederherzustellen.

Margaret blieb fast fortwährend in einem schlaftrunkenen Zustand. Onkel Phin hätte wohl gesagt, sie befände sich „in einem Dwam“ – „wäre gedankenverloren“, ein schottisches Idiom, für das es keine adäquate Übersetzung gibt. Ich erkannte, dass ich lediglich ein Erfüllungsgehilfe ihrer Fantasie war. Aus dem bereits erwähnten Grund machte ich alles mit, auch weil diese Erfahrung weit davon entfernt war, unangenehm zu sein – bis es dann offensichtlich wurde, dass sie nicht länger phantasierte. Eine merkwürdige Absicht schien ihrer früheren Verspieltheit zugrunde zu liegen und ich war entsprechend misstrauisch, als sie beiläufig einen gemeinsamen Spaziergang vorschlug.

Die Luft war wie Seide. Der Duft von Farnkraut in heißem Sonnenlicht hatte auf mich schon immer merkwürdig anregend gewirkt. Als beim Einsetzen des Abends unter einem aufsteigenden Vollmond die konzentrierten Essenzen der Farne freigesetzt wurden, wurde ich mir einer schmerzlichen Nostalgie bewusst. Und so stimmte ich Margarets Vorschlag bewusst zu, während ich daran dachte, dass wir am folgenden Tag zurück nach London reisen würden, das aktuell die drückend heißen Hundstage erlebte.