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Lasker-Schüler, Else

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The Project Gutenberg EBook of Gesichte, by Else Lasker-SchülerThis eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and mostother parts of the world at no cost and with almost no restrictionswhatsoever.  You may copy it, give it away or re-use it under the terms ofthe Project Gutenberg License included with this eBook or online atwww.gutenberg.org.  If you are not located in the United States, you'll haveto check the laws of the country where you are located before using this ebook.Title: Gesichte       Essays und andere GeschichtenAuthor: Else Lasker-SchülerRelease Date: October 9, 2016 [EBook #53239]Language: German*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK GESICHTE ***Produced by Jens Sadowski and the Online DistributedProofreading Team at http://www.pgdp.net. This book wasproduced from images made available by the HathiTrustDigital Library.

Gesichte

Essays und andere GeschichtenvonElse Lasker-Schüler

1914Verlag der Weißen Bücher, Leipzig

2. Auflage

Copyright 1913 by Kurt Wolff Verlag, Leipzig

Druck von Oscar Brandstetter in Leipzig

Inhalt

SeiteSterndeuterei9Handschrift18Johann Hansen und Ingeborg Coldstrup24Künstler27In der Morgenfrühe30Elberfeld im dreihundertjährigen Jubiläumsschmuck32Arme Kinder reicher Leute37Am Kurfürstendamm40Die beiden weißen Bänke vom Kurfürstendamm43Die Odenwaldschule45Lasker-Schüler contra B. und Genossen48Coranna55Die schwere Stunde57Peter Hille59Karl Kraus66Loos69Oskar Kokoschka72Peter Baum74Franz Werfel76S. Lublinski77Paul Leppin83Richard Dehmel85Max Brod86Alfred Kerr87Bei Guy de Maupassant89Albert Heine100Karl Vogt101Paul Lindau102Bei Julius Lieban104Friedrich von Schennis107Tilla Durieux109Paul Zech112Rudolf Blümner113William Wauer115Wauer-Walden via München und so weiter117Emmy Destinn122Franziska Schultz126Kete Parsenow127Ruth128Unser Café130Marie Böhm133Der Alpenkönig und der Menschenfeind135Egon Adler138Ein Amen141Wenn mein Herz gesund wär —143Der Eisenbahnräuber150Im neopathetischen Kabarett152Kabarett Nachtlicht, Wien154Apollotheater158Tigerin, Affe und Kuckuck161Im Zirkus163Zirkuspferde169Zirkus Busch172

Dieses Buch schenke ichKurt Wolff

Sterndeuterei

St. Peter Hille in Ehrfurcht

Soll Ihr Leib noch länger mit seinen Sternen in der Hand Ihres Arztes liegen, und wie lange überlassen Sie ihm noch Ihren Verstand? Fragen Sie einmal so im Vorübergehen den Doktor, ob er von Ihrem Sternensystem eine Ahnung hat. Oder wenden Sie sich an einen Irrenarzt, der am gründlichsten Bescheid wissen müßte von der Astronomie des Menschen; sitzt er doch an seinem Pol, wie ein falscher Gott am Scheidewege, wo sich der Stern vom Chaos trennt. Es gibt gar keinen Irrsinn im Sinne der Eisenbärte, aber wer wird mich nicht verspotten, wenn ich behaupte, es gibt eine Veränderung im Chaos des Menschen. Darum sind Ihre Leiden aus keinem anderen Grunde entstanden, als aus allzu wuchtigen Sternenvorgängen. Senkte sich unerwartet Ihre Sonne in eins Ihrer Meere? Jedwede Behandlung Ihres Arztes ohne genaue astronomische Kenntnis Ihres Planeten ist ein Vergehen. Unbeschreiblich friedlich stimmt es, einen Mond in sich zu fühlen, und wer ihn in sich trägt, steht im verwandtschaftlichen Verhältnis mit dem Großgehenden da oben. Nach einem Schwächezustand, den ich überwand, meine Tore standen noch unbefestigt, fühlte ich den Durchgang des Vollmonds dicht an dem meinen vorbei, wie ein leichtes Beben. Nicht dieser Vorgang war ein krankhafter, aber durch die Kraft des Vorgangs erlitt ich Sternenschaden. Ich war noch lange nach diesem Ereignis eingehüllt in schwermütigen Wolkengedanken. Glauben Sie, die Erde leide etwa nicht noch durch die kürzlich erlittene, erduldete Kometkraft? Denken Sie an Maria, durch die Gott schritt. Das wird noch einmal geschehen, noch ewigkeitsmal, immer nach Gottesdrehung, er wendet sich durch Maria. Sie leidet das höchste Fest durch das Gottwillkommen, sieben Schwerter krankt ihr Herz. Wir sind das feinste Werk aus Sonne, Mond und Sternen und aus Gott. Wir sind seine Inspiration, seine Skizze zur großen Welt. Ich spreche nicht in Symbolen, obschon Symbole die Schatten großer Wahrheiten sind, Milderungsgründe: wenn etwas Ihren Horizont übersteigt. Sie setzen das allzu klare Licht mit gewisser Überlegenheit gern ins Dunkle. Ich möchte aber die Nacht von Ihnen nehmen, wachen Sie auf durch meine Raketensterne! Ich bin ja keine Gelehrte. Aber wenn ich Menschen medizinisch behandelte, würde ich sie „regnen“ lassen, Luft in weiten Kreisen „atmen“ lassen. Mancher Menschplanet erstickt an Dürre. Ich würde die verwandtschaftlichen Sterne ausfindig machen, die mit meinem Planetpatienten in irgendeinem Zusammenhang stehen könnten; namentlich, wenn es sich um eine epidemische Ursache handelte. Den kleinen Mars des Menschen kann man nur mit dem gröberen, großen Mars der Welt impfen. Ich kenne Leute, die unter dem Zusammenstoß ihrer Fixsterne leiden. Es sind schlechte Pächter ihrer Welt. Jeder Schlaganfall ist ein Zerbersten zweier vom Wege geirrter Sterne. Die Folge dieser Folge erst ist der Tod. Ich bitte Sie nicht, an sich herauf und herunter zu suchen; Sie sehen Ihre Sterne nicht, das was Sie betasten können, ist Chaos. Und weil ich vom Unantastbaren des Menschen spreche, glauben Sie nicht an meine Medizin und halten mich für eine Kurpfuscherin. Aber wer an meine Dichtungen glaubt, die man auch nicht in die Hand nehmen kann, und doch vorhanden sind, wird auch nicht zweifeln an den Sternen der Menschen, wovon ich ihnen erzähle. Sind Sie nicht reicher, als Sie glauben? Ich spreche von Ihrem Unsichtbarsten, von Ihrem Höchsten, das Sie nicht greifen können, wie die Sterne über Ihnen. Sind Sie nicht reicher, als Sie fassen können! Oder haben Sie schon einmal ein Stück Mond gegessen? Sie würden immer nur sein Chaos greifen, wie der Arzt Ihr Fleisch, daraus er keinen Stern formt. Der Doktor hat mich längst überführt, indem er mit dem Messer diese Leiche sezierte: „Der Tote ist an Schwindsucht gestorben, am Zerbersten der Lunge.“ Ihr Doktor hat doch keine blasse Ahnung von meiner Medizin. Allerdings ist dieser Tote an Tuberkulose gestorben, an der Folge seiner und des Arztes Unkenntnis seines Sternensystems. Und was ich von einer Epidemie halte? Die ist die Folge der Sintflut im Massenmenschsternensystem, ein Bacchanal tausender Sterne, daran alle Bruchteile, alle ungeordneten, unberufenen Fleischchaosse zersplittern. Ich glaube darum an Wunder, an ungestaltete Medizin. Wer aber kann sie mischen! Jesus von Nazareth tat Wunder, er ergriff die keimenden Sterne und trennte sie von den faulen und erweckte die Erblaßten an ihrer noch verglühenden Sternschnuppe. Der Nazarener wandelte durch das Sternensystem des Menschen und erlebte die Welt so tief und ging in Gott ein, und Gott in ihn, darum man ihn verwechselt noch auf den heutigen Tag mit Gott. Moses der Prophetarzt erkannte den Gott seines Volkes, heilte es und machte es stark. Eine Sage meiner Bücher sagt von einem Derwisch, der sein Herz in die Hand nehmen konnte und doch lebte durch die Kraft seiner Sterne. Wir sind das glühendste Werk von Mond und Sternen, nach unserm Modell hat Gott die große Welt erschaffen, in der wir: Ureigentum in unserer erweiterten Kopie leben ...

Ureigentum noch unverblaßt zu begegnen, erlebe ich überraschend oft. Diese testamentarischen Sehenswürdigkeiten, Übertragungen, die an Wert nicht einzuschätzen sind! Ich meine nicht die gemütlichen Hausväter aus der alten, guten Zeit oder den Waldmenschen, oder den aus der nackten Körperkultur oder den Zwiebelasketen. Merkwürdig, daß man gerade in den Irrenanstalten Gesichte erblickt aus allererster Sternzeit; Bilder, alte Meister, Menschen, die erstarrt sind in der Vision. Und kein Arzt weiß sie aus dem Augenblick der Erscheinung zu führen, wie aus engem Rahmen. Ich besuche diese scheintoten Galerien; mich lieben die unverstandenen, verfangenen Gesichte. Etwa weil ich ihnen den richtigen Platz zu geben vermag? O, ihre Angstgefühle! Die andern testamentarischen Gestalten unterscheiden sich von den irrenden Denkmalbildern ihres ungestörten Sternenlaufs wegen. Solchen Sterngeschöpfen geschehen Wunder. Wie St. Peter Hille, er hatte noch mit Moses und Jesus von Nazareth gesprochen und mit Buddha, und erzählte von ihnen, wie der Urenkel etwa von seinem Großvater Goethe. Das war der unumstößliche Beweis von der ersten Leuchtkraft Gottes in St. Peter Hille. Ich gehöre nicht zu den Spiritisten; Spiritismus ist Epigonentum, Nachahmung, gewalttätige Wunder. Um wirkliche Visionen zu erleben, muß man noch in der ersten Leuchtkraft Gottes sein. So ein gotterhaltener Mensch ist fromm und selbst Inspirationen fähig. Aus Isaaks weitem Munde seh’ ich viel im Traum Sterne aufsteigen, die er benennt nach Gottes Einverständnis.

Die hungrige Zeit fraß meine Leuchtkraft goldweise. Aber ich kann erzählen von der Astronomie des Menschen, wenn ich auch in meinen ersten zehn Jahren noch zwischen weichem Dunkel, zwischen ungeordneter Nacht, im Chaos lag. Ich war wie ungeboren neben meiner Mutter, noch ganz Chaos.

Das Kind ist nicht fromm, es ist dumpf. Dieser Irrtum! Fromm kann nur der wissende Mensch sein, aber nicht jeder macht die sechs Schöpfungstage in seiner Hülle durch und wird Stern, und wenige nur den Sonntag. Wie viele Heilige gibt es und doch ist jeder Andächtige oder Lauschende, jeder Staunende oder Liebende ein Heiliger. Wenn Jesus von Nazareth die Kinder rief, so fühlte er Verantwortung mit ihnen, mit dem Chaos, das sich entfalten werde. Er wußte, wie weit der Weg zum Sterne war. Die Kinder sind wie die Lämmer so dumpf. Darum beleidigt mich das irrige Wort: Jesus das „Lamm“ Gottes. Solche Unschuld ist eine Chaosunschuld, und der Nazarener war der Sonntag der Schöpfung. Der Jude hat sich mit ihm der vollendetsten Welt entledigt. Sagte der Sonntägliche doch zu einem der Mörder am Kreuztag: „Wahrlich, ich sage dir, heute wirst du mit mir im Paradiese sein.“ Der Jude, der den Himmlischen verstößt, beweist, daß er ein Bürger ist, um nichts weniger der Mensch des Abendlandes, der den verlornen Gott der Juden aufnahm, ihn sich erzog und erwog nach seinem lammblutenden Wort. Im Menschen bereitet sich immer Fleischdumpfheit, Chaos, Fleischsehnsucht; Gott aber ist umgestaltet, ungerahmt und breitet über alles sich. Wir reden immer zu dem Chaos des Menschen, wollen wir ihn gewinnen, denn der Stern ist böse, darum sind wir alle einmal krampfhaft enttäuscht in Gott. Wir finden in ihm kein Chaos, keinen faßbaren Schlupfwinkel. Er sandte darum seinen Sohn, das heißt, er kam in Menschgestalt zur Erde. Solcher Umgestaltung Demut vom Stern zum Chaos ist nur ein Gott fähig. Nie war solche Dunkelheit je auf Erden und am Himmel und im Menschen wie in der Zeit des Gottbesuchs. Dem Priester und Pharisäer flößte seine Betastbarkeit Mißtrauen ein, der Armselige umklammerte den vertriebenen Götzen aus Fleisch und Blut wie einst am Fuß des Mosesberges das goldene Kalb.

Sie wollen noch wissen, wie lange sich der Menschplanet erhält. Die meisten Menschen werden nicht älter und nicht jünger als sechzig Jahre. Jesus von Nazareth ist gottalt wie die Ewigkeit. Moses war zehntausend Jahre, als die Tochter Pharaos ihn im Korbe fand. Und von dem Propheten St. Peter Hille möchte ich sagen: Niemand wußte um seinen Geburtstag. Meine Mutter war dreimal sechzehn Jahre alt, mein Vater erlebte sechsmal seine tollsten Knabenstreiche. Wie schätzen Sie mich ein? Ich bin David und tue Simsontaten, ich bin Jakob und deute die Träume der Kühe und Ähren. (Oder zweifeln Sie daran, daß mich meine Brüder verkauft haben, das Bürgermillion!) So verwirrt sich die Zeit der Vergangenheit im Menschen. Heute bin ich eine Dichterin, und ich bitte Sie, mir zu verzeihen, daß meine Dichtung keine Gehirnkarte geworden ist mit Farben, lila, grün, rot gefärbt. Meine Bekenntnisse nehmen Sie als ein Luxusgeschenk hin, denn ich bin verschwenderisch, das liegt in meinem Sternsystem. Es kommt mir selbst nicht darauf an, einige Monde meines Planeten fallen zu lassen. Auch mit meinem Chaos, ohne das Chaos kommt kein Mensch davon, hat es eine besondere Bewandtnis. Darüber möchte ich schweigen, aber eines kann ich Ihnen sagen, wir Künstler sind einmal bis ins tiefste Mark und Bein Aristokraten. Wir sind die Lieblinge Gottes, die Kinder der Marien aller Lande. Wir spielen mit seinen erhabensten Schöpfungen und kramen in seinem bunten Morgen und goldenen Abend. Aber der Bürger bleibt Gottes Stiefsohn, unser vernünftiger Bruder, der Störenfried. Er kann nicht heimisch werden mit uns, er und seine Schwester nicht. Verwechselt die lärmende Bürgerin oder die zur Hure gewordene Magd nicht mit dem spielenden Sternenmädchen, die den Tanz aus nackter Scham tanzt! — —

Wohin mir doch heute alle meine Sterne geleuchtet haben! Immer muß ich wiederholen, der Arzt sollte sich auf die Astronomie des Menschen verstehen. Welcher von Ihren Hausärzten wäre imstande, eine Sonnenfinsternis in Ihnen herbeizuführen, geschweige den Stillstand Ihres Planeten?

Ich sehe Ihre Kanäle, Ihre Berge auf Ihren Sternen und Ihren Mond aufgehen hinter Ihrer Stirn. Jeder Schmerz und jedes Freudegefühl, Vernichtung oder Erhebung ist ein neues Bild Ihres Sternensystems. Sie sterben eigentlich an zerborstenen Sternen oder Erkaltung Ihrer Sonne oder an Finsternis. Wenn nur Ihr Leben den Höhepunkt erreicht hat vor dem Zerfall Ihres Chaos: den Himmel. Aber wenn er Ihnen nicht auf den Kopf paßte? Vom Blitzstrahl getroffen, das Chaos gespaltet, einzugehen in die Allmacht ist Seligkeit. So lausche ich auf mich. Aber der Bürger belauert sich, der Kranke in Arzthand betrauert sich, weil er keine Achtung vor dem Schmerz hat. Ich bin müde — wie ich mir entkomme, ein Schatten aus Mond und Sternen, riesengroß fiel ich um Mittag und sinke nun ein in meinen eigenen Planeten. Ich habe einen kritischen Tag hinter mir, manche Menschen wichen mir furchtsam mit den Augen aus. Einem kleinen Mädchen bohrte ich im Anblicken ein Loch in die Brust. Solche Kraft macht traurig. Ich sehne mich nach Glück, nach ihm, nach Hascha-Nid, dem goldhäutigen Sohn des Häuptlings. Der spielt mit sich, treibt und lockt die Sterne über seine Grenzen, ein göttliches Spiel, Wirbel und Wüstenwind. Ich liebe ihn, weil er so reich und rein an Sternen ist, und ich staune vor solch verschwenderischen Launen ... Aber das geht Sie nichts an. Gern hätte ich Ihnen noch vom Himmel erzählt. Später, wenn ich ihn erreiche und Gott —

Gott, wo bist du?

Ich möchte nah an deinem Herzen lauschen,

Mit deiner fernsten Nähe mich vertauschen,

Wenn goldverklärt in deinem Reich

Aus tausendseligem Licht

Alle die frühen und die späten Brunnen rauschen.

Handschrift

Dr. Otto Jahnke mit dem seltenen Handschriftsbild

Für den Künstler der Handschrift ist der Inhalt seines Schreibens nur ein Vorwand, wie für den Maler das Motiv seines Bildes.

Ich habe beobachtet, daß Kinder und Große so recht in Gedanken versunken, mit der Feder, mit dem Bleistift an zu kritzeln fingen, dann ganz unbewußt bemüht waren, schöne oder verschnörkelte Buchstaben und Worte zu schreiben; sich dann später selbst über die Bedeutung des Geschriebenen wunderten. Auf einmal steht auf dem weißen Rand der Zeitung ein Name im Arabeskenschmuck oder blumenverziert. Dort ist ein Zeitwort auf den Kopf gestellt, ich meine ein xbeliebiges Wort in Spiegelschrift geschrieben. Ich habe dasselbe fesselnde Gefühl beim Ansehen einer interessanten Handschrift wie bei einer guten Federzeichnung oder einem Gemälde. Und doch möchte ich darum die Handschrift nicht mit der Malzeichenkunst in einen Farbentopf oder in ein Tintenfaß werfen. Aber der, welcher sich verzweifelt nach einem Talent sehnt, möge es zunächst in seiner Handschrift suchen. Oft hat schon der Lehrer sie im Keim erstickt. Den meisten bleibt die Schrift nichts wie Inhalt — die Nachricht erfreut ihn, ärgert ihn, namentlich wenn sie noch dazu undeutlich geschrieben ist. Warum höre ich nie jemand sagen: Erklären Sie mir diese oder jene Handschrift. Ich meine nicht des sprachlichen Verständnisses wegen, auch nicht aus graphologischem Grunde; rein künstlerisch! Wie ja so oft die Frage aufgeworfen wird vor einem Bildnis. Es hat noch nie jemand von einer Handschrift den alltäglichen Ausruf getan: „Die ist mir zu hoch!“ Und doch gibt es gerade Meister dieser Schulmeisterkunst. Diejenigen sind’s, die sich im Klassenzimmer Strafe holten ihrer Klaue wegen. Es geht ihnen wie dem Genie, welches die Kunstschule ausspie. Handschrift ist erblich wie jedes Talent. — Für mich kommt kaum der Inhalt eines Briefes in Betracht; ich kann mich für den Schreiber nur seiner Buchstaben wegen interessieren. Und es geschah schon, daß ich ganz entzückt einen unverschämten Brief beantwortete und umgekehrt. Die Schrift ist ein Bild für sich und hat nichts mit dem Inhalt zu tun. Jeder lernt schreiben, eine Menge Menschen haben es in ihrer Handschrift zur Kunst gebracht. Und darum auch gibt es in keiner Kunst so viele Epigonen, wie in der Kunst der Buchstaben. Für diese Nachahmer ist jeder Buchstabe ein Gestell, dem sie einen Mantel umhängen, den ein anderer gewebt hat, sie verstehen eben ihre Blöße zu bemänteln. Die alltäglichsten Epigonen sind reichgewordene Frauen, die sich bemühen, ihre so oft charakteristische Ladenmädchenschrift zentimeterhoch heraufzuschrauben direkt zu hochmütigen Gänsehälsen. Der Mann möchte Bedeutung in seine Schrift legen und ahmt der Hand des ihm Geistigüberlegenen nach. Ungemein sympathisch berührt mich die sogenannte Tatze, die Schrift der Knaben, wenn sie den Aufsatz ins Diarium schreiben. Hier diese Zeilen hat ein Mädchen vorsichtig und sanft geschrieben. Manchmal lachen auch Briefe oder sind erbittert, die Schrift riecht fast nach Galle. Meines Freundes Brief blinzelt, eine Faunlandschaft. Dein Onkel schreibt eine kleine, rundliche, gleichmäßige Handschrift wie Taler. Geizhals ist er, aber ein Handschriftenkünstler wie mein Freund der Faun. Interessant sind die spitz auslaufenden Buchstaben auf dieser Seite, jedes Wort ein Wolfsgebiß. Und doch kein Tiergemälde. Interessant wirkt auf mich die Korrespondenz, die ich erbrach zugunsten der Kunst, zwischen Karl Kraus und Herwarth Walden. Alte und neue Meisterstücke. Ich sprach schon einmal in meinem Essay über die Kunst in Karl Kraus’ Buchstaben. Seine Handschrift ist ein Dürergemälde. Meine Handschrift hat als Hintergrund den Stern des Orients. Oft sagten mir Theologen, ich schreibe deutsch wie hebräisch oder arabisch. Ich denke an der späten Ägypter Fetischkultur; ihnen ging aus dem Buchstaben schon die Blüte auf, der Zwischenduft, der Handschrift mit Zeichenmalkunst verbindet. Mir fallen noch die Schriften der Chinesen und Japaner ein. — „Die Mitternacht zog näher schon, in stummer Ruh’ lag Babylon“ — die plötzliche Geisterschrift an der Wand entsetzte die berauschten Gäste nicht des Inhalts wegen, das furchtbare Schriftbild war es. Sie erblickten den Inhalt des Fluches. Darum ist auch das Verständnis zur Kunst ein Seltenes und Erhabenes — es liegt uns im Gesicht und geht uns vom Gesicht aus. — Die Kaufmannshandschrift — ich möchte noch vorher fragen, hat schon einer der Leser einmal ein Lebenszeichen vom Dichter Peter Baum bekommen? Nämlich gerade bringt mir der Postbote so ein Sommerbildchen, Buchstaben: Mückenschwarm, der zerstreut in der Sonne tanzt. Seine Karte blendet. Ich bin bei der Kaufmannshandschrift — phantasielos, nüchtern, sie liegt bewegungslos auf dem Papier. Kühle Tatsache. Der kaufmännische Reisende dreht seinen Buchstaben eitel den Schnurrbart. Stutzig machen mich Briefe, die vom Geschäftsmann geschrieben sind und von der Buchführung doppelt abweichen. In dem Schreiber steckt sicherlich das Handschrifttalent. Es gibt auch Launen der Schrift. Kinder, die erst morgen dem Christkind schreiben wollen, da sie heute nicht schön schreiben können. Meiner Mutter Briefe waren schwermütige Zypressenwälder, meines Vaters Schrift reizte zum Lachen, humoristische Zeichnungen aus dem Struwelpeter. Kohlrabenpechschwarze Mohren oder der böse Nikolas steckt die Jungens ins Tintenfaß. Gelungene, amüsante Überschwemmungen von Tinte waren die Briefe meines Vaters. — Es gibt auch Schriftinspirationen, viele Menschen berauschen sich an ihrer Schrift, und der Inhalt, den sie aufschreiben, ist nur Vortäuschung. Ich schreibe oft, um mich durch meine Schrift zu erinnern, mein Vater, um sich zu ergötzen. Meine Schwestern schreiben zweierlei: die älteste: Reisebilder, die andere: Kinderbilder. Der einzige Plastiker der Handschrift, den ich kannte, war St. Peter Hille, Petrus — er schrieb Rodins. Wie viel deutlicher gemalt ist das tiefsinnigste Bildnis, als die ausgeschriebene Handschrift (rein künstlerisch verstanden). Aber auch die kann dilettantisch sein, wenn sie ohne Tiefe und Geist und nur aus Ausübung entstanden ist. Manche sogenannte schöne Schrift allzu deutlich, Ölbilder nach Sichel. Lieber ist mir schon die Pfote von Aujuste. Ihr Brief und die Antwort vom Schatz geben sich einen Schmatz. Derbe Genrebilder. Vielerlei gibt’s davon. Ähnlich wie die Köchin schreibt das Dienstmädchen, die Kellnerin, das kleine Mädchen, die kecke Hure. Aber loser geheftet, unordentlicher ihr Brief, ein leicht schaukelndes Gerippe. Weit eher ist die Demimonde eine Epigonin. Sie stiehlt lächelnd und liebkosend die Buchstaben der Originale oder versteht wie die Sprache auch die Schrift ihres in Fesseln gelegten Herrn zu kopieren und zu belecken. — Habe ich schon gesagt, daß es auch Stilleben in der Handschrift gibt, zehn Seiten lange Briefe, die schlafen, aber deren Inhalt voll Leben sprudelt; Handschriftkünstler, die schulakademisch erzogen und erwogen sind. — Manche Buchstaben gucken neugierig. Gewissenhafte Schriften: Wie die Buchstaben getrennt auseinanderstehen. Er war sehr niedergeschlagen, als er