Goliath - Steve Alten - E-Book

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Steve Alten

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Beschreibung

Angriff aus der Tiefe

Im Atlantischen Ozean wird ein Teil der amerikanischen Flotte von einem unbekannten Feind versenkt. Es handelt sich um die Goliath, ein mit modernsten Waffensystemen und einem biochemischen Bordcomputer ausgestattetes U-Boot, das sich in der Hand von Terroristen unter der Führung eines genialen Wissenschaftlers befindet. Ihr Ziel: Sie wollen mithilfe eines Arsenals von Nuklearwaffen den Weltfrieden erzwingen. Doch die künstliche Intelligenz der Goliath hat ein Bewusstsein erlangt – und schmiedet andere Pläne ...

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STEVE ALTEN

Goliath

Roman

Aus dem Amerikanischenvon Bernhard Kleinschmidt

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen. Vollständige vom Autor überarbeitete deutsche Neuausgabe 09/2012

Copyright © 2002, 2011 by Steve Alten

Copyright © 2012 by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Umschlaggestaltung und Motiv: Nele Schütz Design, München,

unter Verwendung eines Motivs von © Thinkstock

Datenkonvertierung E-Book: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ePub-ISBN: 978-3-641-07966-6V002

www.heyne.de

Gewidmet

den Offizieren und Mannschaften

der U-Boot-Streitkräfte der Vereinigten Staaten

in Vergangenheit und Gegenwart.

Und meiner Schwester Abby,

die mich zum Schreiben inspiriert hat.

»Wir stehen an der Schwelle des nächsten großen Sprungs in der Entwicklung der Computertechnologie. Der chemisch assemblierte elektronische Nanocomputer CAEN wird milliardenfach schneller sein als die heutigen PCs und eine Spitzenstellung im Bereich der künstlichen Intelligenz einnehmen.«

Dr. Elizabeth Goode

»Recht und Unrecht, Freiheit und Unterdrückung; die beste Absicht und den Wahnsinn des Völkermords trennt nur eine dünne Linie.«

Gunnar Wolfe

»Die Geschichte ist ein Blutbad.«

William James

»Keine Schneeflocke in der Lawine wird sich je verantwortlich fühlen.«

Stanislaw Jerzy Lec

Prolog

Identität, erste Stufe:

Klein und unbedeutend, bin ich in der gewaltigen Weite der Natur gestrandet und hoffe, dass ich überleben kann.

Deepak Chopra

»Kurs neunzig Grad, ein Drittel Kraft voraus. Auf fünfzig Meter gehen.«

»Aye, Sir, Kurs neunzig Grad liegt an, fünfzig Meter Tiefe.«

»Computer starten.«

»Aye, Sir, Computer gestartet.«

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»Mr. Chau, halten Sie sich bereit, Sorceress online zu bringen. Inkubator fluten. Bakterien zur Injektion bereit.«

»Aye, Sir; Inkubator geflutet, Bakterien zur Injektion bereit.«

»Bakterien in Inkubator injizieren. DNS-Synthesizer aktivieren.«

»Aye, Sir. Bakterien werden injiziert. DNS-Synthesizer in Betrieb.«

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ATCGATCGATATACCAG

»Sensorkugeln aktivieren. Stimmerkennungs- und Reaktionsprogramm starten.«

»Aye, Sir, Sensorkugeln sind aktiviert. Stimmerkennungs- und Reaktionsprogramm online.«

»Primärkontrolle des Schiffs an den Computer übergeben. Sorceress,hier spricht Covah. Sind Sie online?«

AACGTTTGTACCACATTAGGATACACATTAGGATA ACA GT A A TG C A A

»Sorceress, bestätigen Sie.«

»Bestätigt. Sorceressist online.«

»Diejenigen, die in der Welt vorankommen, gehen hin und suchen sich die Verhältnisse, die sie wollen, und wenn sie sie nicht finden können, schaffen sie sie selbst.«

George Bernard Shaw

»Revolutionen finden in erster Linie in den Köpfen der Menschen statt.«

Ralph Peters, Fighting for the Future

»Müssen wir Blut vergießen, um das gegenwärtige politische System zu reformieren? Ich hoffe, dass es nicht dazu kommen muss, aber möglicherweise ist es unvermeidlich.«

Timothy J. McVeigh, ehemaliger Sergeant der US-Army, verantwortlich für den Bombenanschlag in Oklahoma City 1995

»Der Feind ist an vielen Orten, und er legt es nicht gerade darauf an, entdeckt zu werden. Wir müssen daher eine Strategie entwickeln, die für diese Art Feind geeignet ist.«

Colin Powell, US-Außenminister

Kapitel 1

25. Januar 2010

Atlantischer Ozean

Seine-Tiefsee-Ebene

112 Seemeilen südwestlich der Straße von Gibraltar

Eine Fontäne aus Luft und Wasser ausstoßend, durchbricht der majestätische Koloss die Wasseroberfläche. Die sichelförmige Rückenflosse gleitet durch die Wellen, der große Schwanz schlägt herausfordernd ins Wasser, bevor das Tier wieder in der Gischt versinkt.

Mit einem Gewicht von bis zu hundertdreißig Tonnen ist der Blauwal das bei Weitem größte Tier, das je auf der Erde gelebt hat. Oft erreicht er eine Länge von über hundertfünfunddreißig Metern. Ein Herz von der Größe eines Kleinwagens lässt zehn Tonnen Blut durch seinen Körper zirkulieren. Mit seiner gewaltigen Masse ernährt sich der Meeressäuger nicht räuberisch, sondern lebt von Plankton, kleinen Meeresorganismen, die er mit seinen Barten aus dem Wasser filtert. Seine Hauptnahrung ist Krill, kleine, garnelenähnliche Krebstiere.

Noch einmal steigt die Walkuh auf und führt ihr zwei Monate altes Kalb an die Oberfläche, damit es zwischen den aufgewühlten Wogen mühsam Atem holen kann.

Dreihundert Meter tiefer zieht ein bedrohlicher Schatten leise durch die Tiefe. Dämonische pupillenlose Augen, starr und scharlachrot, leuchten im schwarzen Wasser. Alle Lebewesen, die den gigantischen, von Dunkelheit umhüllten Leib wahrnehmen, stieben auseinander.

Der Schatten registriert die Bewegung hoch über sich, entfernt sich mit einer scharfen Wendung vom Meeresboden und steuert die beiden Blauwale an.

Als das Ungetüm die wogenden grauen Schleier der höheren Wasserschichten erreicht hat, enthüllen die gebrochenen Sonnenstrahlen die geflügelte Silhouette eines riesigen Stachelrochens. So lautlos schwimmt er dahin, dass die Walkuh sein Nahen erst bemerkt, als er sie schon fast erreicht hat. Mit einer panischen Bewegung schlägt das erschrockene Muttertier mit der Schwanzflosse und drängt sich über sein Kalb, um es vor den Kiefern des Jägers zu beschützen.

Der unheimliche Gigant setzt seine Verfolgung fort. Immer näher kommt sein flaches, dreieckiges Maul den wirbelnden Schwanzflossen der flüchtenden Meeressäuger, die einen Strudel aus Luftbläschen hinter sich herziehen.

Zu einem Angriff kommt es jedoch nicht. Der Rochen hält eine Flossenlänge Abstand von der wild schlagenden Fluke der Walkuh, als wolle er seine Beute mit einem furchtbaren Katz-und-Maus-Spiel verhöhnen. Jäger und Gejagte hetzen durch die Thermokline, die dünne Wasserschicht, die die von der Sonne erwärmte Oberfläche von der kälteren Tiefe trennt.

Nach einer Weile ist der dunkle Koloss der Jagd müde. Unvermittelt beschleunigt er, gleitet unter den verängstigten Walen hindurch und lässt sie in den Turbulenzen seiner Schwingen taumeln, während er in die schweigende Tiefe zurückkehrt.

Dunkelheit und Kühle umgeben den Stachelrochen, der bis auf das teuflische Glühen seiner unheimlichen Augen vollkommen schwarz ist. In zweihundertsiebzig Metern Tiefe gleitet der stromlinienförmige Leib mühelos in die Waagrechte. Hoch über dem öden Grund des Tiefseebeckens setzt die Kreatur ihre Reise nach Westen fort, wo ihre wahre Beute wartet.

Atlantischer Ozean

35 Seemeilen westlich der Straße von Gibraltar

15.12 Uhr

Unter dem mausgrauen Winterhimmel durchpflügt der amerikanische Flugzeugträger Ronald Reagan (CVN 76) den Ozean. Sein stählerner Bug bahnt sich mit einer konstanten Geschwindigkeit von zwanzig Knoten einen Weg durch die knapp vier Meter hohen Wellen.

Unter Deck übersieht Captain James Robert Hatcher, der zweiundfünfzigjährige Kommandant der Ronald Reagan, geflissentlich das Grinsen seiner Untergebenen, als er den Fitnessraum verlässt und im Laufschritt einen der beiden Zentralkorridore des Schiffs entlangeilt. Nachdem er geschickt ein Dutzend wasserdichte Türen geöffnet und hinter sich geschlossen hat, erreicht er den zentralen Kommando- und Kontrollbereich für den Flugzeugträger und sein Geschwader.

Die Ronald Reagan ist eine wahre Festung der modernen Kriegführung. Gut dreihundert Meter lang und mit einer Infrastruktur aus Aufbauten, die bis zu zwanzig Stockwerke hoch über der Wasserlinie aufragen, ist der Flugzeugträger der Nimitz-Klasse das bei Weitem größte und mit siebenundneunzigtausend Tonnen auch schwerste Wasserfahrzeug der Welt. Trotz seiner gewaltigen Größe ist das Schiff alles andere als langsam – seine vier von zwei Kernreaktoren angetriebenen Schrauben, jede mit einem Durchmesser von über sechs Metern, verleihen ihm eine Geschwindigkeit von über dreißig Knoten, mit der es täglich bis zu siebenhundert Seemeilen zurücklegen kann.

Der Flugzeugträger und sein Geschwader sind ein eindrucksvolles Beispiel für die Vorwärtsverteidigungsstrategie der Vereinigten Staaten. Sein achtzehntausend Quadratmeter großes Flugdeck ist das Kernstück eines schwimmenden Flughafens, der von sechstausend Männern und Frauen in Betrieb gehalten wird. Am Rand des Flugdecks und in dem darunter gelegenen Hangardeck stehen über siebzig Flugzeuge; unter anderem zwei Staffeln F/A 18E und 18F Super Hornet; acht für Kommunikationsaufgaben, Aufklärung, das Auftanken in der Luft und die U-Boot-Jagd ausgerüstete CSA-Jets; vier AEW-Maschinen für die Luftaufklärung und eine Staffel aus vierzehn brandneuen, durch ihr Stealth-Design geschützten Joint Strike Fighters (JSFs). Mit seinem umfangreichen Arsenal an Offensivwaffen kann dieser Schwarm hochmoderner Jets den Luftraum über der Armada nahezu nahtlos versiegeln.

Zu den Verteidigungswaffen des Flugzeugträgers gehören die neueste Version der Kurzstreckenrakete Sea Sparrow mit drei Abschussvorrichtungen, die jeweils acht Raketen tragen; das elektronische Selbstschutzsystem SLQ 32 und das Raketenabwehrsystem Vulcan Phalanx, ein auf geringe Distanz wirksames Schnellfeuergeschütz, das pro Sekunde neunhundert Zwanzig-Millimeter-Geschosse abfeuern kann.

Auf offener See nahezu unverwundbar ist der Flugzeugträger nicht nur durch seine eigenen Abwehrsysteme, sondern auch durch seine Einbindung in eine sogenannte Trägerkampfgruppe mit einem breiten Spektrum verschiedener Fahrzeuge. Die Ronald Reagan wird begleitet von sechzehn Kampfschiffen, zehn Versorgungsschiffen und zwei Angriffs-U-Booten der Los-Angeles-Klasse, der USS Jacksonville (SSN 699) und der USS Hampton (SSN 767).

Direkt an den Seiten der Ronald Reagan sind zwei Geleitschiffe der Ticonderoga-Klasse positioniert, die USS Leyte Gulf und die USS Yorktown. Die beiden Raketenkreuzer haben den Auftrag, den Flugzeugträger um jeden Preis zu schützen. Beide sind mit dem THAAD-System ausgerüstet, einem hoch entwickelten taktischen Raketenabwehrsystem. Mittels einer Reihe von Sensor-Fusions-Computern verbindet das Programm die Radar-, Sonar- und Lasersysteme der Schiffe mit ihren Waffensystemen. Dabei werden auch neueste Satellitendaten eingespeist, um die Bedrohung durch feindliche Angriffe korrekt einschätzen zu können. Auch das koordinierte multi-statische Radar macht es feindlichen Stealth-Jets und Marschflugkörpern unmöglich, den Schutzschild unbemerkt zu durchdringen. Die parallel laufenden Multitask-Computer brauchen nur wenige Sekunden, um Prioritäten zu setzen und die Abwehr herannahender Flugkörper einzuleiten. Zusätzlich zu ihren Geschützen, Torpedos und Anlagen zum Abschuss von Scheinzielen, mit denen feindliche Raketen getäuscht werden sollen, sind die zwei Kreuzer mit Tomahawk-Raketen bestückt, Marschflugkörpern, die bis zu sechzehnhundert Kilometer entfernte Ziele zerstören können.

Die Vereinigten Staaten unterhalten zwölf solche Trägerkampfgruppen, von denen sich jeweils immer nur zwei oder drei im Einsatz befinden. Dabei ist die Ronald Reagan der erste Flugzeugträger seit mehr als zehn Jahren, der neben seinen konventionellen Waffen auch eine kleine Anzahl nuklearer Sprengköpfe mit sich führt. Notwendig wurde diese taktische Neuorientierung durch den verschärften nuklearen Rüstungswettlauf mit Russland und China, den die Vereinigten Staaten durch ihre Weigerung ausgelöst haben, auf den unter der Regierung Reagan initiierten Raketenabwehrschild zu verzichten.

Als Captain Hatcher ins Halbdunkel der unterkühlten Befehlszentrale tritt, trocknet der Schweiß auf seinen nackten Armen und Beinen augenblicklich. Eine Reihe von Technikern blickt von ihren Bildschirmen auf, als ihr Kommandant vorbeigeht. Hatcher schaut sich rasch um, dann entdeckt er seinen Ersten Offizier, Commander Shane Strejcek.

»I. O., haben Sie Bob Lawson irgendwo gesehen?«

»Den Abgeordneten? Ja, Sir, der hat sich erst vor zehn Minuten mit Commander Jackson unterhalten.«

Hatcher geht weiter zu der zentralen Bucht aus Steuerpulten, die rund um eine große, hoch auflösende Digitalkarte angeordnet sind. Das Plexiglas-Display zeigt den Nordatlantik und das Mittelmeer. Die Position der Kampfgruppe und die umgebenden Verteidigungszonen sind in fluoreszierendem Blau dargestellt, die dazugehörigen Flugzeuge in pulsierendem Grün, die Topografie von Europa und Westafrika in ebenmäßigem Rot. Der mehrschichtige Bildschirm kann zudem die Höhe des Wellengangs und die Wetterbedingungen darstellen.

Commander Rochelle »Rocky« Jackson schaut von ihrem Sonarbildschirm auf, als sie den Skipper auf sich zukommen sieht. Unter ihrer marineblauen Baseballmütze lugen einzelne strohblonde Haarsträhnen hervor. »Tolle Waden, Hatch«, sagt sie anerkennend.

Es ist so kühl im Raum, dass sich Rockys aufgerichtete Brustwarzen an die Innenseite ihres T-Shirts drücken. Hatcher bemerkt, dass er darauf starrt. »Commander, was machen Sie da am Sonar?«

»Die Herren Soderblom und Dodds liegen mit Grippe in der Koje. Suchen Sie Mr. Lawson?«

»Den habe ich wohl knapp verpasst.«

»Um gute zwanzig Minuten. Ich habe mein Bestes versucht, ihn zu unterhalten, aber ihm ist wohl langweilig geworden.«

»An der Aussicht kann’s nicht gelegen haben. Wenn’s Ihnen hier zu kühl ist, hole ich Ihnen gern einen Pullover, Commander.«

Feixend knöpft Rocky ihre Jacke zu. Im schwachen Licht des Bildschirms funkeln ihre haselnussbraunen Augen. »Ist schon in Ordnung. Danke, Sir.«

Hatcher beugt sich zu ihr. »Übrigens – alles Gute zum Geburtstag, Commander«, flüstert er ihr ins Ohr.

Ein Lächeln spielt um ihre hohen Wangenknochen. Sie wendet sich wieder dem Sonarbildschirm zu. »Fort mit dir«, flüstert sie ihrem Gatten zu. »Ich habe Dienst, und du riechst tierisch nach Schweiß. Was Lawson betrifft, könntest du’s mal auf der Vultures’ Row versuchen.«

»Danke.«

Rocky beobachtet, wie Hatcher die Befehlszentrale verlässt. Als ihr die Schweißflecken an der Mittelnaht seiner grauen Navy-Shorts auffallen, muss sie grinsen.

Commander Rochelle Megan Jackson hat vor exakt vierunddreißig Jahren und sieben Stunden im Krankenhaus der Armeebasis Fort Benning, Georgia, das Licht der Welt erblickt. Ihr Vater, Michael »Bear« Jackson, damals Lieutenant Colonel bei den Rangers, einer US-Elitetruppe, hatte nichts anderes als die Ankunft eines Sohnes erwartet und stattete den Säugling unbeirrt mit einem Baseballhandschuh, einem Football und dem Vornamen seines Vaters Rocky aus, den seine Frau auf der Geburtsurkunde umgehend in Rochelle umwandeln ließ.

Rocky wuchs als Einzelkind in einer typischen Soldatenfamilie auf. Ihr Vater, den sie liebevoll »Papa Bear« nannte, war mit Leib und Seele Soldat. Der hellhäutige, athletische Afroamerikaner mit einem kurz geschorenen kastanienbraunen Afro und breitem Lächeln hatte sich seinen Spitznamen in seiner Zeit bei einer Spezialeinheit der Army erworben. Wer von ihm befehligt wurde, wusste, dass der »Bear« nicht so bissig war, wie er tat, denn hinter Jacksons schroffem Äußeren verbarg sich eine tiefe Loyalität gegenüber seinen Leuten. Rockys Mutter Judy wiederum war so ruhig, wie ihr Vater laut war. Aus einer weißen, protestantischen Familie mit angelsächsischem Erbe stammend, hatte sie am renommierten Massachusetts Institute of Technology ihr Ingenieursdiplom gemacht und war anschließend von der Marine angeworben worden. Ihren zukünftigen Ehemann lernte sie in Washington bei einer einwöchigen Rüstungskonferenz kennen.

Im Grunde hätte Rocky Jackson sich schon bei der Geburt zum Militärdienst melden können.

Während die kleine Rochelle auf einer Armeebasis inmitten anderer Soldatenkinder aufwuchs, begann sie sehr bald, den übertriebenen Ehrgeiz ihres Vaters zur Schau zu stellen. Der blonde Wildfang forderte seine männlichen Klassenkameraden im Sport nicht nur ständig heraus, er ging bei Wettkämpfen auch meistens als Sieger hervor. Ein Großteil von Rockys Geltungsbedürfnis entsprang dem Wunsch, die Anerkennung ihres Vaters zu erringen, der meist johlend auf der Tribüne saß, wenn er nicht gerade in geheimer Mission im Ausland unterwegs war.

Die typische Mentalität des Elitesoldaten, die Rocky von ihrem Vater übernommen hatte, brachte ihr zwar sportliche Lorbeeren ein, doch was ihr gesellschaftliches Leben betraf, war ihr übermäßiger Ehrgeiz eher hinderlich. Der Kindheit entwachsen, wirkte die gut aussehende blonde Teenagerin mit der hellbraunen Haut und der Figur einer Jackie Joyner-Kersee oft einschüchternd auf Mädchen wie Jungen. Hatte sie doch einmal eine Verabredung, trug ihre nüchterne Haltung zum Thema Sex ihr bald den Ruf ein, prüde zu sein. Nicht, dass Rocky nicht die typischen Sehnsüchte ihres Alters gehabt hätte – sie war einfach nur wählerisch. Wer immer sie einmal in seinen Armen halten wollte, musste dem Vergleich mit Papa Bear standhalten, und das schaffte keiner der vermeintlichen Supermänner an ihrer Highschool. Als ihr Partner beim Abschlussball, ein Mitglied des Football-Teams ihrer Schule, sich auf der Tanzfläche etwas zu weit vorwagte, trat sie gelassen einen Schritt zurück und zielte auf das Gesicht des Athleten. Ihr kraftvoller, gut eingeübter Taekwondo-Schlag brach ihm das Nasenbein.

Während Rockys sportliche Fähigkeiten und ihr Führungsanspruch die Persönlichkeit ihres Vaters widerspiegelten, schlug sie in schulischer Hinsicht ganz nach ihrer Mutter. Nachdem sie die Marineakademie mit Auszeichnung abgeschlossen hatte, schrieb sie sich wie diese für ein Ingenieursstudium am M.I.T. ein. Später bahnte ihr Diplom ihr dann den Weg zu einer hochrangigen Position am NUWC (Naval Undersea Warfare Engineering Center), dem Zentrum für Unterwasserkriegführung in Keyport, einem Stützpunkt im nordwestlichsten US-Staat Washington.

Obgleich sie vom militärischen Leben geprägt war, zeigte Rocky kein Interesse, eine kämpfende Einheit zu befehligen. Wie der Golfkrieg erwiesen hatte, waren technologische Faktoren der Schlüssel zu Amerikas Rolle als dominanter Weltmacht, und Rocky wollte an der richtigen Stelle dazu beitragen, dass es in den kommenden Jahrzehnten dabei blieb. Ihr ehrgeiziges Ziel war klar und einfach: Sie wollte sich mit allen fortschrittlichen Technologien vertraut machen, so viel wie möglich von den besten Wissenschaftlern ihres Landes lernen und einen guten Kontakt mit den einflussreichen Freunden ihres Vaters im Pentagon pflegen, bis sich die Gelegenheit ergab, die Entwicklung eines der neuen Hightech-Waffensysteme der Navy zu leiten.

Diese Gelegenheit fand sich, nachdem Rocky mehrere lange Jahre an der Entwicklung des neuen Angriffs-U-Boots der Virginia-Klasse beteiligt gewesen war. Nach dem Wahlsieg von George W. Bush war der Raketenabwehrschild (SDI) kurzfristig an die erste Stelle des militärischen Wunschzettels gerückt, bis der Parteiaustritt des republikanischen Senators Jim Jeffords den Demokraten wieder die Mehrheit im Senat verschafft hatte. Damit war das ebenso ambitionierte wie teure Rüstungsprojekt vorläufig auf Eis gelegt, und das Weiße Haus musste sich nach einer neuen, leichter machbaren und finanziell bescheideneren Initiative umsehen, um die nationale Sicherheit der USA weiter auf hohem Niveau zu gewährleisten.

Hier kam das Goliath-Projekt ins Spiel, ein streng geheimes Vorhaben, dessen Kosten auf mehr als zehn Milliarden Dollar veranschlagt waren. Im Gegensatz zu SDI handelte es sich um eine Offensivwaffe, die vom NUWC entwickelt werden sollte, um die Strategie der amerikanischen Streitkräfte auf lange Sicht entscheidend zu verändern. Rocky hatte die besten Chancen, die Leitung zu übernehmen.

Drei Monate später war die Sache offiziell: Rochelle Jackson war zur mächtigsten Frau in der Männerwelt des Militärs geworden.

Ein knappes Jahr verging, dann stellte ihr Vater, inzwischen General beim United States Special Operations Command (USSOCOM), ihr seinen besten Mitarbeiter vor, Captain Gunnar Wolfe, den Kommandanten einer Einheit der Elitetruppe US Army Rangers. In dem dunkelhaarigen, grauäugigen Offizier fand Rocky Jackson endlich ihren Meister. Wolfe, der ein Ingenieursdiplom von der Pennsylvania State University in der Tasche hatte, war von der kämpfenden Truppe beurlaubt worden, um seinen Entwurf eines ferngesteuerten Mini-U-Boots fertigzustellen. Da Rockys Vater der Meinung war, das Fahrzeug passe zum Projekt seiner Tochter, hatte er Wolfes Verlegung ans NUWC veranlasst.

In den ersten zwei Monaten hatten die beiden sich wie Hund und Katze benommen. Während Rocky ständig wie versessen versuchte, den neuen Mitarbeiter an die Leine zu nehmen, weigerte Gunnar sich standhaft, sich dem Willen seiner gut aussehenden Chefin zu unterwerfen. Der Termindruck zwang die beiden zur Zusammenarbeit, und während der langen Arbeitstage nahm die Spannung allmählich ab, sodass die gegenseitige Anziehung Raum gewinnen konnte. Bald entwickelte sich das Labor zur Stätte nächtlicher Picknicks, und mit jeder Begegnung wurde die Beziehung sinnlicher. Die anfängliche Konkurrenz wich der Leidenschaft, wobei sich das Liebesspiel meist wie ein Wettstreit ausnahm und eher Lust als Liebe ausdrückte.

Im Lauf der Zeit blühten dann tiefere Gefühle auf.

Gunnar Wolfe hatte die wilde Tochter des »Bears« gezähmt, eine von Geltungsdrang beherrschte Frau, deren Schönheit und Leidenschaft ihrer inneren Kraft und ihrem Konkurrenzdenken gleichkamen. Der für das folgende Frühjahr geplante Hochzeitstermin wurde hastig um einige Wochen vorverlegt, als Rocky feststellte, dass sie im zweiten Monat schwanger war. Sogar sein Traumhaus fand das glückliche Paar, eine große Strandvilla einige Meilen westlich von Seattle.

Kurz nach der Verlobung fiel Rocky auf, dass Gunnar sich immer seltsamer verhielt, als verberge er ein dunkles Geheimnis. Gleichzeitig ergab sich weniger Gelegenheit zu gemeinsam verbrachten Stunden, weil Rocky oft nach Washington fliegen musste, während Gunnar viele einsame Nächte im Labor verbrachte.

Und dann, zwei Wochen vor der geplanten Hochzeit, beging Gunnar einen unverzeihlichen Verrat, der Rocky das Herz brach und das Leben der beiden für immer verändern sollte.

Als Rocky von einem längeren Aufenthalt in Washington zurückkam, erfuhr sie, dass ein Computervirus in sämtliche Terminals eingeschleust worden war, die Informationen über ihr streng geheimes Projekt enthielten. Jahrelange Mühen und zahllose Arbeitsstunden waren in Sekundenschnelle zu Makulatur geworden. Das war jedoch nicht alles – David Paniagua, der geniale junge Wissenschaftler, der für die Nanotechnologie des Projekts zuständig (und als Trauzeuge vorgesehen) war, berichtete, es fehlten biochemische Nanocomputer-Schaltungen im Wert von zwei Milliarden Dollar, ganz zu schweigen von den in fünf Jahren gezüchteten Stämmen gentechnisch veränderter, mit Silikon umhüllter Bakterien.

Im Verteidigungsministerium schlug die Nachricht wie eine Bombe ein. Da kurz zuvor auch im Atomwaffenforschungszentrum von Los Alamos Spionageversuche aufgedeckt worden waren, wurde eine interne Untersuchung angeordnet. Die Navy war gezwungen, das gesamte Projekt auf Eis zu legen, bis man den Schuldigen identifiziert und festgenommen hätte.

Der Täter war gegen Mitternacht in das Labor für künstliche Intelligenz eingebrochen. Aus den Daten des Wachpersonals war ersichtlich, dass sich zu dieser Zeit nur eine einzige Person in Abteilung A I des Zentrums aufgehalten hatte: Gunnar Wolfe.

Innerhalb weniger Tage entdeckte der Geheimdienst der Navy Hinweise auf ein ausländisches Bankkonto, als dessen Inhaber der Vater Wolfes eingetragen war. Auf diesem Konto waren in neuerer Zeit Überweisungen im Gesamtwert von über 1,2 Millionen Dollar eingegangen, die zu einer Bank in Hongkong zurückverfolgt werden konnten. Obwohl Wolfe standhaft leugnete, irgendetwas von dem Geld oder den gestohlenen Computerteilen zu wissen, wies ein Lügendetektortest eindeutig darauf hin, dass der frühere Eliteoffizier etwas vor seinen Vorgesetzten verbarg.

Zwei Tage vor seiner Hochzeit wurde Wolfe von Geheimagenten der Navy in seinem Labor festgenommen. Weil man nicht beweisen konnte, dass er die verschwundenen Daten ins Ausland verkauft hatte, war der Staatsanwalt gezwungen, den Vorwurf der Spionage fallen zu lassen und die Anklage auf die Zerstörung von Staatseigentum zu beschränken. Am 22. Juni, einen Monat nach dem abgesagten Hochzeitstermin, erklärte eine Jury aus Stabsoffizieren der Marine Gunnar Wolfe für schuldig, und der Richter, ein Admiral, verurteilte ihn zu zehn Jahren im Gefängnis von Leavenworth.

Sechs Wochen später verloren die Republikaner das Weiße Haus, nicht zuletzt wegen des Goliath-Skandals. Anschließend dauerte es nicht lange, bis der neue Präsident das Projekt offiziell einstellen ließ.

Rocky war wie vom Blitz getroffen. Ihr Lebenswerk, ihre Karriere, ihre Zukunft mit dem einzigen Mann, dem sie je ihre Liebe geschenkt hatte, alles war verloren. Schlimmer noch – durch Gunnars selbstsüchtige, unerklärliche Tat hatte sie die Achtung ihrer Kameraden für immer verloren. Rocky Jackson, eine Frau, die mit der amerikanischen Fahne buchstäblich schlafen ging, war einem Mann auf den Leim gegangen, der seinem eigenen Land in den Rücken gefallen war.

Ihr Schmerz war grenzenlos. Es war, als habe man ihr das Herz aus der Brust und das Hirn aus dem Schädel gerissen. Sie fühlte sich missbraucht und schmutzig. Einige Wochen später verlor sie ihr Baby.

Das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Selbst ihr extremes Selbstbewusstsein konnte das nicht mehr verkraften.

Drei Monate, nachdem Gunnar seine Strafe angetreten hatte, fand der »Bear« seine Tochter bewusstlos auf dem Boden des Badezimmers. Sie hatte eine Überdosis Muskelrelaxanzien und Barbiturate geschluckt. Es war das erste Mal in ihrem Leben, dass sie um Hilfe gerufen hatte, und es wäre fast das letzte Mal gewesen.

Nach einer monatelangen Einzeltherapie wich Rockys innere Leere allmählich einem schwelenden Zorn, der jederzeit zum Ausbruch kommen konnte. Die Medikamente machten sie krank, und eine Europareise mit ihren Eltern verschlimmerte die Lage nur. Der »Bear« wusste, dass das zusammengebrochene Selbstbewusstsein seiner Tochter samt deren patriotischer Überzeugung wieder aufgebaut werden musste. Das erforderte Disziplin, die der Dienst ihr verschaffen konnte. Eine Rückkehr an ihre frühere Arbeitsstelle war allerdings ausgeschlossen, obwohl ihr Vater dafür gesorgt hatte, dass man bei der Navy nichts von ihrer Überdosis erfuhr.

»Was ist mit dem aktiven Dienst?«, regte ihre Mutter an, ohne auf die Einwände ihres sturen Gatten zu achten.

Schließlich war der »Bear« bereit, an ein paar Strippen zu ziehen, um den Plan seiner Frau zu verwirklichen. Ein halbes Jahr später trat Rocky ihren ersten Posten auf dem Aegis-Lenkwaffenkreuzer Princeton an. Dort setzte man sie ans Sonargerät.

Die Luftveränderung war genau das, was die junge Frau brauchte, um ihre angegriffene geistige Gesundheit wiederherzustellen. Das Leben an Bord eines amerikanischen Kriegsschiffes war eine Herausforderung, und so etwas hatte schon immer die besten Seiten von Rochelle Megan Jackson zum Vorschein gebracht. Ihr Ehrgeiz ließ es nicht zu, dass irgendein anderer je mehr als sie arbeitete, wusste oder leistete. Innerhalb eines Monats war sie wieder ganz die Alte, und am Ende ihres ersten Dienstes beurteilte ihr Vorgesetzter sie als einen der zuverlässigsten Offiziere auf seinem Schiff.

Nach drei Jahren und einer Beförderung hatte Commander Jackson sich einen Dienst auf der USS Ronald Reagan verdient, dem neuesten Flugzeugträger der Flotte.

Hier traf die frühere Projektleiterin auf Kapitän James Hatcher, fünfundzwanzig Jahre älter als sie. »Hatchs« erste Frau war erst ein Jahr zuvor nach einem langen Kampf gegen den Brustkrebs gestorben, und in ihrem Kummer fühlten die beiden sich als verwandte Seelen. Was als Freundschaft begann, entwickelte sich allmählich zu einer intimen Beziehung, ohne dass einer der beiden an die Konsequenzen gedacht hatte. Als Hatcher sich schließlich Sorgen machte, seine Karriere könne durch einen eventuellen »Sexskandal« ins Trudeln geraten, hielt er um Rockys Hand an.

Sie staunte selbst, als sie ihm das Jawort gab.

Rockys Bekannte behaupteten hinter ihrem Rücken, sie habe nur nach einer Vaterfigur gesucht, und vielleicht hatten sie recht. Hatch war alles andere als der Mann ihrer Träume, aber sie sah in ihm einen guten Menschen und zuverlässigen Gefährten, der ihr zerbrechliches Vertrauen nicht enttäuschen würde. Außerdem war er ein Offizier mit Zukunft, was nicht außer Acht zu lassen war. Rocky sehnte sich danach, wieder wie früher im Rampenlicht zu stehen, und als Kapitän des Flagschiffs der amerikanischen Marine konnte James Hatcher ihr den Weg bahnen. Trotz heftiger Proteste ihres Vaters heirateten die beiden.

In derselben Woche brach in Leavenworth eine Gefängnisrevolte aus, bei der zwei Männer getötet wurden. Der Gefängnisdirektor wurde als Geisel genommen. Als Verstärkung eintraf, hatte ein einzelner Häftling – ein früheres Mitglied der US Army Rangers – es bereits geschafft, dem Direktor das Leben zu retten.

Es folgte eine lautstarke Pressekampagne über Gunnar Wolfes Heldentat, worauf der einstige Elitesoldat und spätere Verräter vom Präsidenten begnadigt wurde. Nach fünf Jahren und sieben Monaten Haft verließ Wolfe das Militärgefängnis als freier Mann und verschwand sofort aus dem Licht der Öffentlichkeit.

Im Anschluss an die Flitterwochen in Key West gingen Captain Hatcher und seine junge Frau wieder an Bord der Ronald Reagan, die mit ihrer Flotte in Richtung Mittelmeer auslief. Nach den Dienstregeln durften Rocky und Hatch zwar nicht offiziell eine Kajüte teilen, was Rocky jedoch nicht davon abhielt, die gemeinsame Zeit auf See zu genießen. Voller Begeisterung, endlich Zugang zu den modernsten elektronischen Spielereien der Navy zu haben, war sie bald mit sämtlichen Warnsystemen des Schiffs vertraut. Mit ihren Geräten überwachte sie einen mehrere Hundert Kilometer weiten Luftraum um die Kampfgruppe und war gleichzeitig in der Lage, jedes Unterwasserobjekt zu orten und zu identifizieren, das sich der Armada auf mehr als dreißig Kilometer näherte.

Abgesehen davon musste sie sich zwar eingestehen, dass sie nicht im eigentlichen Sinne verliebt in Hatcher war, aber sie liebte und respektierte ihn, und das war doch wohl genauso wichtig.

Zum ersten Mal im Leben fühlte Rocky Jackson sich wirklich glücklich.

Die Impulse auf dem Sonarbildschirm verschwimmen. Rocky reibt sich die Müdigkeit aus den Augen, dann massiert sie sich die verspannten Schultern. Noch zwei Stunden, dann geht’s zum Abendessen und unter die Dusche. Vielleicht lässt Hatch mich heute Nacht sogar in seiner Kabine schlafen.

Eine Weile betrachtet sie ihr Spiegelbild auf dem orangefarben leuchtenden Monitor und denkt darüber nach, wie anders ihr Leben doch hätte verlaufen können. Dabei meldet sich plötzlich eine entfernte Erinnerung.

Gunnar hat den Aegis-Abwehrschild des Flugzeugträgers nie sonderlich hoch eingeschätzt. Das vielschichtige, mehrere Schiffe einbeziehende System ist zwar praktisch immun gegen Angriffe auf offener See, besitzt aber einen elementaren Mangel: durch den Betrieb seiner Radar- und Sonargeräte verrät es dem Feind den eigenen Standort.

Rocky schüttelt ärgerlich den Kopf, weil sie Zeit damit vergeudet, an den Mann zu denken, der sie fast zerstört hätte. Sie rückt ihren Kopfhörer zurecht und richtet die Aufmerksamkeit wieder auf den Sonarmonitor. Damit löst die berechtigte Vorahnung sich wirkungslos in Luft auf.

Captain Hatcher findet den Kongressabgeordneten tatsächlich auf der Vultures’ Row, einem offenen Balkon über dem Flugdeck, der hoch oben an den Aufbauten des Flugzeugträgers angebracht ist. Aufmerksam beobachten die beiden Männer, wie ein Joint Strike Fighter an einer der Startschleudern festgemacht wird. Mit dem elektromechanischen Katapult, das seit Neuestem die althergebrachte Dampfmethode ersetzt, könnte man einen Kleinlaster einen Kilometer weit übers Meer schleudern.

Mit schrillem Heulen rast der JFS über das urplötzlich klein wirkende Flugdeck und beschleunigt in weniger als zwei Sekunden von null auf zweihundertvierzig Stundenkilometer. Das hochmoderne Startsystem stellt die erforderliche Erdbeschleunigung von 3,5g innerhalb von kalibrierten fünfundsiebzig Millisekunden her, sodass die Besatzung des Jets mit einer Kraft in die Sitze gedrückt wird, die ihrem dreieinhalbfachen Körpergewicht entspricht.

Der Kapitän wartet einen Moment, bis der Lärm abgeebbt ist. »Tut mir leid, dass Sie auf mich warten mussten, Mr. Lawson.« Man hört ihm an, dass seine Entschuldigung nicht ganz ehrlich gemeint ist.

Der Demokrat aus Florida dreht sich zu ihm um. »Ich brauche keinen Babysitter, Captain, genauso wenig, wie Sie einen Zivilisten brauchen, der Ihnen ständig über die Schulter schaut. Behalten Sie doch endlich einmal im Gedächtnis, dass ich nur hier bin, weil der Haushaltsausschuss und der Rechnungshof noch immer keinen endgültigen Entschluss gefasst haben, ob Mittel für den neuen Stealth-Flugzeugträger bewilligt werden sollen oder nicht.«

»Die Entwürfe des CVNX sprechen für sich selbst. Schon die Fortschritte beim Deckmanagement machen den neuen Träger finanzierungswürdig.«

»Das ist Ihre Meinung. Ich hingegen bin immer noch nicht davon überzeugt, dass das Ding so viel Geld wert ist.«

Hatchers Gesicht rötet sich. »Schauen Sie sich doch mal aufmerksam um, Herr Abgeordneter. Was Sie hier sehen, ist der gefährlichste Flugplatz der Welt. Vielleicht sollten Sie bei Gelegenheit in einen Overall steigen und ein wenig Zeit auf unserem Flugdeck verbringen, bevor Sie Ihre Stimme abgeben.«

»Es geht hier nicht um Sicherheitsfragen, Captain, sondern darum, ob die gewaltigen Kosten, derartige Flotten in Betrieb zu halten, sich überhaupt noch lohnen. Schließlich kostet es zwanzig Milliarden Dollar, eine einzige Trägerkampfgruppe zu bauen, und weitere zwölf Milliarden jährlich, um sämtliche Gruppen einsatzbereit zu halten.«

»Die Vorwärtsverteidigung hat eben ihren Preis.«

»Ja, aber ist sie immer noch die richtige Strategie? Angesichts des Tempos, mit dem neue Hightech-Systeme derzeit entwickelt werden, bringt es womöglich eine Menge Vorteile, wenigstens ein paar Jahre mit Neuinvestitionen zu warten. Wieso sollen wir unser Geld für Systeme verschwenden, die womöglich schon veraltet sind, bevor wir sie in Dienst gestellt haben? Wie auch immer, unter meinen Kollegen im Kapitol setzt sich allmählich die Meinung durch, dass Trägerkampfgruppen wie diese inzwischen veraltet sind. Sehen Sie der Sache ins Auge, Captain – das Aegis-System schützt Ihr Schiff zwar auf dem offenen Meer, aber die neuen Silkworms der Chinesen und die Überschallraketen der Russen sind zu schnell und zu wendig geworden, um abgefangen zu werden. Das Reich des Bösen hat sich in Luft aufgelöst. Unsere neuen Feinde lauern an gefährlichen Meerengen wie der Straße von Hormus. Was nützt ein brandneuer, sechs Milliarden teurer Flugzeugträger, wenn wir uns davor scheuen, ihn einzusetzen?«

Hatcher nimmt seine Mütze ab, um sich den Schweiß von seinem kahl werdenden Schädel zu wischen. »Ich will Ihnen mal was sagen, Herr Abgeordneter: Wenn Sie und Ihre Kollegen in Washington eine bessere Methode kennen, den Diktatoren irgendwelcher Bananenrepubliken in den Arsch zu treten, dann können Sie das von mir aus gerne finanzieren. Wenn nicht, dann geben Sie uns, was wir brauchen, um unsere verdammte Pflicht und Schuldigkeit zu tun!«

Atlantischer Ozean

197 Seemeilen westlich der Straße von Gibraltar

260 Meter unter der Meeresoberfläche

16 Uhr 48

Der riesige Rochen wird langsamer. Kalt leuchtend bohrt sich der Schein seiner blutroten Augen in die pechschwarze Tiefe. Strudel wühlen den Schlick am Meeresboden auf, als ein Dutzend kleinerer Kreaturen aus dem dunklen Unterbauch des Ungeheuers schlüpft, als würden sie geboren. Sie bewegen sich ein Stück vorwärts, dann bilden sie eine Formation und bleiben an Ort und Stelle stehen. Aus ihren roten Augen schießen grüne Strahlen in die Tiefe, während sie auf die Befehle ihres Gebieters warten.

Langsam lässt sich der Rochen auf den Meeresboden nieder. Seine gewaltige Masse wirbelt zweitausend Quadratmeter Sand und Schlick auf. Ein bioelektrischer Impuls wird übertragen.

Die Brut des Monsters rast davon, um die nahende Flotte anzugreifen.

Als sie unvermutet ein Wirrwarr von Pfeif- und Klicklauten hört, fährt Rocky Jackson zusammen. Sie rückt ihren Kopfhörer zurecht und starrt auf den Sonarbildschirm des SQR 19.

»Was hören Sie da eigentlich?«, erkundigt sich Commander Strejcek, der Erste Offizier.

»Umgebungsgeräusche, Sir, die noch vor einem Augenblick nicht vorhanden waren.«

Strejcek greift nach einem Kopfhörer und lauscht. »Hm, das ist was Biologisches. Klingt nach Orcas.« Er deutet auf die Impulse auf dem Monitor. Zwölf Punkte verteilen sich, als bildeten sie eine Formation. »Sie sind auf der Jagd. Bestimmt werden wir gleich Zeuge, wie die Herde einen Fischschwarm umzingelt, ihn mit Ultraschall unter Beschuss nimmt, betäubt und an die Oberfläche treibt. Erst neulich hab ich was im Fernsehen darüber gesehen. Erstaunliche Kreaturen, diese Orcas.«

Strejcek schlendert weiter, offenkundig völlig überzeugt von seiner Vermutung.

Ein Fischschwarm? Ich höre keine Fische! Rocky drückt sich die Hörmuscheln an die Ohren und dreht die Lautstärke auf. Die Klicklaute erklingen mit größerer Klarheit.

Ein rascher Blick auf die Sensoren – die Jacksonville, eins der beiden Unterseeboote, die die Kampfgruppe begleiten, steigt auf Sehrohrtiefe. Rocky schaltet den Spread-Spectrum-Stealth-Sender mit seiner Phased-Array-Antenne ein und schickt eine stark gebündelte, kodierte Botschaft ab. Sie wartet und hofft, dass die Antenne des U-Boots schon aus dem Wasser ragt.

JACKSONVILLE – BITTE IDENTIFIKATION DER OBJEKTE BESTÄTIGEN.

Die kleinen Objekte verteilen sich weiter. Schon nähern die ersten fünf sich rasch dem Kiel der vor dem Flugzeugträger fahrenden Schiffe. Rocky kaut nervös an ihren unpolierten Fingernägeln. Im Unterbauch spürt sie Gefahr.

Eine Nachricht erscheint: BIOLOGISCH. KLASSIFIKATION: ORCA.

Rocky blickt starr auf ihren Bildschirm, während vier der »Orcas« sich direkt unter den Kiel der Ronald Reagan bewegen. Dort werden sie langsamer, als würden sie von den Schrauben des Flugzeugträgers angezogen.

Dann hört sie es, ganz schwach und verdeckt vom Lärm, den die Schiffsschrauben der Flotte verursachen.

Das Geräusch kleiner Hydroantriebsmotoren.

»Commander, da ist was faul …« Sie dreht sich um.

Strejcek ist verschwunden.

Die Explosionen schleudern sie von ihrem Stuhl. Rocky spürt, wie sie mit dem Gesicht auf dem Schaltpult aufprallt.

An Bord der USS Jacksonville

Einer der Männer am Sonar, ein zwanzigjähriger Leutnant namens Leonard Cope, wendet sich an seinen Vorgesetzten. »Mehrere Explosionen, Sir«, berichtet er mit bleichem Gesicht. »Hört sich nach schwerem Schaden an. Mein Gott, der Flugzeugträger ist leck geschlagen …«

Der Sonarmeister der Jacksonville greift nach dem Mikrofon. Das Herz schlägt ihm bis zum Hals. »Sonar an Zentrale, mehrere Torpedos im Wasser! Peilung hundertfünf Grad, Entfernung siebentausend Meter. Torpedos sind chinesischer Herkunft, SET 35. Sir, zwei der Torpedos laufen auf die Hampton zu!«

»Alle Mann auf Gefechtsstationen! Wachoffizier, Kurs hundertsiebzig Grad.« Captain Kevin O’Rourke spürt ein Kribbeln auf der Haut, als stehe er am Rand einer Klippe, um hinabzuspringen. Er wendet sich an seinen Tauchoffizier, während ein Dutzend weiterer Männer in die Operationszentrale stürzen, um ihren Posten einzunehmen. »Auf hundertachtzig Meter gehen! Stellen Sie die Position des Gegners fest!«

»Das habe ich schon versucht«, erwidert der Feuerleitoffizier verblüfft, »aber mein Gerät meldet nicht das Geringste …«

»Sonar an Zentrale, wir stellen soeben starke Kavitationen fest. Sie kommen vom Meeresboden, etwa achtzehnhundert Meter voraus. Sir, da hat sich gerade ein riesiges Objekt vom Grund erhoben!«

»Ruder hart Steuerbord, äußerste Kraft voraus …«

»Sonar an Zentrale, drei feindliche Aale im Wasser! Peilung einhundertsiebzig Grad; laufen direkt auf uns zu …«

»Abdrehen, Kurs zweihundertsiebzig Grad, dreißig Grad ab.«

Das knapp siebentausend Tonnen schwere, atomgetriebene Angriffs-U-Boot wird von Mark Schultz gesteuert, einem siebzehnjährigen Matrosen, der gerade erst die Highschool absolviert hat. Schultz wischt sich den Schweiß von den Handflächen, dann drückte er auf das Steuerrad, um die Höhenruder der Jacksonville zu aktivieren, die wie kleine Flügel vom Turm des U-Boots abstehen.

»Düppel auswerfen, beide Anlagen.«

Der Wachoffizier wiederholt den Befehl des Kommandanten.

»Sonar an Zentrale, einer der Aale ist den Düppeln auf den Leim gegangen, die beiden anderen haben uns erfasst und laufen direkt auf uns zu. Peilung zweihundertzehn Grad, geschätzte Entfernung elfhundert Meter …«

»NAE-Düppel abschießen, dann beide Anlagen mit ADCs laden. Ruder hart Steuerbord …«

»Sonar an Zentrale, die Torpedos laufen uns noch immer an … gut fünfhundert Meter … Einschlag in sechzig Sekunden!«

Den Männern in der Zentrale bricht der Schweiß aus, als sie plötzlich die Enge der Stahlkammer wahrnehmen, die sie umgibt.

Mühsam nach Luft ringend, starrt Leonard Cope auf seinen Bildschirm. Schweiß tropft ihm vom Gesicht. »Sonar an Zentrale, Torpedoeinschlag in dreißig Sekunden …«

»Schiff auf Treffer vorbereiten!«

»Sonar an Zentrale, jetzt habe ich eine Peilung, allerdings sehr schwach …«

»Identifizieren!«

»Kein der Datenbank unseres Computers bekanntes Fahrzeug, aber das verfluchte Ding ist riesengroß.«

»Feuerleitdaten berechnen – Sierra eins, ADCAP-Torpedos. Rohre eins und zwei bereit zum Feuern!«

»Aye, Sir, Rohre eins und zwei bereit.«

»Peilung klar«, meldet der Erste Offizier.

»Waffen klar. Fünfunddreißig Prozent Treibstoff, aktiver Zielsuchmodus nach zweihundert Metern.«

»Achtung … los!«

Zwei drahtgesteuerte Mk 48-Torpedos schießen aus dem Bug der Jacksonville und nehmen Kurs auf den unbekannten Angreifer.

»Düppel auswerfen. Rudergänger, Kurs dreihundertzehn Grad …«

Fast gleichzeitig zwei Erschütterungen, als die feindlichen Torpedos im letzten Augenblick die beiden Täuschkörper anlaufen und detonieren. Dann greift der Mann am Sonar sich entsetzt an den Kopfhörer, weil eine gewaltige Explosion seine Trommelfelle fast zum Platzen bringt. Es folgt ein Geräusch, das er noch nie gehört hat – das schaurige Knirschen eines implodierenden Stahlrumpfs.

Gewaltige Vibrationen erschüttern die Jacksonville. Das Licht geht aus. Nur noch die Notbeleuchtung erhellt die Gesichter der U-Boot-Fahrer, die schwer atmend an ihren Geräten sitzen.

»Sonar an Zentrale – Sir, diese Explosion … das war die Hampton.«

»Skipper, der Feind hat zwei weitere Torpedos abgeschossen, beide sind aktiv …«

Zweihundertfünfzig Meter weiter westlich haben die beiden Mk 48-Torpedos ihre Geschwindigkeit auf vierzig Knoten reduziert. Ihr Sonar sendet Impulse aus, um den Gegner zu erfassen; die aufgefangenen Daten werden von ihren Bordcomputern verarbeitet und über die Glasfaserkabel, die sie hinter sich abspulen, an das U-Boot übermittelt.

Zwei Peilungen in rascher Folge. Schneller Impulse sendend, beschleunigen die Projektile – nur um frontal auf zwei Anti-Torpedo-Torpedos aufzuprallen.

Die Druckwelle der beiden Detonationen erschüttert den Innenrumpf der Jacksonville und lässt das U-Boot hart nach Backbord rollen.

»Zentrale, unsere Aale wurden von Anti-Torpedo-Torpedos getroffen! Beide ADCAPs sind detoniert …«

Captain O’Rourke starrt fassungslos auf seinen Ersten Offizier, während es ihm kalt den Rücken hinunterläuft. Sein U-Boot, eines der besten der Welt, ist von einem überlegenen Feind ausmanövriert worden.

»Skipper, Torpedos laufen an! Einschlag in zehn Sekunden …«

»Auf Treffer vorbereiten!«

Ein doppelter Donnerschlag. Die beiden Explosionen am unteren Rumpf reißen den Kiel der Jacksonville auf. Ein furchtbarer Stoß, dann hüllt erstickende Dunkelheit das U-Boot ein. Rufe und Schreie mischen sich mit dem irren Kreischen zerreißenden Metalls und berstender Schotten. Heißer Dampf schießt aus unsichtbaren Rohren. Ein Funkenregen erleuchtet eine Galerie gespenstisch fahler Gesichter, deren wirrer, versteinerter Ausdruck den Schrecken eines letzten gemeinsamen Gedankens widerspiegelt: Das ist das Ende.

Dann bricht mit Schallgeschwindigkeit der Tod durch den Rumpf des U-Boots und zermalmt seine Opfer in seiner eisigen Umarmung.

An Bord der USS Ronald Reagan

Captain Hatcher stürzt in die Kommandozentrale und hält sich an einem Schaltpult fest, als sein Schiff zu schlingern beginnt. »Meldung!«

Rocky Jackson springt auf. »Vier Unterwasserexplosionen, Sir, alle massiv. Sie haben drei unserer vier Schrauben lahmgelegt und beide Schichten des Torpedoschutzsystems beschädigt. In den Maschinenraum dringt Wasser ein, das nach den vorliegenden Meldungen bereits Deck vier erreicht hat.«

»Mein Gott …« Hatcher spürt, wie alles Blut aus seinem Gesicht weicht. Das Flaggschiff unserer Marine sinkt? Unmöglich …

»Sir, nicht nur wir sind betroffen, die ganze Flotte wird angegriffen. Auch den Kontakt zu unseren beiden U-Booten habe ich verloren.«

»Verflucht.« Hatcher sieht sich um. »Wo zum Teufel ist Strejcek?«

»Keine Ahnung.«

»Commander, alle Mann außer den Katapult-Crews und den Leuten der Flugsicherung an Deck. Lassen Sie so viele Maschinen wie möglich starten, solange wir noch Elektrizität für die Katapulte haben …«

Ein metallisches Ächzen übertönt Hatchers zweiten Befehl. Noch halten die Stahlplatten des schlingernden Flugzeugträgers den schief in die Höhe ragenden Bug zusammen.

»Hatch …«

»Ich muss in die Kommunikationszentrale. Sie haben Ihre Befehle, Commander.« Hatcher klammert sich an die wasserdichte Tür des Raumes, um nicht zu Boden zu stürzen, dann dreht er sich um und sieht seine Frau an. »Rocky, bring deine Leute an Deck – sofort!«

Zwei Decks höher brüllen James »Big Jim« Kimball, der leitende Offizier der Flugsicherung, und sein Stellvertreter Kevin Lynam Befehle für die Landesignaloffiziere, die auf dem Flugdeck unten hektisch hin- und herlaufen. Im Tower herrscht Hochspannung. Kimball, der Choreograf des chaotischen Balletts von Jagdflugzeugen, das sich auf der Startbahn entfaltet, verlangt von seiner Mannschaft, innerhalb der folgenden sechs Minuten nicht weniger als zwanzig Jets zu starten, eine illusorische Forderung, an der er eisern festhält.

»Achtung auf Deck! Hornets fünf, sechs und sieben startklar! Startbahn und Laufplanke frei machen …«

Inmitten von Lärm und Abgasen hetzen vierhundert Männer und Frauen in Uniform über das schwankende Deck, das plötzlich mehr einer Achterbahn ähnelt als einem Flugplatz.

Leutnant Rogelio Duron, zwanzig Jahre alt, löst unter wilden spanischen Flüchen die Bremsklötze vom Vorderrad eines Joint Strike Fighters, dann schreit er auf, als er von den Beinen gerissen und mit dem Kopf voraus in die Ansaugöffnung des Triebwerks gesaugt wird. Blut und Gehirnmasse sprühen aufs Deck.

Kimball schlägt hilflos mit der Faust ans Fenster des Towers. »Verdammte Scheiße!« Im selben Augenblick sieht er, dass sich von Osten her ein zurückkehrendes Jagdgeschwader nähert. »Verflucht … Kevin, schicken Sie sofort die beiden CSAs rauf, bevor unseren Tomcats der Sprit ausgeht!«

Unten auf dem Flugdeck waten die Katapult-Techniker in knöcheltiefem Wasser, während sie hastig die Kabel neu einrichten. Voll Panik wird ihnen klar, dass sie im Grunde nur Russisches Roulette spielen. Die Kommunikation zwischen den Teams auf Deck und dem Tower ist zu hektisch; es ist nur eine Frage von Minuten, bis sich ein weiterer tödlicher Fehler auswirkt. Vor dem Start müsste der Druck jedes Katapults genau auf das Gewicht des betreffenden Flugzeugs eingestellt werden, aber für das übliche Vorgehen ist jetzt keine Zeit, sodass rasch ein Nennwert geschätzt und die Daten manuell eingegeben werden. Ist der Druck zu niedrig, werden Flugzeug und Pilot direkt ins Wasser geschleudert, ist er zu hoch, bricht der Jet auseinander.

Über dem Getümmel kreist eine E 2C Hawkeye, ein Frühwarnflugzeug, erkennbar durch die flache Radarkuppel, die horizontal auf dem Rumpf sitzt. Ein Teil ihrer Crew ist mithilfe des Radars damit beschäftigt, das Auftanken der zurückkehrenden Jäger in der Luft zu organisieren. Aus dem Cockpit der Hawkeye starren Pilot und Kopilot ungläubig auf das surreal anmutende Desaster, das sich unter ihnen abspielt – ein amerikanisches Kriegsschiff nach dem anderen versinkt mit unrühmlicher Schnelligkeit im bleigrauen Wasser des Atlantiks.

Auf dem Deck des Flugzeugträgers rast gerade ein weiterer Joint Strike Fighter die Startbahn entlang, als sich der Bug der Ronald Reagan wie ein auftauchender Buckelwal aus dem Meer hebt. Das Flugzeug schleudert über das schräge Deck und steigt in die Luft, dann sieht der Pilot nur noch eine dunkle Wasserwand und rast geradewegs in eine drei Meter hohe Welle.

Jim Kimball sieht die Startbahn zersplittern, während einzelne Trümmer des geborstenen Bugs ins Wasser stürzen. »Das wär’s, alle raus hier! Alle Mann an Deck, Rettungswesten anlegen, in die Boote!«

Rocky Jackson reißt einem Matrosen hastig eine der orangefarbenen Schwimmwesten aus den Händen, dann hetzt sie an Deck. »Hat irgendjemand den Käpt’n gesehen?« Sie läuft zu dem Offizier, der die Mannschaft auf die Schlauchboote verteilt. »O’Malley, haben Sie den …«

Ein Hubschrauber stürzt auf das schwankende Deck und geht sofort in Flammen auf. Metallteile regnen auf Rocky herab; einer der glühend heißen Splitter streift sie an der Stirn.

Einige Männer rennen los, um den Piloten zu retten.

»O’Malley, wo ist der Käpt’n?«, stößt Rocky betäubt hervor.

»Sie bluten, Jackson, her zu uns!«

Starke Arme ziehen sie in ein Schlauchboot.

»Lasst mich, ich muss Hatch finden!« Rocky springt aus dem Schlauchboot, schlüpft durch die nächste Tür und rennt einen abschüssigen grauen Gang entlang, um ihren Mann zu suchen.

Das Wasser steht Captain Hatcher schon bis zum Knie, als er die Kommunikationszentrale des Schiffs erreicht, eine sonst hermetisch abgeschirmte Kammer, die Computerlinks zu allen nationalen und regionalen Nachrichtensystemen enthält. Da die Stromversorgung des Schiffs ausgefallen ist, ist es dunkel im Vorraum der Zentrale.

Hatcher stößt auf drei Leichen, zwei Offiziere und einen Militärpolizisten. Alle treiben mit dem Gesicht nach unten im Wasser.

»Admiral?« Hatcher dreht den Körper von Admiral Brian Decker um und sieht Blut aus mehreren Schusswunden strömen. »Um Himmels willen …« Als er in der inneren Kammer den Strahl einer Taschenlampe sieht, wird sein Selbsterhaltungstrieb wach.

Hatcher zieht den Revolver aus dem Halfter des toten MP, dann watet er vorsichtig weiter, bis er in die Kammer spähen kann.

An einem der Computerterminals steht Commander Shane Strejcek. Daten flackern über den Bildschirm, während ein handgroßes Gerät, das mit der Festplatte verbunden ist, offenbar die streng geheimen Daten des Systems herunterlädt.

»Strejcek – was machen Sie denn da, verflucht noch mal?«

Der Erste Offizier dreht sich um. Hatcher spürt, wie ihn ein glutheißer Schlag an die Wand zurückwirft. Blut strömt ihm übers Hemd und löscht das Feuer in seiner Brust, während eine fortschreitende Lähmung ihn auf die Knie ins hellrot gefärbte Wasser sinken lässt.

Als Strejcek auf ihn zukommt, ist Hatcher nicht mehr in der Lage, den Revolver aus dem Wasser zu heben. Er hat nicht einmal mehr die Kraft, sich zu bewegen oder zu sprechen.

Strejcek betrachtet seinen sterbenden Kommandanten ohne jede Gemütsregung. »Tut mir leid, Käpt’n, aber ich diene einer höheren Sache.«

Ohne auf das warme Blut zu achten, das ihr über die Stirn läuft, watet Rocky durch das lähmend kalte Wasser des überfluteten Korridors. Es steigt schnell an, während die Neonröhren an der Decke flackern und drohen, sie in völlige Dunkelheit zu stürzen. »Hatch?« Sie schiebt sich durch die offene Tür der Kommunikationszentrale und schreit auf, als sie die Leichen sieht.

»Hatch!« Rocky sinkt auf die Knie und drückt den leblosen Körper ihres Mannes an ihre Brust. Blut fließt über ihre Rettungsweste. Als sie seinen Kopf aus dem Wasser heben will, streift ihre rechte Hand den Revolver, den er noch im Tod umklammert hält. »Mein Gott, Hatch …«

Sie schaut auf und sieht Strejcek. »Shane, so helfen Sie mir doch …«

Der Erste Offizier ist sichtlich überrumpelt. »Rocky, was tun Sie hier?«

»Helfen Sie mir, verdammt noch mal, jemand hat Hatch …« Sie starrt auf den Revolverlauf, der auf ihren Kopf gerichtet ist. »Sie?« Rocky tastet nach der Waffe in der im Wasser schwebenden Hand des toten Kapitäns.

»Sie müssten längst von Bord sein.« Strejcek beugt sich vor und greift mit der freien Hand nach ihr.

Mit einer einzigen Bewegung springt Rocky auf und stößt die Mündung ihres Revolvers in den offenen Mund von Strejcek. »Waffe fallen lassen!«

Strejcek gehorcht.

Rockys Zähne klappern vor Kälte, ihre Hand zittert vor Erregung. Sie reißt die Mündung aus dem Mund ihres Vorgesetzten und stößt ein einziges Wort hervor: »Warum?«

Strejcek atmet hörbar aus. »So wunderschön Sie sind, Rocky, so blind sind Sie. Die Welt ist krank, aber das wollen Sie einfach nicht wahrhaben.«

Der Boden schwankt unter ihren Füßen. Strejcek stößt Rocky weg und tastet im Wasser nach seiner Waffe.

Kaltblütig drückt sie ab.

Blut und Gehirnmasse spritzen an die Wand, dann fällt der abtrünnige Erste Offizier des Flugzeugträgers rücklings ins Wasser.

Noch bevor Rocky Atem holen kann, schlingert das gewaltige Schiff nach Steuerbord wie ein Spielzeug in der Hand Poseidons. Rocky taumelt seitwärts, richtet sich wieder auf und springt in den ansteigenden Korridor. Wasser stürzt ihr entgegen.

Mein Gott … das darf nicht wahr sein …

Wie ein tobender Wildbach rauscht Meerwasser die Schräge herab und reißt Rocky mit sich. Keuchend und strampelnd versucht sie, nach einem der Rohre an der Decke zu greifen, schafft es und zieht sich auf das schwache Licht am Ende des Tunnels zu wie eine Bergsteigerin, die sich am Seil über eine Schlucht hangelt.

Nicht aufgeben …

Das kalte Wasser raubt ihr die Kraft, doch ihr brennender Zorn treibt sie unerbittlich vorwärts. Von hinten steigt das Wasser zu ihr empor, während das Schiff aufstöhnt, als wollte es sie zum letzten Mal vor dem drohenden Tod warnen. Mit eisigen Händen und tauben Fingern, die nicht mehr richtig greifen können, hangelt Rocky sich trotzig immer höher. Immer wieder versucht sie, ihre Füße einzusetzen, doch die gleiten vom glatten Stahl der Wände ab.

Rocky zieht sich durch eine Öffnung und verliert fast den Halt, als von der Kombüse her ein zweiter Wildbach seitlich auf sie einstürmt.

Nicht innehalten, nicht nachdenken. Schneller, nur schneller …

Wieder hebt sich der Bug des schlingernden Schiffs. Eine meterhohe Wasserwand rast direkt auf Rocky zu.

Rocky umklammert das Rohr, holt verzweifelt Atem und duckt sich, als die Woge sie erfasst, an ihre Brust trommelt und dann hinter ihr verschwindet. Zitternd vor Kälte öffnet sie die Augen, dann hangelt sie sich schnell weiter. Zehn Meter über ihrem Kopf blitzt Tageslicht auf, als wollte es sie verspotten.

Als Rocky sich eine Minute später aus der Öffnung zieht, sieht sie den grauen Himmel unaufhaltsam schwinden, weil das Deck sich immer weiter hebt; es droht jetzt, sie wieder in den Gang zurückzuwerfen. Sie springt zur Seite und lässt sich schreiend auf den Bauch fallen, als eine übel zugerichtete F/A 18E Super Hornet seitlich über die schiefe Ebene rutscht und sie um ein Haar zermalmt. Die Arme schützend um den Kopf schlingend, presst sie die Augen zu, während das Wrack direkt an ihr vorbeigleitet und in den Tower kracht, der schräg übers Wasser ragt. Je mehr der Auftrieb des Flugzeugträgers abnimmt, desto stärker drückt ihn sein Gewicht ins Meer.

Rocky kriecht unter verstreuten Trümmern hervor. Ihre Fingernägel bohren sich in den weichen Belag des zerfetzten Flugdecks, während sie zu der in die Luft ragenden Backbordreling robbt. Sie weicht einer neuen Trümmerlawine aus und hält sich an einer lose herabhängenden Antenne fest, als das Deck plötzlich so steil aufragt, dass sie nicht einmal mehr knien kann.

Nach oben greifend, zieht sie sich zur Reling hoch und späht über den Rand des Decks.

O Gott …

Acht Stockwerke unter ihr muss sich die tobende See befinden. Sehen kann sie sie nicht, da sie vom Kiel des Flugzeugträgers verborgen ist, der wie ein stählern glänzender Walleib in die Höhe ragt.

Da sie nicht springen kann, hält sie sich fest und hofft inständig, dass das Schiff zu rollen aufhört. Unkontrollierbar zitternd, schließt sie die Augen, um das Schwindelgefühl im Kopf und das Ächzen des gequälten Metalls auszublenden. Reflexartig reibt ihre bebende Hand an der blutenden Wunde auf ihrer eiskalten Stirn.

Der Flugzeugträger hört auf, sich zu drehen, sinkt dafür aber wie ein Aufzug in die Tiefe. Rocky klammert sich fest, als ihr Wasser aufs Gesicht spritzt. Von unten sieht sie das Meer emporschießen.

Jetzt! Sie zieht an der Schnur, um die Rettungsweste aufzublasen, klettert auf die schiefe Reling und springt.

Kalter Wind streicht ihr um die Ohren, bis sie mit den Füßen voraus in den tosenden Ozean stürzt und wie ein Anker in die Tiefe sinkt. In sechs Metern Tiefe wirkt der Auftrieb der Weste und bremst ihre Abwärtsbewegung. Strampelnd und paddelnd kämpft sie sich an die Oberfläche zurück, deren Schaum so nah zu sein scheint und doch immer eine Armeslänge entfernt ist.

Endlich bricht Rockys Kopf in einem Wellental aus dem Wasser. Das wogende Meer hebt sie hoch und lässt sie wieder fallen, bis Übelkeit ihre Eingeweide überwältigt. Von hinten zieht eine Strömung an ihr. Als sie sich umdreht, sieht sie schaudernd, wie die Aufbauten der Ronald Reagan in den Wellen versinken. Ein letztes Aufbäumen, dann ist nur noch der Strudel zu sehen, den das sinkende Schiff im aufgewühlten Meer erzeugt.

Eine eisige Strömung greift nach Rocky und hält sie fest. Von panischem Schrecken erfasst, beginnt sie zu schwimmen, doch der Strudel ist zu stark und saugt sie rücklings in sich hinein. Die Wogen werden zu gewaltigen Bergen, die sich immer höher erheben, während Rocky sich schneller im Kreis dreht.

Zu stark, um dagegen anzukämpfen …

Verzweifelt holt Rocky noch einmal Luft, bevor der Sog des sinkenden Flugzeugträgers sie endgültig packt und unter Wasser zieht.

Erbittert strampelnd und mit den Armen schlagend, vergeudet Rocky wertvolle Luft, als sie versucht, gegen den gewaltigen Mahlstrom anzuschwimmen.

Zwölf Meter …, zeigt ihre Taucheruhr an.

Der Pulsschlag dröhnt ihr in den Ohren.

Achtzehn Meter …, ein unheilvoller Druck legt sich auf ihr Trommelfell, während ihre Glieder bleiern schwer werden.

Vierundzwanzig Meter, vierzig Sekunden …, noch immer sinkt sie unaufhaltsam in die Tiefe.

Wie tief kann ein Mensch tauchen und dabei mit einem einzigen Atemzug überleben? Rocky erinnert sich an Filme über Freitauchen und zwingt sich, nicht mehr gegen den Sog anzukämpfen, um keine wertvolle Energie zu vergeuden.

Die unheimlichen Geräusche der Tiefe hüllen sie ein. Rocky kneift die Nase zusammen und bläst Luft aus, um den Schmerz in ihren Ohren loszuwerden. Als sie hinabschaut, sieht sie ihre Füße im tiefblauen Meer versinken. Tief unten scheint die Ronald Reagan ihr stöhnend einen letzten Gruß zuzurufen, bevor das mächtige Schiff im ewigen Dunkel seines nassen Grabs verschwindet.

Bitte lass los …

Eine Minute …, der Sog in die Tiefe wird kaum spürbar schwächer, während der Schmerz in Rockys Ohren sticht wie tausend Dolche.

Sechsunddreißig Meter …, noch immer sinkt sie. Mit jedem Meter schwindet ein weiteres Stückchen Kraft und Überlebenswille.

Fünfundvierzig Meter …, sie spürt ein unerträgliches Brennen in Brust und Kehle.

In achtundvierzig Metern Tiefe gibt der Sog des Schiffs sie endlich frei.

Die Luft in Rockys Rettungsweste wird von einem Druck von sechs Atmosphären zusammengepresst und verleiht ihrem Körper keinen Auftrieb mehr. Im Zeitlupentempo mit den Armen rudernd sinkt sie immer tiefer hinab wie eine Marionette, die zum Vergnügen des Todes tanzt, bevor er sie zu sich nimmt.

Sie schließt die Augen. Ihr Körper gehorcht ihr nicht mehr, ihr Geist ist umnebelt. Bald wird das Meer das Feuer in ihrer Lunge löschen. Mit Tabletten wäre es leichter. Wenn ich bloß meine Tabletten dabeihätte. Keine Schmerzen mehr … keine Hoffnung, kein Hirn, kein Ruhm, keine Schuld. Adieu, Mom. Adieu, Papa Bear.

Etwas Großes streift wuchtig ihr Gesicht. Der brutale Schlag jagt ihr Adrenalin durch die Adern; ihre Augen öffnen sich unwillkürlich.

Eine Vielzahl schwimmfähiger Trümmer schießt von dem gesunkenen Flugzeugträger in die Höhe.

Rocky zwingt ihre Arme, nach dem nächsten Objekt zu greifen, verfehlt es jedoch ebenso wie das folgende. Der Ohnmacht nahe, dreht sie ihren Körper, um einen großen Gegenstand packen zu können, der unter ihr erschienen ist. Die Augen treten ihr fast aus dem Kopf, während sie wartet, bis das Objekt plötzlich direkt an ihren Bauch prallt. Mit brennender Lunge umklammert sie es wie ein bockendes Pferd. Meerwasser dringt ihr in die Nase, und sie bläst es automatisch wieder aus.

Aber sie lässt nicht los.

Es ist ein Hubschrauberreifen, der sich in ihren Armen dreht, bis er sich schließlich unter ihrem Körper beruhigt und sie kreiselnd zur Oberfläche trägt.

Rocky schlingt beide Beine und einen Arm um den Reifen und klemmt mit den Fingern der freien Hand ihre Nase zusammen, im Blick noch die abgrundtiefe Schwärze des Todes. Ein warmes Gefühl erfüllt ihre Brust, als sie immer höher steigt. Die in ihrer Lunge verbliebenen Luftmoleküle dehnen sich aus und lindern den brennenden Schmerz. Mit neuer Kraft umklammert sie den Rand des Reifens fester und atmet vorsichtig aus, damit ihre Lunge nicht platzt und damit der in ihrem Blut aufgelöste Stickstoff keine tödlichen Bläschen bilden kann.

Die Rettungsweste dehnt sich wieder aus, bis Rocky kaum noch den Reifen festzuhalten braucht.

Und dann kehrt mit einem mächtigen Rauschen der unglaubliche Klang des Lebens zurück, als ihr Körper buchstäblich aus dem Meer schießt. Vom Reifen abgeworfen, saugt sie stockend die herrliche Luft ein. Ihre vom Salz verbrannten Lippen vibrieren vor Anstrengung.

Unwillkürlich stöhnend, schwimmt sie zum Reifen zurück, klettert darauf und klammert sich fest, als das Gefühl langsam in ihre nach Sauerstoff gierenden Glieder zurückkehrt.

Sie wird in die Höhe gehoben, gleitet gleich wieder hinab.

Gewaltige Wellen werfen sie hin und her. Sie erbricht Meerwasser, dann schließt sie die Augen. Ihr Kopf dröhnt, ihr Körper zittert vor Kälte. Das Geräusch kreisender Kampfjets wird lauter.

Und dann spürt sie eine Bewegung.

Verwirrt hebt Rocky den Kopf. Werde ich jetzt gerettet? Sie muss blinzeln, denn sie kann einfach nicht fassen, was ihre Augen sehen.

Ihr Reifen wird vom Kielwasser eines großen Meerestieres angezogen, dessen dunkler, gewaltiger Kopf ein Stück vor ihr die Wasseroberfläche durchpflügt. Als die unheimliche Silhouette sich zur Seite dreht, sieht Rocky etwas, das einem Auge gleicht. Purpurrot glüht es unter einer mächtigen Welle, die das Gesicht des Ungeheuers überspült.

O mein Gott …

Die gewaltige Bugwelle schleudert die noch lebenden Seeleute der Ronald Reagan von ihren Schlauchbooten. Sie schlagen mit Armen und Beinen um sich wie Surfer, die von einer brechenden Woge abgeworfen worden sind.

Am Himmel formiert sich ein kleines Geschwader. Vier Kampfjets stürzen sich auf das Ungeheuer, gesteuert von wütenden Piloten, die nur eines im Sinn haben – es zu vernichten. Fast gleichzeitig werden acht JDAM-Raketen abgeschossen und rasen auf den aus dem Wasser ragenden Rücken des Monsters zu.

Vom Rückgrat der vermeintlichen Kreatur jagt ein Dutzend Boden-Luft-Raketen in den Himmel und reißt die vier Joint Strike Fighter augenblicklich in Stücke. Im selben Moment ist der Abendhimmel vom metallischen Heulen zweier Raketenabwehrgeschütze erfüllt, die hinter dem Kopf des Monsters sitzen wie die Hörner des Teufels. Eine stählerne Wand aus viertausend Zwanzig-Millimeter-Geschossen wirft sich den herannahenden Raketen entgegen.

Instinktiv duckt Rocky sich. Sie spürt die Hitze der Explosionen, während sie ihre Augen vor dem Inferno schützt.

Eindeutig unterlegen, rasen die verbliebenen Jagdflugzeuge außer Reichweite.

Ungefährdet umkreist das stählerne Ungeheuer ein letztes Mal das Schlachtfeld, bevor es in den Wellen verschwindet, ohne eine Spur zu hinterlassen.

Rocky drückt das Gesicht an das kalte Gummi des Hubschrauberreifens. In ihrem verstörten Gemüt tobt ein einziger Gedanke.

Die Goliath …

Dann überkommt sie die blanke Wut. Sie fühlt sich wie ein Tier, das qualvoll in der Falle sitzt. Mit blauen Lippen flüstert sie Gunnar Wolfes verfluchten Namen. Immer lauter wird ihre Stimme, bis sie kreischend wie eine Furie ihren Hass in die Dämmerung hinausbrüllt.

»Ich bin nur eine, aber eine bin ich doch. Ich kann nicht alles tun, aber etwas kann ich doch tun. Ich werde mich nicht weigern, das zu tun, was ich tun kann.«

Helen Keller

»Ich bereue nichts. Ich habe allein und im Auftrag Gottes gehandelt.«

Jigal Amir, der Mörder des israelischen Ministerpräsidenten Jizchak Rabin.

Kapitel 2

28. Januar 2010

State College, Pennsylvania, USA

Der Hauptcampus der Pennsylvania State University und das benachbarte Städtchen State College liegen im Nittany-Tal, einer idyllischen, sanft hügeligen Landschaft mit kleinen Orten, Touristenmärkten und Milchbetrieben, umschlossen von den Bergen im Zentrum Pennsylvanias. Der Name Nittany ist indianischen Ursprungs und bedeutet »Schutzwall gegen die Elemente«. Der Sage nach bezieht er sich auf eine Prinzessin namens Nitani, die ihr Volk in das schützende Tal geführt haben soll. Nach ihrem Tod, heißt es, sei Mount Nittany aus der Erde gestiegen, um ihr Grab zu kennzeichnen.

Gunnar Wolfe stellt den hellgrünen Traktor ab und blickt auf die Bergkette, die sich am fernen nordöstlichen Horizont ausbreitet. Die schwindende Nachmittagssonne taucht die Hänge in warmes Rot.

Wolfe schließt die Augen und atmet tief die berauschend duftende Luft ein.

Die Ruhe der Berge besänftigt Gunnars Gemüt wie früher einmal das Meer, lange bevor es zum Schlachtfeld wurde. Er beugt sich vor, legt das Kinn auf die gekreuzten Arme und blickt auf den Horizont. Unversehens erscheint ihm die Bergkette wie eine Reihe gewaltiger Wogen, die drohen, mit ihrer tobenden Gewalt alles Leben im Tal auszulöschen, ein Sinnbild dafür, wie gefährdet seine geistige Gesundheit in den vergangenen sieben Jahren, vier Monaten, zehn Tagen und vierzehn Stunden gewesen ist.

Auf dieser Farm ist er aufgewachsen, als seine Familie noch vierzig Hektar Land ihr Eigen nannte. Damals hat er mit seinen Cousins die Kühe, sechzig reinrassige Schwarzbunte, von Hand gemolken, jedes Tier zweimal am Tag. Im Rückblick kommt es ihm vor, als sei das Leben damals, lange bevor sein Vater Melkmaschinen angeschafft hat, einfacher und glücklicher gewesen. Etwa zur selben Zeit ist seine Mutter ums Leben gekommen. Gunnar schließt die Augen und zählt diesmal die Jahre, die vergangen sind, seit ein betrunkener junger Student sie überfahren hat, als sie am Straßenrand von der Kirche nach Hause ging.

Zwanzig Jahre, drei Monate, sechzehn Tage, zwei Stunden …

In den langen Jahren seiner Gefängnishaft hatte er sich an das Gesicht seiner Mutter nicht mehr erinnern können, aber als er auf die Farm zurückgekehrt war, lebte auch die Erinnerung schlagartig wieder auf.