Gute Medizin, schlechte Medizin - Peter C. Gøtzsche - E-Book

Gute Medizin, schlechte Medizin E-Book

Peter C. Gøtzsche

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  • Herausgeber: Riva
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2018
Beschreibung

Ärzte sorgen für das Wohl des Kranken und handeln stets zum Vorteil des ihnen anvertrauten Patienten – wer würde dem widersprechen? Doch die Wahrheit ist, dass unser Gesundheitssystem von vielfältigen wirtschaftlichen Interessen durchsetzt ist. Ärzte, Krankenkassen und Pharmakonzerne profitieren auch von medizinischen Behandlungen, die dem Patientenwohl schaden. Höchste Zeit, dass wir uns Grundlagenwissen über verbreitete Krankheiten und geeignete Therapien sowie Möglichkeiten der Selbstdiagnose aneignen. Keine unnötigen Pillen mehr, keine Operation ohne Grund! Mit diesem umfassenden Handbuch, das alle üblichen medizinischen Behandlungen auf der Basis von Tausenden Studien auf ihre Wirksamkeit hin beurteilt, werden Sie zum mündigen Patienten.

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Seitenzahl: 543

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Peter C. Gøtzsche

GUTE MEDIZIN

SCHLECHTE MEDIZIN

Wie Sie sinnvolleTherapien von unnötigenund schädlichenunterscheiden lernen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://d-nb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen:

info@rivaverlag.de

1. Auflage 2018

© 2018 by riva Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Nymphenburger Straße 86

D-80636 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

© 2018 by Peter C. Gøtzsche. All rights reserved.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Übersetzung: Martin Rometsch

Redaktion: Kerstin Brömer

Umschlaggestaltung: Marc-Torben Fischer

Umschlagabbildung: koya979/shutterstock.com

Kapitelabbildung: Blackspring/shutterstock.com

Satz: Satzwerk Huber, Germering

Druck: GGP Media GmbH, Pößneck

eBook: ePubMATIC.com

ISBN Print 978-3-7423-0440-7

ISBN E-Book (PDF) 978-3-7453-0194-6

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-7453-0195-3

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.rivaverlag.de

Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unterwww.m-vg.de

Inhalt

Sie lesen dieses Buch auf eigene Gefahr

  1. Einführung

Das utilitaristische Denken im Gesundheitswesen

Die öffentliche Gesundheit entspricht nicht Ihrer Gesundheit

  2. Wie stelle ich Fragen und wo finde ich die Antworten?

Rückenschmerzen

Klinische Leitlinien

Die Prostatakrebs-Vorsorgeuntersuchung

Hausstaubmilben und Asthma

Die Bewertung der Befunde nach ihrer Reliabilität

Interessenskonflikte

Die Therapie der Hepatitis C

Es ist schwierig, kritische Kommentare zu veröffentlichen

Steroid-Inhalatoren für Raucherlungen

  3. Informationsquellen

Medikamentennamen

Das PICO-Modell

Google google.com

Wikipedia wikipedia.org

Cochrane Library cochranelibrary.org

PubMed ncbi.nlm.nih.gov/pubmed

Medizinische Lehrbücher

  4. Ist der Test notwendig und ist die Diagnose korrekt?

Arztbesuche

Zu viel Vertrauen in die Diagnose

Brustschmerzen bei körperlicher Belastung

Thermometer und Krankenhausinfektionen

Untersuchungen mit Urinteststreifen

  5. Infektionen

Impfstoffe im Allgemeinen

Japanische Enzephalitis

HPV-Impfstoffe

Die öffentliche Gesundheit und die individuelle Gesundheit

Grippeähnliche Krankheiten

Vitamin C bei Erkältung

Hustenmittel und Fiebertabletten

Meningitis und Meningokokken-Sepsis

Malaria

  6. Mehr über das Herz und die Blutgefäße

Der Cholesterin-Krieg

Bluthochdruck

Schlaganfall und Durchblutungsstörung des Gehirns (Transitorische ischämische Attacke, TIA)

  7. Mehr über Vorsorgeuntersuchungen

Schilddrüsenkrebs

Mammografie-Screening

Anzahl der notwendigen Behandlungen, um einer Person zu nützen oder zu schaden

Gesundheitschecks

Vorsorgeuntersuchungen auf andere Krankheiten

  8. Seelische Schmerzen

Studien zu Psychopharmaka sind grob fehlerhaft

Kalter Entzug in der Placebo-Gruppe

Fehlendes Verblinden

Irrelevante klinische Ergebnisse

Psychopharmaka – wie lautet das Fazit?

Neuroleptika

Lithium

Mittel gegen Depressionen

Tabletten gegen das sogenannte ADHS

Antiepileptika

Psychotherapie

Zensur

Doppelmord in den Niederlanden unter dem Einfluss von Paroxetin

  9. Körperliche Schmerzen

NSAID

Antiepileptika

Opiate

Glucosamin

10. Krebstherapie

11. Der Verdauungstrakt

Ein übersehener Darmverschluss

Übermäßiges Essen – eine neue Epidemie

Was sollen wir essen?

Sport

Verlässlicher Rat zu unserer Ernährung

Kaffee

Schlankheitspillen

12. Andere Beschwerden

Schlafapnoe: Vom Menschen zum Patienten und zurück

Nicht-Krankheiten

Alter

Antidementiva

Vielleicht können Sie ohne Medikamente auskommen

13. Die Alternativmedizin ist nicht die Lösung

Manipulation der Wirbelsäule

Massage

Reflexzonentherapie

Akupunktur

Heilen mit oder ohne Hilfe von Göttern

Fürbittgebete

Kraniosakraltherapie

Homöopathie

14. Patienten, nicht Patente: Ein neues Paradigma für die Arzneimittelentwicklung

Mythen über Patente und wirksame medizinische Innovation

Mythen über die Arzneimittelüberwachung

Arzneimittelforschung und -entwicklung als öffentliche Aufgabe

Patente, Patentgesetze und Handelsabkommen

Abkopplung, Preise und Preispolitik

Öffentliche Aufklärung und Ermittlung der Patienten-bedürfnisse

Notwendige Veränderungen bei den Arzneimittelbehörden

Bessere klinische Studien

Attraktive Jobs im neuen System

Eine bessere Zukunft

Soll ich an einer randomisierten Studie teilnehmen?

»Menschliches Versuchskaninchen« bittet um Tierstudien

15. Schwangerschaft und Entbindung

Ein abschließendes Wort über die Cochrane Collaboration

16. Nachwort

Danksagung

Über den Autor

Bücher von Peter C. Gøtzsche

Literaturnachweise

Sie lesen dieses Buch auf eigene Gefahr

Dieses Buch soll Ihnen dabei helfen, die vielen verwirrenden und oft widersprüchlichen Informationen zu Diagnosen und Therapien richtig einzuordnen. Dabei sollen die Informationen in diesem Buch nicht den Besuch bei einem qualifizierten Heilberufler ersetzen; sie sind vielmehr dazu gedacht, Ihnen eine bessere Grundlage für die Diskussion mit medizinischem Fachpersonal über Ihre Probleme zu verschaffen. Die Ratschläge, die ich erteile, geben meine persönliche Auffassung wieder; andere Mediziner mögen andere Auffassungen haben. Da meine Ratschläge also kein Ersatz für ein Gespräch mit einem Arzt oder einem anderen Heilberufler sind, bin ich nicht verantwortlich für Ihre Entscheidungen und deren Folgen.

 

Die Fußnoten im Text sind Verweise zu entsprechender Literatur in den Literaturnachweisen und daher nicht fortlaufend, sondern titelspezifisch zugeordnet.

1. Einführung

Frag keinen Friseur, ob du einen Haarschnitt brauchst. Die meisten Leute kennen diese oder ähnliche Redensarten. Trotzdem nehmen wir es hin, dass unsere Ärzte uns allerlei diagnostischen Tests und Therapien unterziehen, von denen sie möglicherweise finanziell profitieren. Das Gesundheitswesen wimmelt von wirtschaftlichen Interessenskonflikten, und selbst wenn Ihr Arzt nicht unmittelbar profitiert, gibt es viele andere Gründe, weshalb Sie wachsam sein sollten. Ärzte wenden oft in gutem Glauben Therapien an, die unwirksam sind, und weil es keine Therapie gibt, die nicht manchen Patienten schadet, fügen Ärzte vielen Menschen Schaden zu.

Deshalb müssen Sie sich selbst informieren, um sich vor Schäden zu schützen. Diese Schäden werden meist von Medikamenten verursacht, aber beispielsweise auch von Infektionen, Operationen, chinesischen Kräutern, Elektroschocks, einem diagnostischen Test oder der Einlieferung in ein Krankenhaus, das ein gefährlicher Ort ist, weil dort viele Fehler begangen werden.

Dieses Buch soll Ihnen als Wegweiser dienen, mit dessen Hilfe Sie die zuverlässigsten Informationen über diagnostische Verfahren und Therapien im Gesundheitswesen finden. Es ist ein Buch für jedermann, auch für Ärzte und andere medizinische Fachkräfte, die bisweilen ebenso verwirrt sind wie Patienten, wenn sie im Internet nach Antworten auf ihre drängendsten Fragen suchen.

Ich kann nicht über alles schreiben, darum konzentriere ich mich auf einige häufige Krankheiten sowie auf einige leicht heilbare Krankheiten, die tödlich enden können, wenn sie übersehen werden. Außerdem widme ich mich Medikamenten, die zahlreichen Menschen unnötigerweise das Leben kosten, denn viele Betroffene brauchen sie gar nicht.

Letztlich ist dieses Buch kein Leitfaden über bestimmte Krankheiten; es soll Ihnen vielmehr das Vertrauen vermitteln, dass Sie die Antworten auf Ihre Fragen selbst finden können. Dann können Sie mit Ihrem Arzt und anderen medizinischen Fachkräften mitreden und einige der diagnostischen Verfahren und Therapien, die man Ihnen vorschlägt, ablehnen, etwa wenn Sie zu dem Schluss kommen, dass diese unwirksam, zu gefährlich oder beides sind.

Man lernt Schach, Fußball oder Tennis nicht, indem man nur Bücher darüber liest. Man muss üben. Wenn Sie die vielen Beispiele in diesem Buch durcharbeiten, indem Sie ins Internet gehen und sich vielleicht auch etwas andere Fragen stellen, werden Sie allmählich sicherer. Sie werden erkennen, dass es oft überraschend einfach ist, die Antworten zu finden, die Sie brauchen. Machen Sie sich Notizen am Rand und verwenden Sie einen Textmarker, damit Sie das, was Sie suchen, schnell finden, wenn Sie Ihr Wissen auffrischen müssen.

Wenn Sie dieses Buch gelesen haben, schauen Sie sich bitte Ihre Notizen noch einmal an und lesen Sie erneut, was Sie markiert haben. Es tut mir leid, wie ein Schullehrer zu klingen, aber ich habe ein wenig Erfahrung im Bildungsbereich, da ich zwei akademische Studiengänge absolviert habe: als Biologe und als Mediziner.

Wenn Sie krank werden, können Sie eine Menge tun, um sich selbst weiterzuhelfen, sodass Sie anhand besserer Informationen entscheiden können, welche der vielen Angebote des Gesundheitssystems Sie akzeptieren und welche Sie ablehnen. Wenn Sie als Partner am Entscheidungsprozess mitwirken und Ihr Bestes geben, kann Ihnen das die Sicherheit bieten, die es Ihnen erleichtert, mit Ihrer derzeitigen Situation umzugehen und alle Folgen, positive wie negative, zu akzeptieren. Es kann Ihnen auch dabei helfen, zu überleben und ein besseres Leben zu führen, wenn Sie Maßnahmen ablehnen, die Ihre Gesundheit gefährden. Ich hoffe, mein Buch trägt dazu bei.

Manche Patienten überlassen Entscheidungen lieber ihrem Arzt. Das tun sie meist deswegen, weil sie ihrem Arzt vertrauen, aber bisweilen auch, weil sie glauben, zur Entscheidungsfindung nichts beitragen zu können. Das sehe ich nicht so. Meiner Erfahrung nach können und sollen Patienten viel zum Entscheidungsprozess beisteuern – in ihrem eigenen Interesse.

Ich wünsche den Patienten, die immer ihre Ärzte entscheiden lassen, viel Glück. Sie werden es brauchen. Fehleinschätzungen kommen bei Ärzten häufig vor, oft weil sie es nicht besser wissen, und sie verordnen viel zu viele Medikamente. Heutzutage gibt es derart viele unnötige Diagnosen und Therapien, dass Medikamente in Ländern mit hohem Einkommen die dritthäufigste Todesursache sind, nach Herzinfarkten und Krebserkrankungen. Das belegen mehrere unabhängige Studien in Europa und Nordamerika.1-9 Nachgewiesen ist auch, dass Ärztefehler – und zwar nicht nur solche, die mit Medikamenten zu tun haben – die dritthäufigste Todesursache sind, selbst wenn man nur Todesfälle bei Krankenhauspatienten berücksichtigt. Die meisten dieser Todesfälle sind vermeidbar.10

All diese vermeidbaren Todesfälle sind für die öffentliche Gesundheit eine Katastrophe, eine der größten, die wir je erlebt haben, viel schlimmer als jede andere seit der Spanischen Grippe während des Ersten Weltkrieges. Diese Epidemie von Todesfällen durch Medikamente können wir viel leichter bezwingen als alle anderen Epidemien, die es gibt, weil wir sie einfach bekämpfen können, indem wir sparsamer mit Medikamenten umgehen. Aber niemand unternimmt etwas Sinnvolles dagegen. Das Sterben geht einfach weiter, Jahr für Jahr. Ich habe nie verstanden, warum wir so viele Ressourcen für die Prävention und Therapie von Herzkrankheiten und Krebs nutzen und so wenige für die Prävention von Todesfällen durch Medikamente. Das war ein überzeugender Grund für mich, dieses Buch zu schreiben.

Ich berichte von meinen eigenen Krankheiten und denen meiner Angehörigen oder Freunde, wenn sie meiner Meinung nach verstehen helfen, warum wir alle im selben Boot sitzen und warum es so wichtig ist, dass wir Verantwortung für unsere Gesundheit, unsere Krankheiten und unser Leben übernehmen, indem wir kritische Fragen stellen, bevor es zu spät ist. Bei mehreren dieser Beispiele geht es um die drei Haupttodesursachen: Medikamente, Herzkrankheiten und Krebs.

Zum Glück wurden in den letzten Jahren etliche Initiativen ergriffen, die gegen die medikamentöse Epidemie kämpfen. Allerdings geht keine von ihnen von den Institutionen aus, die uns eigentlich schützen sollen. Unsere Arzneimittel- und Gesundheitsbehörden veröffentlichen ab und zu ein paar Warnungen, aber sie unternehmen kaum etwas, um die Zahl der Todesopfer zu verringern. Unsere Arzneimittelbehörden sind sogar Teil des Problems. Sie lassen viel zu viele gefährliche Medikamente zu und nehmen die schlimmsten von ihnen viel zu langsam vom Markt.11 Die vielen Warnungen auf den Beipackzetteln nützen wenig, weil die Ärzte sie meist nicht kennen.11

Die Initiativen, die etwas bewirken können, verdanken wir Einzelpersonen – oft Forschern oder Redakteuren medizinischer Zeitschriften. Eine dieser Initiativen ist die jährliche Konferenz zur Prävention von Überdiagnosen namens »Preventing Overdiagnosis«. Das erste Treffen fand 2013 in Dartmouth in New Hampshire statt und drehte sich darum, wie sich die Gefahren durch zu viel medizinische Intervention beseitigen ließen. In der Ankündigung der Konferenz hieß es:

»Eine Überdiagnose liegt vor, wenn Menschen eine Diagnose erhalten, die sie nicht brauchen. Das kann der Fall sein, wenn Menschen ohne Symptome diagnostiziert und dann wegen einer Krankheit behandelt werden, die bei ihnen keinerlei Symptome auslösen würde. Ein weiteres Beispiel sind Menschen, deren Symptome oder Lebenserfahrungen mit einem diagnostischen Etikett versehen werden, das ihnen mehr schadet als nützt. Es ist schwer zu glauben, doch es gibt wissenschaftliche Hinweise darauf, dass viele Menschen wegen zahlreicher verschiedener Krankheiten überdiagnostiziert werden, von Asthma bis Brustkrebs, von Bluthochdruck bis zu geringer Knochendichte. In vielen Fachgebieten, von der Psychiatrie bis zur Nephrologie, wird heftig darüber debattiert, ob bei der Definition von Krankheiten Grenzen zu weit ausgedehnt wurden und ob zu viele Menschen unnötig zu Patienten gemacht werden.«

Im Jahr 2002 veröffentlichte das BMJ (British Medical Journal) ein Themenheft namens »Too Much Medicine?« (Zu viel Medizin?) mit Artikeln über die Medikalisierung von Geburt, Sex und Tod. Der einführende Leitartikel stellte die Frage, ob Ärzte zu Pionieren der Ent-Medikalisierung werden könnten, ob sie Macht an ihre Patienten zurückgeben, sich der Kommerzialisierung von Krankheiten entziehen und eine faire globale Verteilung von wirksamen Behandlungsmethoden fordern könnten. Als sich ein Jahrzehnt später die Beweise für Übermedikation und Überdiagnosen häuften, belebte das BMJ die Kampagne erneut, diesmal jedoch ohne das Fragezeichnen.12

Eine weitere Initiative ist »Choosing Wisely« (Klug entscheiden), eine Kampagne von Organisationen US-amerikanischer Fachärzte. Sie kämpft gegen den übermäßigen Gebrauch und den Missbrauch von Tests.

Überdiagnosen kommen häufig vor und das ist bedenklich, denn sobald Menschen mit einer Diagnose abgestempelt werden, löst diese eine Lawine von medizinischen, sozialen und wirtschaftlichen Folgen aus, von denen manche dauerhaft sind. Das medizinische Etikett und die folgende Behandlung fordern von den Betroffenen einen seelischen und finanziellen Tribut und kosten auch das Gesundheitssystem Geld.12

Zwischen einem freien, unabhängigen, gesunden Bürger und einem Patienten kann ein gewaltiger Unterschied bestehen. Deshalb müssen wir auch im Gesundheitswesen für unsere Freiheit kämpfen, andernfalls verlieren wir sie.

Ärzte lernen sehr viel darüber, wann sie Medikamente verschreiben sollen, aber nur sehr wenig darüber, wann sie diese absetzen müssen. Deshalb überrascht es nicht, dass es Ärzten ziemlich schwerfällt, Medikamente abzusetzen, und dass sie dazu neigen, sie immer und immer wieder zu verschreiben. Wir alle wissen, was verschreiben bedeutet, aber das Gegenteil – absetzen – habe ich vor 2012 als gebräuchlichen Begriff in der wissenschaftlichen Fachliteratur nicht gefunden. Eine Suche in der medizinischen Datenbank PubMed lieferte nur 213 Artikel unter deprescribing (Absetzen), aber 36 198 unter prescribing (Verschreiben), also 170 Mal so viele.

Beachten Sie bitte, dass die Suchergebnisse, die ich in diesem Buch nenne, sich auf ein bestimmtes Datum beziehen und dass sie daher ein wenig anders ausfallen, wenn Sie die Suche wiederholen. Ich habe alle Recherchen zwischen Juli und Oktober 2017 vorgenommen, habe aber das jeweilige Datum nicht verzeichnet – das ist nur in wissenschaftlichen Arbeiten üblich. In den meisten Datenbanken kann man die Suche auf bestimmte Daten beschränken, zum Beispiel auf Artikel, die bis zum 13. Oktober 2017 in die Datenbank aufgenommen wurden. Die Suche lässt sich also präzise nachvollziehen.

Ich habe mit Ärzten diskutiert, die meinen, wir sollten uns nicht zu viele Gedanken über die zahlreichen Todesfälle machen, die wir mit unseren Medikamenten verursachten, weil manche Therapien, zum Beispiel bei Krebs, mit einem wohlbekannten Risiko für vorzeitigen Tod behaftet seien, während sie grundsätzlich jedoch die durchschnittliche Überlebensdauer erhöhen würden. Andere Medikamente, so argumentieren sie, verbesserten die Lebensqualität erheblich und daher lohne es sich, sie einzunehmen, obwohl sie einige Menschen umbrächten. Das gelte beispielsweise für Medikamente gegen rheumatoide Arthritis.

Zwar treffen diese Argumente zu, sie können aber die vielen Todesfälle, die wir verursachen, nicht erklären. Die meisten Todesfälle sind auf Medikamente zurückzuführen, die viele der Patienten gar nicht gebraucht hätten, etwa auf Medikamente gegen seelische oder körperliche Schmerzen,11,13 auf die ich später eingehen werde.

Natürlich haben Ärzte gute Absichten. Sie möchten ihren Patienten helfen, so gut sie können. Doch sie kennen viele relevante Gesichtspunkte nicht oder übersehen sie, und können diese daher nicht berücksichtigen und nicht daraus lernen.

Für Ärzte und Patienten ist es unter anderem deshalb schwierig, diagnostische Methoden und Therapien mit den besten Ergebnissen zu wählen, weil die wissenschaftliche Literatur über Diagnosen und Therapien meist von schlechter Qualität und stark tendenziös ist. Das zeigen zahllose wissenschaftliche Studien, aber die Ärzte sind sich dessen selten bewusst und glauben oft allem, was veröffentlicht wird. Deshalb halten sie Diagnosen für viel zuverlässiger und Therapien für viel wirksamer und viel weniger schädlich, als sie sind.

Auf diese Probleme werde ich in diesem Buch immer wieder eingehen, sowohl aus einem theoretischen Blickwinkel als auch in Bezug auf konkrete Gesundheitsprobleme. Wenn ich über Personen rede, benutze ich die Pronomina »er« und »sie« abwechselnd.

Neben der Unwissenheit über den traurigen Zustand der Gesundheitsforschung gibt es noch einen wichtigen Grund dafür, dass wir viel zu viele Medikamente verwenden, nämlich die häufig irreführende klinische Erfahrung. Man wird ein besserer Arzt, wenn man viele Patienten hat, aber dieser Umstand kann auch trügerisch sein. Ärzte bevorzugen bestimmte Arten der Behandlung – meist Medikamente – und stellen fest, dass es dem größten Teil ihrer Patienten besser geht, wenn sie diese Mittel einnehmen. Deshalb schreiben sie die Besserung ihrer Behandlung zu. Diese Art des Wissens nennen wir nicht kontrollierte Erfahrung, weil es keine Kontrollgruppe mit unbehandelten Patienten zum Vergleich gibt. Schon zur Zeit des Hippokrates war bekannt, dass die klinische Erfahrung irreführend sein kann, und die Zahl der absurden und oft schädlichen Therapien, die Ärzte anwenden, scheint keine Grenzen zu kennen.14

Unsere persönlichen Erfahrungen haben großen Einfluss auf uns und wir denken kaum darüber nach, wie die Krankheit ohne Behandlung wahrscheinlich verlaufen wäre. Wir unterhalten uns darüber, was uns geholfen hat, und empfehlen die gleiche Therapie unseren Freunden. Das gleiche Phänomen ist im Fernsehen zu beobachten: Ein Journalist holt eine Krebspatientin ins Studio und erklärt, sie sei nur deshalb noch am Leben und symptomfrei, weil die Therapie wirksam sei und angeschlagen habe. Vielleicht führt der Krebs meist innerhalb eines Jahres zum Tod und seit der Diagnose sind fünf Jahre vergangen. Das finden die meisten Zuschauer überzeugend, dabei ist es das nicht, wenn man ein wenig über Tumorbiologie weiß. Die Patientin im Studio gleicht der Spitzensportlerin, die dank eines leistungssteigernden Wundermittels den Speer plötzlich 400 Meter weit wirft anstatt 80 Meter. Ein Speer ist ein Speer; aber der Krebs ist vielleicht kein Krebs, denn die Diagnose könnte falsch sein. Und selbst wenn sie stimmt, ist Krebs eine vielschichtige Krankheit. Deshalb ist zu erwarten, dass manche Menschen viel länger leben als der Durchschnitt. Zudem wissen wir, dass manche Krebsarten, einschließlich Brustkrebs, sich spontan zurückbilden und ohne Behandlung verschwinden können.15,16 Wir können zwar nicht verlangen, dass der durchschnittliche Fernsehjournalist das weiß, aber wir dürfen verlangen, dass er seine Hausaufgaben macht und sich bei Experten über die Sachlage erkundigt, anstatt im Fernsehen irreführende Aussagen zu machen.

Die Medien sind keine zuverlässige Informationsquelle. Man kann Zeitungen verkaufen und Zuschauer anlocken, indem man uns kränker macht und uns stärker beunruhigt als nötig. Ein häufiger Trick besteht darin, Artikel über Krankheiten zu schreiben, an denen wir möglicherweise leiden, ohne es zu wissen. Eine dänische Zeitung sammelte drei Monate lang Nachrichtenmeldungen über Krankheiten, die Dänen haben sollen, und kam zu dem Schluss, dass jeder Däne durchschnittlich an zwei Krankheiten leiden müsste.17 Tatsächlich ist es noch schlimmer, weil die Journalisten nach Dänen leiden an gesucht haben. Das bedeutet, dass sie viele »Krankheiten« übersehen haben. Außerdem gibt es ein semantisches Problem. Man kann nicht ohne Symptome an einer »Krankheit« leiden. Zum Beispiel leiden Sie nicht an einem leicht erhöhten Blutdruck, Cholesterinoder Blutzuckerspiegel. Diese Zustände sind nicht einmal Krankheiten, sondern nur Risikofaktoren, die manche – meist von der Industrie bezahlte – Ärzte für »abnorm« erklärt haben.

Die Grenzen dessen, was »abnorm« ist und medikamentös behandelt werden muss, wurden im Laufe der Jahre so absurd weit nach unten verschoben, dass Wissenschaftler, die die europäischen Leitlinien für Herzund Gefäßkrankheiten anwandten, zu dem Ergebnis gelangten, dass bei 86 Prozent der norwegischen Männer im Alter von 40 Jahren ein hohes Risiko für solche Krankheiten vorlag,18 obwohl Norweger zu den langlebigsten Menschen der Welt gehören. In einer anderen Studie stellten die Forscher fest, dass die Hälfte der Norweger bereits mit 24 Jahren einen Cholesterinspiegel oder Blutdruckwert hatte, der über der Grenze lag, ab der eine Behandlung empfohlen wird!19

Ärzte können nicht von Fakten lernen, die sie nicht kennen. Unsere verschreibungspflichtigen Medikamente töten in den USA etwa 200 000 Menschen im Jahr und rund 3300 in Dänemark.11 Das sind 20 Mal so viele, wie im Straßenverkehr sterben. Die Hälfte der Verstorbenen hat ihre Medikamente wie verordnet eingenommen, bei der anderen Hälfte spielen Fehler mit, zum Beispiel Überdosen, Wechselwirkungen oder die Anwendung kontraindizierter Arzneimittel. Ärzten ist selten klar, dass sie selbst an einigen Todesfällen ihrer Patienten schuld sind, indem sie ein bestimmtes Medikament verordnet haben. Dennoch kommt das so häufig vor, dass jeder Allgemeinmediziner jedes Jahr durchschnittlich einen seiner Patienten tötet.20 Wenn er 35 Jahre lang praktiziert, tötet er also 35 Patienten. Manche der von Medikamenten verursachten Todesfälle ereignen sich in Krankenhäusern, doch die weitaus meisten Arzneimittel werden von Hausärzten verschrieben. Zu den schlimmsten Mördern gehören Mittel gegen Arthritis (nichtsteroidale Entzündungshemmer, kurz: NSAID, nach dem englischen Begriff non-steroidal, anti-inflammatory drugs, wie Ibuprofen)11 und Medikamente gegen psychische Krankheiten.13 Allgemeinärzte verschreiben diese Mittel sehr oft. NSAID und Antidepressiva verordnen sie 38 und 76 Mal so oft, wie es in Krankenhäusern der Fall ist.21 Meine Schätzung, dass ein Allgemeinarzt pro Jahr einen Patienten tötet, ist daher vernünftig.

Die Ursache fast aller dieser Todesfälle bleibt für den Arzt und deshalb auch für die Patienten, die Öffentlichkeit und unsere Behörden verborgen. Wenn ein NSAID den Tod eines Patienten verursacht, kann das daran liegen, dass das Mittel ein Magengeschwür, in dessen Folge es eventuell auch zu Blutungen kommen kann, oder einen Herzinfarkt ausgelöst hat. Allerdings hätte das auch ohne das Medikament geschehen können. Eine häufige Todesursache bei der Einnahme von Antidepressiva und anderen gehirnaktiven Medikamenten sind Gleichgewichtsstörungen.13 Wenn ältere Patienten stürzen und sich die Hüfte brechen, stirbt etwa jeder Fünfte von ihnen im Laufe des folgenden Jahres. Der Arzt führt diese Todesfälle für gewöhnlich jedoch nicht auf das Medikament zurück, weil viele alte Menschen stürzen und sich die Hüfte brechen, selbst wenn sie kein Medikament einnehmen.

Wahrscheinlich beeinflussen die meisten gebräuchlichen Medikamente das Gehirn und können zu Stürzen führen. Bei älteren Menschen sollte man zum Beispiel Blutdrucksenker vorsichtig anwenden.

Wenn das Schiff gekentert ist und Sie ins Wasser gefallen sind, ist es zu spät zu bedauern, dass Sie nie schwimmen gelernt haben. Wir alle werden ab und zu krank und manchmal müssen Entscheidungen schnell getroffen werden, auch in Situationen, die uns derart zu Tode ängstigen, dass wir nicht mehr klar denken können. In einem solchen Fall könnte es sein, dass Sie sich und Ihrem Arzt nicht die richtigen Fragen stellen. Dabei könnten Sie das mit der erforderlichen Routine und Erfahrung durchaus. Deshalb sollten Sie die Recherche im Internet üben, solange Sie gesund sind, nicht erst dann, wenn Sie bereits vom sprichwörtlichen Schiff gefallen sind.

Wie bereits erwähnt, empfehle ich Ihnen daher nicht nur, mein Buch sorgfältig zu lesen, sondern auch, die Beispiele mithilfe des Internets durchzuarbeiten. Es ist sehr wichtig, die mentale Barriere zu durchbrechen, die Ihnen einredet, das sei zu schwierig für Sie. Sobald Sie es einige Male probiert haben, wird Ihnen klar werden, dass es möglich ist, an Informationen zu kommen, die Ihnen bei Ihren Entscheidungen helfen können. Und je mehr Sie das üben, desto besser werden Sie darin. Darum sollten Sie auch andere Beispiele nutzen, einschließlich Ihrer eigenen, und weiter nachforschen, bis Sie zu einem Ergebnis kommen. Nach einiger Zeit werden Sie merken, dass Sie meistern, was Sie zuvor für unmöglich hielten.

Es besteht kein Mangel an geeigneten Beispielen, mit denen Sie arbeiten können. Menschen sind sehr an Gesundheitsthemen interessiert und selbst bei Tischgesprächen kommen viele zur Sprache. Dann können Sie sagen, dass Sie versuchen werden, beim nächsten Treffen die Antwort zu liefern. Das wird Ihre Freunde möglicherweise so beeindrucken, dass sie wissen wollen, wie Sie das bewerkstelligen wollen. So können Sie zu einer besseren Gesundheitsfürsorge und zu angenehmeren Dinner-Partys beitragen. Wenn Menschen klare, aber unterschiedliche Meinungen über Gesundheitsthemen haben, was oft der Fall ist, dann können Diskussionen schnell hitzig werden, doch Sie können die Situation entschärfen, wenn Sie sagen, dass Sie nachforschen werden. Das tue ich manchmal an Ort und Stelle beim Kaffee, aber ich gebe zu, dass man etwas Übung braucht, um Antworten so schnell zu finden.

Ich wünsche mir so sehr, unsere Politiker würden das Gleiche tun, sowohl hinsichtlich der Gesundheitsfürsorge als auch in anderer Hinsicht. Deren Meinungsverschiedenheiten resultieren oft daraus, dass sie sich entweder nicht für die Tatsachen interessieren oder dass sie keine Lust haben, diese nachzuschlagen. Gefühle und Ideologien sind ihnen wichtiger als Fakten. Leider gilt dasselbe für viele Ärzte, auch für die einflussreichsten, die man oft Meinungsbildner nennt. Sie verbreiten unter ihren Kollegen recht häufig Ansichten über Medikamente und andere Therapien, die falsch sind und in krassem Gegensatz zu den zuverlässigsten wissenschaftlichen Befunden stehen, über die wir verfügen. Das gilt vor allem dann, wenn sie von der Pharmaindustrie bezahlt werden.11,13 Bisweilen verbreiten sie ihre falschen Ansichten mit noch mehr Nachdruck, wenn man ihnen unwiderlegbar beweist, dass sie sich irren.22 Das ist ein kurioser Wesenszug der menschlichen Psyche.

Die Bevölkerung weiß sehr wohl, dass sie kritisch sein muss. In einer Umfrage stimmten zwei Drittel der erwachsenen Briten der Aussage zu, dass Studien der Industrie oft einseitig dargestellt werden, damit sie ein positives Ergebnis aufweisen.23 Nur ein Drittel der Bevölkerung vertraut im Allgemeinen den Aussagen seitens der Medizinforschung, während zwei Drittel Freunden und Angehörigen vertrauen, die ihnen über Heilverfahren berichten.

Das sollten Sie nicht tun. Ihre Angehörigen und Freunde gewinnen ihr Wissen entweder durch persönliche Erfahrungen, die sehr unzuverlässig sind, oder von ihren Ärzten, die ebenfalls unzuverlässig sind, oder aus Zeitungen, Zeitschriften, dem Fernsehen oder dem Rundfunk, auf die man sich ebenso wenig verlassen kann. Es führt kein Weg daran vorbei: Sie müssen selbst zuverlässige Informationen sammeln.

Das utilitaristische Denken im Gesundheitswesen

Bei der öffentlichen Gesundheit geht es darum, möglichst vielen Menschen den größtmöglichen Nutzen zu bringen. Die Medizinethik nennt das Utilitarismus. Wenn eine Maßnahme in einer randomisierten Studie zu weniger Todesfällen führt als die Maßnahmen in der Kontrollgruppe – die vielleicht gar nicht behandelt wird –, dann ist es wahrscheinlich, dass diese Maßnahme bei Politikern populär und in nationalen Leitlinien empfohlen wird.

Es sollte selbstverständlich sein, dass wir in diesem Fall alle von dieser Maßnahme profitieren, aber es ist selten so einfach.

Öffentliche Gesundheitsprogramme konzentrieren sich immer häufiger auf die Vorbeugung. Das ist sinnvoll, aber es bedeutet auch, dass die Chance eines einzelnen Bürgers, von der Therapie zu profitieren, mitunter sehr klein ist. Deshalb kann es durchaus vernünftig sein, diese Therapie abzulehnen, auch deshalb, weil alle medizinischen Maßnahmen schaden können.

In diesem Zusammenhang stellen sich viele Fragen. Was bedeutet eine um 25 Prozent geringere Sterberate? Viele interpretieren das so, dass die Glücklichen nicht an der Krankheit sterben werden, aber vielleicht wird der Tod nur ein wenig hinausgeschoben und sie sterben trotzdem an der Krankheit, nur etwas später. Das gilt beispielsweise für die allermeisten Krebsmedikamente. Dennoch wird ihre Wirksamkeit trotz ihrer heftigen Nebenwirkungen bejubelt. Darauf komme ich in Kapitel 10 zurück.

Ab welchem Zeitpunkt in der Therapie sinkt die Sterberate? Es besteht ein enormer Unterschied zwischen der Lebensverlängerung bei jungen Menschen und bei alten Menschen, die ohnehin bald an etwas anderem sterben werden und deren Zustand vielleicht so schlecht ist, dass das Leben nicht mehr lebenswert ist.

Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, diese Krankheit zu bekommen und an ihr zu sterben? Wenn die Krankheit selten ist, kann die Chance, von einer vorbeugenden Maßnahme zu profitieren, so gering sein, dass die meisten Menschen diese Maßnahme ablehnen würden.

Kampagnen im Bereich der öffentlichen Gesundheit halten sich dazu bemerkenswert bedeckt. Sie haben meist den Charakter von Propaganda. Doch es hat seinen Preis, gesunde Bürger in Patienten zu verwandeln. Es ist schön, frei, glücklich und gesund zu sein und keine Medikamente zu benötigen. Die Menschen dieser Privilegien zu berauben und sie zu ängstlichen Patienten zu machen, die Arztbesuche machen und vielleicht sogar ins Krankenhaus müssen, kann ihnen ziemlichen Schaden zufügen.

Und schließlich werden der Nutzen und die negativen Auswirkungen einer medizinischen Maßnahme nicht mit demselben Maßstab gemessen. Daher ist es immer eine subjektive Entscheidung, ob der Nutzen den Schaden überwiegt. Diese Entscheidung kann niemand anderes für uns treffen. Wir müssen sie selbst treffen, aber das können wir nur, wenn wir hinreichend und ehrlich informiert werden.

Wie subjektiv das alles ist, wird klar, wenn wir Vergleiche mit den Verkehrstoten ziehen. Deren Zahl ist erheblich gesunken, seit wir Geschwindigkeitsbeschränkungen eingeführt haben. Aber wo sollen wir die Grenze ziehen? Würden wir die Höchstgeschwindigkeit für alle Fahrzeuge auf 30 Stundenkilometer festlegen, könnten wir die Zahl der Verkehrstoten sogar noch weiter senken, aber die Öffentlichkeit würde diese Maßnahme nicht unterstützen. Die Grenze ist völlig willkürlich. Das gilt auch für die Grenzen dessen, was wir in der Gesundheitsfürsorge für normal halten. Leider werden Leitlinien oft von Leuten geschrieben, die der Pharmaindustrie zu nahestehen. Dieselben Leute leiten auch die Studien, die ihnen als Grundlage für ihre Leitlinien dienen.11,13

Darum sollten Sie kritisch nachfragen, wenn Ihr Arzt Ihnen erklärt, Sie müssten ständig ein Medikament einnehmen, weil Ihr Blutdruck, Ihr Cholesterinspiegel oder Ihr Blutzuckerspiegel zu hoch sei oder weil Ihre Knochen nicht dicht genug seien. Vielleicht fahren Sie besser damit, wenn Sie nichts tun oder wenn Sie etwas anderes tun, als Medikamente zu schlucken. Auch darauf gehe ich in diesem Buch ein.

Die öffentliche Gesundheit entspricht nicht Ihrer Gesundheit

In der nicht allzu fernen Vergangenheit war die Gesundheitsfürsorge eine Angelegenheit zwischen einem Arzt und einem Patienten. Ärzte taten ihr Bestes, um ihre Behandlung den persönlichen Bedürfnissen des Patienten anzupassen. Das tun sie heute noch, aber es ist schwierig geworden.

Der Vorteil des alten Systems war größere Flexibilität, doch das war zugleich sein Nachteil. Jeder Arzt behandelte vergleichbare Patienten unterschiedlich, je nach seinen persönlichen Präferenzen, Vorurteilen und Erfahrungen – und je nachdem, ob er Pharmavertreter empfing. Manchmal verordneten Ärzte hoffnungslos veraltete und gefährliche Medikamente, weil sie nicht auf dem neusten Stand waren, zum Beispiel Chloramphenicol, das zu einer Einschränkung der Knochenmarksfunktion und zu vielen Todesfällen führt.

Vor der Einführung von Computern gab es kaum einen Überblick über die Aktivitäten der Ärzte. Heute ermöglichen die Verschreibungsdaten den Behörden, auffällige Ärzte zu identifizieren – zum Beispiel diejenigen, die zu häufig Beruhigungsmittel oder Opiate verordnen – und dann einzuschreiten.

Das ist zwar gut so, aber das Pendel schlägt inzwischen zu stark in diese Richtung aus. Wir haben eine Fülle von umfassenden und komplizierten klinischen Leitlinien, die den Ärzten sagen, was sie tun sollen, und junge Allgemeinärzte fühlen sich verpflichtet, sie zu befolgen, selbst dann, wenn spezielle Umstände dafür sprechen, bei einem bestimmten Patienten von den Leitlinien abzuweichen.

In der Praxis ist es Ärzten unmöglich, alle Leitlinien zu befolgen. Eine Studie schätzte im Jahr 2003, dass Hausärzte den ganzen Tag beschäftigt wären, wenn sie die vorbeugenden Maßnahmen ergreifen würden, die die US Preventive Services Task Force (eine unabhängige Gruppe von Experten für die Primärversorgung und Prävention in den USA) empfiehlt.24 Wenn die Ärzte also alle lediglich besorgten Menschen genau untersuchen würden, hätten sie für die Kranken keine Zeit mehr. Dabei stützte sich die Studie nur auf die Empfehlungen einer einzigen Organisation. Es gibt noch viele andere Leitlinien.

Ärzte dürfen Leitlinien ignorieren, wenn sie in der Patientenakte erklären, warum das angezeigt ist. Doch dazu sind nur wenige Ärzte bereit. Es ist für sie viel einfacher zu tun, was man ihnen sagt, und zuzusehen, keinen Ärger mit Kollegen zu bekommen. Genau das ist mir zwei Jahre nach meinem Examen in Medizin passiert. Ich diagnostizierte einen leichten Diabetes Typ 2 bei einem alten Mann, der wegen anderer Beschwerden eingeliefert worden war.11 Ich notierte, dass es üblich sei, eine Behandlung mit Tolbutamid zu beginnen, doch weil die einzige jemals durchgeführte große Studie mit Tolbutamid aufgrund zu vieler Todesfälle wegen Herz-Kreislauf-Problemen abgebrochen worden war und es bei denjenigen Patienten, die die höchste Dosis bekommen hatten, auch am häufigsten zu Zwischenfällen gekommen war, beschloss ich, Tolbutamid nicht anzuwenden.

Mein Vorgesetzter kanzelte mich ab, als er meine Notizen sah, und warf mir vor, die Leitlinien zu missachten, die die Endokrinologen verfasst hatten. Ich erklärte ihm, ich wisse mehr über dieses Medikamente als die Endokrinologen, weil ich nicht nur den Studienbericht gelesen hätte, sondern auch die vielen Artikel und Briefe, die ihm gefolgt waren, sowie ein ganzes Buch, das die Thematik detailliert erörtere. Die Studie war zwar unabhängig von dem Pharmaunternehmen durchgeführt worden, aber Leute, die von der Industrie unterstützt wurden, diskutierten sie natürlich ausführlich und analysierten sie neu. Ich war mir sicher, welche Seite recht hatte, und ich stehe auch heute noch zu meiner Entscheidung. Wir sollten keine Antidiabetika verordnen, die zu einer höheren Sterblichkeit führen. Es gab bereits mehrere Skandale, auch in jüngster Zeit, als sich herausstellte, dass andere Medikamente auf dem Markt ebenso gefährlich waren.11

2. Wie stelle ich Fragen und wo finde ich die Antworten?

Wenn Menschen nach einer Krankheit wieder genesen, versuchen wir herauszufinden, was ihnen geholfen hat, damit wir das Mittel bei Bedarf ebenfalls anwenden können. Und wenn andere Erfolg haben, versuchen wir herauszufinden, was sie so erfolgreich macht, um ihnen dann nachzueifern. Anekdoten spielen in unserem Alltag eine enorme Rolle. Wir hören nicht auf, ihnen großen Wert beizumessen und an sie zu glauben, einerlei, wie oft sich Anekdoten in der Vergangenheit als falsch erwiesen haben, denn trotz all ihrer Schwächen haben sie der Menschheit im Laufe der Evolution dabei geholfen zu überleben.

Hier ist ein Beispiel dafür, wie leichtgläubig wir sind. Mark Spitz gewann 1972 bei den Olympischen Sommerspielen in München sieben Goldmedaillen.1 Er schwamm mit einem Schnurrbart, während sich andere Schwimmer zu der Zeit die gesamte Körperbehaarung abrasierten. Ein russischer Trainer fragte ihn, ob sein Bart ihn nicht bremse, und er antwortete: »Nein, im Gegenteil, er verhindert, dass Wasser in meinen Mund gelangt, sorgt dafür, dass mein Hintern sich hebt und ich kugelförmig im Wasser liege – und deshalb schwimme ich so gut.« Im folgenden Jahr trug jeder russische Schwimmer einen Schnurrbart. In Wahrheit hatte Spitz sich einen Schnurrbart wachsen lassen, weil ein Trainer im College es ihm verboten hatte. Er hatte vorgehabt, ihn vor den Olympischen Spielen abzurasieren, beschloss dann aber, ihn zu behalten, weil alle darüber redeten.

Wir bekommen von Angehörigen und Freunden mehr Ratschläge über Gesundheit als von allen anderen Leuten. Nur ein sehr geringer Teil davon ist nützlich und stützt sich auf Beweise. Leider gilt das auch für Ärzte und andere medizinische Fachkräfte. Ärzte wissen beispielsweise nicht viel über Medikamente, abgesehen von den Informationen, die sie von den Herstellern bekommen und die meist falsch sind.2,3 Wir brauchen also zuverlässigere Informationsquellen.

In den letzten dreißig Jahren haben wir eine Revolution in der Informationsbeschaffung und -verbreitung erlebt. Zu Beginn meiner beruflichen Laufbahn hatte ich nicht einmal einen Computer. Manuskripte für wissenschaftliche Artikel wurden wieder und wieder mit der Schreibmaschine geschrieben. Man schnitt Textstellen aus und klebte sie auf eine andere Seite, um weniger neu schreiben zu müssen. Wenn man dann die Beurteilung der Kollegen und der Redaktion bekommen hatte, begann die Sisyphusarbeit von vorn und man musste den gesamten Artikel erneut tippen.

Für die Informationsbeschaffung im Allgemeinen haben wir heutzutage Google und Wikipedia, die ich bevorzuge. Für diese Aussage werde ich nicht bezahlt. Es gibt noch andere Suchmaschinen, aber mit denen bin ich nicht vertraut. Wenn ich etwas über den Wert diagnostischer Tests und Therapien erfahren möchte, finde ich die Cochrane Library und Pub-Med am nützlichsten. Es ist etwas langweilig, über diese Quellen zu lesen, daher werde ich, bevor wir dazu kommen, ein paar Beispiele für wichtige klinische Fragen geben.

Ich werde versuchen, jeden einzelnen Schritt zu erklären, damit Sie den gesamten Prozess selbst durchführen können, auch bei anderen klinischen Fragen. Viel zu oft fehlen Zwischenschritte, vor allem dann, wenn ein Leitfaden von IT-Experten geschrieben wurde. Die Experten halten sie für so offensichtlich, dass sie der Ansicht sind, sie nicht erwähnen zu müssen. Doch wenn Sie dann bei A sind und B nicht finden, um nach C zu gelangen, geben Sie auf.

Rückenschmerzen

Man braucht ein wenig Übung, um Fragen optimal zu formulieren. Wenn wir ein Gesundheitsproblem haben, stellen wir meist sehr allgemeine Fragen, beispielsweise »Was soll ich gegen meine Rückenschmerzen tun?«.

Bevor wir eine Antwort suchen können, müssen wir jedoch einige Überlegungen anstellen, zum Beispiel:

•  Was verursacht die Rückenschmerzen?

•  Gibt es diagnostische Verfahren, die hilfreich sein könnten?

•  Werden die Schmerzen stärker oder schwächer?

•  Sind sie neu (akut) oder seit Langem vorhanden (chronisch)?

•  Wie schlimm sind sie? Kann ich mit ihnen leben?

•  Wie lautet die Prognose?

•  Welche Therapien sind verfügbar und welche Vor- und Nachteile haben sie?

Wenn Sie sich in dieser Phase befinden, ist es oft nützlich, zunächst einen allgemeinen Text über das Problem zu lesen. Falls Ihre Muttersprache nicht Englisch ist, können Sie mithilfe von Google Übersetzer (translate. google.de) herausfinden, wie der englische Begriff für back pain in Ihrer Sprache lautet, zum Beispiel dolor de espalda auf Spanisch, mal au dos auf Französisch und Rückenschmerzen auf Deutsch. Gehen Sie zu Google (google.com) und suchen Sie nach »Wikipedia back pain«. Dann finden Sie einen ziemlich ausführlichen Artikel.4 Wir gehen davon aus, dass sie den Ausführungen dort vertrauen können, wenn es um allgemeine Fragen geht. Sie können aber auch jede einzelne Information überprüfen, ebenso die vielen »Einzelnachweise« in dem Artikel.

Rückenschmerzen können überall entlang der Wirbelsäule auftreten. Nehmen wir an, Sie haben Schmerzen im unteren Rücken, was am häufigsten der Fall ist. Sie können lesen, dass unspezifische Rückenschmerzen wahrscheinlich auf das weiche Gewebe zurückzuführen sind, also auf Muskeln, Faszien und Bänder.

Das ist bereits eine wichtige Information. Viele Menschen mit Rückenschmerzen gehen zu einem Chiropraktiker oder zu einem Arzt, der die Wirbelsäule manipuliert. Aber wenn die Schmerzen nichts mit kleinen Wirbelverschiebungen (Subluxationen) zu tun haben, nützt das nicht viel. In Kapitel 13 (über alternative Medizin) komme ich darauf zurück.

Es kommt selten vor, dass Rückenschmerzen zu dauerhaften Beeinträchtigungen führen. In den meisten Fällen von Bandscheibenvorfällen und Verengungen des Wirbelkanals führen Ruhe, Injektionen oder eine Operation nach einem Jahr zu ähnlichen Erfolgen. Aha – jetzt haben Sie gelernt, dass Sie normalerweise eine Bandscheibenoperation ablehnen sollten. Das ist schlecht für diejenigen, die von Rückenoperationen leben, aber es ist gut für Sie! Wie bereits gesagt, fragt man keinen Friseur, ob man einen Haarschnitt braucht, und Sie sollten keinen Chirurgen fragen, ob Sie eine Rückenoperation brauchen. Die meisten Rückenoperationen in den USA hätten die Chirurgen nie vornehmen dürfen. In den Neunzigerjahren versuchten die Republikaner, die Agency for Healthcare Research and Quality – sie soll die Qualität des Gesundheitswesens verbessern – abzuschaffen, nachdem Wirbelsäulenchirurgen gegen einen ihrer Berichte protestiert hatten, in dem stand, Ruhe und Schmerzmittel seien bei Rückenschmerzen ebenso wirksam wie Operationen.5

Wenn Sie einen Chirurgen konsultieren, sollten Sie immer eine zweite Meinung einholen, und zwar von jemandem, der kein Chirurg ist, und zudem selbst Informationen sammeln. Im Gegensatz zu Medikamenten sind Operationen irreversibel.

Laut Wikipedia ist die Prognose gut. In den meisten Fällen legen sich die Schmerzen nach ein paar Wochen von selbst. Etwa 98 Prozent der Patienten mit Rückenschmerzen haben nicht-spezifische akute Beschwerden, denen keine schwere Grunderkrankung zugrunde liegt. Unter den restlichen Patienten finden sich metastasierender Krebs oder schwere Infektionen als Ursachen. Sollen sich also alle Patienten mit Rückenschmerzen gründlich auf Krebs und Infekte untersuchen lassen, zum Beispiel mittels Computertomografie (CT-Scan)? Nein. Fast jeder Mensch hat irgendwann Rückenschmerzen und wir können nicht die gesamte Bevölkerung auf jede mögliche Ursache dieser Beschwerden untersuchen lassen. Das wäre extrem teuer, es gäbe viele falsch positive Befunde und der Schaden wäre groß. CT-Scans können Krebs verursachen und die vielen sinnlosen Therapien, die Menschen mit einem falsch positiven Befund erdulden müssten, wären ebenfalls schädlich. Eine gründliche Untersuchung ist daher nur angezeigt, wenn es einen begründeten Verdacht auf eine schwere Grunderkrankung gibt. Lesen Sie mehr dazu im Wikipedia-Artikel.

Die Schmerzen können in die Arme oder Beine ausstrahlen und Kribbeln ohne erkennbare Ursache (Parästhesie), Schwäche oder Taubheit auslösen, Symptome einer neurologischen Störung als Folge eines Bandscheibenvorfalls. Vor allem wenn diese Störungen sich verschlimmern oder es Anzeichen für Darm- oder Blaseninkontinenz gibt, ist die Situation ernst und verlangt eine sofortige Aufnahme in ein Krankenhaus.

Dem Wikipedia-Artikel können Sie entnehmen, dass Röntgenaufnahmen und andere bildgebende Verfahren nicht nützlich sind. Sie erfahren auch, dass zwei Schädigungen, auf die Rückenschmerzen oft zurückgeführt werden, nämlich ein Bandscheibenvorfall in der Lendenwirbelsäule und eine Bandscheibendegeneration, bei Patienten, die unter Schmerzen leiden, möglicherweise nicht häufiger vorkommen als bei der allgemeinen Bevölkerung.

Wie ich in Kapitel 13 erklären werde, machen Chiropraktiker oft Röntgenaufnahmen und behaupten dann, sie sähen genau, wo das Problem liege. Glauben Sie ihnen nicht.

Und wie steht es mit der Therapie? Ich rate davon ab, sich in dieser wichtigen Angelegenheit auf Wikipedia zu verlassen. Die medizinische Literatur ist zu unzuverlässig, als dass man sie freiwilligen Mitwirkenden von Wikipedia überlassen könnte, die selten über die gründliche Ausbildung verfügen, die notwendig ist, um Studien und systematische Übersichtsarbeiten sowie die Vorteile und Nachteile von Therapien bewerten zu können. Dafür brauchen wir hochqualifizierte kritische Betrachtungen wie die Cochrane-Reviews.

Ein Review, also eine systematische Übersichtsarbeit oder Literaturanalyse, verwendet vorab definierte Methoden, um alle relevanten Artikel zu einem bestimmten Thema zu suchen und kritisch zu prüfen. Wenn es mehr als einen Artikel gibt, werden die Ergebnisse häufig in einer Metaanalyse statistisch zusammengefasst.

Der (englische) Wikipedia-Artikel über Rückenschmerzen ist ein Beispiel dafür, weil er vor seinen eigenen Empfehlungen warnt: »Dieser Abschnitt benötigt zur Verifikation mehr medizinische Literaturhinweise beziehungsweise er stützt sich zu sehr auf Primärquellen. Bitte prüfen Sie den Inhalt des Abschnitts und fügen Sie, wenn möglich, geeignete Quellenangaben hinzu. Material ohne oder mit zu wenigen Quellenangaben kann hinterfragt und entfernt werden. (Januar 2016)«

Diese Bemerkung ist sehr angebracht, weil die meisten Behandlungsmethoden, die erwähnt werden, schlecht geeignet sind, zum Beispiel Wärme- oder Kältetherapie (die nicht wirken), Muskelrelaxanzien (gefährlich, weil viele Menschen von diesen Medikamenten – besser bekannt als Benzodiazepine – abhängig werden), nichtsteroidale Entzündungshemmer (NSAID; gefährlich, weil sie viele Todesfälle verursachen), Massage und Manipulation (die unwirksam sind, siehe Kapitel 13).

Wir erfahren, dass körperliche Bewegung helfen kann, dass sie jedoch von einem Heilberufler überwacht werden sollte. Das habe ich nie zuvor gehört und ich sehe auch keinen guten Grund dafür, dass Menschen mit Rückenschmerzen nicht ohne Überwachung Bewegungsübungen machen sollten.

Seltsam ist auch, dass es in diesem Artikel heißt: »Eine Studie mit 80 Teilnehmern ergab, dass Magnesium bei chronischen Rückenschmerzen hilfreich ist.« Eine Studie? Gibt es andere Studien, die zu einem anderen Ergebnis kommen? Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass Magnesium gegen Rückenschmerzen hilft? Etwa null. Wie soll ein Metallion, das in unserem Körper bereits reichlich vorhanden ist, bei Rückenschmerzen etwas nützen?

Wenn Logik und Vernunft zu dem Schluss kommen, dass die Wahrscheinlichkeit dafür, dass ein Mittel wirkt, sehr gering ist, müssen wir außergewöhnlich überzeugende Belege dafür verlangen, dass es doch wirkt. Diese finden wir jedoch nicht in einer einzigen Studie mit 80 Teilnehmern, weil das Betrugsrisiko viel größer ist als die Wahrscheinlichkeit, dass Magnesium hilft. Es lohnt sich nicht, eine solche Studie herunterzuladen und zu lesen. Spaßeshalber habe ich ihre Zusammenfassung (Abstract) bei PubMed dennoch gelesen (wie man Studien bei PubMed findet, erkläre ich weiter unten).

Ja, sie war lustig.6 Alle 80 Patienten wurden mit krampflösenden Mitteln, Antidepressiva und simplen Schmerzmitteln behandelt, also mit mindestens drei verschiedenen Medikamententypen. Dieser Cocktail treibt manche Menschen in den Suizid (siehe Kapitel 8 und 9). Wenn das in Ägypten üblich ist, wo die Studie durchgeführt wurde, dann muss sich das ändern. Vierzig Patienten bekamen Magnesium und vierzig bekamen ein Placebo. In der ersten Gruppe ließen die Schmerzen deutlich nach, von 7,5 zu Beginn der Studie auf 4,7 nach sechs Monaten. Sehen Sie, was mit dieser Aussage nicht stimmt?

Randomisierte Studien haben den Zweck, eine Gruppe mit einer anderen zu vergleichen, aber diese Zusammenfassung sagt uns nur, was in einer der beiden Gruppen geschah. Es ist völlig irreführend, die Leser nur darüber zu informieren, was in einer von zwei randomisierenden Gruppen geschehen ist. In der Regel geht es den Teilnehmern in beiden Gruppen besser, weil sie in die Studien eintreten, wenn ihre Schmerzen schlimmer sind als sonst.

(»magnesium« [MeSH Terms] OR »magnesium« [All Fields] AND (»low back pain« [MeSH Terms] OR (»low« [All Fields] AND »back« [All Fields] AND »pain« [All Fields] OR »low back pain« [All Fields].

Meine Suche ergab 15 Treffer, von denen keiner eine Studie über Magnesium war, abgesehen von der ägyptischen Studie. Ich glaube, wir werden von Magnesium gegen Schmerzen im unteren Rücken nichts mehr hören.

Der Wikipedia-Artikel empfiehlt kognitive Therapie, Entspannungstherapie sowie Aufklärung und eine geänderte Einstellung mit einer Fokussierung auf psychologische oder emotionale Ursachen der Schmerzen. Er erklärt, dass Schmerzen im Bewegungsapparat oft teilweise von den Patienten verursacht, verschlimmert oder übertrieben würden, weil sie emotional aufgebracht oder beunruhigt seien.

Es stimmt, dass die Einstellung zu Schmerzen eine große Rolle spielt. Manche Menschen ignorieren die Schmerzen, weil sie Teil des Lebens sind; andere sind von ihnen besessen. Das ist einer der Gründe dafür, dass manche Patienten, die über Schmerzen irgendwo im Körper klagen, therapieresistent sind – einerlei, wie sehr wir uns bemühen, sie sagen immer, dass nichts hilft. Unter diesen Patienten finden wir viele, die Opiate und andere Medikamente missbrauchen. Sogenannte Schmerzkliniken können immensen Schaden anrichten, weil sie den Patienten ohne hinreichende wissenschaftliche Begründung Medikamente verabreichen, anstatt zu begreifen, dass viele ihrer Patienten überhaupt keine Medikamente einnehmen, sondern sich einer Psychotherapie unterziehen sollten. Wenn diese ebenfalls nichts bewirkt, müssen wir möglicherweise aufgeben. Ärzte können nicht jedem helfen und einige Patienten mit chronischen Schmerzen haben eindeutig ein psychiatrisches Problem. Jeder Arzt ist solchen Patienten schon begegnet.

Ärzte sind gute Verkäufer. Tatsächlich sogar zu gute. Sie behaupten oft: »Dieses Mittel hilft gegen Ihre Rückenschmerzen.«, »Es hat keine Nebenwirkungen.« oder »Dieses neue Medikament gegen Arthritis verursacht keine Magenbeschwerden.«. Sie müssen wirklich aufpassen und fragen (zumindest sich selbst): »Inwiefern und in welchem Ausmaß hilft es mir?« Die meisten vorteilhaften Wirkungen von Medikamenten sind banal und lohnen sich nicht, wenn man bedenkt, dass Medikamente Geld kosten und Nebenwirkungen haben. Deshalb müssen Sie selbst nach Informationen suchen, denn Ihr Arzt dürfte nur sehr selten imstande sein, Ihre Fragen vernünftig zu beantworten. Natürlich gibt es keine Medikamente gegen Arthritis, die keine Magenbeschwerden auslösen können, darunter blutende Geschwüre. Wenn Ihre Rückenschmerzen Sie so sehr stören, dass Sie daran denken, Tabletten einzunehmen, wollen Sie sicherlich wissen, ob es stimmt, was viele Ärzte behaupten: dass Arthritis-Medikamente (NSAID) wirksamer sind als Paracetamol (Acetaminophen).

Die nächstliegenden Suchbegriffe, die einem in den Sinn kommen, liefern oft nützliche Ergebnisse. In diesem Fall nsaid paracetamol back pain bei Google. Obwohl ich Cochrane nicht hinzufügte, was ich normalerweise tue, war der zweite Eintrag auf der ersten Seite offenbar ein relevanter Cochrane-Review. Es ist eines der vielen nützlichen Merkmale von Google, dass Sie sehen, worum es geht, ohne den Link zu öffnen (im Original englisch):

Nichtsteroidale Entzündungshemmer bei Schmerzen im unteren Rücken | Cochrane

https://www.cochrane.org/CD000396/BACK_non-steroidal-antiinflammatory-drugs-for-low-back-pain

23. Januar 2008 – Nichtsteroidale Entzündungshemmer bei Schmerzen im unteren Rücken (…) Bei Patienten mit akutem Ischias wurde kein Unterschied in der Wirkung zwischen NSAID und einem Placebo festgestellt. Die Autoren der Übersichtsarbeit stellten zudem fest, dass NSAID nicht wirksamer sind als andere Medikamente (Paracetamol/Acetaminophen, Betäubungsmittel und Muskelrelaxanzien).

Innerhalb weniger Sekunden haben wir also Informationen gefunden, anhand derer wir eine Entscheidung treffen können. Schmerzen sind ein lukrativer Markt und Studien, die NSAID mit Paracetamol – einem alten, billigen Medikament, dessen Patent längst abgelaufen ist – vergleichen, werden wahrscheinlich von Pharmaunternehmen gesponsert, durchgeführt, analysiert und veröffentlicht, die NSAID verkaufen. Und diese würden Studien, die zeigen, dass Paracetamol am besten geeignet ist, wahrscheinlich nicht offenlegen. Angesichts dieser für NSAID günstigen Umstände ist es erstaunlich, dass eine Cochran-Analyse keine Vorteile von NSAID gegenüber Paracetamol fand.

Wenn Sie den Review9 lesen, werden Sie sehen, dass die Autoren in ihrer Zusammenfassung zu dem Schluss kommen: »Die Ergebnisse aus den 65 Studien, die wir in diese Übersichtsarbeit aufgenommen haben, lassen darauf schließen, dass NSAID bei Patienten mit akuten und chronischen Schmerzen im unteren Rücken ohne Ischias eine kurzfristige symptomatische Linderung bewirken. Die Wirkung ist jedoch gering.« Es lohnt sich nicht, eine geringe Wirkung auf Schmerzen in Studien, die von der Industrie gesponsert wurden, näher zu betrachten, erst recht nicht, wenn wir wissen, dass diese Medikamente ziemlich gefährlich sind und viele Menschenleben kosten.2

Klinische Leitlinien

Ärzte verlassen sich in ihrer Praxis oft auf klinische Leitlinien, aber sie sollten sehr vorsichtig mit ihnen umgehen, einerlei, wer sie erstellt hat: ein Fachärzteverband, eine Gesundheitsbehörde, ein Amt für die Bewertung medizinischer Verfahren oder die Weltgesundheitsorganisation. Ich lese sie selten, weil sie so oft in die Irre führen und nicht die zuverlässigsten wissenschaftlichen Befunde widerspiegeln, sondern von Vorurteilen und finanziellen Interessenskonflikten derjenigen gefärbt sind, die sie geschrieben oder finanziert haben – zum Beispiel Politiker mit einem guten Riecher dafür, was die Wähler hören möchten. Selbst wenn Leitlinien einigermaßen gut sind, räumen sie nicht immer ein, dass die Studien, auf die sie sich stützen, von schlechter Qualität sind.

Im Gesundheitswesen ist es nicht leicht, idealistisch und ehrlich zu sein, den Menschen genau zu sagen, was man herausgefunden hat, Ross und Reiter zu nennen. Ich habe schon oft beobachtet, dass gute Initiativen, die eindeutig im Interesse der Patienten und der Steuerzahler waren, ihre Aktivitäten einstellen mussten. Oder man drohte ihnen mit einer drastischen Kürzung von Fördermitteln, falls sich die Wortführer nicht wunschgemäß verhalten sollten. Es spielt keine Rolle, ob Sie Ihrem Land dank Ihrer Aktivitäten eine Menge Geld einsparen. In diesem Fall kann das Risiko, dass Sie bald von der Bildfläche verschwinden, sogar noch größer sein, weil es bedeutet, dass Sie mächtigen finanziellen und politischen Interessen die Stirn geboten haben. Ich habe wahre Pioniere getroffen, deren hervorragende Initiativen in Kanada, in den USA, in Großbritannien, in Dänemark, in den Niederlanden, in Deutschland und in Australien abgewürgt oder zurechtgestutzt wurden.

Das Nordic Cochrane Centre, das ich vor 25 Jahren gegründet habe, wurde ebenfalls bedroht, sogar viele Male. Im Jahr 2001 erreichte ich, dass die dänische Regierung das Zentrum dauerhaft förderte, und diese Investition hat Milliarden von dänischen Kronen eingespart. Drei unserer Cochrane-Reviews haben dem Steuerzahler viele Jahre lang mehr als 500 Millionen Kronen im Jahr eingespart, etwa hundert Mal mehr als unser Jahresbudget.10 Bei diesen Analysen geht es um Mammografie-Screening (2001 zuerst veröffentlicht),11 um die Behandlung lungenkranker Patienten mit Alpha-1-Antitrypsin bei einem Mangel an diesem Enzym (2010 zuerst veröffentlicht),12 und um allgemeine Gesundheitsuntersuchungen.13 Die dänische Gesundheitsbehörde hatte uns um die Studie über die Mammografie-Screenings gebeten und die Studie über die Lungenkrankheit erfolgte auf Wunsch des Gesundheitsausschusses des Parlaments. Die Studie über Gesundheitsuntersuchungen war unsere eigene Idee.

In allen drei Fällen waren unsere Ergebnisse ziemlich negativ; sie hatten politische Folgen und bedrohten mächtige Interessen. Im Laufe der Jahre haben die dänische Krebsgesellschaft und der Verband der dänischen pharmazeutischen Industrie versucht, mehrere Gesundheitsminister zur Schließung meines Zentrums zu überreden. Meine Strategie ist dreigleisig: Ich strebe nach einem guten Verhältnis zu führenden Gesundheitspolitikern im Parlament, ich beweise mit unserer Forschung, wie nützlich wir sind, und ich bin oft in den Medien präsent. Doch all das ist keine Garantie gegen ein Scheitern. Als wir 2011 unsere Analyse über Gesundheitschecks beendet hatten, bat ich um ein Gespräch mit der Ministerin. Sie beschloss auf der Stelle, die neuen Pläne der Regierung zur Einführung regelmäßiger Gesundheitschecks aufzugeben. Nur zwei Jahre später drohte mir dieselbe Ministerin, mich als Direktor des Zentrums abzusetzen.3 Ich hatte einen Zeitungsartikel über zehn Mythen in der Psychiatrie veröffentlicht, die den Patienten schaden, und erklärt, unseren Bürgern würde es viel besser gehen, wenn wir alle Psychopharmaka vom Markt nähmen, weil die Ärzte unfähig seien, mit ihnen umzugehen und weil sie mehr schadeten als nützten. Außerdem forderte ich die Psychiater auf, in den kommenden Jahren Patienten so wenig wie möglich und so kurz wie möglich mit Psychopharmaka zu behandeln oder ganz darauf zu verzichten. Mein Artikel war auf Dänisch geschrieben, aber er wurde auch auf Englisch veröffentlicht.14

Anfangs geschah nicht viel, doch zwei Monate später startete die Dänische Psychiatrische Gesellschaft eine Rufmordkampagne gegen mich und hätte damit fast Erfolg gehabt. Es gab einen Mediensturm mit falschen Anschuldigungen, in Wahrheit eine Hexenjagd, auf die die Ministerin reagierte.3 In einer solchen Situation spielen Tatsachen keine Rolle und es ist ebenso unwichtig, dass die Psychiater und Hausärzte ihren Patienten mit Psychopharmaka enorm schaden und viele von ihnen sogar umbringen.3 Es ist nun einmal sehr viel einfacher, den Boten zu töten, als Systeme zu verändern. Ein Jahr später, 2015, veröffentlichte ich jedoch ein ganzes Buch über Psychiatrie, in dem ich detailliert nachwies, wie gefährlich dieses Fachgebiet ist.3 Diesmal gab es keine Drohungen, sondern große Unterstützung von vielen Patienten und ihren Organisationen, aber auch von einigen Psychiatern. Die Patienten nominierten mich zum »Dänen des Jahres« und ich kam unter die Top Ten. Außerdem ernannten sie mich zum Schützer des dänischen Hearing Voices Network (es hilft Menschen, die Stimmen hören) und ein Filmemacher drehte einen Film mit dem Titel Diagnosing Psychiatry (zu Deutsch frei übersetzt: Die Psychiatrie auf dem Prüfstand) über mich und meine Anliegen in Bezug auf die Psychiatrie.15

Natürlich sind die Menschen unterschiedlicher Meinung, was mich betrifft. Journalisten fragen oft, ob ich viele Feinde habe. Ja, die habe ich, aber ich habe auch Freunde, die zu den besten gehören, die man sich vorstellen kann.

In Leitlinien wird vieles beschönigt und die Risiken der empfohlenen Maßnahmen werden verharmlost. Ärzten und anderen »Weltverbesserern« fällt es sehr schwer zu akzeptieren, dass manche Maßnahmen wirkungslos sind, und es fällt ihnen noch schwerer zu akzeptieren, dass sie Patienten und Gesunden manchmal keine Empfehlungen geben können. Sie geben nicht gern zu, dass sie bisweilen überflüssig sind und nur Schaden anrichten, wenn sie behandeln – und dass es in diesem Fall am besten wäre, der Natur ihren Lauf zu lassen.

In der Antike nannte man ein ähnliches Phänomen in der bildenden Kunst horror vacui (Latein) oder Kenophobie (aus dem Griechischen). Das bedeutet »Furcht vor der Leere«. Diese führte dazu, dass die gesamte Fläche eines Raumes oder Bildes mit Details vollgestopft wurde. Heute bedeutet »Furcht vor der Leere«, dass Patienten mit Tabletten vollgestopft werden, und das führt nirgendwo zu größerer Furcht als in der Psychiatrie3 (siehe Kapitel 8). Vielleicht sollte ich erwähnen, dass ich keinen persönlichen Groll gegen die Psychiatrie hege, nie ein psychiatrisches Problem hatte und nicht in psychiatrischer Behandlung war.

Über Leitlinien und ihre Fehlbarkeit wurde schon viel geschrieben. Ich möchte hier nur zwei Beispiele geben.

Die Prostatakrebs-Vorsorgeuntersuchung

Die weit verbreitete Angst der Ärzte, »Nein« zu sagen, kann zu absurden Empfehlungen führen. Als ich psa guidelines googelte, war der erste Eintrag eine Nachrichtenmeldung bei CNBC:

»Neue Leitlinien zur Prostatakrebs-Vorsorgeuntersuchung. Die neue Empfehlung für PSA-Tests lautet: Männer im Alter von 55 bis 69 Jahren sollten ›gemeinsam mit ihrem Arzt eine individuelle Entscheidung über die Prostatakrebs-Vorsorgeuntersuchung treffen‹. Der Entwurf der Leitlinien ersetzt eine Empfehlung aus dem Jahr 2012, die vor Routinetests in jedem Alter abrät.«

So läuft es meistens. Es gibt immer mächtige Leute, die trotz eindeutiger Beweise dafür, dass eine Maßnahme unwirksam ist oder, wie in diesem Fall, mehr schadet als nützt, so lange Druck ausüben, bis sie ihren Willen durchsetzen. Wir Ärzte vergessen oft das berühmteste aller Zitate, das Hippokrates zugeschrieben wird: »Schade nicht.« Würde ich immer noch in einer Klinik praktizieren, wäre ich niemals damit einverstanden, einem Gesunden einen PSA-Test zu empfehlen. Die Häufigkeit des Prostatakrebses entspricht ungefähr dem Alter. Etwa 60 Prozent der Sechzigjährigen haben also Krebs. Alle diese Tumore zu entdecken und zu behandeln würde enormes Leid verursachen, nämlich unzählige impotente und inkontinente Männer. Da wir nicht zwischen harmlosen Tumoren – sie kommen am weitaus häufigsten vor – und gefährlichen Tumoren unterscheiden können, behandeln wir alle. Deshalb sollten wir bei Männern ohne Symptome nicht mit PSA-Tests danach suchen.

Wenn Sie psa cochrane googeln, finden sie den Cochrane-Review dazu.16 In der Zusammenfassung für Patienten steht, dass die Vorsorgeuntersuchung die prostatakrebsspezifische oder allgemeine Sterblichkeit laut einer Metaanalyse von fünf Studien nicht signifikant erhöht. Der Text warnt vor Überdiagnosen und Überbehandlungen sowie vor Schäden durch Behandlungen. Doch dann raten die Autoren der Analyse: »Männer sollten darüber und über die nachgewiesenen schädlichen Folgen informiert sein, bevor sie entscheiden, ob sie sich einer Prostatakrebs-Vorsorgeuntersuchung unterziehen.« Mir scheint, die Autoren haben in diesem Satz Bürger und Ärzte miteinander verwechselt. Männer können nicht nach Belieben einen Test verlangen. Sie können zum Beispiel nicht in ein Krankenhaus gehen und eine Computertomografie fordern. Ärzte entscheiden, ob sie einen Test auf Prostatakrebs vornehmen werden, und ihre Patienten stimmen diesem Vorschlag zu oder lehnen ihn ab. Aber Ärzte sollten überhaupt keinen solchen Test anbieten.

Hausstaubmilben und Asthma

Mitte der Neunzigerjahre beendete meine Forschungsgruppe einen großen Cochrane-Review über chemische und physikalische Maßnahmen gegen Hausstaubmilben und stellte fest, dass sie Asthmatikern nichts nützen. Wir hatten die Studien sehr sorgfältig begutachtet. Einer von uns war Lungenfacharzt und hatte mehr Studien als jeder andere durchgeführt. Ich hatte eine Doktorarbeit verteidigt, bei der es um Voreingenommenheit in Studien und um viele statistische Probleme in Metaanalysen von Studien ging. Das war ein ziemlich starkes Team. Trotzdem erklärte Paul Jones, der Redakteur der Cochrane Airways Group, er müsse völlig sicher sein, dass unsere Datenextraktion bei den einzelnen Studien korrekt sei. Er bat uns, alle Studien erneut zu prüfen. Wir mussten dafür sogar nach London reisen und im Büro der Gruppe arbeiten und uns mit der Redaktion beraten. Diese Zusatzarbeit war nichts weiter als Zeitvergeudung, weil sie an unseren Ergebnissen nichts änderte.

Dieses äußerst ungewöhnliche Verhalten verzögerte die Veröffentlichung unseres Reviews erheblich. Später erfuhr ich, dass mittlerweile in Großbritannien ein Antrag auf öffentliche Förderung in Höhe von 728 678 Pfund für eine weitere Studie genehmigt worden war, die vielen der Studien ähnelte, die wir bereits analysiert hatten, wenngleich sie viel größer war.17 Hätte unser Review bereits im Druck vorgelegen, wäre die Subvention möglicherweise nicht erteilt worden.

Unsere Befunde waren äußert unwillkommen. Nachdem wir 1998 die Druckerlaubnis für die neue Version erteilt hatten, änderte der Redakteur unsere Zusammenfassung, ohne uns vorher zu fragen, sodass sie zugunsten der Maßnahmen irreführend wurde. Wir entdeckten das zufällig und beschwerten uns. Einige Jahre später, als wir die Übersichtsarbeit um neue Studien ergänzten, änderte der Redakteur unsere Zusammenfassung erneut, wieder ohne unsere Erlaubnis. Weder bei Cochrane noch anderswo sollten Redakteure sich so verhalten. Ich freue mich darüber, dass dieser Redakteur nicht mehr für Cochrane arbeitet. Sein Ausscheiden hatte allerdings nichts mit seinem Fehlverhalten zu tun.

In der Ausgabe 1 des Jahres 1999 der Cochrane Library hatten wir in der Zusammenfassung geschrieben:

»Schlussfolgerungen: Die derzeitigen chemischen und physikalischen Methoden, die Hausstaubmilben-Allergene reduzieren sollen, sind anscheinend unwirksam und können Asthmatikern, die empfindlich auf Milben reagieren, zur Vorbeugung nicht empfohlen werden.«

In Ausgabe 2 lautete der Text:

»Schlussfolgerung der Gutachter: Es gibt nicht genügend Belege dafür, dass die derzeitigen chemischen und physikalischen Methoden, die Hausstaubmilben-Allergene reduzieren sollen, die Schwere einer Asthmaerkrankung reduzieren können. [Diese Zusammenfassung wurde zentral ausgearbeitet].«

Da wir die Gutachter waren, handelte es sich nicht um die »Schlussfolgerungen der Gutachter«. Die Worte »Es gibt nicht genügend Belege dafür« legen nahe, dass wir die Wirksamkeit der Methoden hätten nachweisen können, wenn uns genügend Belege vorgelegen hätten (zum Beispiel die große geplante britische Studie). Das war völlig irreführend. Wir hatten mit einem engen Konfidenzintervall (mehr dazu unten) nachgewiesen, dass uns eine nennenswerte Wirkung nicht entgangen wäre. Im Diskussionsteil unseres Reviews hatten wir das genau erklärt.

Wir veröffentlichten die neuste Version unseres Reviews im Jahr 2011 (das offizielle Datum war 2008, weil diese Version nur eine einzige neue Studie berücksichtigte).18 Es gibt immer noch keine Spur für eine Wirkung der Maßnahmen und die große britische Studie änderte nichts an unseren Ergebnissen.

Im Jahr 2007 hatte der Chefredakteur von Allergy es satt, dass die Fachärzte unseren Cochrane-Review regelmäßig ignorierten, wenn sie in ihren Leitlinien nutzlose Maßnahmen gegen Milben empfahlen. Deshalb bat er uns, unseren Review in seiner Zeitschrift zu veröffentlichen, was wir auch taten.19 Er war vor allem besorgt wegen der neuen Asthma-Leitlinien der US-amerikanischen National Institutes of Health.20 Ein Leitartikel in Lancet hatte sie als stichhaltig und evidenzbasiert (auf wissenschaftliche Befunde gestützt) bezeichnet, doch ich erläuterte in einem Brief an den Redakteur21 und ebenso in Allergy22, warum das falsch war, soweit es die Empfehlungen zu Hausstaubmilben betraf.