Häusermord - Anni Bürkl - E-Book

Häusermord E-Book

Anni Bürkl

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Beschreibung

Revierinspektor Nowak wird beim Frühstück auf dem Karmelitermarkt gestört. In der flirrenden Sommerhitze nimmt er die Ermittlungen in einem Mord ohne Leiche auf. Die Spur führt in ein altes, abgefucktes Miethaus, das kürzlich den Besitzer gewechselt hat. Waschmuth ist ein typischer Häuserspekulant und will vor allem eines: Viel Geld mit sanierten Wohnungen machen. Dazu kann er die langjährigen Mieter nicht gebrauchen, sie zahlen viel zu wenig Zins. Also scheut er vor nichts zurück, um sie zu vertreiben. Er hat Punks zum Wohnen eingeladen, verschlagene Typen erschrecken alte Frauen. Noch ahnt Nowak nicht, dass er seine wiedergefundene Freundin mit seinen Ermittlungen in tödliche Gefahr bringt. Kann er das Rätsel lösen, bevor ein weiterer Mord geschieht? Ein authentischer Kriminalroman vor der Kulisse der rasant wachsenden Millionenstadt Wien, die im 21. Jahrhundert aus allen Nähten platzt. Von der Autorin der erfolgreichen Salzkammergut-Krimis rund um Teelady Berenike Roither (Gmeiner Verlag). Für alle, die gern an Kottan zurückdenken ... Anni Bürkl entführt uns mit „Häusermord" in ein modernes Wien Noir, in reich bebilderter Sprache und mit hintergründigem Humor, fesselnd bis zur letzten Seite. Nowak ist für mich der Ermittler des Jahres. (Nicole Neubauer, Autorin von "Kellerkind" und "Moorfeuer")

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Inhaltsverzeichnis

Häusermord

AUTORIN

Ein Montag

im August

1

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3

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5

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9

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Donnerstag,

12. August

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18

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Freitag,

13. August

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Samstag,

14. August

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50

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Sonntag, 15. August

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Zwei Wochen später

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55

Nachwort

Weitere Romane von Anni Bürkl

Haus der Freundinnen

Das Leben wie sie es liebten

Als sie das Leben träumten

Alles was uns Hoffnung gibt

Krimis

Wolf Nowak Krimi Reihe

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From Murphy With Love.

Chili con Amore

Häusermord

Ein Fall für Wolf Nowak.

Roman

AUTORIN

Anni Bürkl lebt mit ihrem Partner und einer eigenwilligen Mords-Katzendame in Wien. Sie ist als Autorin, Lektorin (www.einbuchschreiben.at) und Schreibtrainerin tätig.

2003 wurde sie mit dem Theodor-Körner-Förderungspreis ausgezeichnet. 2010 erhielt sie das Krimi-Stipendium „Trio Mortale“ der Stadt Wiesbaden.

Anni Bürkl ist die Autorin der Krimiserie rund um die charismatische „Teelady“ Berenike Roither (im Gmeiner Verlag), von zwei historischen Krimis sowie der Romankomödie „Chili con Amore“.

www.annibuerkl.at

Alle Rechte bei:

© Anni Bürkl, Wien.

Www.annibuerkl.at

Covergestaltung:

Mascha Vassena,

6900 Lugano

www.elicadesign.ch

Personen und Handlung sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung der Autorin Anni Bürkl reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Ein Montag

im August

1

Erstaunen.

Mehr als alles Andere fühlt er Erstaunen, als das Projektil seine Brust trifft. Erstaunen darüber, wie schnell alles geht. Dass ihm die eigene Waffe so aus der Hand rutschen konnte. Dass er keine Zeit mehr hatte, sie wieder an sich zu nehmen. Erstaunen darüber, wie schnell sein Gegenüber war, viel schneller als er. Erstaunen darüber, mit der eigenen Waffe getötet zu werden. Erstaunen über die Verletzung, die ihn trifft, den Schmerz, aber vor allem, dass es ihn trifft, dass er es ist, der abtreten muss, und nicht ein anderer. Obwohl das Gesicht seines Gegenübers im Schatten liegt, kann er seine eigene Überraschung darin gespiegelt sehen. Er hat noch die Hand nach dem Anderen ausgestreckt – zu spät.

Da ist keine Angst, nur Verwunderung. Dass es jetzt geschieht und so. Jetzt, wo er sich entschieden hat und sein Herz endlich sprechen darf, wo es seinen Platz gefunden hat, sein Gegenüber, das, wo es hingehört. Jetzt, wo er bereit ist, alles für diese Liebe zu geben, jetzt, wo er nicht mehr abgelehnt wird. Wo Wärme eingezogen ist und Licht, weil er weiß, was das Richtige ist.

Der Ort verdunkelt sich. Erstaunt mustert er den Knilch, der auch von Liebe spricht, statt seinen Job zu machen. Gerade hat er ihm noch die Leviten gelesen, dass er so nicht weiter machen kann.

Und jetzt stirbt er. So hat er nie mit dem Tod gerechnet. Obwohl er ihn erwarten hätte können, hätte sollen. Er hat sich überhaupt nie mit dem Tod auseinander gesetzt, weder mit seinem eigenen noch mit dem anderer. Geblödelt hat er oft, dass der alte, graue Kasten einmal sein Ende sein würde, aber das war doch nie wörtlich gemeint. Dass der Tod ihn nun ganz wirklich trifft und auf diesen alten, schmutzig-graublauen Teppich wirft, das wirkt fremd, als würde er einem anderen bei dessen Sterben zusehen.

Ein Kinderlachen perlt von der Straße herein. Er muss an das gemeinsam ausgesuchte Himmelbett denken. Früher wollte er nie Nachkommen haben, wollte die Linie lieber beenden, nach all dem Unglück, das seine Familie getroffen hat. Doch auf einmal bedauert er diese Entscheidung. Dass nie ein Kind seine Züge und die seiner Liebe tragen wird, tut überraschend weh. Mehr als der durch die Waffe verursachte Schmerz in seiner Brust.

Ganz dunkel ist es jetzt schon um ihn. Nur noch verschwommen kann er ihre Gesichter über sich wahrnehmen, den staubigen Gestank des Teppichs. Er muss plötzlich lachen über alles, was geschehen ist. Er hätte mit allem gerechnet, nur damit nicht. Friedlich im Bett hätte er sterben sollen, dem gemeinsamen Bett, und sie beide steinalt. Sein Leben lang war er allein, hat allein für sich entschieden. Jetzt, wo er es nicht mehr ist, kommt der Tod. Auf einem Teppich, der an seiner Wange kratzt. Sein letzter Blick fällt auf ein verblasstes, fast nicht mehr erkennbares Herz im Gewebe darin.

Mittwoch,

11. August

2

Nowak

Es ist wie jede Nacht.

Da vorne in der engen, dunklen Höhle seiner Erinnerung steht sie und stirbt, stirbt tausend Tode und mit ihm sein Leben, sein ganzes Leben. Und er, er kriegt seine Füße nicht vom Boden, kriegt sie immer noch nicht vom Fleck, und die Hände nicht hinterm Rücken hervor. Die Hände, die er ausstrecken könnte, um ein Unglück zu verhindern, wenn er nur wüsste wie. Kalter Wind tobt vom offenen Fenster herein, wirbelt den verlockenden Duft des gebratenen Fleisches weg. Er wird sein Leben durcheinander wirbeln, er weiß das, und kann es trotzdem nicht verhindern. Das kann er nie. Genauso wenig, wie er etwas daran ändern kann, dass seine Liebe ihn hassen wird. Auch diese Nacht gibt es kein Entkommen. Er meint, die gestohlenen Fleischlaberl auf der Zunge zu schmecken. So steht er da und weiß nur: Fehler sind tödlich und für jeden setzt es tausend Hiebe.

Ein Schatten fiel auf Nowaks SchanigartenTisch im Café Sonne. Irgendetwas roch komisch. Der Revierinspektor schnupperte vorsichtig und zog die Hand zurück, die er nach seinem frisch servierten Cappuccino ausstrecken wollte. Etwas Viereckiges flog auf den Tisch und riss seine Tasse und den Teller mit dem Croissant mit sich. Na geh, noch nicht einmal die Hälfte davon hatte er gegessen. Klirrend fiel alles auf den Boden, der viereckige Gegenstand hinterher. Dunkelbraune Flüssigkeit schwappte über schwarzen Asphalt und weichte das Croissant ebenso auf wie den Karton der Schachtel, denn das war es, eine Pappschachtel. Der Geruch war stärker geworden. Schlimmer.

Nowak blickte hoch und blinzelte gegen die Sonne an, während sich der Geschmack des Plunderteigs an seinem Gaumen irritierend mit dem schlechten Geruch in seiner Nase mischte. Vor ihm stand mit erwartungsvollem Blick Else Molnar, die Witwe des kürzlich vor Pensionsantritt verstorbenen Installateurmeisters Siegfried Molnar. Ihr Gesicht lag im Schatten des Gegenlichts.

„Frau Molnar! Was haben Sie denn heute für mich?“ Nowak schnupperte immer noch in die Luft, um zu eruieren, woher der Gestank kam. War etwas mit dem Kanal? Für alles war Geld da, nur dafür offenbar nicht. Sein Magen revoltierte und auch Else Molnar verzog das Gesicht.

Die Witwe verfolgte Nowak, seit er zurück ins Karmeliterviertel gezogen war. Einmal hatte sie einen garantiert zuverlässigen Hinweis auf den Verursacher eines Verbrechens, das gar keines war. Dann wiederum kam sie mit einer Zeugenaussage, die näherem polizeilichen Nachfragen kein bisschen standhielt. Immer waren es angebliche Tipps, irgendetwas, das ihm seinen Job bei der Mordkommission erleichtern und Licht in die täglich mehr werdenden Verbrechen bringen sollte. Das Gegenteil war der Fall. Die Kollegen lachten schon über ihn und seine sogenannte 'Assistentin'.

Auch heute hatte er allein frühstücken wollen, wie immer. Ein Cappuccino passte genau zwischen Aufstehen und Dienstbeginn. Und wie jeden Tag tat er dies außer Haus. Aus Prinzip. In seiner Wohnung fand sich nichts, das einer Frühstückszeremonie würdig gewesen wäre. Weder der Platz noch die nötigen Utensilien. Und schon gar nicht ein anderer Mensch, mit dem er es sich hätte gemütlich machen können. Dann lieber wie die Italiener einen schnellen Kaffee und ein Croissant. Zum Glück gab es Sabrinas Café. Die Stadt war bunt geworden, seit Nowak sie Hals über Kopf verlassen hatte, ziemlich bunt sogar und das war gut so. So kam er zu seinem Cappuccino statt des wässrigen Gschladers, das sie hier Mélange nannten und das er einfach nicht runter brachte.

Sabrina sagte gerade einer der vielen Bobo-Mamis lautstark, dass sie ihren Porsche-Kinderwagen, bitteschön, nicht vor dem Eingang des Cafés parken sollte, damit auch andere Gäste eintreten konnten. Von einem Lokal gegenüber wurde der Disput von einer jungen Frau in Schlabberhosen und seltsamer Frisur beobachtet. Eine der Frauen, die wirkten, als würden sie die Kellnerinnen auf einer Bühne nur darstellen. Bei Sabrina fühlte sich Nowak fast so frei wie früher, während all der Jahre on the road, als er nie lange am selben Ort geblieben war. Wenigstens etwas war geblieben, wenn schon sonst überall Veränderung lauerte. Die Fassade des Marktachterls lag dunkel im Schatten, es hatte seine Neuübernahme nicht überlebt, die dritte in wenigen Monaten. Und auch der Kebab-König war Geschichte. Nur der Pferdefleischer hielt noch aus, aber wie lange noch? Ein Grüppchen englisch sprechender junger Leute ganz in Schwarz, offensichtlich übernachtig und ebenso offensichtlich überdreht, stieß mit Tassen und Schnapsgläsern an. Hätte er auch so gemacht, vor gar nicht so langer Zeit. Konnte nur er den Geruch wahrnehmen?

Ein Straßenkehrer näherte sich und wollte mit seinem Besen die Bescherung vor Nowak aufkehren. Rasch hielt Nowak ihn davon ab. Zumindest ansehen musste er sich Elses Schachtel, wahrscheinlich war eh nix. Vorsichtig lüpfte er den Deckel.

Oh.

Der üble Gestank wurde umwerfend. Nowaks Magen revoltierte. Er schluckte. Ein abgetrennter Arm, das war dann doch was Anderes als Elses sonstige Funde. Männerarm, stellte Nowaks professionelles Ich fest. Die Wunde war dunkelbraun, das Blut getrocknet.

Gerade hatte er die Teufel seiner nächtlichen Träume zurück in die düstere Hölle verbannt, in die sie gehörten, da schlichen sie sich hinterrücks wieder an. Er zwang sich zu einem verbindlichen Lächeln, verscheuchte den Straßenkehrer und blinzelte zur Witwe mit ihrer auftoupierten Frisur auf. „Wo haben Sie das her, Frau Molnar?“

Nowak lehnte sich vor, sodass er sein Oberkörper den Karton vor neugierigen Blicken abschirmte. Vorsichtig hob er ihn auf den Tisch, bevor noch jemand was davon mitbekam. Seine Fingerabdrücke waren ja eh bekannt. Der Karton gab an der Unterseite etwas nach, Blut hatte ihn fast durchgeweicht.

„Gibte es was Neues, Wolf?“ Sabrina war im Türrahmen aufgetaucht. Die großen Glasscheiben der Pizzeria nebenan, die den Branntweiner ersetzt hatte, lagen schwarz im Sonnenlicht. Wo seine Mutter jetzt wohl ihren Bedarf deckte …?

Sabrina kam näher und stemmte die Arme in die Hüften. Sie schaute zu ihm, zu Frau Molnar, dann auf das Objekt auf seinem Tisch und die davon ausgelöste Bescherung. „Na ohje. Wasse iste geschehen, Wolf?“, fragte sie mit großen, aber nicht besonderes erschreckten Augen. „Es riechte schlecht.“

Eine Passantin schob gerade einen kleinen Buben vorbei. „Er ist im Bus geschubst worden, absichtlich!“, beschwerte sie sich bei ihrer Begleiterin, „deshalb kann ich ihn nicht mehr allein zur Schule gehen lassen.“

„Ein schauerlicher Mord!“, flüsterte Else Molnar und rollte übertrieben mit den Augäpfeln, dabei wedelte sie vor ihrer Nase herum.

„Wir werden das alles aufklären“, sagte Nowak. „Wo haben Sie den Arm gefunden?“

„Am Dachboden in meinem Wohnhaus.“

„Und wie?“

„Was, wie?“

„War er schon in der Schachtel? Oder haben Sie das, äh, Fundstück da rein getan?“

„Ich? Ich bitte dich, ich würd das nicht anfassen, Wolferl.“

Wolferl.

Er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. „Also haben Sie ihn so, wie er ist, in der Schachtel gefunden?“

Frau Molnar nickte. Sie sah etwas bleich aus.

„Was für eine Gestanke!“, schimpfte Sabrina. „Auf jeden Fall ihr alle brauchte frische Kaffè. Kommte sofort.“ Sie verschwand schwungvoll nach drinnen, kam mit Besen und Schaufel zurück, kehrte ruckzuck die Scherben vom schwarzen Asphalt auf, sodass nur mehr eine dunkle Lache übrig blieb, und ging wieder hinein. Gleich darauf erklang das beruhigende Mahlen der Kaffeebohnen und das Aufstöhnen der Espressomaschine.

„Also, Frau Molnar?“, fragte Nowak. „Wollen Sie sich setzen?“ Er wischte mit einer Hand über den freien Klappsessel, der zum Glück sauber geblieben war. Sein Blick wanderte über die Schachtel, ohne sie zu berühren, dann zu Frau Molnar.

„Wolferl, ach Wolferl“, seufzte die Witwe und nahm Platz.

Schon wieder. Er zuckte immer noch jedes Mal zusammen, wenn ihn jemand so nannte, hörte wieder das Echo einer anderen Stimme, die ihn bei diesem Namen nannte. Doch auch heute schaffte er es nicht, die Witwe zu bitten, damit aufzuhören.

„Wolferl.“ Sie fasste sich mit einer Hand an die beeindruckend breite Goldkette an ihrem Hals. Ein Sonnenstrahl fing sich darin und blendete Nowak einen Moment lang. Ein Installateurbetrieb war eben eine Goldgrube, auf einen Installateur waren die Menschen angewiesen, wollten sie nicht ohne Toiletten, Heizung oder Fließwasser leben. „Du kennst mich.“

Oh ja. Und wie.

„Ich sauge mir nichts aus den Fingern.“

Das wäre noch zu diskutieren …

„Das hier ist Tatsache. Es muss ein Verbrechen geschehen sein.“ Else Molnar fuhr mit einem Finger auf den Karton zu, und stoppte, ehe sie ihn berührt hatte. „Der kalte Hauch des Todes weht mich an, ich spüre es.“

„Eine Scherze?“

Nowak zuckte zusammen. Nicht nur sein Frühstück war hinüber!

Sabrina war lautlos heran gekommen und stellte eine frische Schale Cappuccino vor Nowak hin, duftend und mit ein wenig Kakao bestreut, wie er ihn am liebsten trank. Gegenüber ratterte sich ein Baukran in Schwung. Vor dem Schanigarten schrien ein paar dunkelhäutige Kinder in einer fremden Sprache.

„Schleichts eich“, schimpfte ein vorbei schlurfender alter Mann in einem abgewetzten ehemals blauen Mantel, einen schmierigen Einkaufswagen zog er hinter sich her. „Gsindl, Gfrasta! Früher hätt ma eich vergast.“

Nicht schon wieder!

„Moment, was haben Sie da gesagt?“ Nowak sprang auf, holte den Alten mühelos ein und legte ihm eine Hand auf die Schulter.

„Wie? Wer? Ich?“ Ein faltiges Gesicht wandte sich Nowak zu, ein debiles Grinsen auf den Lippen.

„Sie schon wieder! Das mit dem Vergasen, was war das?“

„Aber gehn'S, Herr Inspekta! I hob's do net so g'mant.“

„So wie immer, was? Dann denken'S in Hinkunft besser drüber nach, was Sie meinen. Haben wir uns verstanden?“

Der Alte nickte. Nowak ließ ihn los und kehrte an seinen Tisch zurück. Bei solchen Leuten war Hopfen und Malz verloren, er wusste es, aber er konnte nicht anders. Seufzend setzte er sich wieder in den Schatten, der Gestank waberte immer noch herum. Else sah ihn stirnrunzelnd an, kommentierte die Sache aber nicht.

Nowak wandte sich wieder dem Karton zu. „Schaut leider echt aus, Frau Molnar. Sie haben die Schachtel hoffentlich nur außen berührt?“

Ihr düsterer Blick sagte ihm, dass das Gegenteil der Fall war. Nowak nickte resigniert. „Dann werden die Kollegen nachher Ihre Fingerabdrücke nehmen, um sie zu vergleichen. - Sabrina? Hast du Einweg-Handschuhe in deiner Küche? Und Plastikfolie?“

„Für diche alles, Wolf.“ Sabrina eilte hinein, kam mit einer kleinen Schachtel und einer Rolle durchsichtiger Folie zurück und gab sie Nowak. „Schaue, dasse das wegkommt. Schnell, bevore meine Gäste davone renne!“

Nowak nickte.

Sabrina wandte sich nach einem letzten Blick den anderen Gästen zu. Vor dem Pferdefleischhauer hockten die ersten Säufer des Tages, die offenbar von Elses Fund nichts mitbekamen. Gut so.

Nowak zog sich die Gummidinger über die Hände und lupfte Elses Fund näher heran, dann packte er es in die Folie. Endlich ließ die Geruchsbelästigung nach. „Also, wie haben Sie das Paket gefunden, Frau Molnar?“

„Dach.“ Else hustete.

Abwartend sah Nowak sie an.

„Auf der Dachbaustelle unseres Hauses. Du weißt ja, wo ich wohne.“

Natürlich. Und wie er das wusste. Zwei Häuser links davon stand das Haus mit der dunkelgrauen Fassade, in dem er seine ersten Lebensjahre verbracht hatte, rechts davon in dem niedrigen Gebäude hatte die Frau Fürsorgerin ihr finsteres Büro gehabt. Und an der Straßenecke befand sich der Bau, an den er jetzt am allerwenigsten denken wollte. Lieber auf diesen Fall hier konzentrieren.

„Das ganze Haus ist Chaos“, jammerte Else, „überall Dreck, offene Löcher im Boden, in die man gerade als älterer Mensch leicht stürzen kann, und wer hilft einem dann? In den Mauern sind Risse, durch die man das Bett der Nachbarn sehen kann und sicher auch, was die darin treiben, und … naja, was nicht noch alles.“

Er nickte. Die ganze früher räudige Gegend wurde seit Nowaks Rückkehr nach Wien auf Hochglanz renoviert. Rund um den Karmelitermarkt hatte der Hype angefangen. Die Leute aus Nowaks Kindheit hätten darüber gelacht, dass heute alle in dieses In-Viertel ziehen wollten und dafür fast jeden Preis zu zahlen bereit waren. Früher hatten sich die besoffenen Hackler mit den damals noch gesamt-jugoslawischen oder türkischen Gastarbeitern geprügelt, die in den verkommenen Hinterhöfen ganze Schafe grillten. Der verwegene Fotokünstler ein paar Gassen weiter hatte das alles im Bild festgehalten und Nowaks Mutter ständig erzählt, wie originell es sei. Zumindest war das so gewesen, bis sie Nowak ins Heim abgeschoben hatten. Heute erinnerte kaum noch etwas an die Zustände von damals. Stattdessen atmete Nowak den Staub der unzähligen Baustellen, hörte Maschinen aufheulen und das Geschrei slowakischer oder ungarischer Hilfsarbeiter auf den Baugerüsten. Die Fassaden waren kaum noch grau, sondern grellviolett, orange oder, wenn man Glück hatte, etwas dezenter hellblau oder gelb. Hier hatte alles angefangen, sein Leben und der ganze Rest. Seit er zurück war, ging Nowak die Spuren ab, die altvertrauten dunklen Ecken. Um Antworten auf das zu finden, was ihn umtrieb, so lange er sie noch bekommen konnte. Da war das Schwimmbad, in dessen Becken mit den dunkelblauen Fliesen er fast ersoffen wäre, weil seine Mutter lieber auf auf ihren Doppler Rot geachtet hatte als auf ihren Sohn. Das Bad war geschlossen, nur eine vor sich hin bröckelnde Betonruine stand noch da, Pflanzen schossen zwischen den Ritzen hervor. Die Geisterbahn im Prater war ihm im Vergleich zu seinem Leben harmlos vorgekommen, wenn er bei seinen seltenen Besuchen zuhause von seiner Mutter dort hingeführt geführt worden war. Er hatte sich immer gefragt, warum sich die Leute davor gruselten, er hätte anderes gewusst. Doch darüber sprach er nicht – nie.

„Sie haben die Schachtel also in Ihrem Wohnhaus gefunden?“, fragte er Else und schob seine Erinnerungen einmal mehr zur Seite.

„Ja. Irgendwer muss nach dem Rechten sehen, nicht wahr?“

Nowak nickte abwartend.

„Macht außer mir keiner. Ich bin auf den Dachboden gestiegen. Das tue ich jeden Morgen. Wer weiß, was alles passieren kann, man liest so viel.“

„Und wie sah es dort aus?“

„Wie eine Baustelle eben. Man hat einen wunderbaren Ausblick über Wien. Muss schön sein, so hoch oben zu wohnen. Ist halt nicht jedem vergönnt. Aber wo war ich stehen geblieben?“

„Wie es oben aussieht.“

„Ach so, ja. Der Boden ist bereits betoniert, jetzt werden da so riesige Trambalken weggebracht. Alte, angeschwärzte Holzbalken. Gruslig. Vermutlich noch aus dem Krieg.“ Else schüttelte sich. „Und dort habe ich die Schachtel gefunden. Meinst du, dieser Arm ist ebenso alt, Wolferl? Stammt er von damals? Stinken tut er ja genug.“

Nowak zog die Schachtel vorsichtig noch näher heran. „Glaube ich kaum, das wäre verwest in all den Jahrzehnten. Und der Karton wirkt eigentlich auch fast neu. Genauer wird das die Gerichtsmedizin sagen können.“

Nowak starrte die dunklere, fleischige Stelle an, wo der Arm in die Schulter übergegangen war. Die Wunde sah ziemlich zerfetzt aus, der Knochen gesplittert. Nowak musste an eine andere Wunde denken, an einen anderen Menschen. Und an den Duft frischer Hamburger, von denen er nichts gegessen hatte.

Nicht jetzt! Konzentrier dich! Mach nicht wieder einen Fehler!

Er kniff die Augen zusammen: Auf den ersten Blick sah die Wunde nicht aus, als hätte sie stark geblutet, ganz so, als wäre der Arm erst nach dem Tod vom Körper abgetrennt worden. Ein Unfallopfer? Auf einer Baustelle konnte alles Mögliche geschehen, nicht erst einmal war ein Schwarzarbeiter auf der Flucht vor Kontrolloren tödlich verunglückt. Schlampig ging es auf dem Bau sowieso zu. Allerdings hätte die Wunde dann sehr wohl geblutet. Oder handelte es sich um eine Drogenleiche, deren überlebende Freunde Angst bekommen hatten, nachdem sich einer von ihnen den Goldenen Schuss gesetzt hatte?

Nowak sah sich den Arm genauer an. Er war nackt, die Haut blass, totenblass. Dichte, schwarze Härchen ringelten sich auf dem Unterarm. Womöglich ein Südeuropäer. Einstichstellen wie bei Giftlern waren auf dem Arm aber keine zu entdecken, auch keine vernarbten Venen. Überhaupt sah die Haut gepflegt aus, die Finger schmal, fast elegant, die Fingernägel waren sauber. Keine Schwielen. Keine rissige Haut. Überhaupt kein Dreck. Also vermutlich ein Büromensch, keiner, der mit seinen Händen schwere Arbeit verrichtete.

Auf einem Finger saß ein dicker Goldring mit Siegel, das eine Zickzack-Linie darstellte. Ein Symbol? Oder ein Buchstabe? Ein M? Ein W? Das passte auch nicht zu einer Drogenleiche. Jeder Junkie hätte das Schmuckstück mit gierigen Fingern an sich gebracht und zu Geld für frischen Stoff gemacht.

Außerdem gab es keine Spur eines Kleidungsstücks. Vielleicht würde die Spurensicherung noch Fasern finden. Wo war der größere Rest der Leiche? Ja, dass der Besitzer des Arms hinüber war, dessen war sich Nowak so gut wie sicher. Nur: Wer war hier verstorben? Und wie und warum?

Nowak sah Else Molnar an, ihre auftoupierte Frisur lag im Gegenlicht. „Ist Ihnen auf der Baustelle noch was aufgefallen?“

„Ich“, Else hustete, „ich weiß nicht. Ich bin so erschrocken, dass ich die Schachtel gepackt hab und von da oben runter geflüchtet bin, so schnell ich konnte. Daheim hab ich mir schnell ein Stamperl eingegossen und dann bin ich schon hierher zu dir gelaufen.“

„Sind Ihnen irgendwelche untypischen Geräusche aufgefallen? Schreie vielleicht?“

„Schreie?“

„Schreie wie bei einem Unfall zum Beispiel?“ Nowak starrte den frischen Cappuccino an, dessen Häubchen schon in sich zusammen sank.

„Aufgefallen ist mir nichts.“ Else runzelte die faltige Stirn. „Also, glaube ich zumindest. Lass mich nachdenken.“ Dann schüttelte sie den Kopf.

„Vermissen Sie jemanden?“

„Ach, du denkst also wirklich, Wolferl …!“ Else schlug sich die Hand vor den Mund. „Nun, mein Nachbar Herr Bauer ist weg, der alte Saubär, und die Frau Mayerhofer und dann auch diese junge Familie ...“

„So viele?“ Nowak runzelte die Stirn.

„Alle ausgezogen. Wegen der Schikanen und den ganzen Problemen im Haus. Die Familie hätte einen Lift gebraucht für den Kinderwagen, der alte Herr Bauer auch … “

„Achso. Das meinte ich nicht.“ Nowak seufzte.

„Entschuldige, das war dumm und gedankenlos von mir.“

„Also ist niemand abgängig?“

„Glaube nicht.“

„Na, dann zeigen Sie mir halt in drei Teufels Namen den Fundort, Frau Molnar! - Sabrina, darf ich anschreiben?“

„Natürlich, Wolf. Ich musse mit dir sowieso reden. Unter viere Augen, bitte.“

„Machen wir. Machen wir alles.“ Er stand auf, womit er mitten im jetzt schon zu grellen Sonnenlicht stand. „Gut, Frau Molnar, gemma's an. Ich ruf erst einmal die Kollegen.“

Nowak telefonierte mit dem Journaldienst. Sie versprachen, eine Streife zu schicken. Nowak gab die Adresse durch.

„Sollen wir die Spurensicherung auch gleich informieren?“

„Danke, aber das mach ich selbst.“ Nowak grüßte und legte auf.

„Der Arm kommt mir aber doch irgendwie bekannt vor“, sagte Else Molnar, nachdem er sein Telefonat beendet hatte.

„Ja, Frau Molnar?“, fragte Nowak hoffnungsvoll.

„Aber ich weiß nicht woher. Leider, Wolferl.“

3

Nowak

„Gut, dass du wieder hier bist, Wolferl“, sagte Else Molnar, während sie in der grellen Sonne neben ihm her ging, nicht besonders schnell, dafür zielstrebig. Sie konnte nicht viel älter sein als seine Mutter, so um die 70, benahm sich aber, als wäre sie mindestens 80. Nowak trug den in Plastik eingewickelten Karton unter dem Arm. Der Gestank war einigermaßen gebannt. Endlich erreichten sie den Schatten entlang der Hausmauern.

Wieder hatte er das Gefühl, dass ihm die Gespenster seiner Nächte folgten. Doch als er sich umdrehte, waren es nur ein paar Touristen, die vor der geschlossenen Bankfiliale aus einem Sightseeing-Bus quollen und ein wenig ratlos den wochentags fast leeren Markt betrachteten.

„Ich kenne dich schon, da warst du noch so klein.“ Else Molnar zeigte mit der Hand, wie klein ungefähr, fast noch ein Baby. Ein ungewolltes Baby, aber das wusste Frau Molnar vermutlich nicht. „Wie geht es übrigens deiner Mutter?“

„Dem Alter entsprechend, Sie kennen sie ja“, wich er aus. „Ich seh sie nicht so oft.“

„Das denke ich mir, nach allem, was passiert ist.“ Else nickte bekräftigend. „Ich treffe sie manchmal beim Doktor Matzka.“ Sie selbst blieb im Sonnenlicht stehen und sah Nowak prüfend an. „Trinkt sie immer noch so viel?“

„Weiß nicht.“

„Mir ist zu Ohren gekommen, sie benimmt sich ein wenig sonderbar. Fast, als wär sie verwirrt.“ Jetzt war Elses Blick fragend. „Hoffentlich zündet sie nicht einmal das Haus an, es steht so nah an unserem.“

„Hm, hm“, brummelte Nowak.

„War nicht schön, wie sie mit dir umgegangen ist, Wolferl. Aber du hältst das deiner Mutter doch nicht immer noch vor, oder?“ Sie setzte sich wieder in Bewegung.

Nowak schob sich weiter in den Schatten und zuckte die Achseln, er wusste es ja selbst nicht.

„Ach“, seufzte Else Molnar, während ihr Körper einen länglichen Schatten auf die Straße zeichnete, „was muss die Welt so schlecht sein? Deine Mutter hätte wirklich eine andere Lösung finden sollen, als dich ins Heim zu stecken. Ewig schad um deinen Vater, er ist mit ihr nicht glücklich geworden.“

Nicht wieder diese alte Leier! Wie Else Molnar seinen Vater immer angeglotzt hatte, als möcht sie sich vor ihm ausziehen. Als wär der mit Else glücklicher geworden, oder Else mit ihm. Als ob hier überhaupt irgendjemand glücklich war. Naja, Sabrina vielleicht.

„Vorsicht, Hundehaufen!“, unterbrach er Else barsch.

„Danke“, murmelte die Installateurswitwe und dann hatten sie endlich das alte Barockhaus erreicht, dessen Fassade komplett eingerüstet war. Dahinter war die Verwahrlosung der Mauern zu erkennen, Verputz bröckelte an mehr Stellen ab, als er intakt war. An der Grenze zum Nachbarhaus waren Ziegel heraus gebrochen, ganze Mauerteile fehlten, Risse zogen sich über die Fassade. Das breite, zweiflügelige Haustor stand weit offen, dahinter klaffte ein Loch im Boden, das mit Holzplanken notdürftig überbrückt wurde. Am linken Rand des Gebäudes befand sich eine weitere Tür, darüber hing noch die alte, geschwungene Aufschrift: 'Fleisch-Wurst Trnksak'. Einer dieser typisch wienerischen Namen, die eigentlich böhmisch und schwer auszusprechen waren. Die braun gekachelten Wände zierten Graffiti. FLEISCH BLEIBT stand in roten Lettern da, daneben waren Herzchen gemalt worden und eine Sonne, die verliebt guckte. Ein paar der Fensterstöcke in den oberen Stockwerken waren in allen Regenbogenfarben angemalt, aus einem wehte ein biederer Blümchenvorhang. Über allem schwebte eine Wolke aus Baustaub. Nowak warf einen Blick auf das Nachbarhaus, vom Büro der Fürsorgerin gab es keine Spur mehr.

„Wer wohnt überhaupt noch in dem alten Kasten?“, fragte er und betrachtete die Baustellenausschilderung. BETRETEN VERBOTEN prangte in riesigen Lettern neben dem Haustor, darunter standen Warnhinweise wie „Auf dieser Baustelle ist das Tragen eines Helms verpflichtend“. Vor Nowaks innerem Auge tauchte das Bild eines auf Elses toupierten Haaren thronenden knallgelben Helms auf.

„Nicht allzu viele Mieter von früher sind geblieben“, bedauerte Else Molnar. „Aber tu mir den Gefallen, und nenn das Haus nicht alter Kasten. Es ist alt, aber es ist eine Schönheit. Eine in die Jahre gekommene Schönheit, aber immer noch eine Schönheit. Wir waren ein ehrenwertes Haus, weißt du.“

Nowak nickte. Wie bei Udo Jürgens, klar.

„Die Baronin Beata in der Beletage kennst du vielleicht noch?“, fuhr Else fort.

„Ich kann mich vage an sie erinnern. Schimpft sie immer noch alle Kinder?“

„Wie du dir alles merkst, Wolferl.“

Jetzt zuckte er nicht einmal mehr zusammen. „Die Kinder der sogenannten besseren Leut' hat sie in Frieden gelassen.“

„Das weiß ich nicht. Außer ihr wohnt noch Marcus Hammer da, ein Zuckerbäcker, er arbeitet in der Konditorei Süß. Seine Torten sind ein Traum. Die Esterhazy musst du probieren, Wolferl. Die zergeht dir auf der Zunge. Manchmal hat er in seiner Wohnung Besuch von so einem Dunkelhaarigen, der niemandem in die Augen schaut. Unheimlich ist der. Na, und dann wohn natürlich ich noch da.“

„Viele sind das nicht. Was ist mit den anderen Wohnungen?“

„Die meisten stehen leer, manche seit Jahren. In ein paar hausen halt die Wilden.“

„Ahso? Wen meinst du? Sandler?“

Else Molnar zeigte auf die Graffiti. „Der Fleischer Trnksak ist in Pension gegangen, aber einen Nachfolger hat es nicht gegeben. Überall ein Niedergang, weißt eh. Die Kleinen haben keine Chance mehr.“

Er nickte.

„Jetzt ist es schlimm hier, ganz schlimm, sage ich dir.“

„Wie soll ich das verstehen?“, fragte Nowak, während weitere Erinnerungsbilder in ihm auftauchten. Wie er als Kind einkaufen geschickt worden war, weil die Mutter dazu nicht in der Lage war. Das 'Kater-Essen' hatte er für sie besorgen müssen, Kutteln, immer wieder Kutteln, er ekelte sich heute noch davor. Der Fleischermeister Trnksak hatte ihn immer mitleidig angeschaut. Und dann musste Nowak beim Tschecherl drüben am Markt Nachschub holen für den Abend. Die haben ihn gekannt und ihm auch als Kind Alkohol gegeben, wie verlangt. Gab ja noch keinen Jugendschutz damals, der den Namen verdient hätte. Und seiner Erinnerung nach hatte es dabei immer geregnet. Immer.

„Ist das Gebäude besetzt?“, fragte Nowak und legte den Kopf in den Nacken. Von ganz oben wehte ein Transparent herab, FLEISCH BLEIBT stand darauf.

„Keine Ahnung.“ Else Molnar schüttelte sich. „Sie führen sich furchtbar auf.“

„Was tun sie denn?“, fragte er und verkniff sich einen Kommentar. Wenn Else Molnar wüßte, wo er sich überall herum getrieben hatte, während seiner Flucht, bevor er Polizist geworden war. Wie er sich durchgeschlagen hatte im wilden Kreuzberg und in besetzten Häusern in Genua, bei Huren und autonomen Tierschützern, wer weiß, ob Else den abgetrennten Arm nicht wieder schnappen und einen ehrwürdigeren Ermittler suchen würde. Vielleicht würde sie Nowak sogar am liebsten selbst verhaften lassen.

„Sie sind laut, sie trinken und sonst noch so einiges.“ Else prüfte mit einer Hand den Sitz ihrer Dauerwelle. Wenn er tief einatmete, konnte er den Allwetter-Taft riechen. Noch mehr Erinnerungen strömten auf ihn ein. Eine andere Dauerwelle, die ständig durcheinandergerät, ein anderer Geruch. Der von Erbrochenem.

„Du siehst ja, was sich hier abspielt, Wolferl. Ein Dachausbau nach dem anderen, wenn das mein Siegfried noch erlebt hätte ...“

… hätte er gut daran verdient. Elses Gatte war ein wahres Genie im Geschäftemachen gewesen, gleichgültig, mit wem. Hauptsache Geld.

„Zumindest haben wir verhindert, dass das gegenüberliegende Haus noch höher aufgestockt wird. Dann wär unseres ganz im Schatten gelegen und wir hätten den Blick auf den Steffl verloren, stell dir vor. Jedenfalls wird hier überall auf Teufel komm raus verbessert, vergrößert, zusammengelegt. Eine Baustellenhölle.“

Nowak nickte. „Aufwerten nennen sie das.“

„Als hätt einer von uns was vom steigenden Wert der Immobilie“, fauchte Else. „Und früher war nicht alles schlecht. Wir sind auch zurechtgekommen ohne Lift, auch mit den Kindern. Jetzt soll es einen Aufzug geben, falls ich dessen Einweihung noch erlebe, heißt es.“ Else grinste schief.

„Na, Sie sind doch noch jung und fit“, erwiderte Nowak höflich.

„Danke.“ Sie grinste geschmeichelt, wurde dann ernst und seufzte. „Unser Herr Waschmuth ist halt kein Wohltäter der Armen. Der würde uns alte Garde lieber heut also morgen loswerden. Der ist nicht wie der alte Hausherr, der war lieb und sehr bemüht, die ganze Familie habe ich gekannt.“

„Der Böckl? Der hat seine Frau und die Kinder so tyrannisiert, dass sich keiner von ihnen aufzumucken getraut hat. Daran kann sogar ich mich erinnern.“

Else zuckte die Achseln. „Zu den Mietern war er ein sehr feiner Mensch. Na, jetzt liegt er am Stammersdorfer Friedhof draußen, und seine Erben haben alles verkauft. Das Haus hat mehrmals den Besitzer gewechselt. So macht man heute Kohle. Neu vermieten, das bringt mehr Geld als bei uns Alten. Ist halt heut alles anders.“

„Es ist nicht mehr wie früher, stimmt.“ Nowak hatte selbst lange suchen müssen, bis er eine bezahlbare Wohnung gefunden hatte, gleich hier ums Eck. Erst neulich hatte er in der Zeitung gelesen, dass sich die Eigentümerstruktur der Wiener Zinshäuser komplett geändert hatte. Waren es vor 20 Jahren noch vorwiegend Familien gewesen, die eine oder zwei Handvoll Häuser besaßen, gehörten die meisten Gebäude heute wenigen großen Immobilienfirmen.

„Jedenfalls ist Waschmuth knallhart, der will das Maximum an Profit raus holen. Der hat keine Hemmungen, Wolferl. Der will, dass wir alle verschwinden.“ Die Witwe rollte wissend mit den Augen. „Einmal hat er mich fast zu Tode erschreckt. Also ich glaube zumindest, dass er das war.“

„Verstehe.“

„Das glaub ich kaum. Du wirst gleich sehen, wie es bei uns zugeht.“ Vertraulich beugte sich Else zu Nowak. „Das läuft hier wie bei der Mafia. Lauter dunkle Gestalten.“

„Sie sehen zu viel fern, Else.“ Nowak packte das Paket mit dem Arm fester. „Gut, dann gehen wir's an. Wann sind Sie nach oben gegangen?“, fragte er und tastete gleichzeitig mit der anderen Hand nach seinem Mobiltelefon in der Hosentasche.

„So kurz vor sechs etwa, wie jeden Tag. Ich geh hinauf, bevor die Arbeiter anfangen. Als ich das, ähm, Fundstück gefunden habe, hab ich überlegt, ob's echt ist oder, naja, a Scherzerl. Und dann bin ich los. Ich weiß, dass du gern bei Sabrina im Cafe hockst.“

„Soso, das wissen Sie also auch.“

Wohnte er wirklich erst so kurz hier beim Karmelitermarkt? Alles war, als wäre er nie von hier weggebracht worden.

Für einen Moment spürte er die Hilflosigkeit von damals in sich aufsteigen, als wär er wieder neun Jahre alt und dem Geschehen ausgeliefert, ohne sich wehren zu können. Es ist zu deinem Besten, meinte er die kratzige Stimme der Frau Fürsorgerin zu hören, die ihn im grauen Novembernieselregen von daheim wegholte, nur ein paar Schritte weit. Auf einmal war ein altes Haus voller Kinder sein Daheim, mit Gittern vor den Fenstern, die Gänge mit grellem Neonlicht bis in den letzten Winkel ausgeleuchtet. Er wusste noch, wie sein Magen gegen das ungenießbare, verbrannte Grießkoch angeknurrt hatte. Später dann dieses Schloss, an das er nie wieder denken hatte wollen. Fremde Erzieher befehligten über sein Leben rund um die Uhr, seine Mutter sah er nur mehr selten, den Vater gar nicht.

Er schob die Bilder der Erinnerung mit aller Macht weg. Heute entschied er und nur er allein, was zu seinem Besten war, niemand sonst. Und was er essen wollte, das schon überhaupt.

Else Molnar zuckte mit den Schultern. „Mach dir nichts draus, Wolferl, so ist das in meinem Alter. Außer Ärzten treffe ich doch kaum wen. Ich lerne keine neuen Leute mehr kennen. Der Mann ist tot, die Firma gehört dem Sohn, der braucht mich nicht, was soll ich den lieben langen Tag tun? Ich freu mich, wenn ich wen seh, den ich von früher kenn und ein bissl ratschen kann.“

„Das tut mir leid“, nuschelte er und drückte auf den Handytasten herum, auf der Suche nach der Nummer für die Tatortgruppe. Hatte er sie unter dieser Bezeichnung eingespeichert? Oder unter Bernadettes Namen, mit der er fast immer zu tun hatte? Ihm war, als hätten sich die Schatten auf sein Hirn gelegt.

„Braucht es dir nicht“, sagte Else, „und jetzt mach mir die Freud und tu nicht länger so, als würdest mich nicht kennen. Sag Else und du zu mir, in Ordnung? Bist doch hier aufgewachsen, bist einer von uns, Wolferl, trotz allem.“

Eine stille Pause entstand. So musste sich der Tod anfühlen. Nur dass einem dann hoffentlich nichts mehr weh tat.

---ENDE DER LESEPROBE---