Herzenssache und Gottesmut - Michael Kuch - E-Book

Herzenssache und Gottesmut E-Book

Michael Kuch

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Beschreibung

»Luthers Frage, was es mit dem Menschsein auf sich hat, ist auch unsere.« (Michael Kuch)

Ich muss nichts tun - Gott ist immer schon an meiner Seite. Wie fand Luther in dieses Grundvertrauen und was bedeutete es? Michael Kuch erschließt auf unnachahmliche Weise, was eigentlich das Besondere am Glauben des Reformators ist. Und diese Erfahrung ist nicht von Gestern. Luther erlebte eine Befreiung, wie sie Menschen immer schon ersehnt haben und heute noch ersehnen. Er ist ein Zeitgenosse der spirituell Suchenden!

  • Luther als Zeitgenossen entdecken
  • Den Kern evangelischer Frömmigkeit wiederfinden
  • Mit Luther Lust und Liebe zum Leben entdecken
  • Antworten auf die existenzielle Grundangst der Gegenwart

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Seitenzahl: 272

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Michael Kuch

Herzenssache und Gottesmut

Martin Luther und das

Lebensgefühl des Glaubens

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar.

Copyright © 2017 Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

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Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

Umschlaggestaltung: Gute Botschafter GmbH, Haltern am See

Umschlagmotiv: Martin Luther, Porträt Lucas Cranach, 1529, © der Vorlage: Everett Historical/Shutterstock.com

ISBN 978-3-641-19211-2V001

www.gtvh.de

Konrad Stockin Dankbarkeit

VORWORT

Herz und Gott – für Martin Luther gehört das unmittelbar zusammen. Denn was den Menschen im Herzen bewegt, bringt ihn immer mit dem in Berührung, was sein Leben gründet, trägt und erfüllt. Und was das letztlich und in Wahrheit sein kann – das ist Gott.

Dieser Zusammenhang, so scheint mir, steht im Zentrum von Luthers Theologie. Wer sich auf sie einlässt, bekommt es mit sich selbst und darin zugleich mit Gott zu tun. Das eine ist hier ohne das andere nicht zu haben. Das schließt alle weiteren Bezüge des Lebens nicht aus, sondern in umfassender Weise ein. In Luthers Denken wie in seiner Sprache tauchen die ganze Bandbreite und der große Reichtum des menschlichen Lebens auf – auch in dessen Gefährdungen und Brüchen. Doch gewinnt darin zugleich jene Erfahrung Raum, die für Luther geradezu der Schlüssel zur Erkenntnis Gottes wie des Menschen geworden ist: die Erfahrung, grundlegend angenommen zu sein. Glaubend – und das heißt für Luther immer: vertrauend – lässt sich der Mensch darauf ein. Das ist weit mehr als ein nur kognitiver Vorgang. Im Glauben kommt das Lebensgefühl des Menschen im Ganzen zum Ausdruck. Und zugleich wirkt sich der Glaube auf das Fühlen, Denken und Handeln des Menschen aus. In welcher Weise – das ist die Frage.

Mit ihr werden in diesem Buch zentrale Themen von Luthers Theologie aufgegriffen und systematisch behandelt. Dabei treten Aspekte zutage, die den Wittenberger in die Nähe der Fragen unserer Zeit rücken. Was ihn im Herzen bewegte, kann für jeden Menschen, in sicher unterschiedlichen Kontexten, von Bedeutung werden – und zwar so, dass es Mut zum Leben macht.

Jeder geht seinen eigenen Weg durch das schier unübersehbare Gedankenwerk, das Luther hinterlassen hat. Meiner hat als Student begonnen, und das Studieren hat seitdem kein Ende gefunden. Insofern stellt dieses Buch auch so etwas wie ein Zwischenresümee meiner Auseinandersetzung mit Luther dar. Viele Gespräche und Begegnungen mit Menschen, die mir wichtig sind, fließen darin ein; ihre Anregungen und Impulse haben mich weitergebracht. Ihnen allen bin ich in unterschiedlicher Weise dankbar. Dass das Buch überhaupt geschrieben wurde, verdankt sich dem Anstoß, mit dem mich Diedrich Steen vom Gütersloher Verlagshaus ermuntert hat. Meiner Frau danke ich herzlich für die wertvollen Hinweise bei der kritisch-wohlwollenden Lektüre des Manuskripts. Gewidmet ist das Buch Konrad Stock, meinem Lehrer seit Tübinger Tagen, dem ich mich im Denken freundschaftlich verbunden fühle.

Luthers Sprache ist im Text – bis auf eine Ausnahme – in geläufiges Deutsch übertragen bzw. übersetzt worden. Soweit es möglich gewesen ist, habe ich aus allgemein zugänglichen, wissenschaftlich fundierten Ausgaben zitiert. In manchen Fällen blieb nur der Rückgriff auf die Weimarer Gesamtausgabe der Werke, Sprüche, Gedanken und Lieder Martin Luthers.

Baiersdorf, im Advent 2016

Michael Kuch

INHALT

1. Theologie als Herzenssache – eine Annäherung

2. »Mich wundert, dass ich traurig bin« – Lebensgefühl und Glaube

2.1 »Was ist das?«

2.2 Gefühlter Glaube

2.3 Zur Eigenart der Gefühle

2.4 Das Selbstgefühl der Person

2.4.1 Das Ich und das Andere

2.4.2 Reflektiertes Selbstgefühl

2.4.3 Die Beschreibung der Liebe

2.5 Woher? Wohin? Wozu?

2.6 Gottesbeziehung

2.6.1 Name und Begriff

2.6.2 Gottesdeutungen

2.6.3 Drei Grundbeziehungen

2.7 Fragen des Glaubens

3. »Woran du dein Herz hängst, das ist dein Gott« – Glaube als Vertrauen

3.1 »Nur was wir glauben, wissen wir gewiss«

3.2 »Glaube und Gott gehören zusammen«

3.2.1 Verschiedene Perspektiven

3.2.2 Was meint »rechter Glaube«?

3.2.3 Gebotenes Vertrauen?

3.3 »Die von lauter Güte überfließt« – Gott als Quelle alles Guten

3.3.1 »Das einzig ewige Gut« – die Attraktion Gottes

3.3.2 »Geld und Gut« – Mittel zum Leben

3.3.3 »Gott den Himmel abzwingen« – menschliche Selbstüberschätzung

4. »Aus Lust und Liebe« – die Freude am Guten

4.1 Das Gefühl der Ganzheit

4.2 Dimensionen des Gebotenen

4.3 Der Grund des Glaubens: der dreieinige Gott

4.3.1 »Geschaffen samt allen Kreaturen« – dankbar leben

4.3.2 »Dem Evangelium den Schoß hinhalten« – befreit leben

4.3.3 »Der Spiegel von Gottes väterlichem Herzen« – inspiriert leben

4.4 »Bruder Martin kann mich gar nicht sehen« – Luther und die Juden: eine kritische Zwischenbetrachtung

4.5 »Alles zum Besten kehren« – die Kreativität der Liebe

5. »Geradezu von neuem geboren« – die Erfahrung der Rechtfertigung

5.1 »Wie bekomme ich einen gnädigen Gott?« – die Suche nach Anerkennung

5.2 »Da erscheint Gott furchtbar in seinem Zorn« – die Enge der Anfechtung

5.3 »Das Tor zum Paradies« – die Entdeckung der Rechtfertigung

5.4 Der Gegensatz von Glaube und Sünde

5.4.1 »In sich verkrümmt« – der Mensch in der Sünde

5.4.2 »Gerecht und Sünder zugleich«

5.4.3 »Sündige mutig, aber noch mutiger glaube!«

5.5 »Allein durch den Glauben« – schöpferische Passivität

5.5.1 Umstrittenes »allein«

5.5.2 Vierfaches »allein«

5.5.3 Der Glaube – passiv und aktiv zugleich

5.5.4 Der Glaube, die Taufe und das Nichts

5.6 Rechtfertigung als »Definition des Menschen«

6. »Ans Herz gelegt« – dem Evangelium begegnen

6.1 Das Hören des Wortes und das Wirken des Geistes

6.1.1 »Wo und wann er will« – unverfügbares Erkennen

6.1.2 »Erkenntnis des Herzens« – äußeres und inneres Wort

6.1.3 Hören als »Leib des Glaubens«

6.2 »Die freie Kunst Musica«

6.3 »Das Bild dir tief ins Herz fassen«

6.4 »Sei stille und höre zu«

6.5 »Dass er’s uns erkennen lasse« – die Bedeutung des Gebets

7. Zur Freiheit befreit – die »Freiheit eines Christenmenschen«

7.1 Die Suche nach Erfüllung

7.2 Der Raum der Freiheit

7.2.1 Seele und Herz

7.2.2 »Da quillt das Wasser aus dem Brunnen« – die Spontaneität der Freiheit

7.3 »Wie Gott mir, so ich dir« – das Leben in der Liebe

7.4 »In den Worten Gottes gefangen« – die Freiheit des Gewissens

8. Gottesmut – Vertrauen in den Widersprüchen des Lebens

8.1 »Das Herz in die Hand nehmen«

8.2 »Aber die Faust haltet stille«

8.3 »Wir sind die Gedichte«

Anhang

Ergänzende und vertiefende Texte

Anmerkungen

1. THEOLOGIE ALS HERZENSSACHE – EINE ANNÄHERUNG

Es gibt Menschen, an die möchte man sich unwillkürlich anlehnen. Sie stehen wie ein Baum: fest, entschlossen, unbeugsam. Solche Menschen lassen im Grunde nur zwei Alternativen zu: Entweder man orientiert oder man reibt sich an ihnen. Kalt lassen sie einen auf jeden Fall nicht.

Auf Martin Luther – am 10. November 1483 in Eisleben geboren, dort auch am 18. Februar 1546 gestorben – traf das zu. Er war gewiss ein historischer Ausnahmefall, wie er nur selten und in bestimmten weltgeschichtlichen Konstellationen auftritt. An ihm schieden sich die Geister. Er brachte Kaiser und Papst – und das hieß für seine Zeit: eine ganze Welt – gegen sich auf und eröffnete zugleich vielen eine neue Lebensperspektive. Seine Wirkung war gewaltig. Ihm selbst war »göttliche Brutalität« zu eigen, wie es Heinrich Heine in seiner »Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland« durchaus bewundernd ausdrückt. Diese habe der Emanzipation des Individuums mehr gedient als »die Feinheit des Erasmus und die Milde des Melanchthon«. Ein Mensch also, an den man sich anlehnen möchte, müsste man nicht zugleich fürchten, an ein Feuer zu geraten. Sein Auftreten wurde zum Ereignis, das nicht nur die Kirche, sondern das Lebensgefühl in der heraufziehenden europäischen Gesellschaft insgesamt veränderte und hinter das auch heute niemand zurückkann.

Was Luther heute bedeutet – ist die Frage also mit dem Hinweis auf seine unbestreitbare historische Größe schon beantwortet? Sicher nicht. Indem ich einige Gründe anführe, nähere ich mich zugleich den Aspekten, die in diesem Buch aufgegriffen, vertieft und entfaltet werden.

Zunächst: Das Bild des immer feststehenden, stets unbeugsamen Luther trifft, wenn überhaupt, nur die halbe Person. Es ist eine nachträgliche Projektion, die sich vor allem aus seinen geschichtlichen Wirkungen speist. Deutlich wird das zum Beispiel an dem Ausruf, der bis heute sein Bild prägt und geradezu sprichwörtlich geworden ist: »Hier stehe ich. Ich kann nicht anders.« Wahrscheinlich hat Luther diese Worte auf dem Reichstag zu Worms 1521 gar nicht gesagt; sie tauchen erst Jahrzehnte nach seinem Tod in stilisierten Darstellungen der Szene auf. Zuverlässig überliefert vom Abschluss seiner Verteidigungsrede vor Kaiser Karl V. sind hingegen die schlichten Sätze: »Da mein Gewissen in den Worten Gottes gefangen ist, kann und will ich nichts widerrufen, weil es gefährlich und unmöglich ist, etwas gegen das Gewissen zu tun. Gott helfe mir. Amen.«1 Persönlich authentisch, auch mutig, sich der eigenen Gefährdung bewusst, in allem auf Gottes Hilfe angewiesen – so erscheint hier der Reformator.

Jede Zeit hatte und hat ihr eigenes Lutherbild, wobei dieses in der Regel mehr über die jeweilige Zeit aussagt als über die Person selbst. Zum Glaubens- und Nationalhelden, den etwa die Standbilder des 19. Jahrhunderts auf den Sockel heben, eignet sich Luther freilich denkbar schlecht. Will man von seiner Person reden, dann gehören zu ihr jedenfalls auch ganz andere Züge: Der Mensch, der Zweifel und Verzweiflung zeitlebens nie ganz loswurde; dem grobe und verhängnisvolle Fehleinschätzungen unterliefen; der zu schriller und verletzender Polemik fähig war. Selbst wenn diese um der Sache willen geführt wurde, kam sie ihr doch nur begrenzt zugute. Die geistvolle, auf Vermittlung bedachte »Milde des Melanchthon« jedenfalls stellte für den Verlauf der Reformation ein notwendiges Korrektiv dar, ohne das sie nicht zu ihrer durchdringenden Wirkung gelangt wäre. All das sind Schattenseiten einer Person, deren Widersprüchlichkeit, ja Zerrissenheit im Rückblick nur zu leicht übersehen wird. Luther war nicht nur groß und stark. Diejenigen, die sich an den Baum lehnten, dürften gespürt haben, wie der Stamm zuweilen zitterte. Zur Luther-Verklärung besteht kein Anlass.

Das führt zur nächsten Einschränkung. Sie stammt von Luther selbst, und man kann sie durchaus als kritische Anmerkung zu der Kirche verstehen, die sich nach seinem Namen »lutherisch« nennt. Der Einfluss, der damit von seiner Person ausgeht, ergab sich aus den Umständen seines Auftretens und seiner Wirkung. Doch die Betonung des Menschen ist, mit einer Bezeichnung Gerhard Ebelings, letztlich »programmwidrig«. Luther distanziert sich ausdrücklich von der eigenen Person, wenn es um die Sache des Glaubens geht. Auf dieser Linie liegt seine bekannte Ermahnung, »man wolle von meinem Namen schweigen und sich nicht lutherisch, sondern einen Christen heißen. Was ist Luther? Ist doch die Lehre nicht mein! Ebenso bin ich auch für niemanden gekreuzigt ... Wie käme denn ich armer stinkender Madensack dazu, dass man die Kinder Christi dürfte nach meinem nichtswürdigen Namen nennen? Nicht so, liebe Freunde, lass uns tilgen die parteiischen Namen und Christen heißen, nach Christus, dessen Lehre wir haben.«2

Diese Unterscheidung der eigenen Person von der Überzeugung, die sie gewonnen hat und vertritt, ist für Luther grundlegend. Wobei Unterscheidung nicht dasselbe meint wie Trennung. Das ist ganz grundsätzlich und hier besonders zu beachten. Sind Dinge oder Aspekte getrennt, dann besteht zwischen ihnen keine Verbindung. Unterscheidung hingegen ist die Bedingung dafür, dass sich Menschen oder Sachverhalte in ihrer eigenen Bedeutung konstruktiv und befruchtend aufeinander beziehen können. In diesem Sinne werden Überzeugungen oder Gewissheiten zu wesentlichen Voraussetzungen für eine eigenständige Lebensführung; in ihnen drückt sich die Individualität einer Person aus, sie sind eng mit ihr verbunden. Zugleich sind Überzeugungen nicht identisch mit der eigenen begrenzten Persönlichkeit. Sie greifen vielmehr über diese hinaus, stellen das eigene Dasein in einen größeren Kontext, der es umgibt, trägt und motiviert. Jeder, der von einer Idee ergriffen wird, macht diese Erfahrung; sie führt die Person über sich hinaus, eröffnet ihr neue Horizonte.

Das gilt erst recht für solche Überzeugungen, die den Charakter von Lebensgewissheiten gewinnen. Diese beziehen sich nicht nur auf einzelne Vorhaben, Ideen oder Projekte, sondern auf das Leben im Ganzen. Mit ihnen stellen sich die Grundfragen menschlicher Existenz: Woher komme ich? Wohin gehe ich? Wie kann, will und soll ich leben? Von diesen Fragen war Luther umgetrieben. Das vor allem verleiht seinem Denken eine die Zeiten überdauernde, aktuelle Bedeutung. In der Perspektive des Glaubens reflektierte er das eigene Leben wie überhaupt die conditio humana, die Bedingung und Beschaffenheit menschlicher Existenz. Aus den Antworten auf diese und andere existenzielle Fragen erwächst das Reservoir an Lebensgewissheiten, die einem Menschen Grund und Orientierung geben. Sie bestimmen und motivieren sein Leben aus dem Zentrum seiner Existenz – seinem Herzen.

Das Herz ist für Luther der »Ort«, an dem sich die wesentlichen Auseinandersetzungen im menschlichen Leben abspielen und sich die entscheidenden Weichenstellungen vollziehen. Denn was das Herz bestimmt und prägt, wirkt sich nicht allein auf die jeweilige Gefühlslage aus, es motiviert auch zu einer Lebensgestaltung, die den eigenen, innewohnenden Impulsen folgt. Das Herz ist das Bild bzw. die Metapher für das Zentrum der Person. Es ist zugleich empfänglich und dynamisch, in ihm bilden sich die maßgeblichen Beweggründe für das eigene Leben und Handeln aus.

Luther gewinnt diese Sicht nicht aus naturphilosophischen Reflexionen. Wenn er vom menschlichen Herzen spricht, stellt er keine Vergleiche zum Körperorgan her. In gewisser Hinsicht wäre das ja durchaus naheliegend. Denn auch in seiner organischen Funktion bildet der Herzschlag, neben dem Atmen, den entscheidenden Impuls- und Taktgeber des Körpers. Jedoch vollziehen sich diese Vorgänge im Wesentlichen auf einer sich selbst steuernden Ebene, weshalb sie sich nur eingeschränkt als Analogie für eine bewusste Lebensgestaltung eignen. Luthers Verständnis des Herzens entwickelt sich an der biblischen Anthropologie, insbesondere an der Sprache der Psalmen. Das »Herz« ist bei ihm so etwas wie ein bildlicher Sammelbegriff für verschiedene Vorgänge und Vollzüge, die in ihrer Gesamtheit das Zentrum der Person ausmachen. Gefühle und Affekte – freudige wie erschreckende, bedrängende wie öffnende – spielen dabei eine Rolle, aber auch der Wille des Menschen, seine Suche nach Erfüllung und sein Streben nach Befriedigung. In seinem Herzen ist der Mensch auf etwas ausgerichtet, was ihn letztlich und zutiefst beglückt.

Aus diesem Grund ist auch und gerade der Glaube ein Akt des Herzens, er ist Herzenssache. Im Glauben geht es um die Gesamtausrichtung meines Lebens, und zwar aus der Mitte meiner Existenz heraus. »Der Glaube fordert das Herz, nicht den Verstand«3, notiert Luther bereits in einer frühen Vorlesung über die Psalmen. Diese pointierte Aussage wäre sicher missverstanden, würde man Glaube und Verstand gegeneinander ausspielen. Verstand und Vernunft gehören wie die Sprache für Luther zu den guten Gaben Gottes, die das menschliche Leben auszeichnen. Sie dienen dazu, dass der Mensch seine Welt bezeichnen, begreifen und aktiv gestalten kann. Insofern kann durch sie auch der Glaube gedeutet, in seinen Gründen verständlich und nachvollziehbar gemacht werden.

Doch die Vernunft bringt den Glauben nicht selber hervor. Und sie ist auch keine neutrale, objektiv urteilende Instanz, die über den Dingen steht. Was dem einen vernünftig erscheint, muss dem anderen noch lange nicht einleuchten. Nach Luthers Überzeugung steht die Vernunft ihrerseits immer in einem bestimmten Lebens- und Deutungszusammenhang, der sie erst plausibel macht. Die Einsicht, dass ich »nicht aus eigener Vernunft noch Kraft« glauben kann, gehört jedenfalls zu den Grundkonstanten seiner Theologie. Glauben zu können verdankt sich grundsätzlich einem Geschehen, das dem Menschen zuallererst eröffnet werden muss, und zwar dadurch, dass das Herz in einer bestimmten Weise berührt und ergriffen wird. Erst damit kann es glauben.

Dieser Zusammenhang tritt noch klarer zutage, wenn man sich vor Augen führt, worin der Glaube eigentlich besteht. Glaube istVertrauen. Das ist sein Wesen und seine Ausdrucksform. Vertrauen ist die Form des Glaubens. Von da aus wird noch einmal deutlich, weshalb der Glaube eine Sache des Herzens ist. Wenn es um die Frage geht, wem und worauf ich vertraue, geht es zugleich um das, was mich persönlich angeht und bewegt. Vertrauen kann dabei niemals erzwungen werden, es entsteht aber auch nicht grundlos. Es erwächst aus Begegnungen, gewinnt Gestalt mit Erfahrungen, die es ermöglichen zu vertrauen. Das Kind, das in die Arme der Mutter springt, wagt dies, weil es bereits erlebt hat, wie es von ihr aufgefangen wird. Über diese Erfahrung hinaus gibt es keine Absicherung. Der Akt des Vertrauens bleibt ein Wagnis, er gründet in dem Gegenüber, auf das sich ein Mensch verlässt. Erweist sich das als trügerisch, dann wird das Herz zutiefst erschüttert. Im Vorgang des Vertrauens konzentriert sich die menschliche Existenz in ihrer ganzen Angewiesenheit.

Das gilt auch für die religiöse Dimension des Vertrauens. Sie vor allem kommt ja im Begriff des Glaubens zum Ausdruck. Wenn vom Glauben die Rede ist, ist zugleich von Gott die Rede – in welcher Weise dies auch geschieht und unabhängig davon, ob der Ausdruck »Gott« tatsächlich verwendet wird. In seinem Glauben ist der Mensch auf eine letztlich vertrauenswürdige Instanz verwiesen. Das jedenfalls ist die Überzeugung, die Luther im »Großen Katechismus« in die prägnante Folgerung fasst: »Denn die beiden gehören zusammen, Glaube und Gott. Woran du nun (sage ich) dein Herz hängst und verlässt dich darauf, das ist eigentlich dein Gott.« Die bekannte, verdichtete Formulierung schließt eine Fülle von Bezügen, Differenzierungen und Konsequenzen ein. Ihnen im Einzelnen und im Zusammenhang nachzugehen, führt ins Zentrum der Theologie Martin Luthers. Darin begegnen wir einem Nachdenken über Gott, das in seiner Gesamtheit und in jeder einzelnen Aussage von der Frage geleitet ist, was es für den Menschen bedeutet. Von Gott lässt sich nicht reden, ohne vom Menschen zu reden.

Doch die Umkehrung trifft ebenso zu: Vom Menschen lässt sich nicht reden, ohne von Gott zu reden. Denn menschliches Leben und Handeln erwächst aus dem Vertrauen. Das gilt in elementarer Weise bereits für die zwischenmenschlichen Beziehungen. Vertrauen ist kein ausschließlich religiöser Begriff. Zugleich aber scheint im Vorgang des Vertrauens die religiöse Dimension des menschlichen Lebens unweigerlich auf. Was unterscheidet dann das religiöse Vertrauen vom zwischenmenschlichen? Was heißt es, Gott zu vertrauen? Wodurch wird das überhaupt möglich? Und nicht zuletzt: Was bedeutet ein solcher Glaube für das eigene Leben in den Bezügen und Widersprüchen der Welt?

Für Luther waren das keine »akademischen« Fragen; sie waren für ihn alles andere als eine nur theoretische Angelegenheit, sondern betrafen ihn selbst im höchsten Maße. Unausweichlich trifft man deshalb bei der Beschäftigung mit seiner Theologie auch auf seine Person, sie ist mit seinem Denken eng verflochten. Obwohl also Person und Sache zwar einerseits immer unterschieden werden müssen, gehören sie andererseits doch untrennbar zusammen. Luthers Theologie ist durch und durch existenziell. Sie lotet die menschlichen Erfahrungsmöglichkeiten bis in ihre Tiefen und Untiefen hinein aus, geht ihnen nach, zeichnet sie in den Horizont des Glaubens ein. Leichter ist die Auseinandersetzung mit Luthers Fragen nicht zu haben. Wer sich auf sie einlässt, wird auch mit sich selbst konfrontiert. »Sola ... experientia facit theologum«4, allein die Erfahrung macht den Theologen – diese Äußerung Luthers steht nicht nur wie ein deutendes Motto über seinem Leben. Es gilt ganz grundsätzlich: Nur was sich im Kontext menschlicher Erfahrung erfassen lässt, gewinnt Bedeutung und Aussagekraft.

Besonders deutlich wird das am Durchbruch der reformatorischen Grunderkenntnis. Die Sprache der Dogmatik fasst sie in die knappe Formel Rechtfertigung allein im Glauben. Das ist für sich ebenso präzise wie trocken. Luther jedenfalls machte die entscheidende Entdeckung »in der Verschlingung von persönlichem Erleben, vernichtender Anfechtung und befreiender Gewissheit«5. In seinen Schriften – Vorlesungen, Predigten, Auslegungen, Abhandlungen, Briefen, Reden, Liedern – unternimmt er immer neu den Versuch, die Erfahrung der Rechtfertigung in ihren verschiedenen Dimensionen zu beschreiben und in ihrer ganzen Reichweite deutlich zu machen. Sie besagt, dass ich, obgleich nicht ohne Sünde und Schuld, von Gott gerechtfertigt, das heißt los- und freigesprochen bin. Daraus erwächst das elementare Gefühl, bedingungslos angenommen zu sein. Dessen wahrhaft befreiendes, ermutigendes Potential erschließt sich allerdings nur dem, der auch gegenteilige Erfahrungen kennt. Die Verfehlungen und Verstrickungen des Lebens, seine Ängste und Lähmungen sind also unverstellt in den Blick zu nehmen. Sie bilden den Hintergrund, vor dem Luthers Überzeugung von der »Freiheit eines Christenmenschen« überhaupt erst ihre Bedeutung und Prägnanz erhält. Sie bezeichnet einen Lebensmut, der aus Gott bezogen wird, also einen Gottesmut des Menschen, in dem er sich befreit dem Leben zuwendet. (Zur Deutung des Begriffs »Gottesmut« s. Kap. 8.)

Luther hat diese Erfahrungen in seinen lebensweltlichen Bezügen zur Sprache gebracht. Es war, im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, eine Welt im Umbruch, in der überkommene Strukturen sich in schmerzhaften Prozessen aufzulösen und andere sich neu auszubilden begannen. Vieles an dieser Welt des 16. Jahrhunderts – ihre Ordnungen, ihre Konventionen, ihre Abhängigkeiten – ist dem modernen Lebensgefühl irritierend fremd geworden. Insofern begegnet dem heutigen Menschen in Luther eine historisch »ferne Stimme« (Johann Hinrich Claussen). Sie vermag aber dennoch ins Herz zu sprechen. Und zwar schon deshalb, weil Prozesse umstürzender Veränderung und rasanten Wandels in anderer Weise auch die Gegenwart des 21. Jahrhunderts kennzeichnen. Die Frage nach dem, was in Wahrheit verlässlich genannt zu werden verdient, wird in Zeiten der Verunsicherung besonders dringlich. Sie verbindet den heutigen Menschen mit Luthers »Ringen um die Grundlagen humaner Existenz«6.

Luthers Worte können aber auch deshalb das Herz erreichen, da er unsere Sprache spricht. Oder sprechen wir die seine? Ganz gleich, ob man dem Diktum Thomas Manns folgt, Luther habe »durch seine gewaltige Bibelübersetzung die deutsche Sprache erst recht geschaffen, die Goethe und Nietzsche dann zur Vollendung führten«7 – der Einfluss des Reformators auf die Entwicklung der deutschen Sprache ist kaum hoch genug einzuschätzen. Er dokumentiert sich bis in die Gegenwart hinein in einer Vielzahl von Ausdrücken, die auf seine Übersetzung der Bibel zurückgehen. Darin finden sich so plastische Wörter wie »Feuereifer«, »Menschenfischer«, »Morgenland«. Und es tauchen Redewendungen auf, die in den allgemeinen Sprachschatz Eingang gefunden haben: »Sein Herz ausschütten«, »die Hände in Unschuld waschen«, jemanden »auf Händen tragen«, »den Staub von den Füßen schütteln« oder etwas »auf Treu und Glauben« versichern. Mit seiner Sprache ist Luther heute auch denjenigen gegenwärtig, denen sein Denken in weite Ferne gerückt ist.

Begegnet man Luthers Sprache in ihrer ursprünglichen Gestalt, kann man dabei eine doppelte Entdeckung machen: Ferne, Fremdheit auch hier, aber in ihr zugleich so etwas wie eine intuitive Nähe und Vertrautheit. Als Beispiel mag der bekannte 23. Psalm dienen, so wie ihn die letzte zu Luthers Lebzeiten erschienene Ausgabe (1545) seiner Bibel (»Die gantze Heilige Schrift Deudsch«) darbietet:

Ein Psalm Dauids.

DER HERR ist mein Hirte

Mir wird nichts mangeln.

Er weidet mich auff einer grünen Awen

Und füret mich zum frisschen Wasser.

Er erquicket meine Seele

er füret mich auff rechter Strasse

Vmb seines Namens willen.

UNd ob ich schon wandert im finstern Tal

fürchte ich kein Vnglück.

Denn du bist bey mir

Dein Stecken und Stab trösten mich.

DV bereitest fur mir einen Tisch gegen meine Feinde

Du salbest mein Heubt mit öle

Und schenckest mir vol ein.

Gutes und Barmhertzigkeit werden mir folgen

mein leben lang

Vnd werde bleiben im Hause des HERRN jmerdar.

Die damals noch ungeregelte Orthographie mutet heute fremdartig an. Doch sobald man sich eingelesen hat, kann einen die vertraute Wärme dieser Worte umso mehr ansprechen und berühren. Hier wird einem Lebensgefühl so verständlich und stimmig Ausdruck verliehen, dass es eine Darstellung erfährt, die man endgültig nennen könnte. Die Verse sind bis in die einzelnen Wendungen und Bilder hinein sowie in ihrem gesamten Sprachrhythmus seit Jahrhunderten nahezu unverändert geblieben. So haben sie Eingang in das kollektive religiöse Gedächtnis gefunden. Dieser einzigartige Vertrauenspsalm verdankt seine die Zeiten überdauernde Bedeutung zum großen Teil der sprachlichen Gestalt, die Luther ihm gegeben hat. Und darin zeigt sich wiederum ein grundsätzlicher Sachverhalt: Glaube und Vertrauen können sich an solchen Worten entzünden, in denen Gottes Wirklichkeit prägnant und lebensnah zum Ausdruck kommt. Sie erreichen das Herz, ermutigen zu einer Lebensgestaltung aus Vertrauen heraus.

Dabei geht es um nicht weniger als die Wahrheit menschlicher Lebensführung. Denn »wahr« kann, zumindest in theologischer Perspektive, genannt werden, was wirklich vertrauenswürdig ist. Was ist der Grund, das Ziel und die Hoffnung des Lebens? Wofür lohnt es sich, zu kämpfen und auch zu streiten? Was sind die Spielräume und Grenzen des Menschen? Luther war von diesen entscheidenden Fragen umgetrieben. Und wie er sie in der Perspektive des Glaubens aufgegriffen hat, »das lässt die Ferne dieser Gestalt dahinschwinden zugunsten einer Zeitgenossenschaft mit uns im Bewegtsein von der Frage, was es mit dem Menschsein letztlich auf sich hat«8.

2. »MICH WUNDERT, DASS ICH TRAURIG BIN« – LEBENSGEFÜHL UND GLAUBE

Ich komm – weiß nicht, woher.

Ich geh – weiß nicht, wohin.

Mich wundert, dass ich fröhlich bin.1

MARTINUS VON BIBERACH († 1498)

Ich komm – weiß wohl, woher.

Ich geh – weiß wohl, wohin.

Mich wundert, dass ich traurig bin.2

MARTIN LUTHER

Das Lebensgefühl des Glaubens – was ist das?

Die Frage könnte Martin Luther gefallen haben. Mit der schlichten Frage Was ist das? leitet er bekanntlich im Kleinen Katechismus (1529) jeweils seine Auslegungen zu den Hauptstücken des Glaubens ein. Die von ihm benannten fünf Hauptstücke sind: die Zehn Gebote, das Glaubensbekenntnis, das Vaterunser, die Taufe und das Abendmahl. Elementare Texte und Themen des christlichen Glaubenswissens, die von ihm ebenso elementar erschlossen und gedeutet werden: in sprachlicher Prägnanz und mit einprägsamen Wendungen, theologisch reflektiert und zugleich lebensnah. Es sind verdichtete Memoriertexte. Sie zielen auf Aneignung und Wiederholung. Man kann sie meditieren, und sie auswendig zu können entspräche durchaus ihrem Sinn.

Luthers Worte und Sprachwendungen aus dem Kleinen Katechismus gehörten einmal zum Grundbestand evangelischen Lehrens und Lernens. Mögen sich Generationen von Konfirmandinnen und Konfirmanden mit ihnen auch abgemüht haben, bis sie aufgesagt werden konnten – es fand damit dennoch eine Aneignung statt, deren Sinn sich oftmals erst im Laufe des Lebens erschlossen hat. Eine solche Vertrautheit mit Lutherworten ist heute kaum mehr anzutreffen oder auch nur vorauszusetzen. Eine Überprüfung in Gemeinden, Einrichtungen oder Hochschulen dürfte zu einigermaßen ernüchternden Ergebnissen führen. Die Gründe hierfür sind vielschichtig, und sie haben ganz allgemein mit den tiefgreifenden Veränderungen bei der Weitergabe des religiösen Wissens zu tun. Sie sind hier auch gar nicht zu beklagen, sondern auf ihre Herausforderungen und Chancen hin zu befragen. Eine Chance jedenfalls ist es, wieder so nach dem Glauben zu fragen: Was ist das?

2.1 »Was ist das?«

Die Frage lässt sich variieren: Was heißt das? Was meint das? Was bedeutet das? Alles das schwingt mit in der komprimierten Formulierung, die Luther verwendet. Sie steht in der Mitte. Ihr geht eine Aussage voraus, auf die sie sich bezieht, und sie führt zu einer Antwort, die bestimmte Linien auszieht. Wer fragt, denkt weiter. Die Aussage besteht in den Kernthemen des Glaubens, ohne deren Kenntnis und reflektierte Aneignung eine eigenständige christliche Lebensführung nicht denkbar ist. In eben diese Richtung zielen auch Luthers Antworten. Sie erschließen die Bedeutung des Gesagten in jeweils persönlicher Weise, legen dessen theologische und existenzielle Dimension frei. Es sind pointierte Deutungshilfen, die einen selbstbewusst-kritischen Glauben ermöglichen sollen.

Das Vertrauen steht dabei am Anfang. Es ist das entscheidende Stichwort in Luthers Auslegung des Ersten Gebots im Kleinen Katechismus. Sie besteht nur aus einem einzigen knappen, bündigen Satz mit der Pointe am Ende:

Ich bin der Herr, dein Gott,

du sollst nicht andere Götter haben neben mir.

Was ist das?

Wir sollen Gott über alle Dinge fürchten,

lieben und vertrauen.3

Prägnanter lässt es sich kaum formulieren. Was auch immer zum Verhältnis von Mensch und Gott im Einzelnen (also auch über das Fürchten und Lieben) gesagt werden kann, es erhält seinen maßgeblichen Deutungshorizont im Vorgang des Vertrauens. Darauf konzentriert sich letztlich alles, und beide Katechismen Luthers – der Kleine wie der Große – finden darin ihren inhaltlichen Bezugspunkt. Bereits mit dem ersten Satz wird er intoniert und festgehalten. Ja, es erscheint nicht als zu weit hergeholt, Luthers Theologie insgesamt vom menschlichen Akt des Vertrauens her zu rekonstruieren und in ihrer aktuellen Bedeutung zu erschließen. Wie lässt er sich verstehen? Was bedeutet er für das Leben in seinen komplexen Bezügen? Nicht zuletzt: Wie kommt er überhaupt zustande?

Die Fragen jedenfalls hören nicht auf, sie beginnen im Grunde erst. Und so sind Luthers Auslegungen und Reflexionen auch nicht als endgültige Antworten zu verstehen, die es heute bloß zu wiederholen gilt. Was ist das? – die Frage ist durchaus auch an ihn selber und seine Texte zu richten. Und zwar schon deshalb, weil sie mit Überzeugungen und Begriffen argumentieren, die oftmals selbst wiederum erst erschlossen, gegebenenfalls hinterfragt werden müssen. Sie ernst zu nehmen heißt immer auch, sie kritisch zu würdigen.4 Das bedeutet zugleich, zeitbedingte oder problematische Aussagen von denen zu unterscheiden, die für das Lebensgefühl heute jede Beachtung verdienen.

Luthers Verständnis des menschlichen Auf-Gott-Vertrauens auf jeden Fall verdient diese Beachtung. Es kann verstanden und angeeignet werden als die Beschreibung eines ganz bestimmten Lebensgefühls, das den Menschen in umfassender Weise ergreift, orientiert und motiviert – eben desjenigen Lebensgefühls, das sich im menschlichen Herzen, also im Zentrum der Person, glaubend ausbreitet und von da aus auf die gesamte Lebensführung ausstrahlt.

2.2 Gefühlter Glaube

Glauben ist Vertrauen, also ein Vorgang, der nicht allein kognitiv bestimmt ist. Zwar gehört zum Vertrauen zweifellos auch ein bestimmtes Wissen, aber das allein erklärt den Akt des Vertrauens nicht. Er wurzelt wesentlich in einem Gefühl. Vertrauend springt das Kind in die Arme der Mutter – aus dem wissenden Gefühl heraus, aufgefangen zu werden, welches stärker ist als die entgegenstehende Empfindung der Angst. In einem solchen Spannungsfeld steht auch der Glaube in seiner religiösen Dimension. Er besteht in einer bestimmten Gewissheit, die aus dem Lebensgefühl der Person erwächst. Zugleich aber beeinflusst und prägt er ihr Lebensgefühl – und zwar auch gegen andere, ihm widerstreitende Gefühle.

Diese Spannung durchzieht beispielhaft die oben aufgeführte mittelalterliche Spruchdichtung, die auf Martinus von Biberachzurückgeführt wird, vermutlich aber älter ist und bis in die Gegenwart hinein Autoren und Dichter inspiriert. Sie war auch Luther bekannt. Er war jedoch der Überzeugung, dass man den Spruch gerade umkehren müsste. Erst damit wird er zu einer Aussage über das Lebensgefühl christlicher Existenz, deren Grundzug der Freude mit ihrem Gegensatz umschrieben wird: »Mich wundert, dass ich traurig bin.«

In beiden Versionen kommt das menschliche Leben in seinem Woher und Wohin zur Sprache. Dabei kann dieses Woher und Wohin offenkundig sehr unterschiedlich gedeutet werden. Entweder als tastendes Nichtwissen oder als klares Bewusstsein vom Ursprung und Ziel menschlichen Lebens. In beiden Fällen erwächst daraus ein bestimmtes Lebensgefühl, und es »verwundert« die Spannung, die sich zur momentanen Gefühlslage ergibt. Diese Spannung kann nicht allein im Blick auf Herkunft und Zukunft des Lebens entstehen, sie tut sich auch in seinen zahlreichen einzelnen Impressionen auf. So hat Bertolt Brecht in seinem Gedicht »Der Radwechsel« aus den »Buckower Elegien« die alten Dichtungen mit einer alltäglichen Beobachtung neu akzentuiert:

»Ich sitze am Straßenrand

Der Fahrer wechselt das Rad.

Ich bin nicht gern, wo ich herkomme.

Ich bin nicht gern, wo ich hinfahre.

Warum sehe ich den Radwechsel

Mit Ungeduld?«5

Die Differenzen, die hier in unterschiedlicher Weise beschrieben werden, verweisen auf eine allgemeine menschliche Erfahrung: Das Bewusstsein, welches ich von meinem Leben im Ganzen habe, und das Gefühl, in dem ich mich aktuell vorfinde, müssen nicht korrespondieren. Sie sind oft nicht deckungsgleich, können einander widerstreiten. Und das hat damit zu tun, dass in mir durchaus widersprüchliche Motive und Gefühle auftreten können, von denen nicht ausgemacht ist, welches die Oberhand gewinnt oder behält. Wirklich starker Gefühle, lustvoller wie lähmender, kann man sich jedenfalls kaum erwehren. Der Mensch – Spielball seiner Gefühle?

Das ist er sicher oft genug. Und doch ist es keineswegs bedeutungslos, welches Bild vom Woher und Wohin des Lebens sich jemandem erschlossen hat. Luther stellt ja fest: »Mich wundert, dass ich traurig bin.« Wer sich so über sich wundert, gibt damit zu verstehen, dass eigentlich anderes zu erwarten wäre – nämlich eben jene Fröhlichkeit, über die sich wiederum der andere Martinus (von Biberach) wundert. Und das bedeutet: Das Bild meiner Existenz prägt grundsätzlich meine Wahrnehmungen, und zwar auch dort, wo sich Differenzen auftun. Ich kann sie als solche überhaupt nur identifizieren, indem ich sie an dem messe, was meiner Lebensgewissheit entspricht. Der Lebensgewissheit des Glaubens entspricht jedoch nicht die Traurigkeit. Für sie kann es viele nachvollziehbare Ursachen und Anlässe geben. Sie will und muss auch durchlebt werden, wegbefehlen lässt sie sich nicht. Doch in dem Maße, in dem ich mich über sie wundern kann, öffnet sich das Herz für neue Erfahrungen.

Der Glaube will zum Gefühl werden – dieser Überzeugung jedenfalls gibt Luther immer wieder beredt Ausdruck:

»Denn wo solcher Glaube da wäre, der es für sicher hielte, dass wir arme Sünder in ein ewiges Leben und Gerechtigkeit gesetzt sind, das sollte ja zum wenigsten mit einem Fünklein gefühlt werden, von dem das Herz fröhlich und mutig würde, dass wir in Anfechtung und Verfolgung nicht so verzagt wären, sondern beiden, Teufel und Welt, noch dazu trotzten und sagten: Es sei Sünde, Tod, Teufel, Welt, Papst, Kaiser so böse und zornig sie immer wollen, was frage ich danach?«6