Honigmilch - Jutta Mehler - E-Book

Honigmilch E-Book

Jutta Mehler

4,6

Beschreibung

Fanni Rot und Kommissar Sprudel hatten nichts Aufregenderes im Sinn als eine Wanderung zum Großen Falkenstein. Der Ausflug erweist sich jedoch als folgenschwer, denn Fanni entdeckt unweit des Gipfelkreuzes die Leiche einer jungen Frau. Ehe sie es sich versehen, befinden sich Fanni und Sprudel mitten im Wirbel der Ermittlungen - und wenig später gibt es eine zweite Tote. Warum, fragt sich Fanni, mussten zwei junge Frauen eines gewaltsamen Todes sterben? Woher kommen all die Krankheitskeime, die als ausgerottet gelten? Als sie versucht, darauf Antworten zu finden, bringt sich Fanni selbst in tödliche Gefahr.

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Jutta Mehler, Jahrgang 1949, lebt und arbeitet in Niederbayern. Sie schreibt Romane und Erzählungen, die vorwiegend auf authentischen Lebensgeschichten basieren. Im Emons Verlag erschienen ihre Romane »Moldaukind«, »Am seidenen Faden« und »Schadenfeuer« sowie der Niederbayern Krimi »Saure Milch«.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig.

© 2010 Hermann-Josef Emons Verlag Alle Rechte vorbehalten Umschlagfotografie: jbm/buchcover.com Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch, Berlin eBook-Erstellung: CPI – Clausen & Bosse, LeckISBN 978-3-86358-027-8 Niederbayern Krimi Originalausgabe

1

Fanni trug ganz allein selbst die Schuld daran, dass sie auf Annabels Leiche stieß. Was musste sie auch ein heimliches Stelldichein mit Sprudel arrangieren? Ein Treffen, das sie auf den Gipfel des Großen Falkenstein führen würde.

Fanni hatte selbst Schuld, und sie verdiente es nicht anders, weil sie auch noch über die Planke kletterte, die den erlaubten Weg von der Naturschutzzone abgrenzte.

Bevor Fanni beschloss, verbotenes Terrain zu betreten, hatte sie Hand in Hand mit Sprudel unter dem Gipfelkreuz verweilt und ins Tal geblickt. Direkt vor ihnen lag das Dörfchen Lindbergmühle, weiter rechts sahen sie Regenhütte, und ganz links in der Ferne konnten sie den Sendemast auf der Kuppe des Brotjackelriegel erkennen.

Die Sonne schien, doch der böhmische Wind wehte frisch, und deshalb saßen alle anderen Wanderer bei Kaffee und Kuchen in der Falkenstein-Schutzhütte, die knappe hundert Meter unterhalb des Gipfels stand.

Fanni und Sprudel wollten soeben auch dorthin absteigen, als Fanni auf die Holzplanke deutete, die das frei zugängliche Gipfelgebiet auf der Nordostseite eingrenzte.

»Schau«, sagte sie, »hier dahinter liegt die ehemalige Telefonschneise. Früher sind wir die manchmal mit Skiern hinuntergefahren. Vor dreißig Jahren war das noch nicht verboten. Damals hat es noch keinen interessiert, wo die Wanderer herumgestiefelt sind, und Nationalparkranger kannte man nur aus amerikanischen Filmen.« Fanni hockte sich auf die Planke und ließ die Beine baumeln. »Ende der Neunziger wurde dann plötzlich schier der komplette Bayerische Wald zum Nationalpark erklärt. Lusen, Rachel und Falkenstein, sämtliche Schachten, alles steht jetzt unter dem Dekret der Nationalparkverwaltung. Und sobald du deinen Fuß auf ein Steinchen außerhalb des markierten Weges setzt, kommt ein Ranger und pfeift dich zurück.«

Sprudel schmunzelte. »Sind wohl nicht besonders beliebt hier, die Nationalparkranger?«

»Grünzeug-Gendarmen werden sie von den Einheimischen genannt«, grinste Fanni und spähte die Telefonschneise hinunter.

Sie schwang die Beine auf die verbotene Seite der Planke und zeigte auf den Felsbrocken, der die Einfahrt in die Schneise in zwei schmale Rinnen teilte. »Für mich war es immer ein Riesenproblem, mit Skiern an dem Felsen da vorbeizukommen. In den Rinnen wirst du leicht zu schnell, und dann klebst du am nächsten Baum, bevor du abschwingen kannst. Na ja«, gab sie zu, »eine Rosi Mittermaier war ich nie.«

Sprudel beäugte den Stein. »Es sieht so aus, als käme man überhaupt nicht daran vorbei.«

»Zugewachsen«, antwortete Fanni. »Die ganze Schneise wächst langsam zu.«

Sie löste sich von der Planke und machte ein paar Schritte auf unerlaubtem Boden.

Und das rächte sich auf der Stelle.

Am Fuß des Felsens, talwärts gelegen, entdeckte Fanni eine helle Hose. Aus der Hose ragten zwei Füße, die in weißen Turnschuhen steckten.

Fanni erstarrte.

Sie sah schnell weg und dann doch wieder hin. Ihr Blick fand eine weiße Bluse mit rötlichen Klecksen. Er fand ein weißes Gesicht, eingerahmt von schwarzen Haaren.

Schnell fort von hier!, riefen Fannis Gefühle. Hau ab, lass dich in nichts reinziehen.

»Was ist, Fanni?«, rief Sprudel.

Sag: »Nichts« und geh, riet Fannis Kleinmut.

Eine Verletzte, die Hilfe braucht!, brachten einsichtige Gedanken Ordnung in den Krawall – Notruf! Sofort!

Bevor Fanni auf die Anweisung ihrer Vernunft reagieren konnte, schwang sich Sprudel über das Geländer, trat zu ihr und sog scharf die Luft ein.

Eine Sekunde später kniete er bereits am Boden und beugte sich über das weiße Gesicht. Zweige und Brombeerranken legten sich auf seine Schultern, seine Haare.

Sprudel wischte sie weg und sah auf. »Fanni«, sagte er, »du musst zur Hütte hinunterlaufen. Der Wirt soll schnellstens den Notarzt rufen. Er wird ja wohl ein Telefon haben. Mein Handy …«

Fanni hörte nicht mehr, weshalb Sprudel sein Handy nicht benutzen konnte – ihr eigenes lag wie immer zu Hause. Sie sprang bereits über die Planke und rannte den felsigen Pfad zur Falkenstein-Schutzhütte hinunter.

Sie hielt auf den überdachten Eingang zu, als ihr ein silbernes Edelweiß ins Auge sprang. Es prangte auf einer Tafel am Hauseck. »Dienststelle Bergwacht« stand darunter.

Bergwacht?

Bei Unfällen in den Bergen rückt die Bergwacht an!

Fanni schlug einen Haken ums Hütteneck und entdeckte eine Eingangstür, die in den Anbau an der Ostseite der Falkenstein-Schutzhütte führte. Sie drückte die Klinke hinunter, riss die Brettertür auf und trat in einen winzigen Flur. Links erzitterten ein Schrubber und ein Reiserbesen in der plötzlichen Zugluft, als wollten sie Fanni grüßen.

Direkt vor sich sah Fanni eine zweite Tür und öffnete sie.

Zwei Bergwächter saßen am Tisch, volle Biergläser vor sich. Der eine schnitt soeben ein Stück Geräuchertes auf, der andere säbelte dicke Scheiben von einem Brotlaib.

»Komm nur rein«, forderten sie Fanni auf, die in der offenen Tür zum Stehen gekommen war. »Magst mitessen? Warum schnaufst du denn so?«

»Unfall«, keuchte Fanni, »in der Telefonschneise.«

»Was sagst du?«, fragte der eine.

»Unfall!«, schrie Fanni.

Da ließen die beiden seufzend ihre Halben, das Geselchte und das Bauernbrot im Stich, zogen sich rote Anoraks über, auf deren Rückseite ein weißes Edelweiß leuchtete, und folgten Fanni.

Sprudel kniete nicht mehr allein unter dem Felsen. Ein Nationalparkranger hockte neben ihm und sprach in sein Handy.

Als Fanni mit Rudi und Sepp, wie sich die Bergwächter ihr inzwischen vorgestellt hatten, herankam, erhob sich Sprudel, ging ihnen entgegen und bat sie, hinter der Planke zu bleiben.

»Sie hat uns hergeholt!«, rief Sepp und deutete anklagend auf Fanni. »Wir sind die Bergrettung.«

»Hier gibt es niemanden mehr zu retten«, entgegnete Sprudel. »Der Ranger hat bereits die Polizei alarmiert.«

»Tot?«, fragte Sepp.

Sprudel nickte.

»Auf dem Felsen herumgeturnt, abgerutscht, Genick gebrochen«, diagnostizierte Rudi ohne den geringsten Sichtkontakt zur Leiche.

Sepp machte ein paar Schritte am Geländer entlang und reckte den Hals.

»Weißt, wer das ist?«, fragte er Rudi.

Der sah ihn erwartungsvoll an.

»Die Annabel ist das«, verkündete Sepp, »schau hin, erkennst sie nicht?«

Rudi rückte nun seinerseits zu der Stelle vor, von der aus man einen Blick auf das weiße Gesicht werfen konnte, und beugte sich über die Planke.

»Tatz und Fell von der Katz, das ist sie!«, sagte er. »Und überall Blutspritzer.«

Blut?

Fanni wollte die Verunglückte nicht noch einmal ansehen müssen und die Blutspritzer, die sie zuvor für ein abstraktes Muster auf der Bluse gehalten hatte, schon gar nicht. Was also trieb sie auf den Baumstumpf, von dem aus sie einen freien Blick auf die tote junge Frau hatte?

Misstrauen? Skepsis? Der Zwang, sich selbst ein Bild zu machen?

Die Kleckse auf der Bluse – eigentlich mehr braun als rot – konnten durchaus Blutspuren sein. Und ja, sie setzten sich in dem weißen Gesicht fort – kleiner, verwaschener, weniger deutlich auf der milchigen Haut.

Fanni fielen Bruchstücke aus dem Märchen von Schneewittchen ein: »… weiß wie Milch, rot wie Blut …«

Ja, Annabel war schön wie Schneewittchen. Sie hätte in eine Werbebroschüre gepasst. Als Reklame für Sonnenschutzmittel, für Hautlotion, für Tönungsshampoo. Ihr schwarzes Haar glänzte seidig. Dort, wo ein Sonnenstrahl darauf fiel, schimmerte es dunkelrot.

Fanni wandte sich ab.

Als sie von dem Baumstumpf herunterstieg, sah sie, dass sich um Rudi und Sepp ein Grüppchen Menschen angesammelt hatte, und erst jetzt drangen die Stimmen in ihr Bewusstsein.

»Freilich ist das die Annabel«, rief Sepp soeben, »die Annabel Scheichenzuber ist das.«

Sein Bayrisch machte ein »Anerbeel« daraus.

Fanni seufzte. Sie hatte nie begriffen, was manch eingefleischten Bayern dazu veranlasste, seinen Kindern derart unbayrische Vornamen zu geben. Zum einen, fand Fanni, passte nun mal eine Anna oder Lisa, ein Toni oder Franz besser zu Scheichenzuber, Steigelmeier oder Brezendorfer als eine Jaqueline, Nicole oder ein Pierre. Zum anderen wurden diese unkonventionellen Vornamen besonders in Niederbayern ausnahmslos verhunzt. Leni hatte in ihrer Klasse eine Tschaklinn gehabt, Vera eine Nikohl.

»Weiß das der Max schon, dass seine Aushilfsbedienung tot in der Telefonschneise liegt?«, hörte Fanni eine Stimme fragen.

»Wird es früh genug erfahren«, antwortete eine andere.

»Wo kommt das Mädel denn her?«, meldete sich eine dritte. »Die Familie muss doch …«

»Die Annabel wohnt in Zwiesel«, verkündete Rudi, »am Finkenschlag. Ihr Vater ist Fahrkartenverkäufer bei der Bahn.«

»Die Annabel geht auf die Glasfachschule«, fügte Sepp hinzu und verbesserte sich dann leise: »Ist auf die Glasfachschule gegangen.«

»Hat nicht vorhin einer gesagt, das Mädel bedient in der Schutzhütte?«, warf eine der Stimmen ein.

»Bloß am Wochenende«, beeilte sich Rudi Auskunft zu erteilen. »Da hilft sie unserer Heide.«

»Die kommt eh gerade«, rief Sepp und deutete zum Aufstiegspfad.

Alle Köpfe – Fannis inbegriffen – drehten sich in die gewiesene Richtung.

Heide hielt ihren knöchellangen Dirndlrock mit einer Hand gerafft, um nicht auf den Saum zu treten. Ihre Bluse leuchtete sunilweiß. Aus den mit einer Spange zusammengehaltenen platinblonden Haaren fielen ein paar Korkenzieherlocken in das großzügige Dekolleté, das wie eine Geburtstagstorte von weißen Spitzen umrahmt war.

Die böse Stiefmutter-Königin?

Nein, dachte Fanni. So aufgeputzt sie auch hier erscheint, Heide strahlt Wärme aus, Freundlichkeit, Wohlwollen. Ihr Outfit ist wohl eher ein Zugeständnis an die Gäste der Falkensteinhütte. Welcher Wanderer bestellt nicht gern ein zweites Bier, wenn er Heide damit an seinen Tisch locken kann?

Als Heide an die Planke trat, bemerkte Fanni, wie schwer sie atmete.

»Einer von den Grünzeug-Gendarmen hat beim Max angerufen«, hechelte Heide. »Er hat behauptet, dass die Anna…« Sie brach mitten im Satz ab.

Sepp wies mit dem Daumen über seine Schulter.

Heide blickte zu dem Felsblock, wo Sprudel neben Annabel Wache hielt. Der Ranger telefonierte noch immer.

Fanni fragte sich, wen er wohl jetzt von dem Unglück verständigte. Max den Hüttenwirt hatte er offensichtlich schon informiert.

Heide bekreuzigte sich.

»Ja«, nickte Sepp, »tot ist sie. Kannst es ihm ausrichten, dem Max. Oder kommt er selber noch heraufgehumpelt auf seinen Krücken?«

Heide schüttelte den Kopf. »Er schafft doch kaum die Strecke zwischen Tresen und Stammtisch.«

Inzwischen bewegte sich eine Menschenkarawane von der Hütte zum Gipfelplateau.

Fanni starrte die Leute an.

Woher wissen sie es?, fragte sie sich, und im selben Augenblick fiel ihr die Antwort ein: Max der Hüttenwirt sprengt die Nachricht wie ein Marktschreier aus.

Immer mehr Gaffer drängten heran – sie konnten unmöglich zuvor alle in der Hütte gesessen haben. Die in der ersten Reihe wurden ans Geländer gedrückt.

Fanni zog sich unter eine Fichte am Ende der Planke zurück.

Der Nationalparkranger unterbrach sein Telefongespräch, rief: »Zurücktreten!« und fuchtelte mit den Armen, als wollte er Fliegen verscheuchen.

Die Gaffer drängelten weiter.

Sprudel verließ seinen Posten bei Annabel, trat an die Planke und wandte sich an die Bergwachtmänner. »Wir sollten die Neugierigen fernhalten. Es könnten wichtige Spuren verwischt werden.«

»Ah was«, entgegnete Rudi, »bist du ein Kriminaler, weil du dich so gut auskennst?«

»Ein ehemaliger«, antwortete Sprudel knapp. »Aber muss man denn ein Kriminalbeamter sein, um zu wissen, wie wichtig Spuren am Tatort sind?«

»Tatort«, plusterte sich Rudi auf. »Vom Stein ist sie runtergefallen, die Annabel, und hat sich das Genick gebrochen dabei. Da muss ich kein Kriminalbeamter sein, damit ich das weiß.«

»Komm, Rudi«, mischte sich Sepp ein, »wir halten die Leute lieber auf Abstand. Das kann doch nicht schaden, wenn sich die Kripo ein unverfälschtes Bild von der Sache machen kann.«

Unverfälschtes Bild, dachte Fanni, diesen Ausdruck hätte ich dem Kerl da, der jeden duzt, gar nicht zugetraut.

Sie setzte sich auf die Holzbank, die genau dort, wo das Geländer an einem Felswändchen endete, unter der Fichte stand.

Die Schaulustigen hatten sich inzwischen ein Stück von der Planke entfernt und umringten nun die Bergwachtmänner.

Fanni vernahm Rudis Stimme: »Zwanzig ist die Annabel, grade mal zwanzig.«

»Gar nicht wahr«, widersprach Bergwacht-Sepp. »Zweiundzwanzig ist sie. Das weiß ich, weil sie mit meiner Gisela eingeschult worden ist.«

Dem konnte Rudi nichts entgegensetzen. Fanni sah ihm von Weitem an, dass er an dieser Niederlage zu kauen hatte. Er schwieg einen Moment verstimmt, doch plötzlich schien ihm etwas Wichtiges einzufallen.

»Wo ist denn der Severin?«

»Ja, wo wird er denn schon sein?«, antwortete Sepp. »Daheim, vor seinem Computer. Was anderes kennt der doch nicht am Wochenende.«

»Der Severin hat aber die Annabel heut früh in seinem Auto hergebracht«, sagte Bergwacht-Rudi, »das hab ich selber gesehen.«

Bergwacht-Sepp schaute ihn skeptisch an. »Seit wann darf denn der auf der gesperrten Forststraße vom Waldhaus zur Hütte fahren?«, fragte er.

»Er hat den Max dabeigehabt«, antwortete Rudi, und das schien alles zu erklären.

Fanni musste eine Weile darüber nachgrübeln, bis auch ihr aufging, was Rudi meinte. Max der Hüttenwirt ging an Krücken, das hatte sie ja soeben selbst mitbekommen. Und deshalb besaß er gewiss eine Sondergenehmigung, die ihm erlaubte, jederzeit in einem Wagen vom Zwiesler Waldhaus zur Falkenstein-Schutzhütte zu fahren.

Fanni wurde durch lautes Schnaufen zu ihrer Linken vom Gespräch der Bergwachtmänner abgelenkt. Ein älterer Herr in Bundhosen, Lodenjanker und Trachtenhut hetzte den Pfad herauf. Er trug einen abgeschabten Rucksack aus der Vorkriegszeit.

Luis Trenker!

Eher eine Parodie auf ihn, dachte Fanni.

Der Ankömmling war klein und rundlich und sah mehr nach gemütlichem Opa als nach Bergkraxler aus. Seine Brille war vom Atemdunst angelaufen. Als er das Plateau erreichte, nahm er sie ab und schwenkte sie an einem ihrer Drahtbügel hin und her, damit sie wieder klar wurde.

Während er mit kurzsichtigen Augen in die Runde blinzelte, entdeckte ihn Rudi.

»He, Krautdoktor!«, schrie er. »Hast du es auch schon mitgekriegt?«

Der Bundhosen-Opa setzte die Brille wieder auf, wandte sich der Gruppe um die beiden Bergwächter zu und sah Rudi geradezu flehentlich an.

»Annabel«, keuchte er.

Rudi zeigte auf den Felsblock hinter dem Geländer und schüttelte mit feierlich-ernster Miene den Kopf.

Der Opa schrie auf und stürzte auf die Planke zu, als wolle er darüberhechten. Sepp erwischte ihn am Lodenjanker.

»Der Annabel kann keiner mehr helfen«, sagte er. »Wir nicht und du auch nicht – ganz egal, wie viel Kräutersaft du ihr brauen würdest.«

Fanni hörte den Opa schluchzen.

Ich sollte absteigen und nach Eisenstein zurückfahren, dachte sie. Es ist schon spät. Um sieben Uhr wird im Festsaal das Abendessen aufgetragen. Es fällt auf, wenn ich nicht da bin.

Aber sie blieb sitzen.

Fanni blieb sitzen und starrte den Waldboden zu ihren Füßen an, bis sie Sprudel neben sich spürte. Er legte den Arm um ihre Schultern.

»Hofer wird gleich da sein«, sagte er.

Hofer? Im nächsten Augenblick fiel es ihr ein. Hofer war Dienststellenleiter der Polizeiinspektion Regen-Zwiesel. Sprudel und Hofer kannten sich aus gemeinsamen Jahren bei der Polizeidirektion in Straubing. Kurz nachdem Sprudel in Pension gegangen war, war Hofer zum Chef in Regen befördert worden. Er war es, der Sprudel eingeladen hatte, in seiner Dienststelle eine Vortragsreihe zum Thema Verhörmethoden zu halten. Und Sprudel war angereist.

Wegen einer Vortragsreihe!

Fanni musste lächeln.

Im vergangenen Jahr war Sprudel bereits dreimal von Levanto an der italienischen Riviera, wo er seit seiner Pensionierung lebte, nach Niederbayern gereist.

Aber nicht wegen einer Vortragsreihe, sondern wegen ihr.

Seit sie beide zusammen den Mord an Mirza Klein in Erlenweiler aufgeklärt hatten, verband Fanni und Sprudel eine enge Freundschaft. Tatsächlich war es viel mehr als eine Freundschaft.

Fanni wusste, dass Sprudel mit weit geöffneten Armen in der Tür seines Hauses in Levanto stehen würde, falls sie sich je dazu entschließen sollte, ihren Mann Hans Rot zu verlassen, um fast tausend Kilometer von ihren Kindern und Enkeln entfernt zu leben. Was Fanni nicht recht wusste, war, ob es klug wäre, die ihr so wertvolle Freundschaft mit Sprudel zugunsten einer Beziehung mit ihm aufzugeben.

Die Entscheidung darüber musste aufgeschoben werden – auf morgen, auf nächste Woche, nächstes Jahr.

Im Moment zählte nur, dass Sprudel hier war und mindestens zehn Tage bleiben würde.

Er hatte sich im Hotel Zur Waldbahn in Zwiesel ein Zimmer gemietet. Fanni hatte lauthals lachen müssen, als er es ihr erzählte. »Keine fünfzig Meter von deinem Hotel entfernt steht das Zwiesler Gymnasium«, hatte sie gerufen, »dort hab ich meine Abiturprüfungen geschrieben. Nicht besonders gut, zugegeben.«

»Ich muss gehen«, sagte Fanni jetzt.

Sprudel nickte. »Ich rede mit Hofer. Er wird nicht auf einer persönlichen Aussage von dir bestehen.«

Fanni erhob sich, und Sprudel stand ebenfalls auf. Er begleitete sie das felsige Stück bis zur Hütte hinunter, drückte sie zum Abschied an sich, ließ sie aber sogleich wieder los.

Fanni wohnte an diesem Wochenende ebenfalls in einem Hotel.

Der Schützenverein von Bayrisch Eisenstein feierte Jubiläum und hatte seine wichtigsten Kontrahenten dazu eingeladen. Auf dem Programm standen für den Samstagabend ein kalt-warmes Abendbüfett zu den Klängen einer Tanzkapelle, für den Sonntag diverse Wettkämpfe und ein abschließendes Abendessen.

Schon vor Wochen hatte Hans Rot begonnen, Fanni zum Mitkommen zu bewegen. Zuerst hatte sie schlichtweg abgelehnt. Hans war ihr daraufhin mit allen möglichen Argumenten auf die Nerven gefallen. Zu guter Letzt hatte er ihr sogar zugestanden, während der Wettkämpfe am Sonntag ihrer eigenen Wege zu gehen. »Du kannst den ganzen Tag machen, was du willst – lesen, wandern, in der Sonne liegen. Erst zum Abendessen musst du im Festsaal erscheinen.«

Fanni hatte Nein gesagt.

Als Hans Rot zwei Tage später noch mal damit anfing, hatte sie wieder – und sehr entschieden – Nein gesagt.

Er fiel aus allen Wolken, als er zwei Wochen vor dem Jubiläumstermin einen letzten Versuch startete und ein Ja zu hören bekam.

Fanni hatte inzwischen erfahren, dass Sprudel anreisen und im Hotel Zur Waldbahn in Zwiesel absteigen würde. Und natürlich hatte sie sich für den Sonntag mit ihm verabredet. Zwiesler Waldhaus schien ihr dafür ein günstiger Treffpunkt, denn der Ort lag genau in der Mitte zwischen Bayrisch Eisenstein und Zwiesel am Fuße des gut dreizehnhundert Meter hohen Falkenstein.

Gegen sieben erschien Fanni – frisiert, umgezogen und mit einem Hauch Lippenstift geschminkt – im Festsaal.

»Was hast du bloß den ganzen Tag gemacht?«, fragte Hans Rot. »Seit dem Frühstück hast du dich nicht mehr blicken lassen.«

»Nichts Erwähnenswertes«, antwortete Fanni. »Ein Stück gelaufen, ein Stündchen gelesen …«

»Alle anderen Ehefrauen haben bei den Wettkämpfen zugesehen, haben Kaffee ausgeschenkt und Kuchen aufgeschnitten. Nur du warst wie vom Erdboden verschluckt.«

»Wir hatten doch ausgemacht …«, begann Fanni sich zu verteidigen. Aber ihr Mann hörte nicht mehr hin. Er hatte sich bereits seiner anderen Tischnachbarin zugewandt.

Fanni löffelte ihre Suppe und dachte über das verunglückte Mädchen nach – Annabel Scheichenzuber.

Der Stein, von dem sie fiel, überlegte Fanni, ist keine anderthalb Meter hoch. Selbst wenn Annabel auf seiner Spitze Pirouetten gedreht hätte, wie sollte sie sich beim Herunterfallen das Genick brechen? Unten liegt bloß Reiser herum, das einen Sturz eher abgefedert hätte, als eine schwere Verletzung zu verursachen.

Sie muss mit dem Kopf auf dem Stein aufgeschlagen sein!

»Hm«, machte Fanni und legte den Löffel neben den leeren Teller. Man schlägt nicht einfach so mit dem Kopf auf einen Felsbrocken. Dazu müsste man direkt davor über ein Hindernis stolpern, was bei Annabel nicht infrage kommt, weil sie unterhalb des Steins lag. Sie hätte weiter oben hinfallen, auf den Felsblock aufschlagen und dann darüber hinwegsegeln müssen.

Vielleicht ist sie dagegengelaufen!

Hangaufwärts? Dazu fehlte ihr wohl der nötige Schwung. Es sei denn … Es sei denn, sie wäre gestoßen worden.

Großartig! Ganz großartig! Miss Marple aus Niederbayern gelingt es, einen Bergunfall als Mordtat zu verkaufen!

Der Schweinebraten wurde serviert.

Fanni schob den fetten Fleischbrocken an den Tellerrand und zerteilte den Semmelknödel.

»Nach der Autopsie sehen wir weiter«, murmelte sie dabei.

Halt, schrillte es in ihrem Kopf, die Polizei wird weitersehen! Du, Fanni Rot, wirst das Ergebnis der Autopsie nicht erfahren! Dich, Fanni Rot, geht das alles überhaupt nichts an!

»Schmeckt’s nicht?«

Fanni schreckte hoch. Hans Rot nahm sich das Fleischstück von ihrem Teller und drehte sich wieder seiner anderen Tischnachbarin zu.

Man sollte sich ausgiebig mit der blonden Heide unterhalten, dachte Fanni, als sie die halbe Erdbeere, die den Sahnepudding krönte, in den Mund steckte. Das Schälchen mit dem Rest ihres Nachtisches tauschte sie gegen das bereits leere ihres Mannes aus.

Heide und Annabel haben an den Wochenenden in der Falkenstein-Hütte Seite an Seite gearbeitet – samstags bestimmt bis in die Nacht hinein. Heide müsste eine Menge über Annabel zu erzählen haben.

Richtig, Miss Marple vom Bayerwald! Und Heide wird sicher alles, was sie weiß, zum Besten geben – vor der Polizei nämlich, falls die sich dafür interessiert. Halt du dich raus, Fanni Rot! Du hast dir zu Hause in Erlenweiler schon genug Feinde gemacht; vergangenes Jahr, als du mit Sprudel zusammen im Fall Mirza ermittelt hast. Willst du jetzt im gesamten Nationalpark in Misskredit geraten, indem du wieder alle möglichen Leute ausfragst, in ihren Privatangelegenheiten rumstocherst und sie sogar verdächtigst – unbegründet verdächtigst?

Der Vorstand der Eisensteiner Schützen klopfte an sein Glas. »Zum Abschluss unserer Jubiläumsfeier habe ich die Ehre, den diesjährigen Schützenpokal unseren Kameraden aus Erlenweiler überreichen zu dürfen. Und es ist mir eine besondere Freude, bekannt geben zu können, dass der Pokal von einem der aufstrebendsten Glaskünstler aus unserem Landkreis entworfen worden ist: Severin Ruckerbauer.«

»Severin Ruckerbauer«, wiederholte Fanni verwirrt.

Der Name war heute schon einmal gefallen – oben, auf dem Falkenstein. Severin, erinnerte sich Fanni, hatte Annabel an diesem Morgen in seinem Wagen zur Schutzhütte gebracht.

Fanni spitzte die Ohren, als sie ihr Tischgegenüber raunen hörte: »Die Freundin vom Severin soll tödlich verunglückt sein – heut Mittag. Ein Grünzeug-Gendarm hat es dem Vorstand erzählt.«

»Ist sie eine Eisensteinerin?«, fragte sein Nachbar.

Der Angesprochene schüttelte den Kopf. »Nein, die Annabel wohnt mit ihren Eltern in Zwiesel.«

»Annabel und Severin gehen zusammen auf die Glasfachschule«, mischte sich eine Schützenfrau zwei Plätze weiter links ein.

»Wie ist denn das Unglück passiert?«, fragte jemand von rechts.

»Das Mädel könnte erschlagen worden sein, meint der Grünzeug-Gendarm.«

Am Tisch breitete sich entsetztes Schweigen aus.

»Wer?« Die Frage lag eine Zeit lang in der Luft, bevor sie gestellt wurde.

Schulterzucken.

»Ich will ja nichts ausgestreut haben«, sagte die Schützenfrau, »aber zwischen der Annabel und dem Severin soll es ziemlich gewittert haben in der letzten Zeit.«

»Und deshalb soll er das Mädel erschlagen haben?«, riefen aufgebrachte Stimmen ringsum. »Einfach so? Mir nichts, dir nichts?«

Fanni bekam einen Stoß in die Rippen.

»Wir fahren nach Hause«, sagte Hans Rot. »Ich muss morgen früh raus. Ich kann mich nicht den halben Vormittag aufs Ohr legen so wie meine Frau.«

Manchmal könnte man schon einfach so, mir nichts, dir nichts jemanden erschlagen, dachte Fanni.

2

Sprudel meldete sich am Dienstagmorgen telefonisch, wie er es zwei Tage zuvor mit Fanni vereinbart hatte. Eine halbe Stunde später machte sie sich auf den Weg.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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